1. Geografische Lage und Bevölkerung 7

Die Bundesrepublik Deutschland seit der Vereinigung 9

Wechselhaft mit sonnigen Abschnitten 11

Die Bevölkerung 11Deutsch und andere Sprachen 14Sprachen in der Europäischen Union 17Deutsche und Ausländer 19

2. Die Bundesländer 23

Die Bundesländer 24

3. Soziales 59

Die Familie 60Wohnen heute und morgen 61Die Frau, Familie und Beruf 64Jugendliche nach der Wende und heute 67Die Alten heute und morgen 75Freizeit und Sport 77Engagement in Ehrenämtern 81

4. Politik und öffentliches Leben 83

Das parlamentarische Regierungssystem 84

Europa – Ein Rückblick 90Die Medien – Presse, Rundfunk und Fernsehen 94

Schule und Studium 98Berufliche Bildung 104Weiterbildung 107

5. Kulturelles 109

Orte und ihre Dichter 110Das vereinte Deutschland und seine Autoren 114

Die Welt und die Bühnenwelt 119Zentren der Musikgeschichte 125Filmereignisse 129Vielfalt der Museen 133

6. Aus der Wirtschaft 135

Die Welt der Arbeit 136Made in Germany 139Die EU und Europas Krisen 143Umweltsorgen 145Verkehrswege 150Neue Technologien 151Bewusstseinswandel 154

Anhang 158

Historische Rückblende 159Literatur 168Bildquellen 170Lösungen und Bildinformationen 171Index 172Links 176

Inhalt 5

1. Geografische Lage und Bevölkerung

Ausbilder erläutert jungenFlüchtlingen die Arbeit)

Landschaft in Rheinland-Pfalz (Kürbisfeld)

2. Nicht nur Ausländer, auch Deutsche haben es oftschwer mit ihren Dialekten: Ein Norddeutscher, derzum ersten Mal nach Süddeutschland kommt, hatSchwierigkeiten, sich mit einem „echten“ Bayern oderSchwaben zu verständigen; ebenso ergeht es dem Bayern und Schwaben im Norden.

500 Jahre ReformationMartin Luther wurde 1483 inEisleben, einer Kleinstadt inSachsen-Anhalt geboren,und starb dort 1546. Am 31.Oktober 1517 soll er seine 95Thesen gegen den Ablass-handel der römisch-katholi-schen Kirche (Zahlung vonGeld an den Papst, um sichvon Höllenstrafen undSchuld freizukaufen) an derTür der Schlosskirche in dem100 km entfernten Witten-berg veröffentlicht haben. In dieser Kirche ist er auch be-graben, gemeinsam mit seinem Mitstreiter Philipp Me-lanchthon. Die auf Latein geschriebenen Thesen sind derBeginn der Reformation, die die Welt verändert hat undzur Entstehung der Evangelischen Kirchen und zur Tren-nung vom römischen Katholizismus geführt hat. 500Jahre Reformation werden ein Jahr lang bis zum 31. Ok-tober 2017 gefeiert. Das 360-Grad-Panorama „Luther2017“ des Künstlers Yadegar Asisi in Wittenberg machtdie Zeit der Reformation mit Szenen des 16. Jahrhun-derts, in dem auch der Reformator vorkommt, direkt erlebbar.

Luther studierte an der Universität Erfurt, trat dann indas Kloster der Augustiner-Eremiten ein und studierte

16 Geografische Lage und Bevölkerung

Aufgaben1. Sind Sie der gleichen Meinung?

2. Welche Dialekte haben Sie schon gehört?

Bairisch ist laut UmfrageLieblingsdialekt der JugendHamburg (dpa) – Bairisch ist der Lieblingsdialekt derjungen Leute zwischen 19 und 29 Jahren. Nach einerrepräsentativen Umfrage unter 700 Jugendlichen inDeutschland hören 35,1 Prozent von ihnen am lieb-sten diesen Dialekt. Zweitbeliebteste Sprache istBerlinerisch mit 14 Prozent vor Kölsch (13 Prozent).Seitdem Berlin Hauptstadt ist, gilt dem Berliner Dia-lekt ein besonderes Interesse. Charakteristisch fürdie berühmte „Berliner Schnauze“ sind Schnelligkeit,Schlagfertigkeit und Witz. „Zum Weghören“ findenviele der Befragten vor allem Sächsisch (40,7 Pro-zent) und Schwäbisch (18,1 Prozent). Zu den wenigerbeliebten Dialekten zählen der Umfrage zufolgeauch Plattdeutsch, der „Ruhrpott-Slang“ (beide 8,1Prozent) und Hessisch (7,4 Prozent).

Das Stichwort Ët Hochdeutsch1. Bezeichnung für die Schriftsprache im Gegensatz zuden Dialekten 2. Die Luther-Bibel (erste Ausgabe 1534), die erste Überset-zung der Bibel ins Deutsche, ist die Grundlage des Hoch-deutschen. Martin Luther (1483-1546) wählte die gespro-chene Sprache, um der gesamten Bevölkerung, auch deneinfachen Leuten, den Zugang zur Schrift zu ermöglichen.

Thesentür in Wittenberg

Sprachen in der Europäischen Union

1. Deutsch ist keine Weltsprache, aber mit 95 MillionenSprechern in Europa (132 Mio. weltweit) und als Amts-sprache in 7 Ländern eine wichtige Regionalsprache.Deutsch ist anerkannte Minderheitssprache in Ostbel-gien und Südtirol, wo es jeweils auch regionale Amts-sprache ist, sowie in Dänemark (Nordschleswig), Frank-reich (Elsass-Lothringen), Polen (Schlesien), Tschechien,Ungarn und Rumänien.

2. Wie die EU-Kommission in der Studie Spezial Euro-barometer 386 feststellt, sprechen 11% aller Einwohnerder EU Deutsch als Fremdsprache, während das Engli-sche von 38% beherrscht wird.Eine Mehrheit der EU-Bürger können sich in einerFremdsprache unterhalten (54%). 25% beherrschenweitere 2 Sprachen und 10% weitere 3. Weniger als dieHälfte spricht keine Fremdsprache. Das EU-Ziel, dass jeder Bürger mindestens 2 Fremdsprachen sprechensollte, ist nur in 8 Staaten verwirklicht: in Luxemburg(84%), den Niederlanden (77%), Slowenien (67%), Malta(59%), Dänemark (58%), Lettland (54%), Litauen (52%)und Estland (52%).

Theologie. An der Witten-berger Universität hielter Vorlesungen und pre-digte öffentlich gegenden Ablass, um die Kirche

zu Reformen zu bewegen: „Sola scriptura (nur dieSchrift), „sola gratia“ (allein aus der Gnade). Er wur-de angeklagt und zum Widerruf aufgefordert, ver-teidigte aber seine Thesen und veröffentlichte vieleSchriften und Schriftsammlungen. „Hier stehe ich,ich kann nicht anders“ soll ein Zitat von ihm sein. Erwurde für „vogelfrei“ erklärt, d.h. jeder konnte ihntöten. Als Junker Jörg lebte er unerkannt auf derWartburg und übersetzte das Neue Testament insDeutsche, später auch das Alte Testament. Er er-langte eine große Breitenwirkung durch Predigten,Schriften und Flugblätter, weil er dem Volk „aufsMaul“ schaute und so redete, dass alle ihn verste-hen. Der neue Buchdruck wurde durch die Verbrei-tung der Lutherbibel zu einem Massenmedium. Be-rühmt wurden seine Wortschöpfungen und seinebilderreiche Sprache. Redewendungen wie „Perlenvor die Säue werfen“ oder „im Dunkeln tappen“, „aufSand bauen“, „ein Buch mit sieben Siegeln“ gehenauf ihn zurück. Er lehnte das Zölibat ab und heirate-te Katharina von Bora, eine ehemalige Nonne.

Für die einen ist Luther eine Kultfigur, ein Gigant, fürdie anderen ein intoleranter Reaktionär und Antise-mit. Luther ist aber nur aus seiner Zeit heraus zuverstehen: so sein Glaube an Hölle und Vorherbe-stimmtsein. Was bleibt, ist die Aufforderung, keineAutoritäten zuzulassen, sondern mündig zu werdenund nur dem Gewissen zu folgen. Nicht die Kircheist die höchste Autorität, sondern die Heilige Schrift.Wer Luther heute feiert, legt im Jubiläumsjahr Wertauf das Gemeinsame der Kirchen seit dem spätenMittelalter und auf ökomenische Akzente.

Europa: Sprach-BarrierenSo viel Prozent der Bürger sprechen...

mindestens 1 Fremdsprache

54%56%

25%28%

10%11%

46%44%

mindestens 2 Fremdsprachen

EB77, 1 Febr.-März. 2012

EB64, 3. Nov. -Dez. 2005

mindestens 3 Fremdsprachen

keine Fremdsprache

Geografische Lage und Bevölkerung 17

Später erfolgten Reformen des Gesetzes. Die Hürdenfür ausländische Beschäftigte und Selbstständige ausNicht-EU-Ländern bleiben aber hoch. Außer für Hoch-qualifizierte, die über die Blue Card kommen können,gilt weiterhin der seit den Siebzigerjahren geltendeAnwerbestopp. Studenten bekommen nach einem er-folgreich abgeschlossenen Studium die Aufenthalts-und Arbeitserlaubnis für ein Jahr.Geduldete Ausländer, die aus humanitären Gründennicht ausgewiesen werden, können durch ihre Integra-tionsleistungen ein Bleiberecht erwerben. Sie solltendurch ihre Arbeit unabhängig sein, Deutsch gelernt ha-ben und am sozialen Leben teilnehmen.

Das Stichwort Ë Deutsche StaatsbürgerschaftWer sich mindestens acht Jahre rechtmäßig in derBundesrepublik aufgehalten hat, kann die deutscheStaats bürger schaft erwerben. Ausländer müssen dannin der Regel ihre bisherige Staats an ge hörigkeit aufge-ben (Ausnahme: EU-Bürger). Die Gesetzesreform von 1999 brachte nur Kindern aus-ländischer Eltern, die in Deutschland geboren wurden,eine gewisse Erleichterung. Sie erhalten automatischdie deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ein Elternteilmindestens seit 8 Jahren in Deutschland lebt. Zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr müssen sieentscheiden, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeitbehalten oder ob sie eine andere Staatsangehörigkeitvorziehen. Kinder, die in Deutschland geboren und auf-gewachsen sind, können die doppelte Staatsangehö-rigkeit behalten.

Enttäuschend ist die geltende Regelung für die seitJahrzehnten in Deutschland lebenden Ausländer der älteren Generation. Für sie ist eine Reform, z.B. auch daskommunale Wahlrecht, politisch nicht durchsetzbar.Das kommunale Wahlrecht gilt nur für EU-Staatsbür-ger, die in Deutschland einen festen Wohnsitz haben.

Die Flüchtlingskrise seit 20151. Sorgen macht die große Zahl von Asylbewerbern ausden Kriegsgebieten des Nahen Ostens, aus Syrien, Irakund Afghanistan, und aus den Krisengebieten Afrikas.2015 setzte eine Völkerwanderung über das Mittelmeerund über die sogenannte Balkanroute ein, die Europa ineine tiefe Krise stürzte. Im Mittelmeer vor den griechi-schen Inseln und vor Italien sind bereits Zehntausende er-trunken, die in Schlauchbooten Europa erreichen wollten.

Das Stichwort Ë HelferkreiseCa. 900 000 Menschen kamen im Jahr 2015 nachDeutschland. Viele wurden zunächst u.a. in Turnhallenuntergebracht, die als Notunterkünfte dienten. Gleich-zeitig bildeten sich in Städten und Gemeinden Helfer-kreise aus Bürgern, die spontan ihre Hilfe anboten, weilstaatliche Stellen hoffnungslos überfordert waren. Zusammen mit dem Roten Kreuz bauten Bürger überNacht eine Grundversorgung für Tausende auf, eröff-nen Spendenkammern, richteten Behelfsküchen einund halfen bei Behördengängen. Diese zivilgesell-schaftlichen Initiativen sind etwas ganz Neues in derdeutschen Geschichte.Heute kümmern sich die Helfer um Sprachunterricht,um Jobsuche und bei Problemen des Alltags oder ge-stalten auch Freizeitaktivitäten.

2. Wie sich das Zusammenleben von Deutschen undHunderttausenden von Flüchtlingen organisieren lässt,versuchen viele Leitfäden, Broschüren, Videos und Appszu erklären. Sie wollen Regeln und kulturelle Unterschie-de deutlich machen und vor allem die deutsche Sprachevermitteln. Der Ausspruch „Wir schaffen das“ der Kanzle-rin Angela Merkel rief Zustimmung, später aber auch Kri-tik und Ablehnung hervor.

20 Geografische Lage und Bevölkerung

Geografische Lage und Bevölkerung 21

Das Stichwort Ë Asyl„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ heißt es in Artikel16a des Grundgesetzes. Dieses Grundrecht wurde aus derErfahrung der Vergangenheit heraus formuliert: FürDeutsche, die vor der Naziherrschaft ins Ausland fliehenmussten, war die Gewährung von Asyl vor und währenddes Zweiten Weltkriegs überlebenswichtig. 1993 wurdenach heftigen politischen Auseinandersetzungen dasRecht auf Asyl modifiziert. Asylbewerber, die aus sicherenDrittstaaten (= Länder, in denen die Genfer Flüchtlings-konvention und die europäische Menschenrechtskonven-tion gilt) einreisen, haben kein Anrecht mehr auf Asyl(Schengener Abkommen und Dubliner Verfahren, siehe S. 92).

3. Bundesweit sind Erstaufnahmeeinrichtungen ge-schaffen worden, in denen Flüchtlinge Asyl beantragen.Das Dubliner Verfahren war wegen des Ansturms außerKraft. Bürgerkriegsflüchtlinge haben gute Aussichtenauf Asyl. Anerkannte Flüchtlinge können ihre nächstenAngehörigen – Kinder, Eltern, Ehegatten – nachDeutschland nachholen.Die Entscheidung über die Anerkennung von Asyl fälltin Deutschland das Bundesamt für Migration undFlüchtlinge in Nürnberg (= BAMF) und seine Außenstel-len. Abgelehnte Asylbewerber aus sicheren Drittstaatenkönnen relativ schnell abgeschoben (= zurückgeschickt)werden. Deutschland versucht inzwischen, die Zahl „sicherer“ Drittstatten zu erhöhen, um mehr Flüchtlin-ge zurückschicken zu können. Flüchtlinge, die nicht ab-geschoben werden können (Länder verweigern z.B. dieRücknahme), können ein begrenztes Bleiberecht bekommen.Es gibt für die meisten keine legale Möglichkeit, ein sicheres EU-Land zu erreichen. Deshalb flüchten vielemit falschen Papieren und auf lebensgefährlichen Wegen und bezahlen das oft mit ihrem Leben.

4. Brüssel appellierte an die Solidarität der Länder undschlug einen Verteilerschlüssel mit bestimmten Auf-nahmequoten vor. Das Ergebnis war niederschmet-ternd. Viele, allen voran die neuen EU-Länder im Osten,lehnten die Aufnahme von Flüchtlingen strikt ab, trotzder Appelle des EU-Präsidenten für Menschlichkeit undSolidarität. Es drohen aber auch innere Gefahren:Rechtsradikale Kräfte verbreiten Hassbot-schaften über das Internet; rechte Pöblerund verblendete Mitläufer setzen Flücht-lingsunterkünfte in Brand und verübenGewalttaten. Für die Montagsdemonstra-tionen der Pegida in Dresden und in anderen Städten(siehe Seite 73) ist das Thema Flüchtlinge zur Demon-

stration des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit ge-worden; Gegendemonstrationen sind die Antwort. Esgeht darum, die Inhalte der Pegida als falsch zu entlar-ven und zivilgesellschaftlichen Widerstand zu leisten.

5. Angesichts neuer Terrorgefahren haben sich die EU-Mitgliedsländer geeinigt, die EU-Außengrenzen besserzu schützen (siehe Frontex, S. 145). Nationale Kontrollenan den EU-Innengrenzen sollen das Schengener-Abkom-men der offenen Grenzen aber nicht außer Kraft setzen.

Die DresdnerSemperoperzeigt Flagge

2. Die Bundesländer

AufgabenDie Zahl der Menschen, die von Armut bedroht sind, steigtseit Jahren. Ursache sind Schulden, vor allem geringe Löh-ne und zunehmend niedrige Renten, die zum Leben kaumreichen. Ursache sind auch Zugewanderte und Menschenmit Migrationshintergrund. Ihre Lage bessert sich erstnach einem längeren Aufenthalt. Ziel ist, Zuwanderer zuqualifizieren, damit sie ihr Leben selbst in die Hand neh-men können. Das ist in der Vergangenheit nicht immergelungen; Maßnahmen gegen Ungleichheit und Armutbleiben deshalb auf der Tagesordnung. Kommentieren Sie

Das Stichwort Ë AlleinerziehendeFast jede fünfte Familie besteht aus nur einem Eltern-teil, dem Vater, meist der Mutter, der/die das Kind oderdie Kinder allein erzieht. Der Staat unterstützt, aber dieProbleme sind groß, weil der Alltag mit Beruf schwer zuorganisieren ist.

Das Stichwort Ë KinderarmutDie Zahl benachteiligter Kinder und Jugendlicherwächst. Abgehängt werden vor allem kinderreiche Fami-lien und Alleinerziehende. Ganztagsschulen können daeine Unterstützung sein.

Wohnen in den neuen Bundesländern1. Zwischen Elbe und Oder wurden nach derWende 1989 Milliarden investiert, um verfalle-ne Innenstädte zu sanieren und zu modernisie-ren. Häuser bekamen farbige Fassaden und dieInfrastruktur wurde entwickelt. Die Bausub-stanz hatte in den vierzig Jahren der kommu-nistischen Herrschaft stark gelitten, umwelt-schädliche Heiz systeme haben die Luft verpes-tet. In der ehemaligen DDR waren seit den

1960er-Jahren eintönige Bauten aus fertigen Betonplat-ten entstanden. Die relativ kleinen Wohnungen entspra-chen einer bestimmten Norm, denn Geld und Wohn-raum waren knapp. Dafür waren die Mieten extrem niedrig (ca. ein Zehntel einer vergleichbaren Wohnungs-miete im Westen), die Wohnungen deshalb begehrt.

2. Seit der Wende haben Sanierungsprojekte die Wohn-qualität verbessert; die Plattenbauten wurden neu auf-poliert. Heute ist das Image der „Platte“ gestiegen. Vieleschätzen die immer noch günstigen Mieten.

3. Die Lebensbedingungen in Deutschland West und Ostnähern sich langsam an. Die stufenweise Angleichungder Löhne geschieht in den einzelnen Branchen unter-schiedlich. Die Mieten im Osten sind im Durchschnittnoch günstiger, die Wohnungen im Durchschnitt kleinerals im Westen. Ca. 10% der Wohnungen stehen in Ost-deutschland durch den Wegzug der Bewohner leer.

Soziales 63

Renovierte Plattenbauten im Osten von Berlin

Engagement in Ehrenämtern

1. Die „Süddeutsche Zeitung“ veranstaltete eine Podi-umsdiskussion mit dem Titel „Zukunft der Bürgerarbeit“.Das Ergebnis: Die Bereitschaft, soziale Verantwortung zuübernehmen, wächst. 12 Millionen Menschen engagie-ren sich bürgerschaftlich in Ehrenämtern. Zählt mannoch jene hinzu, die sich in Vereinen und Initiativen en-gagieren, kommt man auf 36 Millionen laut einer Um-frage des Bundesfamilienministeriums; d.h., jeder dritteDeutsche setzt sich in seiner Freizeit für das Allgemein-wohl ein. Die „Klage über soziale Kälte und Egoismus istein altes Klischee“, hieß es. Das Ehrenamt hat aber einen Wandel durchgemacht:Freiwillige wollen sich kurzfristig und unverbindlich en-gagieren, und zwar für ein bestimmtes Projekt. Vor al-lem Jugendliche wollen nicht mehr von Institutionenbestimmt sein – von Parteien, Kirchen und Vereinen –,sondern ihr Engagement selbst bestimmen. Die Men-schen suchen Anerkennung und Spaß, vor allem imsportlichen Bereich. Es entstehen auch Selbsthilfegrup-pen, die sich um Suchtprobleme kümmern, und die Fa-milienselbsthilfe, die Nachbarschaftshilfe sowie privateInitiativen für mehr Zivilcourage, insgesamt also Initiati-ven für mehr Solidarität. Bemerkenswert ist die selbstlo-se Tätigkeit der Helferkreise, die sich um Flüchtlingekümmern, Hilfe organisieren, zum Teil 24 Stunden lang,sich mit Ämtern koordinieren und Koordinationsstellen

einrichten, um weiter wirksam helfen zu können (s. S. 20). Die meisten Ehrenamtlichen sind zwischen 35 und 45 Jahre alt, aber auch Jugendliche und über65-Jährige engagieren sich ehrenamtlich.

2. Immer beliebter und leider auch notwendig werdendie sogenannten Tafeln, die Bedürftige gratis mit über-schüssigen Lebensmitteln aus Supermärkten, Bäckerei-en und anderen Unternehmen versorgen. Bundesweitgibt es über 900 Tafeln mit über 2.100 Läden und Es-sensausgaben, die ca. 1,8 Mio. Personen erreichen. Mit60.000 ehrenamtlichen Helfern gelten die Tafeln alseine der größten sozialen Bewegungen heute. Nebender Verteilung von Lebensmitteln bieten 17 Prozent derTafeln auch warmes Essen an und beliefern soziale Ein-richtungen. Ein Drittel der Bedürftigen, die zu den Ta-feln kommen, sind Kinder und Jugendliche.

Die Tafeln finanzieren sich durch Spenden. Neben denSpenden von Bäckereien, Fleischereien und Supermärk-ten reparieren Kfz-Betriebe die notwendigen Fahrzeu-ge, Grafiker erstellen Informationsmaterial usw. DerBundesverband Deutsche Tafeln e.V., gegründet 1995,ist Sprachrohr der Tafeln. Schirmherr ist das Bundesfa-milienministerium.

Soziales 81

Waren-Ausgabe

Lernpaten, die es an jedem Ort gibt, helfen Kindern bei denHausaufgaben (s. auch S. 108).

2. In den neuen Bundesländern gab es nach einemschwierigen Start in den Neunzigerjahren bald bemer-kenswerte Neuinszenierungen und kreativen Neube-ginn, vor allem auch in der Theaterprovinz. – In Cottbuszum Beispiel, wo sich das Theater heute bewusst denFragen der Zeit stellt. Trotz schwieriger Startbedingun-gen macht auch eine Stadt wie Magdeburg von sich re-den. Tobias Wellemeyer erregte viel Aufmerksamkeit imtheatermagdeburg. 2009 ging er an das kleine Hans Otto Theater in Potsdam.Seine Mission lautet: aus Thea-tern Orte schaffen, in denen die Menschen vergessen, wosie sind. Die Identität aus der Zukunft schaffen, nicht ausder Vergangenheit. Die Theaterlandschaft in Ostdeutschland leidet heute be-sonders darunter, dass Theater fusionieren müssen odersogar schließen, obwohl sich die Bürger auch in kleinerenStädten mit ihrem Theater identifizieren und eine Stadtohne Theater an Bedeutung verliert.

3. Das Thalia-Theater in Hamburg, eines der renommier-testen deutschen Bühnen, formuliert die Aufgaben fürdas Theater heute so: Das Theater soll die „Internationa-lisierung unserer Gesellschaft und unserer Städte mitThemen, Stücken und Personen abbilden“. Es geht dar-um, „die Stadt, in der man lebt, wahrzunehmen und mit-zugestalten“. (Joachim Lux, Intendant)Theatermacher diskutieren deshalb, wie sich Migrationauch im Theater niederschlägt: Das Gorki-Theater in Ber-lin unter der Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hill-je mit seinen Schauspielern verschiedenster Herkunftund seinen aktuellen Stücken ist eine Vorzeigebühne.Die Begriffe „Fremde“, „Heimat“ und „Identität“ wer-den zu Schlüsselbegriffen der Theaterarbeit. Das Gorkiwurde beim Theatertreffen in Berlin, wo jährlich die 10bemerkenswertesten Aufführungen gefeiert werden,zum Theater des Jahres 2014 gewählt. In Tschechows„Kirschgarten“ zum Beispiel geht es um ein Grund-stück im heutigen Berlin, wo sich Einheimische und

Migranten gegenüberstehen. Das Stück „CommonGround“ von Yael Ronen & Ensemble wird kollektiv erar-beitet. Es basiert auf einer gemeinsamen Reise nach Bos-nien. Diskutiert werden Schuld und Sühne; Klischees, Vor-urteile und gegensätzliche Erzählungen prallen aufein-ander. 2016 bringt die argentinische Regisseurin Lola Arias in„Atlas des Kommunismus“ bewegende Geschichten ausdem DDR-Leben auf die Bühne, keine Erkenntnisse überden Kommunismus, sondern subjektive Szenen, wie dereine oder andere den real existierenden Sozialismus er-lebt hat.

In „The Situation“ treffen in einem Deutschkurs in BerlinMenschen aus Syrien, Palästina und Israel zusammen. Siesetzen sich mit den paradoxen Wiederbegegnungen ihrer„Nachbarn“ und den Geistern der Vergangenheit ausein-ander. Das Stück spielt auf Englisch, Deutsch, Hebräisch

122 Kulturelles

„Der Kirschgarten“ im Gorki

THESITUATION

Kulturelles 123

und Arabisch mit deutschen und englischen Übertiteln.2016 gründete Shermin Langhoff das „Exil Ensemble“ mitgeflüchteten Schauspielern aus Krisenregionen. Sie willden Künstlern helfen, den Weg in den deutschen Theater-alltag zu finden.

4. Neben dem klassischen Theater bestimmt das experi-mentelle Theater , die freie Szene, Episierung und Perfor-mance die gegenwärtige Theaterlandschaft. Die Einbe-ziehung von Laien auf der Bühne gehört schon längerzum Theateralltag. Das Theaterkollektiv Rimini Protokollim Berliner HAU (= Hebbel am Ufer, einem linken Avant-garde-Theater) hat mit einem neuen Reality Trend dieTheaterszene geprägt. Das Theater bringt keine Laien,aber sogenannte Experten des Alltags auf die Bühne, z.B.ein Tanzprojekt mit Migrantenkindern, und ermöglichtso ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit. Die Macher von Rimini Protokoll erweitern den Thea-terbegriff, indem sie in einem anderen Stück den Thea-terraum total vermeiden. Mit „Remote Berlin“ werdendie Besucher mit Kopfhörern und Audiogeräten durchdie Stadt geführt. Es geht dabei nicht darum, wie dieStadt jetzt ist, sondern wie sie in Zukunft sein könnte.Dasselbe Projekt hat in ortsspezifischen Versionenauch in mehreren anderen Städten – darunter Hanno-ver, Lissabon und Avignon – stattgefunden. Auf der Ruhrtriennale 2013 stellte Rimini Proto-koll das interaktive Theaterstück „SituationRooms“ vor: mit 20 Räumen, in denen sich dieZuschauer aktiv mit ihren iPads durch virtuelleRäume bewegen. Thema ist der internationaleWaffenhandel und -gebrauch. Nicht der Text,sondern ungewöhnliche Seh- und Hörerlebnissesind der Schwerpunkt.

5. Viel diskutiert werden Fragen nach den Gren-zen der Kunst: Was kann Kunst bewirken? Thea-ter soll relevant und politisch korrekt sein. Dastestet zum Beispiel Elfriede Jelinek mit dem

Stück „Die Schutzbefohlenen“ aus, das mit der Flücht-lingspolitik abrechnet. Die Flüchtlingskrise beherrschte Ende 2015 die Theater:„Mannheim Arrival“ trägt authentische Geschichten vonFlüchtlingen vor, in Gegenwart der Geschilderten. AmThalia-Theater Hamburg in dem Stück „Ankommen“ er-zählen Jugendliche aus Afrika, wie sie als MinderjährigeDeutschland erreicht haben. Auch der politische Theaterregisseur Volker Lösch mischtsich ein. Am Dresdener Staatsschauspiel inszenierte er2015 mit „Graf Öderland/Wir sind das Volk“ nach MaxFrisch eine Aufführung über Pegida. Charakteristisch fürihn ist der „Bürgerchor“, den er in bekannte Stücke ein-baut und die er damit aktualisiert. Im Chor treten norma-le Bürger auf. In Dresden sind es Dresdener Bürger, die Stimmungenvermitteln und durch ihre Parolen zeigen, was Angstmacht. Der Regisseur will zum Nachdenken anregen.Sein Theater will sich dem Hass widersetzen und in ei-ner Stadt, die sich in gegensätzliche Lager aufspaltet, dieeigene Haltung zur Welt zeigen. Das wird schwer genug,denn das Konzept von Pegida lehnt alles ab, das nichtins eigene Weltbild passt. Der Hass der Asylgegner undRechtspopulisten blendet alle vernünftigen Argumenteaus und greift zu physischer Gewalt. Politisches Theatererhält hier eine gewaltige Aufgabe.

Bürgerchor in „Graf Öderland“

6. Aus der Wirtschaft

Servicearbeiten an einer Windturbine

Braunkohlekraftwerk Jänschwalde (Brandenburg)

Offshore Windanlagen

Onshore Windanlagen

Hafen erreichen und sogar Flugzeuge ohne Piloten lan-den können. Benötigt werden dazu exakte elektroni-sche Karten, zentimetergenaue Messungen und ultra-präzise Satellitensignale. Genau da soll das europäi-sche Satellitensystem helfen. Zurzeit befinden sich 18Satelliten im Orbit auf einer 23.222 Kilometer hohenUmlaufbahn. Das voll ausgebaute System wird 27 Satelliten auf 3 Umlaufbahnen umfassen, dazu 3 Satel-liten als Reserve. Die Fertigstellung ist für das Jahr2020 vorgesehen. Produziert werden diese Satellitenvon der Firma OHB System AG in Bremen.Medizintechnologie: Als besonders innovativ undwachstumsstark gilt die Medizintechnik-Branche. Me-dizinprodukte helfen Leben zu retten, heilen und ver-bessern die Lebensqualität der Menschen. Dazu gehö-ren Geräte für Diagnostik, Chirurgie und Intensivmedi-zin, auch Implantate für schwache Herzen und krankeGelenke usw.Die Branche beschäftigt insgesamt 95.000 Menschen.95% der MedTech-Unternehmen sind mittelständischeUnternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern. DieGesundheitswirtschaft insgesamt hat mit 324 Milliar-den Euro (2015) einen Anteil an der Gesamtwirtschaftvon 12%. Der Export erreicht bereits die Hälfte der Au-tomobilindustrie.Industrie 4.0: Die Bezeichnung „Industrie 4.0“ besagt,dass eine vierte industrielle Revolution eingeleitetwird. Die erste industrielle Revolution war die Mechani-sierung mit Wasser- und Dampfkraft, die zweite dieMassenfertigung mit Fließbändern und elektrischerEnergie, die dritte oder digitale Revolution der Einsatzvon Elektronik. Kritiker behaupten allerdings, dass dieBezeichnung falsch sei, da die technologische Grundla-ge weiterhin die Mikroelektronik ist.Industrie 4.0 will die industrielle Produktion mit Infor-mations- und Kommunikationstechnik verknüpfen. Zielist eine selbstorganisierte Produktion von der Idee überdie Fertigung bis zum Recycling.

Meldungen aus der Presse:Die PolarsternDie Polarstern, eines derleistungsfähigsten Polar-forschungsschiffe derWelt, wird vom Alfred-Wegener-Institut für Po-lar- und Meeresforschung(AWI) in Bremerhaven be-trieben. Sie dient der Er-forschung der Polarmeereund versorgt die ständig besetzten Forschungsstationen inder Arktis (Koldewey-Station) und Antarktis (Neumayer-Stati-on III,). Mit ihren 20 000 PS starken Motoren kann sie bis zu 1,5 m dickes Eis mit einer Geschwindigkeit von ca. 5 Knotendurchfahren. .

Geothermie in MünchenIm Süden von München wurde ein Geothermie-Kraftwerkgebaut, das durch eine Thermalwassertemperatur von140°C aus einer Tiefe von 2.000 bis 4.000 Metern Heizwär-me erhält und für 16.000 Haushalte Wärme und Strom er-zeugt. München will bis 2040 mit insgesamt 5 Kraftwerkendie erste deutsche Großstadt werden, in der die Fernwärmezu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien besteht. Dergünstige geologische Untergrund Münchens ist für eineumweltfreundliche Energieversorgung besonders geeignet.Vibro-seismische Messungen untersuchen 170 Quadratkilo-meter, um ideale Standorte für weitere Geothermie-Anla-gen zu ermitteln.

Aus der Wirtschaft 153

Die „Polarstern“ im Weddelmeer der Antarktis

Europa – Kriseeines ModellsDie EU krankt an einemfundamentalen Wider-spruch, der seit ihrerGründung besteht. Übernationale Strukturen sind imvereinten Europa entstanden, aber daneben artikulie-ren sich nationale Interessen.

Länder mit eigenen Traditionen haben sich nicht ge-gen Unterdrückung und Gewalt zusammengeschlos-sen, sondern für etwas Neues: für eine Gemeinschaft,die sich wirtschaftlich mit seinen weltweit einzigarti-gen sozialen Standards in der globalisierten Welt be-haupten will. Deutschland gilt vielfach als Modell fürdie betriebliche Mitbestimmung, die Konsenspolitikder Sozialpartner, die Integrationspolitik für Ausländerund die Rechtsordnung.Als Schwachstellen haben sich herausgestellt: Staats-verschuldung, mangelnde Kontrollmechanismen, Ver-letzung der Stabilitätskriterien, unterschiedliche Steuersysteme, nationale Egoismen usw. Für die einengibt es zu viel Europa (Richtlinien aus Brüssel werdenals Diktat empfunden), für die anderen gibt es zu we-nig Europa (Forderung einer politischen Union). Fürdie einen ist Europa ein Friedensprojekt, für die ande-ren nur ein Wirtschaftsraum, der nationale Vorteileverspricht.

Bleibt die Idee von Europa nur ein schöner Traum?War sie allzu idealistisch gedacht? Tatsache ist, dassdie Zahl ihrer Anhänger schrumpft und die Zahl derPopulisten und Nationalisten wächst, die das Rad derGeschichte zurückdrehen und den Nationalstaat wie-der stärken wollen. Die Idee von Europa als Friedens-projekt gerät damit in Gefahr. Mit der Zuwanderungist plötzlich nicht mehr Freiheit, sondern mehr Sicher-heit gefragt. Das Ende von Nationalstaaten kann der

Anfang eines friedlichen Zusammenlebens sein, dasErrichten von Zäunen und Mauern ist Abgrenzung, diealte Gegensätze wieder verstärkt.Tatsache ist aber auch, dass Europa nach wie vor einegewisse Faszination ausübt und eine Verheißung istfür Flüchtlinge vor allem aus Bürgerkriegsländern, dieFrieden, Sicherheit und die Hoffnung auf ein besseresLeben suchen. Die Flucht von Hundertausenden nachEuropa hat den Kontinent in seine größte Krise ge-führt. Eine Lösung ist nicht möglich, solange Kriege,Elend und Armut die Menschen aus ihrer Heimat ver-treiben und solange Diplomatie und Hilfe außerhalbEuropas an ihre Grenzen stoßen. Gefordert wird u.a.eine andere Politik in Afrika, damit Menschen nichtgezwungen sind, ihr Land zu verlassen.Der Rechtsstaat muss sich durch Grenzen schützen,Europa seine Außengrenzen, und gleichzeitig müssenhumanitär legale Lösungen der Einwanderung getrof-fen werden.

Bisher hat Europa alle Krisen überwunden und so be-steht Hoffnung, dass die bisher größten Krisen, dieFlüchtlingskrise und die Terrorgefahr, gemeinschaft-lich und auch international gelöst werden können.

Aus der Wirtschaft 157

Jugendorchester der EU (= EUYO European Union Youth Orchestra), dem140 junge Musiker aus allen 28 EU-Mitgliedsländern angehören.