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info bulletin info Informationen zum Straf- und Massnahmenvollzug Bundesamt für Justiz Sektion Straf- und Massnahmenvollzug 3003 Bern Nr. 3 Oktober 2003

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info bulletin infoInformationen zum Straf- und

Massnahmenvollzug

Bundesamt für JustizSektion Straf- und Massnahmenvollzug

3003 Bern

Nr. 3 Oktober 2003

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Inhaltsverzeichnis Nr. 3 - Oktober 2003

BERICHTE

Nicht nur im Dienste der Resozialisierung 3

GESETZGEBUNG

Neues Haus auf bewährtem Grund 9

Verwahrung gefährlicher Pädophiler 15

Opfer sollen weiterhin eine Genugtuung erhalten 16

KURZINFORMATIONEN

Korrigendum 18

Namenswechsel 18

FORUM

Ein Kapitän geht von Bord 19

Mediation in strafrechtlichen Konflikten 24

SVJ übernimmt Verzeichnis der Jugendstrafbehörden vom BJ 24

Gefängnis in der Heimat

Seit 20 Jahre ermöglicht dasÜberstellungs-Übereinkom-men ausländischen Verur-teilten, ihre Freiheitsstrafeim Heimatstaat zu verbüs-sen. Wir berichten überRecht und Praxis bei diesemsich weiter entwickelndenInstrument.

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Ab 10 Jahren strafmündig

Das neue Jugendstrafgesetzerhöht das Alter für dieStrafmündigkeit von 7 auf10 Jahre und führt die Mög-lichkeit der Mediation ein.Was das Gesetz sonst nochNeues bringt, und was einPraktiker dazu sagt, lesenSie auf

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22 Jahre

wirkte Henri Nuoffer alsDirektor der Anstalten vonBellechasse FR. Ende Mai2003 verabschiedete er sichvon Behörden und Instan-zen, mit denen er zusam-mengearbeitet hatte. In ei-nem Referat fasst er seinereichen Erfahrungen zu-sammen.

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BERICHTE

NICHT NUR IM DIENSTE DER RESOZIALISIERUNG

Die internationalen Instrumente für die Überstellung verurteilter Personen

Wenn jemand in einem fremden Landmit einer anderen Kultur eine Frei-heitsstrafe verbüssen muss, kann dasfür die verurteilte Person sehr belas-tend sein. Die Überstellung solcherGefangener in ihr Heimatland, wo sieeinen Teil ihrer Strafe absitzen können,ist daher oft hilfreich. Das vor zwanzigJahren vom Europarat geschaffeneÜberstellungsübereinkommen, zu des-sen Unterzeichnern auch die Schweizgehört, stellt für diese Praxis einenVerfahrensrahmen zur Verfügung. EinZusatzprotokoll, das von der Schweizdemnächst ratifiziert werden soll, er-möglicht eine Überstellung auch ohneEinwilligung des Verurteilten.

Peter Ullrich*

Die Überstellung ausländischer Strafgefan-gener von der Schweiz in ihr Heimatlandwird seit Jahren regelmässig praktiziert,ohne in der hiesigen Öffentlichkeit beson-dere Aufmerksamkeit zu wecken. Anders istes, wenn ein Schweizer oder eine Schwei-zerin in einem ausländischen Gefängnissitzt, dies vielleicht unter schlechten Bedin-gungen, und in die Schweiz überstellt wer-den möchte. So haben etwa die Fälle vonSilvio Endrass, der vor einigen Jahren inMarokko inhaftiert war, und jener von Fran-ziska Egli, die immer noch im Gefängnisvon Barbados auf ihre Überstellung wartet,bei uns ein beträchtliches Echo in den Me-dien gefunden.

Europarat schafft Übereinkommen

Mit der seit Mitte des 20. Jahrhundertswachsenden Mobilität nahm auch die Zahlvon Personen zu, die ausserhalb ihres Hei-

* Dr. Peter Ullrich ist Redaktor des info bulletin.

matstaates eine Freiheitsstrafe zu verbüs-sen haben. Die damit verbundenen Proble-me bekamen immer mehr Staaten zu spü-ren. Die europäischen Justizminister griffendas Thema an ihrer Konferenz von 1978 aufund diskutierten die Schaffung tauglicherVerfahren, die den Häftlingen eine Über-stellung in ihr Heimatland ermöglichensollten.

Namentlich auf Anregung des damaligenVorstehers des Eidg. Justiz- und Polizeide-partements, Bundesrat Kurt Furgler, verab-schiedete die Konferenz eine Empfehlungan die zuständigen Gremien des Europara-tes, die Ausarbeitung eines Musterabkom-mens über die Überstellung zu prüfen. Inder Folge entwickelte ein Ausschuss mit Ex-perten aus 15 Ländern - unter denen dieSchweiz besonders aktiv war - zwischen1979 und 1980 das Übereinkommen überdie Überstellung verurteilter Personen.

Der Europarat verabschiedete am 21. März1983 den Text des Übereinkommens. 53Staaten sind ihm bis heute beigetreten, da-von ein gutes Dutzend ausserhalb Europas.Für die Schweiz steht das Überstellungs-übereinkommen seit dem 1. Mai 1988 inKraft (vgl. Kästchen �Rechtliche Grundla-gen�).

Rechtliche Grundlagen

� Text des Übereinkommens vom21. März 1983 über die Überstellungverurteilter Personen (ETS Nr. 112;SR 0.343)http://www.admin.ch/ch/d/sr/c0_343.html

� Aktuelle Liste der Mitgliedstaaten:http://conventions.coe.int/Treaty/EN/searchsig.asp?T=112&CM=8&DF=02/09/03

� Bundesgesetz über internationaleRechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfe-gesetz; IRSG, SR 351.1)http://www.admin.ch/ch/d/sr/c351_1.html

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«Das Überstellungsüber-einkommen ist primärhumanitärer Natur.»

Humanitäres Ziel des Übereinkommens

Das Übereinkommen will die Überstellungausländischer Strafgefangener in ihr Hei-matland ermöglichen, wo sie ihre Sanktionverbüssen sollen. Dieses Ziel ist zunächsthumanitärer Natur, kann doch die Ver-büssung einer Freiheitsstrafein einem fernen fremdenLand, unter ungewohntenLebensbedingungen, für dieBetroffenen äusserst schwie-rig sein. Zudem fördert dieÜberstellung die spätere Resozialisierungdes Verurteilten, was seit vielen Jahren ei-nem wichtigen Ziel der Strafrechtspolitikder Europarats-Staaten entspricht. Das giltnamentlich auch für die Schweiz. Mario-Michel Affentranger, Leiter der Sektion In-ternationale Verträge im Bundesamt fürJustiz (BJ), betont, die Offenheit für dieIdee der Überstellung und deren Förderungauf dem Wege von Verträgen sei Ausdruckder humanitären Politik des Bundesrates.

Die Überstellung von Gefangenen in ihrHeimatland kann aber auch im Interessedes Betriebs der Strafanstalten im Urteils-staat liegen. Denn es ist eine Tatsache,dass ausländische, nicht integrierte Insas-sen für das Gefängnispersonal und die Mit-häftlinge oft eine besondere Belastung dar-stellen.

Verurteilte setzen Verfahren in Gang

Das Überstellungsverfahren wird ausgelöstdurch den Wunsch des Verurteilten, seineStrafe in seinem Heimatstaat zu verbüssen.Diesen Wunsch kann er gegenüber demStaat äussern, in dem er verurteilt wurdeund nun seine Strafe absitzt (�Urteilsstaat�in der Terminologie des Übereinkommens),oder auch gegenüber jenem, in den erüberstellt werden möchte, d.h. in sein Hei-matland (�Vollstreckungsstaat�).

Das Übereinkommen verpflichtet die Staa-ten, verurteilte Personen über die Möglich-keit der Überstellung zu informieren. �DieSchweiz hat dafür Formulare entwickelt, dieeine inhaftierte Person nur auszufüllenbraucht, um ihren Wunsch nach Überstel-lung zu äussern�, erklärt Susanne Burgherr,wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sekti-on Auslieferung des BJ.

Auch wenn das Verfahren nicht immerdurch den Verurteilten selber ausgelöst wird- sondern beispielsweise durch seine Fami-lie -, bedarf es in jedem Fall seines Einver-ständnisses, damit eine Überstellung über-haupt durchgeführt werden kann.

Liegt nun ein solcher Über-stellungswunsch vor, habender Urteils- und der Voll-streckungsstaat die ein-schlägigen Unterlagen (Per-sonalien, Urteil, Angaben

zum bisherigen Strafvollzug und zu dessenFortsetzung im anderen Staat) auszutau-schen, um zu klären, ob überhaupt die for-mellen Voraussetzungen einer Überstellungerfüllt sind (vgl. Kästchen �Hauptvoraus-setzungen der Überstellung�).

Schweizerische Aspekte des Verfah-rens

�In der Schweiz führt das Bundesamt fürJustiz, das heisst dessen Sektion Ausliefe-rung, die Gespräche mit den anderenStaaten�, erläutert Susanne Burgherr vomBJ. Auch der Entscheid, ob eine in derSchweiz inhaftierte ausländische Persontatsächlich in ihren Heimatstaat überstelltwird, steht dem BJ zu. Dieser Entscheidhängt nicht nur davon ab, ob die formellenVoraussetzungen erfüllt sind.

Hauptvoraussetzungen der Über-stellung

� Das Urteil ist rechtskräftig und voll-streckbar.

� Beim Eingang des Überstellungsersu-chens sind noch mindestens sechsMonate der Strafe zu verbüssen.

� Die Straftat ist nicht nur im Urteils-staat (Staat, in dem das Urteil ausge-sprochen wurde und sich die verur-teilte Person im Strafvollzug befindet),sondern auch im Vollstreckungsstaat(Heimatstaat der verurteilten Person,wohin diese zur weiteren Verbüssungihrer Strafe überstellt werden soll)strafbar.

� Die zuständigen Behörden des Urteils-und Vollstreckungsstaates sowie dieverurteilte Person sind mit der Über-stellung einverstanden.

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«In weniger als 6 Monatenist ein Überstellungsverfah-ren kaum durchzuführen.»

Denn selbst wenn dies der Fall ist, sind dieMitgliedstaaten nicht ver-pflichtet, einem Überstel-lungsgesuch zuzustimmen.Bei der Prüfung des Ge-suchs achte die Schweiz,so Mario-Michel Affentran-ger, besonders auch auf die Menschen-rechtspolitik des Vollstreckungsstaates. Einwichtiges Kriterium sei zudem die Voll-zugspraxis dieses Landes: �Wäre etwa miteiner raschen vorzeitigen Entlassung des zueiner langen Strafe Verurteilten zu rechnen,würde das Gesuch möglicherweise abge-lehnt�, unterstreicht Affentranger. Gegeneinen abschlägigen Entscheid sieht dasÜbereinkommen keine Beschwerdemöglich-keit vor.

Gute Zusammenarbeit mit denKantonen

Wenn es auch das Bundesamt für Justiz ist,das über Überstellungsgesuche entscheidet,arbeitet es doch dabei eng mit den Voll-zugsbehörden der Kantone zusammen. Die-se müssen namentlich die Unterlagen lie-fern, welche das BJ dann dem ausländi-schen Staat übermittelt. Sie werden auchregelmässig eingeladen, zu einem Über-stellungsgesuch Stellung zu nehmen. FürCarlo Gsell, Leiter Strafvollzugsdienst desKantons Zürich, gestaltet sich die Zusam-menarbeit mit dem BJ ausgezeichnet. Erschätzt es, hier Auskunft und Hilfe zu er-halten, wenn seine Behörde mit Überstel-lungswünschen ausländischer Gefangenerkonfrontiert wird.

Sind die Voraussetzungen erfüllt und sindbeide Staaten sowie die verurteilte Personmit der Überstellung einverstanden, ist die-se also vollstreckbar, verständigen sich diebeiden Seiten über den Zeitpunkt und denOrt sowie allfällige weitere Modalitäten derÜbergabe. Besonders in diesem letztenStadium des Verfahrens arbeiten das Bun-desamt für Justiz und die kantonalen Voll-zugsdienste eng zusammen.

Verfahrensdauer nicht unter 6 Monaten

Was in der Theorie relativ einfach und pro-blemlos klingt, kann in der Praxis zu auf-wändigen Abklärungen und Diskussionenführen, die entsprechend lange dauern. �Inweniger als sechs Monaten ist ein Über-

stellungsverfahren kaum je durchzuführen�,stellt Susanne Burgherrfest. In Einzelfällen könnees sogar mehrere Jahredauern.

Die Gründe dafür sindteilweise in sprachlichen Hindernissen zusuchen. So müssen viele Dokumente erstübersetzt werden, was sehr zeitraubendsein kann. Ein Problem liegt, so SusanneBurgherr, auch darin, dass ausländischeGerichtsurteile den Sachverhalt oft nur un-genügend schildern. Das BJ müsse dannüber das Eidg. Departement für auswärtigeAngelegenheiten (EDA) im jeweiligen Staatzusätzliche Abklärungen treffen.

�Die Verfahren werden aber tendenziellkürzer�, beruhigt Mario-Michel Affentranger.Denn die Vertragsstaaten lernten mit zu-nehmender Praxis das Instrument derÜberstellung immer besser kennen.

Was passiert nach der Überstellung?

Wird eine Person zur Verbüssung ihrerStrafe in ihr Heimatland überstellt, so hatsie in der Regel während der Dauer desVerfahrens schon einen Teil der Strafe imUrteilsstaat abgebüsst. Für die Festlegungder Reststrafe, welche die überstellte Per-son in ihrer Heimat noch zu verbüssen hat,sieht das Übereinkommen zwei Methodenvor: die Fortsetzung des Vollzugs oder dieUmwandlung des ursprünglichen Urteils inein Urteil des Vollstreckungslandes.

Die Schweiz hat sich für die erste Alternati-ve, also die Fortsetzung des Vollzugs, ent-schieden. Die im ausländischen Urteil aus-gesprochene Sanktion wird unverändertübernommen. Die Dauer der in der Schweiznoch zu verbüssenden Reststrafe entsprichtsomit der Sanktionsdauer, die im Urteils-staat noch abzubüssen gewesen wäre.

Eine Ausnahme gilt in Fällen, wo die imAusland verhängte Sanktion nicht mit demschweizerischen Recht vereinbar ist. DieseSituation, erklärt Susanne Burgherr, liegeetwa dann vor, wenn ein ausländisches Ge-richt für ein Drogendelikt eine Freiheits-strafe von 40 Jahren verhängt. In einemsolchen Falle müsste, so Burgherr, das zu-ständige kantonale Gericht eine Urteilsan-passung vornehmen: Massgebend wäre

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«Der Erfolg von Über-stellungsgesuchen variiert

von Jahr zu Jahr.»

dann die für ein entsprechendes Delikt nachschweizerischem Recht angedrohte Höchst-strafe.

Ist die verurteilte Person einmal in dieSchweiz überstellt worden, richtet sich derweitere Vollzug der Sanktion nach schwei-zerischem Recht. Das gilt namentlich für dieVoraussetzungen einer bedingten Entlas-sung.

Bilaterale Abkommen

Neben dem Überstellungsübereinkommendes Europarates hat dieSchweiz 1997 bzw. 2000 mitdem Königreich Thailandund dem Königreich Marok-ko bilaterale Überstellungs-abkommen geschlossen (vgl.Kästchen). Auch solche bilateralen Verträgestehen im Geist des Europarats-Über-einkommens und folgen dessen Leitlinien.

Warum wurden ausgerechnet mit diesenzwei Staaten Überstellungsverträge ge-schlossen? Im Falle Marokkos, erläutertMario-Michel Affentranger vom BJ, sei esum die gewünschte Überstellung eines ein-zelnen Schweizerbürgers gegangen, dersich in einer tragischen, humanitär dringen-den Situation befunden habe. Bei Thailandstelle sich die Überstellungsfrage häufig, darelativ viele Schweizer dort zu hohen Frei-heitsstrafen verurteilt würden. Weder Ma-rokko noch Thailand, so Affentranger wei-ter, hätten das Übereinkommen des Euro-parates unterzeichnen können und hättenauf dem Abschluss eines bilateralen Vertra-ges beharrt.

Zur Zeit führt die Schweiz, auf unterschied-lichem Hintergrund, Gespräche mit Kuba,Barbados und Brasilien im Hinblick auf eineeventuelle vertragliche Regelung der Über-stellungen.

Wechselnde �Konjunktur�

Die Zahl der Überstellungsgesuche unter-liegt grossen Schwankungen. So wurdenzwischen 1997 und 2002 jährlich zwischen5 und 25 Überstellungsgesuche an dieSchweiz gerichtet. Im gleichen Zeitraumrichtete die Schweiz pro Jahr zwischen 8

und 30 Gesuche an auslän-dische Staaten.

Ebenso unterschiedlich istdie �Erfolgsquote� dieserGesuche. �Der Erfolg der

Überstellungsgesuche variiert stark vonJahr zu Jahr�, weiss Susanne Burgherr ausErfahrung (vgl. statistische Angaben imKästchen �Überstellungsverfahren 2000-2002�).

Überstellung und Diplomatie

Trifft ein Gesuch um Überstellung im Bun-desamt für Justiz ein, wird immer zuerstgeprüft, ob der implizierte ausländischeStaat dem Überstellungsübereinkommenangehört oder mit ihm ein entsprechenderbilateraler Vertrag besteht. Trifft das eineoder andere zu, wickelt sich das Verfahrennach den betreffenden Regeln ab.

Überstellungsverfahren 2000-2002

� 36 Verfahren im Hinblick auf eineÜberstellung vom Ausland in dieSchweiz; davon sind bis Ende 2002:- 13 Überstellungen erfolgt- 9 Überstellungen abgelehnt worden- 7 Verfahren gegenstandslos gewor-

den- 7 Verfahren noch hängig.

� 51 Verfahren im Hinblick auf eineÜberstellung von der Schweiz andas Ausland; davon sind bis Ende2002:- 6 Überstellungen erfolgt- 32 Überstellungen abgelehnt worden- 6 Verfahren gegenstandslos gewor-

den- 6 Verfahren noch hängig.

Bilaterale Abkommen

� Abkommen vom 14. Juli 2000 zwischender Schweiz und dem Königreich Ma-rokko über die Überstellung verurteilterPersonen (SR 0.344.549)http://www.admin.ch/ch/d/sr/c0_344_549.html

� Vertrag vom 17. November 1997 zwi-schen der Schweiz und dem KönigreichThailand über die Überstellung vonStraftätern (SR 0.344.745)http://www.admin.ch/ch/d/sr/c0_344_745.html

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«Überzeugungsarbeitbringt mehr als Druck.»

Bestehen aber zwischendem ausländischen Staatund der Schweiz keinerleiVereinbarungen zur Über-stellung, bleibt dieser Weg vorerst ver-sperrt. Gerade in solchen Fällen ertönt vonSeiten der Familie eines inhaftiertenSchweizers oft der Ruf nach dem Eingreifender Diplomatie: Die Schweiz solle im Ur-teilsstaat �Druck machen�. �Das ist leichtergesagt als getan und funktioniert meistensnicht�, meint dazu Markus Börlin, Chef desSonderstabes Krisenfälle in der PolitischenAbteilung VI des EDA. "Abgesehen davon,gibt es keinen individuellen Anspruch aufÜberstellung." Seine Erfahrung habe ge-zeigt, dass Überzeugungsarbeit mehr brin-ge als Druck, falls sich die Schweiz dennentschlossen habe, sich für die Überstellungeines Verurteilten einzusetzen.

Die Schweiz, so Markus Börlin, tendiere indiesen Situationen primär dazu, den aus-ländischen Staat zum Beitritt zum Überstel-lungsübereinkommen zu animieren. Gehedas nicht, werde nur ausnahmsweise, unterbestimmten Umständen, versucht, mit ihmeinen bilateralen Vertrag zu schliessen.

Miteinander, nicht nebeneinander

Wenn auch diese Versuche erfolglos sind,bleibt die Möglichkeit der Vollstreckung ei-nes ausländischen Urteils in der Schweiznach Artikel 94 unseres Rechtshilfegeset-zes. Dieser Weg setzt aber ein entspre-chendes Ersuchen des Urteilsstaates vor-aus. Markus Börlin betont, es sei primärSache des Verurteilten und seines lokalenRechtsvertreters, den ausländischen Staatzu einem solchen Ersuchen an die Schweizzu veranlassen; vor dem Hintergrund derSouveränität des Urteilsstaates sei dies al-lerdings sehr schwierig. �Aber auch hiergilt, dass ein Schweizer Gefangener keinenAnspruch darauf hat, dass die Schweiz sichin diesem Sinn beim Urteilsstaat einsetzt�,stellt Börlin zudem klar. Hier hätten dasEDA und unsere Auslandvertretungen imRahmen fachlicher Instruktionen des BJ ei-nen erheblichen politischen Ermessensspiel-raum.

Für Markus Börlin ist wichtig, dass die Di-plomatie in solchen Fällen nicht neben der�rechtlichen Schiene� wirke. Überstellungs-probleme würden deshalb stets in Zusam-

menarbeit zwischen dem BJund dem EDA gelöst. �Jenach Fall verschiebt sich dasGewicht der beiden Part-

ner�, räumt Börlin ein.

Zusatzprotokoll soll Lücken füllen

Als eine seiner zentralen Voraussetzungenverlangt das Überstellungsübereinkommendas Einverständnis der verurteilten Personmit ihrer Überstellung in ihr Heimatland.Dies ist namentlich eine Folge des mit demAbkommen angestrebten Resozialisierungs-ziels. Nun hat aber die Erfahrung gezeigt,dass gerade diese Anforderung in be-stimmten Fällen eine vernünftige Regelungerschwert.

Denn nicht alle Häftlinge, die im Auslandeine Freiheitsstrafe verbüssen, wollen auchin ihre Heimat überstellt werden. Geradeausländische Häftlinge in der Schweiz fin-den hier, selbst in Unfreiheit, oft bessereLebensbedingungen vor als in ihrem Her-kunftsland. Besonders bei so genanntenKriminaltouristen sei dies häufig der Fall,bemerkt Mario-Michel Affentranger vom BJ.

Erstaunlicher mag klingen, dass auch man-che Schweizer, die im Ausland Gefängnis-strafen verbüssen, kein Interesse an einerÜberstellung in die Heimat haben. Wer et-was Geld habe, könne sich in der Einschät-zung etlicher Verurteilter in gewissen aus-ländischen Gefängnissen ein ganz �passab-les� Leben einrichten, erklärt Markus Börlinvom EDA dieses Phänomen.

Dieser Situation versucht das Zusatzproto-koll vom 18. Dezember 1997 zum Über-stellungsübereinkommen des Europaratesbeizukommen (vgl. Kästchen S. 8), indemes ausnahmsweise auch die Überstellungohne Zustimmung des Verurteilten zulässt.Dies betrifft namentlich die Fälle, in denen� die verurteilte Person in ihren Heimat-

staat flieht und sich so der Strafver-büssung im Urteilsstaat entzieht;

� die verurteilte Person nach Verbüssungihrer Strafe ohnehin den Urteilsstaatverlassen müsste, etwa weil sie ausfremdenpolizeilichen Gründen ausgewie-sen würde.

Das Zusatzprotokoll soll den Mitgliedstaateneine wirkungsvolle Zusammenarbeit ermög-

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«Verrechtlichung bedeutetimmer Versachlichung.»

lichen und dem Recht zum Durchbruch ver-helfen.

Hoffnung auf Entlastung der Gefäng-nisse

Längerfristig sollte die Anwendung des Zu-satzprotokolls zu einem Rückgang des ho-hen Ausländeranteils in den Gefängnissenführen. Das hofft auch Carlo Gsell vomStrafvollzugsdienst des Kantons Zürich:�Wir haben sehr viele Überstellungskandi-daten im geschlossenen Vollzug, welche dieVoraussetzungen des Zusatzprotokolls er-füllen.� Eine zahlenmässige Prognose ver-mag Carlo Gsell allerdings nicht zu geben.Er befürchtet nämlich, dass viele theore-tisch mögliche Überstellun-gen in der Praxis gar nichtdurchführbar sein werden.Dies zum Teil aus den glei-chen Gründen, die bereitsheute Überstellungen verhindern können,wie etwa die nicht definitiv geklärte Natio-nalität des Verurteilten oder der ungenü-gende Standard des ausländischen Straf-vollzugs.

�Es muss zudem in jedem Einzelfall geprüftwerden, ob sich die Mühe lohnt, einen aus-ländischen Verurteilten gegen seinen Willenzu überstellen�, betont Gsell. Dabei denkter namentlich an die heute schon beste-henden Schwierigkeiten der fremdenpolizei-lichen Behörden, ausländische Staatsbürger

ohne Bleiberecht in der Schweiz gegen ih-ren Willen auszuschaffen.

In diesem Zusammenhang ist auch schonder Vorwurf erhoben worden, eine Über-stellung gegen den Willen des Verurteiltensei menschenrechtswidrig. Das lässt Mario-Michel Affentranger vom BJ aber so nichtgelten: �Der Verurteilte kann gegen dieVerfügung des BJ, ihn in sein Heimatland zuüberstellen, beim Bundesgericht Beschwer-de führen.� In diesem Verfahren werde dieZulässigkeit der Überstellung nochmalsgründlich überprüft, versichert Affentran-ger.

Ratifikation wahrscheinlich dieses Jahr

Die Schweiz hat das Zusatzprotokoll am9. Juli 2001 unterzeichnet. Die bundesrätli-che Ratifikationsbotschaft vom 1. Mai 2002liegt derzeit vor den Eidgenössischen Räten.Es kann damit gerechnet werden, dass dasParlament seine Beratungen bis Ende 2003beendet hat. Bisher haben 20 Staaten dasZusatzprotokoll ratifiziert; es ist am 1. Juni2000 in Kraft getreten.

Eine Idee macht ihren Weg

Mit der grossen Zahl von Staaten, die sichdem Überstellungsübereinkommen ange-schlossen haben, mit den bilateralen Über-stellungs-Abkommen und nun mit dem Zu-satzprotokoll hat die Idee der Überstellungoffensichtlich ihren Weg gemacht. Vielmenschliches Leid konnte so gelindert und

die Wiedereingliederungmanches im Ausland Ver-urteilten gefördert werden.

Dass dieses Ergebnis aufdem Weg über rechtliche

Instrumente erreicht werden konnte, hältMarkus Börlin von der Politischen AbteilungVI des EDA für sehr vorteilhaft: �Verrechtli-chung bedeutet immer auch Versachli-chung�.

Zusatzprotokoll zum Überstellungs-übereinkommen

� Text des Zusatzprotokolls zum Überein-kommen über die Überstellung verur-teilter Personen vom 18. Dezember1997 (ETS Nr. 167); vgl. BBl 2002,S. 4359 ff.http://www.admin.ch/ch/d/ff/2002/4359.pdf

� Botschaft des Bundesrates betreffenddas Zusatzprotokoll zum Übereinkom-men des Europarats über die Überstel-lung verurteilter Personen sowie eineÄnderung des Rechtshilfegesetzes vom1. Mai 2002 (BBl 2002, S. 2340 ff.)http://www.admin.ch/ch/d/ff/2002/4340.pdf

� Liste der Signaturstaatenhttp://conventions.coe.int/Treaty/EN/cadreprincipal.htm

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«Das JStG ist kein blossesAnhängsel zum Erwachse-

nenstrafrecht.»

GESETZGEBUNG

NEUES HAUS AUF BEWÄHRTEM GRUND

Das Jugendstrafgesetz verfeinert die Sanktionen und verbessert den Rechtsschutz

Wie schon im April für den total revi-dierten Allgemeinen Teil des Strafge-setzbuches (AT StGB) ist am 9. Okto-ber 2003 auch für das neue Jugend-strafgesetz (JStG) die Referendums-frist unbenutzt verstrichen. Das JStGlöst die heutigen jugendstrafrechtli-chen Vorschriften im StGB ab. Bei weit-gehend gleich bleibender Grundaus-richtung enthält das JStG mehrereNeuerungen, etwa die Erhöhung desStrafmündigkeitsalters auf 10 Jahreoder die Einführung der Mediation. Wieder AT StGB wird das Jugendstrafge-setz nicht vor Mitte 2005 in Kraft tre-ten.

Peter Ullrich*

�Das Jugendstrafrecht hat sich im Grossenund Ganzen bewährt, und seine Grundaus-richtung soll deshalb auch nicht geändertwerden�, erklärte Bundesrätin Metzler imMärz letzten Jahres vor dem Nationalrat.Dass dennoch aus den gut 25 Artikeln imgeltenden Strafgesetzbuch ein neues, se-parates Gesetz mit knappdoppelt so viel Bestim-mungen geworden ist, liegtan �einigen wesentlichenMängeln� der an sich be-währten Regelung, wie der Bundesrat inseiner Botschaft von 1998 feststellte. Siewaren es, die ihn veranlassten, das Jugend-strafrecht in die Gesamtrevision des ATStGB einzubeziehen und es dabei gründlichzu überarbeiten.

Grundlage der Revision war ein Vorentwurfvon Prof. Martin Stettler aus dem Jahre * Dr. Peter Ullrich ist Redaktor des info bulletins. Erdankt Heinz Sutter, Leiter der GesetzgebungsprojekteAT StGB und Jugendstrafgesetz im Bundesamt für Ju-stiz, herzlich für die hilfreichen Auskünfte, Unterlagenund Hinweise.

1986. Die weiteren Arbeiten folgten imGleichschritt mit der Revision des AT StGB:Expertenkommission bis 1992, Vernehmlas-sung 1993/94, Botschaft und parlamentari-sche Beratung 1998-2003 (siehe auch�Meilensteine der Revision� im info bulletin2/03, S. 19).

Neues, eigenständiges Gesetz

Als hauptsächliche Neuerung fällt auf, dassdie strafrechtlichen Regeln für Kinder undJugendliche aus dem StGB in ein separates�Jugendstrafgesetz� überführt wurden. Da-mit wollte der Gesetzgeber in erster Liniedie Bedeutung und Eigenständigkeit des Ju-gendstrafrechts betonen, das nicht bloss einAnhängsel zum Erwachsenenstrafrecht ist.

Mit der Trennung der beidenBereiche werden auch diegrundsätzlichen Unterschie-de in den Zielen und Mittelnhervorgehoben.

Trotz aller Unterschiede machte schon derBundesrat in seiner Botschaft zum JStGdeutlich, dass wir es hier nach wie vor miteiner strafrechtlichen Ordnung zu tun ha-ben und nicht bloss mit einem �Jugend-wohlfahrtsgesetz�. Eng ist denn auch dasVerhältnis zwischen JStG und StGB. Der al-lererste Artikel des Jugendstrafgesetzes li-stet eine ganze Reihe von Vorschriften desStGB auf, die als Ergänzung zum JStG sinn-gemäss anwendbar sind.

Das neue Jugendstrafgesetz

Gesetzestext siehe Bundesblatt 2003,S. 4445 ff.Im Internet abrufbar unterhttp://www.admin.ch/ch/d/ff/2003/4445.pdf

Botschaft des Bundesrates vom21. September 1998: Bundesblatt 1999,S. 1979 ff.

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«Das Jugendstrafrechtorientiert sich primär am

Täter.»

Täterstrafrecht statt Tatstrafrecht

Schutz und Erziehung nennt das JStG aus-drücklich als leitende Grund-sätze bei der Anwendungdes Gesetzes (Art. 2 JStG).Das ist eigentlich nicht neuund entspricht allgemeinenPrinzipien der Jugendstrafrechtspflege, wiesie schon bisher galten.

Diese Grundsätze machen den Unterschiedzwischen Erwachsenen- und Jugendstraf-recht besonders deutlich: Während jeneshauptsächlich auf die begangene Tat achtetund eine Sanktion nach Massgabe des daringeäusserten Verschuldens verhängt, orien-tiert sich dieses primär an der Person desminderjährigen Täters und seinen erzieheri-schen und therapeutischen Bedürfnissen.

Strafmündig mit 10 Jahren

Heute wird ein Kind im Alter von 7 Jahrenstrafmündig, d.h. es fällt unter das StGB,wenn es eine Straftat begeht. Das neue Ge-setz (Art. 3 Abs. 1 JStG) setzt die Grenzebei 10 Jahren. Damit folgt die Schweiz aus-ländischen Gesetzgebungen, deren Straf-mündigkeitsgrenze teilweise erheblich überden heutigen 7 Jahren liegt. Die Erhöhungberuht auf dem Gedanken, dass ein Straf-verfahren gerade auf junge, ja sehr jungeMenschen eine stigmatisierende Wirkunghaben kann, auch wenn nur Erziehungs-massnahmen und harmlose Disziplinarstra-fen als Sanktion in Frage kommen.

Natürlich wird es auch in Zukunft Kindergeben, die mit weniger als 10 Jahren Straf-taten verüben. Wenn nun für sie auf straf-rechtliche Sanktionen verzichtet wird, be-deutet das nicht, dass auch Massnahmender Eltern oder des Vormunds entbehrlich

sind. So hat künftig in derartigen Situatio-nen die zuständige Behörde die gesetzli-chen Vertreter des Kindes zu benachrichti-

gen; nötigenfalls kann sieauch die Vormundschafts-behörde einschalten.

Die obere Altersgrenze fürdie Anwendung des Jugend-

strafrechts wurde dagegen nicht geändert.Sie liegt weiterhin bei 18 Jahren. Wegge-fallen ist hingegen die bisher im StGB ge-machte Unterscheidung zwischen Kindernund Jugendlichen.

Massnahme und gleichzeitig Strafemöglich

Verübt ein Jugendlicher eine Straftat, kanndie urteilende Instanz heute nur entwedereine Strafe oder eine Massnahme aus-sprechen. Die Kombination von beidem, wiesie im Erwachsenenrecht gängig ist, lässtdas geltende StGB grossenteils nicht zu.

Das neue Recht rückt ab vom bisherigen�monistischen� System - es ist nur eineSanktion möglich - und schliesst sich demso genannten �dualistisch-vikariierenden�System an, das im Erwachsenenstrafrechtschon lange gilt: Strafen und Massnahmenkönnen demnach nebeneinander angeord-net werden. Das erlaubt, die Reaktion aufdie Straftat eines Jugendlichen noch besserauf dessen Verhältnisse und Bedürfnisseabzustimmen.

Das Gesetz bringt das so zum Ausdruck,dass die urteilende Behörde eine als not-wendig erkannte Schutzmassnahme unab-hängig davon anordnet, ob der Jugendlicheschuldhaft gehandelt hat (Art. 10 JStG).Hat dieser aber tatsächlich schuldhaft ge-handelt, belegt sie ihn zusätzlich (oder auchals einzige Sanktion) mit einer Strafe (Art.11 JStG).

Vom Zivilrecht inspirierte �Schutz-massnahmen�

Die �Erziehungsmassnahmen� und die �be-sondere Behandlung für Kinder und Ju-gendliche�, wie das geltende StGB die ju-gendstrafrechtlichen Massnahmen bezeich-net, heissen im Jugendstrafgesetz generell�Schutzmassnahmen�. Die terminologischeÜbereinstimmung mit den Schutzmassnah-

Grundsätze des JStG

Art. 21 Wegleitend für die Anwendung diesesGesetzes sind der Schutz und die Erzie-hung der Jugendlichen.2 Den Lebens- und Familienverhältnissendes Jugendlichen sowie der Entwicklungseiner Persönlichkeit ist besondere Be-achtung zu schenken.

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info bulletin info 3/2003 Seite 11

men von Art. 307 ff. des Zivilgesetzbuches(ZGB) ist kein Zufall. Auch inhaltlich ent-sprechen einander die straf- und die zivil-rechtlichen Schutzmassnahmen.

Hier wie dort sind sie abgestuft nach derIntensität des Eingriffs. Sie reichen von derblossen Aufsicht (Art. 12 JStG), über diepersönliche Betreuung (Art. 13 JStG), dieambulante Behandlung (Art. 14 JStG) bishin zur strengsten Massnahme: der �Unter-bringung� (Art. 15 ff. JStG).

Die mit dem neuen Massnahmenkatalogangestrebte Flexibilisierung zeigt sich be-sonders deutlich bei der Unterbringung. Soersetzt dieser neutrale Einheitsbegriff diebisherige starre, vom Gesetz vorgegebeneEinteilung der Erziehungseinrichtungen in�Erziehungsheime�, �Therapieheime� und�Anstalten für Nacherziehung�. Diese Kate-gorien haben sich in der Praxis als wenigzweckmässig erwiesen. Immerhin erhält diebesonders einschneidende Unterbringung ineiner geschlossenen Einrichtung eine spezi-fische Regelung (Art. 15 Abs. 2 JStG).

Konnte nach dem bisherigen Recht ein Ju-gendlicher aus einer stationären Massnah-me bedingt entlassen werden, so sieht dasJStG diese Möglichkeit nicht mehr vor. DieVollzugsbehörde muss aber jährlich über-prüfen, ob und allenfalls wann die Mass-nahme aufgehoben oder durch eine mildereMassnahme ersetzt werden kann (Art. 19JStG).

Mehr Strafbefreiungsgründe

Schon nach geltendem Jugendstrafrechtsieht die urteilende Behörde in einigen Fäl-len von einer Bestrafung ab, etwa bei ei-nem Bagatelldelikt oder wenn der Täteraufrichtige Reue bewiesen hat. Das JStGfasst den Katalog der Strafbefreiungsgrün-de in einer einzigen Vorschrift (Art. 21JStG) zusammen und erweitert ihn.

So sieht die urteilende Behörde unter An-derem auch dann von Strafe ab, wenn der

Jugendliche durch die Folgen seiner Tat soschwer betroffen ist, dass eine Strafe unan-gemessen wäre, also beispielsweise wenner dabei selber schwer verletzt wurde. Glei-ches gilt, wenn die Tat relativ lange zurück-liegt, der Täter sich seither wohlverhaltenhat und nur ein geringes öffentliches undprivates Interesse an der Strafverfolgungbesteht.

Keine neuen Strafen

Der heutige Kanon der Strafen im Jugend-strafrecht wird vom neuen Gesetz mit nurleichten terminologischen Abweichungenübernommen. Es bleibt also auch künftigbeim Verweis (Art. 22 JStG), der persönli-chen Leistung (Art. 23 JStG), sowie - fürjugendliche Straftäter von mehr als 15 Jah-ren - der Busse (Art. 24 JStG) und demFreiheitsentzug (Art. 25 ff. JStG). Das neueRecht droht also nicht nur keine neuenStrafen an, es verzichtet sogar auf die ein-stige Sanktion des �Schularrestes�.

Voraussetzungen, Dauer und Modalitätender Strafen regelt das JStG klarer als bis-her. Da und dort werden zudem neue Nu-ancen eingefügt. So kann beispielsweiseder Verweis mit oder ohne eine Probezeitausgesprochen werden. Als persönliche Lei-stung kann neu auch ausdrücklich die Teil-nahme an Kursen oder dergleichen Veran-staltungen angeordnet werden. Die Busse,deren Höhe sich heute nach den allgemei-nen Bestimmungen richtet und bis 40'000Franken betragen kann, wird neu auf 2'000Franken begrenzt. Da ja die Jugendlichen inder Regel noch über kein persönliches Ein-kommen verfügen, wurde darauf verzichtet,die im neuen AT StGB eingeführte Geld-strafe nach dem Tagessatzsystem auf dasJugendstrafrecht zu übertragen.

Freiheitsentzug bis 4 Jahre als ultimaratio

Schon der geltende Art. 95 StGB bietet dieMöglichkeit, einen Jugendlichen, bei demkeine Massnahme angezeigt erscheint, mit

Schutzmassnahmen im JStG

� Aufsicht (Art. 12)� Persönliche Betreuung (Art. 13)� Ambulante Behandlung (Art. 14)� Unterbringung (Art. 15-16)

Strafen im JStG

� Verweis (Art. 22)� Persönliche Leistung (Art. 23)� Busse (Art. 24)� Freiheitsentzug (Art. 25 ff.)

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�Einschliessung� von einem Tag bis zu ei-nem Jahr zu bestrafen. Das JStG über-nimmt diese Strafe unter der neuen Be-zeichnung �Freiheitsentzug�, grenzt sie aberausdrücklich ein auf Verbrechen oder Ver-gehen.

Dass Jugendliche gelegentlich auch sehrschwere Straftaten verüben, hat sich be-sonders in der jüngeren Vergangenheit ge-zeigt. Das JStG sieht deshalb für mindes-tens 16 Jahre alte Täter in solchen FällenFreiheitsentzug bis zu vier Jahren vor (Art.25 Abs. 2 JStG). �Aus generalpräventivenGründen dürfen schwere Verbrechen nichtohne deutliche strafrechtliche Folgen blei-ben�, erläutert der Bundesrat in seiner Bot-schaft von 1998 den Grund der neuen Vor-schrift. Dieser länger dauernde Freiheits-entzug kommt namentlich zum Zug beiVerbrechen, die mit Freiheitsstrafe von dreioder mehr Jahren bedroht sind oder derenAusführung eine besondere Skrupellosigkeitoder verwerfliche Gesinnung des Tätersbeweist.

Mit dem neuen dualistischen System ist esmöglich, neben einer solchen Strafe aucheine Schutzmassnahme anzuordnen, wennsie angebracht ist. Der Bundesrat betontein seiner Botschaft, der lange Freiheitsent-zug sei nur als ultima ratio einzusetzen, al-so dort, wo mildere Sanktionen erfolgloswaren.

Vollzug der Freiheitsstrafe speziell ge-regelt

Der Freiheitsentzug, besonders jener vonkurzer Dauer, soll ja einen Jugendlichennicht völlig aus seinen Bindungen heraus-reissen. Deshalb betont das Gesetz, Frei-heitsstrafen bis zu einem Jahr könnten inForm der Halbgefangenschaft vollzogenwerden, solche von weniger als einem Mo-nat auch tageweise (Art. 27 Abs. 1 JStG).

Dauert der Freiheitsentzug länger als einenMonat, ist dem Jugendlichen eine unabhän-gige Person beizugeben, die ihm hilft, seineInteressen wahrzunehmen (Art. 27 Abs. 5JStG).

Unabhängig von seiner Dauer ist der Frei-heitsentzug in einer besonderen Einrichtungzu vollziehen, welche namentlich die nötigeerzieherische Betreuung und soziale Ein-

gliederung der Jugendlichen gewährleistet(Art. 27 Abs. 2-4 JStG).

Grundsätze für das Verfahren

Das Strafverfahren gegen Jugendlicherichtet sich - wie jenes gegen Erwachsene -nach kantonalen Vorschriften, das heisstzurzeit nach 26 verschiedenen Verfahrens-ordnungen. Ein einheitliches, für die ganzeSchweiz geltendes Bundesgesetz über dasJugendstrafverfahren ist zwar in Arbeit (vgl.info bulletin Nr. 2/03, S. 28); es dürfte abererst gegen Ende dieses Jahrzehnts in Krafttreten. Bundesrat und Parlament hielten esdaher für angezeigt, bis dahin die wichtig-sten Verfahrensgrundsätze im JStG festzu-legen und damit auch Vorgaben des inter-nationalen Rechts, beispielsweise der UNO-Kinderrechtskonvention, umzusetzen.

Zentral ist die Vorschrift, dass Jugendlicheim Freiheitsentzug, namentlich in der Un-tersuchungshaft, von den erwachsenenGefangenen getrennt unterzubringen sind(Art. 6 Abs. 2 JStG). Das Gesetz lässt denKantonen die Wahl, dafür spezielle Einrich-tungen oder eine besondere Abteilung ineiner bestehenden Haftanstalt zu schaffen.

Das Verfahren gegen Jugendliche ist grund-sätzlich nicht öffentlich (Art. 39 Abs. 2JStG). Dies legen schon die Leitlinien desJStG (�Schutz und Erziehung�) nahe undentspricht der heutigen Regelung in denKantonen. Wenn es aber der Jugendlicheselber verlangt oder dies im öffentlichenInteresse liegt, ist das Verfahren vor Ge-richtsbehörden ausnahmsweise öffentlich.

Einheitliches Jugendstrafverfahren

� Vorentwurf und Begleitbericht zu ei-nem Bundesgesetz über das Schwei-zerische Jugendstrafverfahren, Bern,Juni 2001

� Zusammenfassung der Ergebnissedes Vernehmlassungsverfahrens überden Vorentwurf zu einem Bundesge-setz über das Schweizerische Jugend-strafverfahren, Bern, Februar 2003

Diese Texte können auf der Internetseitedes Bundesamts für Justiz abgerufenwerden: www.ofj.admin.ch, Rubrik Ge-setzgebung - Sicherheit und Schutz -Vereinheitlichung Strafprozess

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«Der Jugendliche kannjederzeit einen

Verteidiger beiziehen.»

Verteidigung und Rechtsmittel

Das JStG gewährt dem Jugendlichen dasRecht, in jedem Stadium des Verfahrens ei-nen Verteidiger beizuziehen (Art 40 Abs. 1JStG). Wegen des ohnehin aufSchutz ausgerichteten Cha-rakters des Jugendstrafver-fahrens galt das lange Zeit alsentbehrlich. Das neue Gesetzgeht aber noch weiter undverpflichtet die zuständigen Behörden, inbesonderen Fällen dem Jugendlichen einenamtlichen Verteidiger zur Seite zu geben,wenn er nicht schon selber einen Anwaltgewählt hat. Diese so genannte �notwendi-ge Verteidigung� wird namentlich da aktu-ell, wo es um schwere Straftaten geht oderwenn der Jugendliche bzw. sein gesetzlicherVertreter durch die Verteidigung offensicht-lich überfordert ist oder wenn die Untersu-chungshaft länger als 24 Stunden dauert(Art. 40 Abs. 2 JStG).

Eine weitere wichtige Verbesserung desRechtsschutzes der Jugendlichen bringt dieEinräumung eines Rechtsmittels an eineGerichtsinstanz, und zwar gegen alle Urteileund Verfügungen, die gestützt auf das JStGgefällt werden (Art. 41 JStG). Damit wirdauch den Vorgaben der Europäischen Men-schenrechtskonvention (EMRK) Rechnunggetragen.

Mediation als neuer Verfahrensweg

Erst im Laufe der parlamentarischen Bera-tung wurde, nicht zuletzt unter dem Ein-druck günstiger Erfahrungen in Österreich,die Möglichkeit eingeführt, ein Verfahreneinzustellen zu Gunsten einer ausserge-richtlichen Konfliktbeilegung, der so ge-nannten Mediation (Art. 8 JStG). DieserVerfahrensweg, der schon im Familien- undWirtschaftsrecht mit Erfolg beschritten wird,zieht allmählich auch in das Strafrecht ein.Einige Kantone, wie Zürich, Basel-Stadt,Waadt und Genf, haben v.a. im Bereich desJugendstrafverfahrens erste Schritte in die-se Richtung getan.

Das JStG lässt das Mediationsverfahren nurfür leichtere Fälle zu, die weitgehend ge-klärt sind und in denen Schutzmassnahmennicht nötig sind oder schon von den Zivilbe-hörden angeordnet wurden. Da der Erfolgder Mediation wesentlich vom Willen der

Konfliktbeteiligten zur Verständigung ab-hängt, ist das Einverständnis aller Prozess-parteien eine weitere Voraussetzung. Nurwenn die Mediation gelingt und sich das ineiner Vereinbarung zwischen dem Geschä-

digten und dem Jugendli-chen niederschlägt, wird dasVerfahren definitiv einge-stellt. Die Einzelheiten desMediationsverfahrens sindvon den Kantonen zu re-

geln, jedenfalls bis das einheitliche Schwei-zerische Jugendstrafverfahren vorliegt.

Neuerungen erfordern Neu- und Um-bauten

Besondere Einrichtungen für den Vollzugder neuen vierjährigen Freiheitsstrafe be-stehen noch nicht. Dafür werden neue Bau-ten, allenfalls besondere Abteilungen, zuschaffen sein. Da in der Untersuchungshafteine strenge Trennung zwischen Jugendli-chen und Erwachsenen vorgeschrieben ist,werden auch dafür vielerorts bauliche Mass-nahmen zu treffen sein. �Neu- und Umbau-ten werden wir im Rahmen des Beitragsge-setzes subventionieren�, versicherte Dr.Priska Schürmann, Leiterin der SektionStraf- und Massnahmenvollzug im Bundes-amt für Justiz in einem im Juli veröffent-lichten Interview (vgl. info bulletin Nr. 2/03,S. 26)1.

Inkrafttreten zusammen mit AT StGB

Das Jugendstrafgesetz wurde zusammenmit dem AT StGB vorbereitet und auch vomParlament beraten. Wegen der engen Ver-bindungen und Überschneidungen zwischenbeiden Gesetzen wird sie der Bundesratauch miteinander in Kraft setzen. Um denKantonen für die Umsetzung der neuenVorschriften genügend Zeit zu lassen, wirder dies sicher nicht vor Mitte 2005 tun. Dergenaue Zeitpunkt dafür ist aber noch nichtfestgelegt.

1 Das Entlastungsprogramm des Bundes 2003 (EP 03),das zurzeit in der parlamentarischen Beratung ist,sieht allerdings Einschränkungen vor, vgl. Botschaftdes Bundesrates im Bundesblatt 2003, S. 5615 ff.; imInternet: http://www.admin.ch/ch/d/ff/2003/5615.pdf

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�Das JStG bietet die nötige Flexibilität�

Was halten die, welche täglich mit straffälli-gen Jugendlichen zu tun haben, vom neuenJugendstrafgesetz? Dr. Christoph Bürgin,Leitender Jugendanwalt Basel-Stadt undPräsident der Schweizerischen Vereinigungfür Jugendstrafrechtspflege (SVJ), nimmtStellung:

� Welches ist aus der Sicht des Praktikersder wichtigste Fortschritt, den das neue Ju-gendstrafgesetz (JStG) bringt?

Christoph Bürgin: Beruhigend ist einmal,dass das Gesetz nach einer 20-jährigen�Schwangerschaft� endlich auf die Welt ge-kommen ist! Wichtig ist die Betonung derEigenständigkeit des Jugendstrafrechtsdurch ein eigenes Gesetz. Zentral ist Artikel2 JStG, der festhält, dass für die Anwen-dung dieses Gesetzes der Schutz und dieErziehung des Jugendlichen wegleitendsind. Damit bleibt der erzieherische Gedan-ke des Jugendstrafrechts bestehen.

� Erkennen Sie im JStG auch Nachteile ge-genüber dem bisherigen Recht?

C.B.: Wenig begeistert bin ich von der Mi-schung des materiellen Rechts mit prozes-sualen Vorschriften. Zwar verstehe ich,dass der Gesetzgeber mit einigen Standardsnicht bis zur eidgenössischen Prozessord-nung warten wollte, so zum Beispiel in Be-zug auf die Unterbringung bei Untersu-chungshaft oder auf die Rechte der Vertei-digung. Dadurch ergeben sich aber etwa beider Revision der kantonalen ProzessrechteAbgrenzungsprobleme.

Die SVJ konnte noch in den Räten einigeVerbesserungsvorschläge einbringen, dieerfreulicherweise zum Teil berücksichtigtwurden. Die Zukunft wird zeigen, wie dieMedien mit der Neuerung umgehen werden,dass Gerichtsverhandlungen von öffentli-chem Interesse auch bei Jugendlichen öf-fentlich sind. Ich befürchte eine Boulevardi-sierung, die dem einzelnen Jugendlichenschadet.

� Wird nach Ihrer Einschätzung das neueJStG die Belegung von Einrichtungen fürJugendliche beeinflussen, wenn ja, in wel-che Richtung?

C.B.: Die Regelung des Vollzugs von Frei-heitsstrafen wird komplexer. Wie sich diesaber auswirken wird, ist offen. Es muss ge-klärt werden, wo beispielsweise die Halb-gefangenschaft vollzogen wird. Interessantist auch die Frage, wie viele Freiheitsstrafengemäss Art. 25 Abs. 2 JStG [Freiheitsent-zug bis zu 4 Jahren - Anm. d. Red.] vollzo-gen werden müssen und wo diese Vollzügedurchgeführt werden können.

Für die Kantone wird auch die Schaffungvon Jugendabteilungen in den Untersu-chungsgefängnissen eine einschneidendeVeränderung darstellen. Die Kantone wer-den in dieser Frage eng zusammenarbeitenmüssen, etwa indem mehrere Kantone eineEinrichtung gemeinsam führen.

� Was erhoffen Sie sich konkret von derEinführung der Mediation im Jugendstraf-recht?

C.B.: Neu ist, dass die Mediation jetzt imGesetz steht. Aber auch schon nach gelten-dem Recht konnte man Verfahren in der Artder Mediation erledigen. Es ist eine zusätzli-che gute Möglichkeit, Strafverfahren abzu-schliessen. Oft wird jedoch der erhöhteAufwand unterschätzt. Zudem wäre es einIrrtum zu glauben, dass sich gute Mediationzum Nulltarif durchführen lässt. Glaubt mandas, bleibt die Bestimmung toter Buchsta-be.

� Bis Ende dieses Jahrzehnts dürfte auchein modernes, einheitliches Jugendstrafpro-zessrecht in Kraft sein. Sind dann die Prak-tiker wunschlos glücklich?

C.B.: Es wäre etwas vermessen zu glauben,man könne auf diesem Gebiet wunschlosglücklich sein. Glücklich sind wir Praktike-rinnen und Praktiker sicher dann, wenn wirmit grossem Ermessensspielraum das Zieldes Jugendstrafrechts verfolgen könnenund nicht durch formalistische oder for-maljuristische Hürden daran gehindert wer-den. Das vorliegende JStG scheint uns dienotwendige Flexibiltät zu geben.

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VERWAHRUNG GEFÄHRLICHER PÄDOPHILER

Die Kommission für Rechtsfragen desNationalrates hat nach eingehenderPrüfung des revidierten Strafgesetzbu-ches vom Dezember 2002 festgestellt,dass sich mit den im Parlament bereitsverabschiedeten Bestimmungen derSchutz der Allgemeinheit im heiklenBereich der Pädophilie vollumfänglichgarantieren lässt. Das bereitgestellteGesetzesdispositiv weist demnach kei-ne Lücken auf, wie verschiedentlichbehauptet wurde, und ermöglichtdurchaus die Verwahrung gefährlicherpädophiler Straftäter. Die Kommissionhat sich deshalb mit 14 zu 2 Stimmenbei 5 Enthaltungen gegen eine neueGesetzesrevision in diesem Bereichausgesprochen.

Das Parlament hat sich bei der im Dezem-ber 2002 angenommenen Revision des all-gemeinen Teils des Strafgesetzbuches(98.038) bereits eingehend mit der Frageder Verwahrung auseinander gesetzt. Eswar ihm dabei ein Anliegen, ein wirksamesInstrument für den Schutz der Allgemein-heit vor gefährlichen Straftätern zu schaf-fen. Gemäss dem Grundprinzip des Sys-tems darf die Verwahrung - bei der es sichinsofern um eine harte Zwangsmassnahmehandelt, als die verurteilte Person wenn nö-tig bis zu ihrem Tod verwahrt werden kann- nur für Personen angeordnet werden, dieschwerste Straftaten begangen haben undbei denen ein ernsthaftes Rückfallrisiko be-steht. Aufgrund des Verhältnismässigkeits-prinzips beschränkte das Parlament deshalbdie Möglichkeit der Verwahrung auf Perso-nen, die eine Straftat begangen haben, fürdie eine Höchststrafe von mindestens 10Jahren vorgesehen ist.

Nach Artikel 187 StGB (sexuelle Handlun-gen mit Kindern) wird mit einer Freiheits-strafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer miteinem Kind unter 16 Jahren eine sexuelleHandlung vornimmt, es zu einer solchenHandlung verleitet oder in eine solche ein-bezieht. Wer also einzig in Anwendung vonArtikel 187 StGB verurteilt wird, kann nichtverwahrt werden, weil hier die Höchststrafeunter 10 Jahren liegt. Dieser Artikel soll

Minderjährigen eine ungestörte sexuelleEntwicklung gewährleisten, bis sie die Reifeerlangt haben, verantwortlich in sexuelleHandlungen einwilligen zu können. Er setztnicht voraus, dass der Täter Zwang auf dasOpfer ausübt. Der Artikel ist somit aucherfüllt, wenn das Kind mit den Handlungeneinverstanden ist. Er kann beispielsweiseauch bei einer echten Liebesbeziehung zwi-schen einem Erwachsenen und einer unter16-jährigen Person angewendet werden.Bei den von diesem Artikel erfassten Straf-taten handelt es sich um solche mit be-grenzter Schwere. Die Kommission ist derAuffassung, dass diese Bestimmung auf-rechterhalten werden muss, damit gegendie Interessen des Kindes gerichtete Hand-lungen bestraft werden können; allerdingsrechtfertigt es sich nicht, hier die Verwah-rung zu ermöglichen, weil diese nicht imVerhältnis zur Schwere der Straftat stünde.

Für die Kommission ist es allerdings vonwesentlicher Bedeutung, dass das Gerichtbei schweren Straftaten die Möglichkeit hat,eine Verwahrung anzuordnen. Eine aus-führliche Prüfung der einschlägigen Be-stimmungen des Strafgesetzbuches hat er-geben, dass solche Fälle durchaus erfasstwerden können. Artikel 189 (sexuelle Nöti-gung) und 190 StGB (Vergewaltigung), dieauch auf Minderjährige anwendbar sind,sehen nämlich Höchststrafen von 10 Jahrenvor und ermöglichen somit eine Verwah-rung. Nach näherer Betrachtung der Recht-sprechung des Bundesgerichts und weitererRechtsurteile jüngeren Datums stellte dieKommission fest, dass es - entgegen an-ders lautender Presseberichte - bei sexuel-len Handlungen gegenüber Kindern ver-gleichsweise wenig braucht, damit die Aus-übung sexueller Nötigung oder Vergewalti-gung vorliegt. Ferner stellte sie fest, dass inFällen, in denen das Kind bezüglich der se-xuellen Handlungen altersbedingt nicht ur-teilsfähig ist, Artikel 191 StGB (Schändung)zur Anwendung kommt, der ebenfalls eineHöchststrafe von zehn Jahren vorsieht. So-mit bestehen diesbezüglich keine Geset-zeslücken, und schwere Missbräuche anKindern werden im revidierten Strafgesetz-buch, das nebst einer Freiheitsstrafe auchdie Verwahrung ermöglicht, angemessenerfasst.

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Die Kommission hat am 25. und 26. August2003 unter dem Vorsitz von NationalrätinAnita Thanei (S/ZH) und teils im Beiseinvon Bundesrätin Ruth Metzler getagt.

Quelle: Medienmitteilung der Kommissionfür Rechtsfragen des Nationalrates vom26. August 2003

OPFER SOLLEN WEITERHIN EINE GENUGTUUNG ERHALTEN

Bundesrat nimmt Kenntnis von den Vernehmlassungsergebnissen

Opfer von Straftaten sollen weiterhineine Genugtuung erhalten. In der Ver-nehmlassung zur Totalrevision desOpferhilfegesetzes hat sich eine klareMehrheit für die Beibehaltung der Ge-nugtuung ausgesprochen. Diese solljedoch plafoniert werden. Der Bundes-rat hat am 26. September 2003 vonden Ergebnissen der VernehmlassungKenntnis genommen und das Eidg. Ju-stiz- und Polizeidepartement (EJPD)beauftragt, eine Botschaft auszuar-beiten.

Die Totalrevision des 10-jährigen Opferhil-fegesetzes (OHG, SR 312.5) orientiert sichstark am bisherigen Recht, das in zahlrei-chen Punkten ergänzt wird. Im Vordergrundsteht die Überprüfung der opferhilferechtli-chen Genugtuung, deren Abschaffung voneinigen Kantonen verlangt worden war. Ei-ne klare Mehrheit der insgesamt 85 Ver-nehmlassungsteilnehmer sprach sich für dieBeibehaltung der Genugtuung aus. Auchder Vorschlag, diese zu plafonieren, wurdemehrheitlich begrüsst. Auf eine deutlicheAblehnung stiessen hingegen die vorge-schlagenen Maximalbeiträge von rund70'000 Franken für Opfer und rund 36'000Franken für Angehörige.

Opferhilfe nach einer Straftat im Aus-land

Eine gewisse Uneinigkeit herrschte in derFrage, ob Entschädigung und Genugtuungnach einer Tat im Ausland weiterhin zu ge-währen seien. Kreise, die den Opfern nahestehen, befürworteten die Beibehaltung desgeltenden Rechtes. Die Gegner argumen-tierten, dass das Übereinkommen des Eu-roparates nur Leistungen für Straftaten im

Inland vorschreibe (Territorialitätsprinzip)und dass andere europäische Staaten keineLeistungen für Taten im Ausland ausrichten.Auf breite Zustimmung stiess dagegen derVorschlag, Opfern von im Ausland began-genen Straftaten Zugang zu Beratungsstel-len zu gewähren.

Regelung für weitere Bereiche

Eine Mehrheit der Antwortenden wünschte,dass das OHG die Kantone zur Bereitstel-lung von genügend Frauenhäusern ver-pflichten soll. Die mehrheitlich ablehnendenKantone machten geltend, dass eine solcheBestimmung über die Opferhilfe hinaus ge-he und die Autonomie der Kantone tangie-re. Die Frage, ob neue Bestimmungen fürOpfer von häuslicher Gewalt nötig wären,wurde kontrovers beurteilt. Eine deutlicheMehrheit unterstützte den Vorschlag, keineneuen Sonderbestimmungen für Opfer vonMenschenhandel ins OHG einzuführen.

Keine neuen Abgeltungen

Die von der Expertenkommission vorge-schlagenen neuen unbefristeten Abgeltun-gen des Bundes an die Kantone für denAufwand für die Beratungshilfe wurde voneiner grossen Mehrheit befürwortet. DasEJPD hatte allerdings bereits zu Beginn derVernehmlassung darauf aufmerksam ge-macht, dass diese neuen Abgeltungen denfinanzpolitischen Rahmenbedingungen derSchuldenbremse sowie den Bestrebungenzu einem neuen Finanzausgleich zuwider-laufen. Der Bundesrat hat entschieden, aufneue Abgeltungen zu verzichten, und statt-dessen das EJPD beauftragt, nach neuenLösungen für die Zusammenarbeit bzw. denAusgleich unter den Kantonen zu suchen.

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Vorderhand weiterhin Prozessvor-schriften im OHG

Da die neue Schweizerische Strafprozess-ordnung (StPO) erst nach der Totalrevisiondes OHG in Kraft treten dürfte, sollen dieBestimmungen zum Schutz des Opfers imStrafverfahren vorläufig weiterhin im OHGbleiben und erst später in die StPO einge-fügt werden.

Quelle: Medienmitteilung des Eidg. Justiz-und Polizeidepartementes vom 26. Septem-ber 2003

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KURZINFORMATIONEN

KORRIGENDUM

Im Textkästchen �EM in der Schweiz� aufSeite 3 des info bulletins Nr. 2/03 war zulesen, der Kanton Solothurn könne seit2002 probeweise Electronic Monitoringpraktizieren. Diese Information ist nichtzutreffend. In Wirklichkeit kann der KantonSolothurn erst seit März 2003 die �elektro-nische Fussfessel� einsetzen. Wir bedauerndieses redaktionelle Versehen.

NAMENSWECHSEL

Die Konferenz der Westschweizer und Tes-siner Justiz- und Polizeidirektoren (Confé-rence des Chefs des Départements de ju-stice et police de la Suisse romande et duTessin, CRDJP) hat an ihrer Sitzung vom 3.Juli 2003 beschlossen, sich einen neuenNamen zu geben. Sie heisst nunmehr�Conférence latine des Chefs des Départe-ments de justice et police� (CLDJP).

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FORUM

EIN KAPITÄN GEHT VON BORD

Erfahrungen eines langjährigen Anstaltsleiters

Henri Nuoffer hat während 22 Jahrendie Anstalten von Bellechasse geleitet.Im Mai 2003 zog er vor rund hundertVertretern verschiedener Behördenund Instanzen, mit denen er in seinerAmtszeit zu tun hatte, Bilanz über sei-ne Erfahrungen.Wir veröffentlichen Auszüge aus demReferat Henri Nuoffers.

Henri Nuoffer*

Wenn der Kapitän eines Schiffes wechselt,löst das zwar Überlegungen aus, aber dasSchiff fährt weiter, denn es hat seine Auf-gabe zu erfüllen und die Ziele zu erreichen,die der Reeder gesetzt hat. Meine Damenund Herren, Sie als Vertreterinnen undVertreter der Behörden sind es, die uns die-se Ziele vorgeben.

Mein Hauptanliegen während diesen 22Jahren in meiner Funktion waren - wieschon zuvor und auch in Zukunft - derMensch und die Gesellschaft bzw. die Rolle,die dem Strafvollzugsrecht zugewiesen ist.Das Bild des Menschen als eines vernunft-begabten und verantwortlichen Wesens,das sich weiter entwickeln kann, hat sicheigentlich kaum verändert, dies trotz dersehr, ja allzu schnellen Entwicklung unsererWelt.

Sozialisierung bleibt das Hauptziel

Unser Strafgesetzbuch geht davon aus,dass ein Mensch, dem die Freiheit entzogenist, aus seinem Verhalten, das zu einer lan-gen Strafe geführt hat, Lehren ziehen kannund muss. Der Vollzug der Sanktion, derdie Öffentlichkeit während einer gewissen * lic.iur Henri Nuoffer war von 1981 bis Mai 2003Direktor der Anstalten von Bellechasse FR; seit dem1. Juni 2003 ist er Sekretär der Conférence latine desChefs des Départements de justice et police. - Titelund Hervorhebungen stammen von der Redaktion.

Zeit vor dem Straftäter schützt, bringt einweiteres positives Element: die Sozialisie-rung oder Resozialisierung dieses Men-schen.

Das am 13. Dezember 2002 verabschiedeteneue Strafgesetzbuch hält an diesem Po-stulat fest. Artikel 75 stellt vier Grundregelnauf und erinnert daran, dass das Hauptzieldes Strafvollzugs die Förderung des sozia-len Verhaltens des Gefangenen ist. Es giltdemnach in erster Linie Sozialisierungspro-zesse bei diesem Menschen einzuleiten. BeiKonflikten zwischen dem Schutzbedürfnisder Öffentlichkeit, des Gefängnispersonalsund der Mitgefangenen ist also eine Inte-ressenabwägung vorzunehmen. Schwer-punkte und Methoden weichen möglicher-weise von jenen des geltenden Strafgesetz-buches ab, aber eine grundsätzliche Ände-rung hat nicht stattgefunden.

Der Chef hat seine Schuldigkeit getan

Bevor ich �ausbreche�, möchte ich gemein-sam mit Ihnen darüber nachdenken, wassich geändert hat, um dann zu überlegen,was sich noch ändern wird. Ich werde fol-gende Themen grob skizzieren: Führung,Personal, Gefangene, Mittel sowie Revisiondes Strafgesetzbuches. Sie werden mir dieUnvollständigkeit sicher nachsehen, habeich doch eigentlich kein Testament zu ver-fassen. Denn der Chef hat seine Schuldig-keit getan und kann gehen, die Institutionaber bleibt.

Anspruchsvolle Führungsarbeit

Heute gelten für die Führung einer Anstaltandere Rahmenbedingungen, denn unsereGesellschaft verändert sich, aber die Zielesind die gleichen geblieben. Der Direktor istzunächst ein Mensch mit seinen Vorzügenund Fehlern. Er muss auf menschliche Artführen und loyal sein. Er ist motiviert unddynamisch und versucht seine Mitarbeiten-den zu verstehen; doch manchmal muss er

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«Der Ton ist wichtiger alsdie Befehle.»

«Kontrollen müssen ineinem Klima des Ver-trauens stattfinden.»

ihnen in Erinnerung rufen, dass Ziele aucherreicht werden müssen. Er muss Fehlerakzeptieren und macht auch selber welche,sonst gibt es weder Verbesserungen nochImpulse. Das ist besonders anspruchsvollbei der Führung einer Straf-anstalt mit ihrem striktenRegime. Als Beamter han-delt er für und im Namendes Staates, und als solcherkann er seinen Auftrag nicht in völliger Un-abhängigkeit erfüllen, wie er es vielleichtmöchte. Denn er verfügt über viel Machtund trägt eine schwere Verantwortung,wenn er einem Menschen auf Grund einesGerichtsurteils die Freiheit entzieht.

Besonders die Mitarbeitenden spüren dastäglich. Sie müssen die Sicherheit nachaussen und nach innen sowie gegenüberden anderen Häftlingen und ihren Kollegengewährleisten. Zugleich müssen sie die In-teressen des Einzelnen berücksichtigen, in-dem sie die Vorschriften, die letztlich zuseinem Schutz bestehen, vernünftig an-wenden.

Bei schönem Wetter und ruhiger See kön-nen Besatzung und Offiziere die Aufmerk-samkeit etwas sinken lassen. Aber es mussimmer eine Wache und ein Wachtoffizier aufdem Posten sein, und das nicht nur wäh-rend 2'000 Stunden - was dem Jahrespen-sum bei einem Achtstundentag entspricht -,sondern während 8'760 Stunden, also 24Stunden am Tag. Wenn der Wind auffrischt,nützt es nichts, sich mehr zu beeilen; dazuist es zu spät. Das Schiff ist schon gestran-det; ein Glück, wenn einige daran gedachthaben, die Segel zu streichen. Man mussalso gelegentlich vorausschauen, aber auchGlück haben; und man muss vor allem dar-an denken, dass man eine gute Besatzungbei Laune halten und ein gutes Schiff war-ten muss, und schliesslich dass der Tonwichtiger ist als die Befehle.

Vertrauen ist gut...

Aus offensichtlichen Gründenmuss man hier, mehr als beianderen Tätigkeiten, kontrol-lieren, was die Gefangenentun, aber auch jene, die siebeaufsichtigen. Die Frage ist weniger, obKontrollen oder Vertrauen besser seien;entscheidend ist vielmehr, dass die Kon-

trollen in einem Klima des Vertrauens statt-finden. Ich habe mich bei der Leitung derAnstalten von Bellechasse stets an dieseMaxime gehalten: Bellechasse muss einFührungsanliegen sein und nicht ein Pro-

blem der Führung.

Die uns von den Einwei-sungsbehörden anvertrau-ten Gefangenen gehören zu

unserer Gesellschaft, die im Wandel ist. Be-kanntlich sind in den letzten Jahren eineReihe wichtiger Veränderungen in der Ge-fängnispopulation eingetreten, obwohl zwi-schen 1980 und 2000 die Zahl der ausge-sprochenen Verurteilungen und Freiheits-strafen sowie auch die Dauer der Strafeninsgesamt stabil geblieben sind.

Divergierende Tendenzen

Folgende Tendenzen haben sich bestätigt:Die Anzahl der Untersuchungsgefangenenund der schweizerischen Häftlinge gehtzurück. Zugleich stellt man eine Zunahmeder Anzahl ausländischer Gefangener fest,sowohl in der Untersuchungshaft als auchim Strafvollzug. Gleiches gilt für die Zahlder Gefangenen, die länger als 36 Monateinhaftiert bleiben. Hingegen stellt man kei-ne Zunahme fest bei den Massnahmen anStraftätern, die wegen ihres Geisteszustan-des die öffentliche Sicherheit stark gefähr-den. Dennoch werden diese Personen weni-ger leicht freigelassen, was zu einer Zu-nahme der Fälle führt. Insgesamt und imLicht der vermehrten Einführung von Alter-nativsanktionen zu den Freiheitsstrafen istein Rückgang des Gesamtbestandes anGefangenen festzustellen.

Derzeit, d.h. per 30. April, beobachtet manin den geschlossenen Anstalten wiederumein Anwachsen des Gefangenenbestandes.Zudem besteht seit ein paar Jahren nichtmehr nur ein Gefühl der Unsicherheit, son-dern eine eigentliche Unsicherheit, die frei-lich im Vergleich zu jener in Anstalten der

Nachbarländer zu relativie-ren ist. Man hat auch eingeschärftes Gespür für Ge-walt bekommen, besondersim Zusammenhang mit Ju-gendlichen, und man er-

kennt eine Zunahme der Gewaltdelikte.Auch in Bellechasse führt dies zu erhöhtenSpannungen und mehr Aggressivität; die

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info bulletin info 3/2003 Seite 21

«Das Null-Risiko gibt esnicht.»

«In einer Vollzugsanstaltkommt es zuerst auf das

Personal an.»

Gefangenen sind oft weniger berechenbarund zu allem bereit.

Rechtzeitige Anpassung an die Verän-derungen

Im Laufe all dieser Jahre konnten die An-stalten von Bellechasse vorsorgen und dieMittel beschaffen, um sich auf diese Verän-derungen einzustellen. Sohaben sie ihre Struktur an-gepasst und geschlossenereBereiche eingerichtet; zu-dem haben sie bessere Betreuungsmetho-den entwickelt mit spezifischen Program-men etwa für gewalttätige Gefangene, pä-dophile Verurteilte oder für die Bewohnerdes Heims �La Saplinière�, die sich an ei-nem Methadonprogramm beteiligen kön-nen.

Mit einer breiter angelegten und vertieftenBetreuung erlangte man grössere Profes-sionalität, dies dank einem besser ausgebil-deten, treuen und motivierten Personal.Man muss sich bewusst bleiben, dass mannie vor bösen Überraschungen gefeit istund dass es das Null-Risiko nicht gibt. Aberman kann das Risiko mit dem systema-tischen Einsatz bestimmter Abläufe deutlichverringern. In Situationen der Unsicherheitund namentlich bei Gefährdung der Öffent-lichkeit ist besondere Vorsicht geboten. ImZweifel haben die Interessen der Gesell-schaft Vorrang vor denen des Gefangenen;dessen soziales Verhalten ist aber weiterhinzu fördern.

In 22 Jahren wurden über 17'500 Urlaubs-bewilligungen für mehr als 7'100 Gefangeneausgestellt. Während dieser Urlaube kam eszu keinen nachweislichen schweren Straf-taten. Gerade bei solchen Beziehungen zurAussenwelt müssen wir die Lage so genauwie möglich einschätzen und alle Elementeeinbeziehen, die uns zur Ver-fügung stehen.

Entwicklungen beimPersonal

In einer Vollzugsanstalt kommt es zu aller-erst auf das Personal an, weit mehr als aufGitter und Überwachungskameras. Dankder Weitsicht der Behörden und ihrer Über-zeugung, dass genügend gut ausgebildetesPersonal unerlässlich ist, sind die Anstalten

von Bellechasse in der Lage, ihre Aufgabenfür den Kanton, das Konkordat und ganzallgemein für die Gesellschaft zu erfüllen.Dafür gebührt den Vertretern der Behördenvon gestern und heute aufrichtiger Dank.

So konnte der Mitarbeiterbestand an diegrossen Veränderungen bei der Strukturder Gefängnispopulation angepasst werden,

obwohl keine Zunahme der An-zahl Gefangener eingetretenist. Man konnte auch neue Me-thoden einsetzen, beispielswei-se die Erteilung von Aufträgen

an private Unternehmen. Vorsichtig ange-wendet, ist dieses System vernünftig. Hierhat eine positive Veränderung stattgefun-den: Der früher auf dem Gebiet der Sicher-heit hoheitlich wirkende Staat hat sich zurregulierenden Macht gewandelt.

Auch Betreuung, Ausbildung und Entlöh-nung des Personals konnten angepasstwerden. So verfügen beispielsweise 85 Pro-zent der Mitarbeitenden der Anstalten vonBellechasse über ein Diplom als Fachmannbzw. Fachfrau für Justizvollzug; diese Aus-bildung ist seit dem 29. November 2002eidgenössisch anerkannt.

Vor zwei Jahren haben wir beim Personalder Anstalten von Bellechasse eine Umfrageüber Gesundheitszustand, Lebensqualitätund die Bedürfnisse hinsichtlich zwischen-menschlicher Beziehungen durchführen las-sen. Die sehr interessanten Ergebnisse lie-gen seit einigen Tagen vor (vgl. KästchenS. 22). Ohne sie ausführlich zu kommen-tieren, erscheint es mir doch wichtig, dassdie Behörden davon Kenntnis erhalten;denn sie entscheiden über die Zusprechungvon Personal und andern Mitteln, die zurErfüllung unserer schwierigen Aufgabe not-wendig sind. Mit diesen Erkenntnissen wer-den wir den eingeleiteten Prozess weiter-führen können, um die Qualiät der zwi-

schenmenschlichen Bezie-hungen und die Effizienz zuverbessern.

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Seite 22 info bulletin info 3/2003

«Vollzugsbeamte brauchenWillen, Mut, Mitgefühl und

Gelassenheit.»

Aufschlussreiche Umfrage beim Anstaltspersonal von Bellechasse

71 Prozent der Mitarbeitenden haben denFragebogen ausgefüllt, aus dem sich fol-gende Tendenzen ablesen lassen:

Über 60 Prozent des Personals arbeitet seit10 Jahren oder mehr in Bellechasse und 37Prozent seit mehr als 15 Jahren, was einegewisse Stabilität belegt. 54 Prozent derMitarbeitenden ist weniger als 45 Jahre, 28Prozent zwischen 46 und 55 Jahre alt; nur10 Prozent der Mitarbeitenden sind 56-jährig oder älter.

87 Prozent der Mitarbeiter geben an, dassihr körperlicher Gesundheitszustand befrie-digend bis gut ist. 88 Prozent beurteilenihren psychischen Gesundheitszustand alsbefriedigend bis gut. 86 Prozent konsu-mieren nie oder selten Alkohol oder Medi-kamente.

78 Prozent der Mitarbeitenden geben an,ihre Arbeit ausserordentlich oder sehr gernezu verrichten. 80 Prozent hegen keine ne-gativen Empfindungen gegenüber den Ge-fangenen im Allgemeinen, und ebenfalls 80Prozent haben keine solchen Gefühle ge-genüber ausländischen Gefangenen.

Auch wenn diese positive Grundhaltung ei-ner grossen Mehrheit der Mitarbeitendentatsächlich existiert und zu begrüssen ist,gibt es dennoch gewisse Spannungen, bei-spielsweise verbale oder körperliche Ge-walt. Manche machen sich auch Gedankenüber ihre Beziehung zu den Gefangenen,den Arbeitskollegen und - was niemandenerstaunen wird - zu den Vorgesetzen undzur Direktion.

Die Arbeit der Vollzugsbeamten bleibtanspruchsvoll

Die Aufgabe des Vollzugsbeamten hat sichnicht grundsätzlich verändert, wenn mandie vom Gesetzgeber, der Literatur und derRechtsprechung festgelegten Ziele be-trachtet. Gewandelt haben sich eher dieBedingungen, unter denen die Mitarbeiten-den ihren Beruf ausüben. Mitarbeitende, diesich für ihre Aufgabe einsetzen, brauchenweiterhin Willen, Mut, eine entsprechendeAusbildung (die heute breiter ist als früher),Mitgefühl und eine tüchtige Portion Gelas-senheit unter der verant-wortlichen Haltung eines�pater familias�. Früher be-treuten die Aufseher dieGefangenen praktisch allein.Heute sind die Vollzugsbeamten in ein mul-tidisziplinäres Team eingebunden, in demauch andere Kenntnisse gefragt sind und indem Mitarbeitende und Leute aus anderenBereichen neue Methoden anwenden.

Es ist zu betonen, dass die Anstalten vonBellechasse über angepasste Mittel verfü-gen zur Erfüllung ihrer Aufgaben, nämlichAufsicht, Betreuung, Beschäftigung, Arbeit;hinzu kommen auch die geistigen, kulturel-len und sportlichen Bedürfnisse sowie dieFreizeitaktivitäten zur Resozialisierung derGefangenen.

Kontrollierte Erfahrungen in Bau undLandwirtschaft

Auf zwei Eigentümlichkeiten möchte ich be-sonders hinweisen. Zum einen auf Bau undUnterhalt eines Immobilienparks im Wertvon über 82 Millionen Franken für 86 Ge-bäude, die auf einer Fläche von 742 Hek-taren verteilt sind. Zum andern auf dieFührung des zweitgrössten Gutsbetriebesdes Landes, und das mit 66 Prozent auslän-dischen Gefangenen, von denen zwei Drittelnachher ausgewiesen werden. Die Reali-sierung des Bauprogramms mit Investitio-

nen von bisher 62 Millio-nen Franken stellt für dieGefangenen einen be-trächtlichen immateriellenVorteil dar, ermöglicht sie

ihnen doch eine intelligente und ihre Bil-dung fördernde Beschäftigung, wie das Eid-genössische Justiz- und Polizeidepartementfestgestellt hat.

Das gilt auch für den Landwirtschaftsbe-trieb. Er ist richtiggehend ein �Sauerstoff-tank� für die Gefangenen (40 von ihnen ar-beiten täglich darin) und für ihre Betreuer(gegen zwanzig Vollzugsbeamte haben eineabgeschlossene Landwirtschaftsausbildungund über die Hälfte von ihnen ein Meister-diplom). Für Region und Kanton ist es aucheine wichtige Möglichkeit, die Landwirte zu

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unterstützen. Seit vielen Jahren haben wirden auf extensive Produktion ausgerichte-ten Betrieb neu orientiert, um anstelle desörtlichen Landwirts, der dafür nicht genü-gend Mittel hat, ökologische Ausgleichsflä-chen zu schaffen.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dassdie Behörden uns - unter Aufsicht - gewisseErfahrungen auf dem Gebiet des Bauensund der Landwirtschaft haben sammeln las-sen. Für die Anstalten ist es äusserst wert-voll, dass sie, wie andere Bereiche derkantonalen Verwaltung, über eine kontrol-lierte Autonomie verfügen (Bellechasse ver-fügt seit über 70 Jahren über eine eigeneRechtspersönlichkeit).

StGB: weder revolutionär noch bahn-brechend

Ich möchte noch einige Überlegungen zumneuen Strafgesetzbuch (StGB) anstellen.Diese Revision erscheint weder revolutionärnoch bahnbrechend. Dennoch bringt sieNeuerungen und Änderungen, auf die ichhier aber nicht näher eintreten will. Ichwerde nur einige Punkte aufgreifen:

Dieses Gesetz will das Sanktionenrecht mitjenem der Nachbarländer harmonisieren.Das sollte zu einer möglichst weitgehendengegenseitigen Anerkennung der Strafurteileführen. So betrachtet, bedeutet das einenerheblichen Fortschritt. Damit verbunden istaber auch eine Kompetenzverschiebung vonden Kantonen zum Bund; zudem wurdendie Kompetenzen der Gerichte verstärkt, zuLasten jener der Einweisungsbehörden undder Anstalten.

Wir werden somit mehr Dreiecksbeziehun-gen haben, und mehr als heute werdenspezialisierte Fachkommissionen - zu Rechtübrigens - auf verschiedenen, besondersheiklen Gebieten Stellungnahmen abgebenmüssen. Das wird den Entscheidungspro-zess komplexer und wahrscheinlich langsa-mer machen.

Umfangreiche Anpassungsarbeit

In den Kantonen und auf der Ebene derKonkordate müssen die Ausführungsbe-stimmungen zum StGB und die Gerichtsor-ganisationen angepasst werden, was mitviel Arbeit verbunden ist. Soll in den kanto-

nalen Prozessordnungen ein eigentlicherStrafvollzugsrichter eingeführt werden? Die-se Frage muss offen bleiben, aber vielleichtliesse sich dadurch die vom neuen StGB ge-schaffene Situation spürbar verbessern. DieAkteure auf dem Gebiet der Sanktionenwerden grössere Ausbildungsbedürfnissehaben, und dies wird eine Neuorientierungder Ausbildung und auch der dafür benö-tigten Mittel bewirken. Ich denke nament-lich an das Schweizerische Ausbildungszen-trum für das Strafvollzugspersonal, dessenQualität weitherum anerkannt ist; sein Auf-gabenkreis wird wohl ergänzt und ausge-weitet werden.

Neues Konkordat in Vorbereitung

Seit vielen Jahren wartet man mit Ungeduldauf dieses neue StGB. Soll es sofort in Krafttreten, das heisst auf den 1. Januar 2005?Man wäre versucht, dies zu wünschen.Doch das Ausmass der noch zu leistendenUmsetzungsarbeit legt eher eine Verschie-bung nahe (2006). Denn vergessen wirnicht, dass gleichzeitig das neue Jugend-strafgesetz in Kraft treten wird und dass aufdiesem Gebiet noch grössere Anpassungennötig sind. Mit dem Entwurf eines Konkor-dats über den strafrechtlichen Freiheitsent-zug bei Jugendlichen ist für die West-schweizer Kantone und das Tessin die Ar-beit in vollem Gange. Dieser Entwurf wurdevor wenigen Tagen von der Konferenz derWestschweizer und Tessiner Justiz- und Po-lizeidirektoren in die Vernehmlassung ge-schickt. In einigen Tagen werde ich die Ehreund die Verantwortung haben, das Sekre-tariat ebendieser Konferenz zu führen.

Erinnerungen und Wünsche

Ich verlasse nun eine schöne Gegend, inder meine Familie und ich uns gut aufgeho-ben gefühlt haben. Das hat uns ermöglicht,in dieser Miniatur-Schweiz Freundschafts-bande zu knüpfen, und mir als Direktor derAnstalten hat es erlaubt, die wirtschaftlicheBedeutung dieser Institution zu fördern. Wirverlassen diesen Ort erfüllt mit Erinnerun-gen, aber auch mit Hoffnungen und Wün-schen für die Zukunft und die neuen Her-ausforderungen.

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Seite 24 info bulletin info 3/2003

«Nur eine vollkommene Ge-sellschaft kann auf Gefäng-

nisse verzichten.»

Vollkomene Gesellschaft?

Zum Schluss möchte ich nur noch auf einParadox unserer Gesellschaft hinweisen:Die ideale Gesellschaft unterstellt denidealen Menschen. Man gibt dem Gefängnisdie Aufgabe, den Menschen zu sozialisieren.Allein eine vollkommene Gesellschaft kannauf Gefängnisse verzichten, aber Gefäng-nisse sind nötig, um eine vollkommene Ge-sellschaft zu erreichen.

MEDIATION IN STRAFRECHTLICHEN

KONFLIKTEN

Im Rahmen des Berner Forums für Krimi-nalwissenschaften hält Josephine Rietmann-Cornu, Assistentin am Institut für Strafrechtund Kriminologie der Uni Bern, am 17. No-vember 2003, von 18.15 bis ca. 19.30Uhr einen Vortrag zum Thema �Mediationin kriminalrechtlich relevanten Konflikten:Idee, Ideal oder Ideologie?�

Das Referat findet statt im Hauptgebäudeder Universität Bern, im Hörsaal 115.

Der Eintritt ist gratis.

SVJ ÜBERNIMMT VERZEICHNIS DER

JUGENDSTRAFBEHÖRDEN VOM BJ

Die Schweizerische Vereinigung für Jugend-strafrechtspflege (SVJ) gibt von nun an aufihrer Internetseite die Liste der kantonalenJugendstrafbehörden heraus und sorgt fürihre laufende Aktualisierung. Bisher führtedie Sektion Straf- und Massnahmenvollzugdes Bundesamts für Justiz (BJ) dieses Ver-zeichnis und veröffentlichte es als Bro-schüre. Eine aktualisierte Version der Bro-

schüre ist zum letzten Mal im Jahre 2000erschienen.

Auch in der neuen elektronischen Fassungwird jeweils nur die erste Instanz des ju-gendstrafrechtlichen Verfahrens erwähnt;die kantonalen Rechtsmittelbehörden sindnicht berücksichtigt.

Aktuelles Verzeichnis derJugendstrafbehörden

Es findet sich auf der Internetseite derSchweizerischen Vereinigung für Ju-gendstrafrechtspflege (SVJ):http://www.julex.ch/php/borg.php?lang=de

Dieser Link ist auch angegeben auf derInternetseite des Bundesamts für Justiz(www.ofj.admin.ch), Rubrik Dienste -Straf- und Massnahmenvollzug - Infor-mation und Dokumentation.

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IMPRESSUM

HerausgeberinBundesamt für Justiz, Sektion Straf- und MassnahmenvollzugDr. Priska Schürmann

RedaktionRedaktor: Dr. Peter Ullrich

Tel. +41 31 322 40 12; [email protected]Übersetzer: Pierre Greiner

Tel. +41 31 322 41 48; [email protected]: Andrea Stämpfli

Tel. +41 31 322 41 28; [email protected]

Bestellung, Anfragen, Adressänderungen und andere MitteilungenBundesamt für JustizSektion Straf- und Massnahmenvollzug3003 BernTel. +41 31 / 322 41 28, SekretariatFax +41 31 / 322 78 73Internet: http://www.ofj.admin.ch/themen/bullsmv/intro-d.htm

http://www.ofj.admin.ch (Homepage des Bundesamts für Justiz)

Copyright / Abdruck� Bundesamt für JustizAbdruck unter Quellenangabe erwünscht mit der Bitte um Zustellung eines Belegexemplars.

28. Jahrgang, 2003 / ISSN 1420-2638