Inhalt · Peter Schlink und Klaus Fischer. edem Verlag mitteilen. 131. Psychomotorik im Kontext der...

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Editorial e 97 Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs- und Entwicklungsprozesse im Kindesalter Stephanie Bahr u. a. e 98 „Mitschwingen und Resonanzbereitschaft …“ Eine Studie zu den theoretischen Konzeptionen und berufli- chem Selbstverständnis von Psychomotoriktherapeutinnen Susanne Amft, Brigitta Boveland, Kathrin Hensler Häberlin, Beatrice Uehli Stauffer e 110 Auf der Suche nach der sinnvollen Einheit Individualpsychologische Impulse für die Motologie Kimon Blos e 118 Digitales Spielen – Exergames im Vergleich mit traditionellen Trainingsformen bei Älteren Michael Kroll, Andreas Neubrand e 124 AD(H)S – im Gehirn oder im Körper? Die Entdeckung der exekutiven Funktionen Peter Schlink und Klaus Fischer e 131 Psychomotorik im Kontext der Gesundheitsförderung – eine Sicht von außen Gabriele Hanne-Behnke e 140 moto.logisch – Neues aus dem BVDM e 145 Laudatio e 146 Summaries + Résumés e 147 Inhalt Titelbild: www.kompetenzprofil-bik.de Die Zeitschrift MOTORIK wird auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Bei dieser chlorfreien Bleiche des Zellstoffs entstehen keine chlorierten organischen Verbindungen, die die Abwässer belasten könnten. Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie Offizielles Organ des Aktionskreises Psychomotorik e. V. mit Mitteilungen des Berufsverbandes der Motologen – Diplom/Master e. V. Herausgeber: Aktionskreis Psychomotorik e. V. Geschäftsstelle: Kleiner Schratweg 32, 32657 Lemgo Tel. (0 52 61) 97 09 70, Fax (0 52 61) 97 09 72 Geschäftsführender Redakteur: Prof. Dr. phil. Klaus Fischer Redaktion: Dipl.-Motologin Dorothee Beckmann-Neuhaus Wiss. Mitarb. Dr. Melanie Behrens Prof. Dr. phil. Ruth Haas Prof. Dr. Holger Jessel Prof. Dr. Astrid Krus Prof. Dr. phil. Heinz Mechling Prof. Dr. phil. Renate Zimmer Anschrift der Redaktion: Prof. Dr. Klaus Fischer Haselhecke 50, 35041 Marburg Tel. (0 64 21) 2 33 32 (p), Tel. (02 21) 4 70 46 73 (d) Fax (0 64 21) 2 56 92 (p), Fax (02 21) 4 70 50 85 (d) E-Mail: [email protected] Erscheinungsweise: Vierteljährlich Bezugsbedingungen: Jahresabonnement (4 Ausgaben inkl. Versandkosten) e 48,40; Vorzugspreis für Studierende e 44,–; Einzelheft e 12,– (zuzügl. Versandkosten). Für die Mitglieder des Aktionskreises ist der Bezugspreis der Zeitschrift im Mitgliedsbeitrag enthalten. Die Abonnement-Rechnung ist sofort zahlbar rein netto nach Erhalt. Der Abonnement-Vertrag ist auf unbestimmte Zeit geschlossen, falls nicht ausdrücklich anders vereinbart. Abbestellungen sind nur zum Jahresende möglich und müssen spätestens 3 Monate vor dem 31. Dezember beim Verlag eintreffen. Unregel- mäßigkeiten in der Belieferung bitte umgehend dem Verlag mitteilen. Der Versand und die Abonnement-Bearbeitung erfolgen über EDV. Für diesen Zweck sind die dafür notwendigen Daten gespeichert. Die Post sendet Zeitschriften auch bei Vorliegen eines Nachsendeantrags nicht nach! Deshalb bei Umzug bitte Nachricht an den Verlag mit alter und neuer Anschrift. Vertrieb: Anschrift siehe Verlag Telefon (0 71 81) 402-124 E-Mail: [email protected] Anzeigen: Anschrift siehe Verlag Telefon (0 71 81) 402-124, Fax (0 71 81) 402-111 [email protected] Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste vom Januar 2012 Gesamtherstellung: Druckerei Djurcic, D-73614 Schorndorf International Standard Serial Number: E 7518 ISSN 0170-5792 Copyright: © by Aktionskreis Psychomotorik e. V. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch in Über- setzungen, nur mit Genehmigung der Redaktion. Die namentlich gekennzeichneten Beiträge geben nicht in jedem Falle die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktions behält sich vor, Leser- briefe gekürzt zu veröffentlichen und Manu- skripte redaktionell zu bearbeiten. Verlag: Hofmann-Verlag GmbH & Co. KG Postfach 1360, D-73603 Schorndorf Tel. (0 71 81) 402-0, Fax (0 71 81) 402-111 E-Mail: [email protected]

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Editorial e 97

Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs­ und Entwicklungsprozesse im Kindesalter Stephanie Bahr u. a. e 98

„Mitschwingen und Resonanzbereitschaft …“ Eine Studie zu den theoretischen Konzeptionen und berufli­chem Selbstverständnis von Psychomotoriktherapeutinnen Susanne Amft, Brigitta Boveland, Kathrin Hensler Häberlin, Beatrice Uehli Stauffer e 110

Auf der Suche nach der sinnvollen Einheit Individualpsychologische Impulse für die Motologie Kimon Blos e 118

Digitales Spielen – Exergames im Vergleich mit traditionellen Trainingsformen bei Älteren Michael Kroll, Andreas Neubrand e 124

AD(H)S – im Gehirn oder im Körper? Die Entdeckung der exekutiven Funktionen Peter Schlink und Klaus Fischer e 131

Psychomotorik im Kontext der Gesundheits förderung – eine Sicht von außen Gabriele Hanne-Behnke e 140

moto.logisch – Neues aus dem BVDM e 145

Laudatio e 146

Summaries + Résumés e 147

Inhalt

Titelbild: www.kompetenzprofil-bik.de

Die Zeitschrift MOTORIK wird auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Bei dieser chlorfreien Bleiche des Zellstoffs entstehen keine chlorierten organischen Verbindungen, die die Abwässer belasten könnten.

Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie Offizielles Organ des Aktionskreises Psychomotorik e. V. mit Mitteilungen des Berufsverbandes der Motologen – Diplom/Master e. V.Herausgeber: Aktionskreis Psychomotorik e. V. Geschäftsstelle: Kleiner Schratweg 32, 32657 Lemgo Tel. (0 52 61) 97 09 70, Fax (0 52 61) 97 09 72Geschäftsführender Redakteur: Prof. Dr. phil. Klaus FischerRedaktion: Dipl.-Motologin Dorothee Beckmann-Neuhaus Wiss. Mitarb. Dr. Melanie Behrens Prof. Dr. phil. Ruth Haas Prof. Dr. Holger Jessel Prof. Dr. Astrid Krus Prof. Dr. phil. Heinz Mechling Prof. Dr. phil. Renate ZimmerAnschrift der Redaktion: Prof. Dr. Klaus Fischer Haselhecke 50, 35041 Marburg Tel. (0 64 21) 2 33 32 (p), Tel. (02 21) 4 70 46 73 (d) Fax (0 64 21) 2 56 92 (p), Fax (02 21) 4 70 50 85 (d) E-Mail: [email protected]: VierteljährlichBezugsbedingungen: Jahresabonnement (4 Ausgaben inkl. Versandkos ten) e 48,40; Vorzugspreis für Studierende e 44,–; Einzelheft e 12,– (zuzügl. Versandkosten). Für die Mitglieder des Aktionskreises ist der Bezugspreis der Zeitschrift im Mitgliedsbeitrag enthalten. Die Abonnement-Rechnung ist sofort zahlbar rein netto nach Erhalt. Der Abonnement-Vertrag ist auf unbestimmte Zeit geschlossen, falls nicht ausdrücklich anders vereinbart. Abbestellungen sind nur zum Jahresende möglich und müssen spätestens 3 Monate vor dem 31. Dezember beim Verlag eintreffen. Unregel- mäßigkeiten in der Belieferung bitte umgehend dem Verlag mitteilen. Der Versand und die Abonnement-Bearbeitung erfolgen über EDV. Für diesen Zweck sind die dafür notwendigen Daten gespeichert. Die Post sendet Zeitschriften auch bei Vorliegen eines Nachsendeantrags nicht nach! Deshalb bei Umzug bitte Nachricht an den Verlag mit alter und neuer Anschrift.Vertrieb: Anschrift siehe Verlag Telefon (0 71 81) 402-124 E-Mail: [email protected]: Anschrift siehe Verlag Telefon (0 71 81) 402-124, Fax (0 71 81) 402-111 [email protected] Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste vom Januar 2012Gesamtherstellung: Druckerei Djurcic, D-73614 SchorndorfInternational Standard Serial Number: E 7518 ISSN 0170-5792Copyright: © by Aktionskreis Psychomotorik e. V. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch in Über- setzungen, nur mit Genehmigung der Redaktion. Die namentlich gekennzeichneten Beiträge geben nicht in jedem Falle die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktions behält sich vor, Leser- briefe gekürzt zu veröffentlichen und Manu- skripte redaktionell zu bearbeiten.Verlag: Hofmann-Verlag GmbH & Co. KG Postfach 1360, D-73603 Schorndorf Tel. (0 71 81) 402-0, Fax (0 71 81) 402-111 E-Mail: [email protected]

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„Die diesjährige Jahrestagung des AKP nimmt sich in Praxis und Theorie der psychomotorischen Arbeit mit älteren Menschen an. In Seminaren und Workshops werden sowohl Veränderun­gen im Alter und darauf abgestimmte psychomotorische Angebote vorgestellt als auch die spezifische Psychomotorik als Medium des Kontakts und der Begegnung mit demenzkranken Menschen thematisiert“ (Programmheft 2012). Damit stellt sich der AKP zum wiederholten Male der Aufgabe, stimmige Konzepte für die Arbeit in der späten Lebensspanne zu präsen­tieren. Tatsächlich haben die Konzeptdiskus­sionen und praktischen Anwendungen in den letzten zwei Jahrzehnten die gesamte Lebensspanne erobert, stand doch in den 70er und 80er Jahren vorrangig die Kindheit im Fokus des Fachinteresses. Diese Ausgabe der Motorik stellt einige Forschungs­arbeiten der gesamten Lebensspanne vor.Das BMBF­Forschungsverbundprojekt „Bewegung in der frühen Kindheit“ der Universitäten Köln und Dortmund sowie der Hochschulen Koblenz und Nieder­rhein geht der Frage nach, welchen Stellenwert der Bildungsbereich Bewegung in den aktuellen Profes­sionalisierungsprozessen der Kindheits­

Editorial

pädagoginnen im Fachakademie­ und Hochschulbereich findet. Die Autoren­gruppe Stephanie Bahr u. a. stellt in diesem Beitrag nach Sichtung der internationalen und interdisziplinären Fachdiskurse ein vierdimensionales Klassifikationssystem von Bedeutungs­feldern der Bewegungs­ und Entwick­lungsprozesse im Kindesalter vor. Diese dient als Grundlage differenzierender Fragestellungen. Die Autorinnengruppe um Susanne Amft beschreibt die Ergebnisse einer Studie, die das fachliche Selbst­verständnis von Psychomotorik­therapeutinnen in der gegenwärtigen Neu organisation der Schweizer Schullandschaft eruiert. Gefragt wird nach den Bezugstheorien und spezifi­schen Arbeitsweisen, die die Psycho­motoriktherapie als eigenes Berufsfeld identifizieren.Auch der dritte Beitrag entstammt dem Schweizer Diskussionsfeld. Kimon Blos stellt die Begründungslinien seiner Dissertationsstudie vor. Sie stellt einen Beitrag zur psychomotorischen/motologischen Theoriekonstruktion dar, der Konzeptbausteine der Individualpsy­chologie Adlers in den psychomotori­schen Fachdiskurs transferiert.Michael Kroll und Andreas Neubrand stellen eine Studie zum Thema digitales Spielen (Exergames) mit älteren

Menschen vor. Das interaktiv gestaltete Training zielt auf eine Verbesserung von Kraft und Koordination. Die Studie unterstreicht die Bedeutung von Exer­ games für die Verbesserung physio­logischer Parameter und stellt das Instrument ins Licht generationsüber­greifender Trainingsmethoden.Der Beitrag von Peter Schlink und Klaus Fischer diskutiert die Förderung hyper­ aktiver Kinder unter der Perspektive neurowissenschaftlicher Erklärungs­ansätze und stellt das Konzept der exekutiven Funktionen ins Zentrum der Betrachtungen. Danach sind besonders bewegungsbezogene und spielerische Aneignungsweisen geeignet, einen Beitrag zur Förderung verschiedener Kontrollprozesse (Handlungsplanung, Impulskontrolle, Aufmerksamkeits­steuerung) von Kindern zu leisten, die in der Forschung als AD(H)S­Kinder beschrieben werden.Abgeschlossen wird das Heft durch den Beitrag von Gabriele Hanne-Behnke, die als Hochschullehrerin in der Physiotherapie einen Blick von außen auf die Gesundheitsdebatte im Bereich der Psychomotorik/Motologie wirft.

Klaus Fischer

Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs- und Entwicklungsprozesse im Kindesalter

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bildungsinitiative „AWiff Frühpädago-gische Fachkräfte“2 zu sehen, deren übergreifendes Ziel die fundierte Analyse der Entwicklung und Ausdiffe-renzierung des Aus- und Fortbildungs-systems für diesen Bereich darstellt. Es ist Teil der bundesweiten Bemühun-gen einer stärkeren Strukturierung und Professionalisierung der gesamten frühen Bildung. In dem Forschungs-projekt wird als Grundlage für eine mögliche Neukonzeption von fach-spezifischen Qualifikationen in einem ersten Schritt der Frage nachgegangen, ob der gegenwärtig international und interdisziplinär hoch bewertete

2 Die Ausweitung der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (AWiFF) ist ein Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Robert Bosch Stiftung in Zusammenarbeit mit dem deutschen Jugend-institut e. V. Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpädagogischen Weiterbildungs-system in Deutschland mehr Transparenz herzu- stellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern.

Der Beitrag ist eingebettet in das Forschungsverbundprojekt „Bewegung in der frühen Kindheit (BiK)“, das auf der Grundlage von sog. Bedeutungsfeldern der Bewegung ihren Stellenwert in der frühpädagogischen Bildung, insbesondere in der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften für diesen Bereich analysiert. In diesem Beitrag werden die Ergebnisse einer systematischen Sichtung und Analyse von internationalen interdisziplinären Fachdiskursen zur Bedeutung der Bewegung und Körperlichkeit für Bildungs- und Entwicklungsprozesse in der Kindheit dargestellt und kommentiert.

Stephanie Bahr, Kristin Kallinich, Wolfgang Beudels, Klaus Fischer, Gerd Hölter, Christina Jasmund, Astrid Krus, Stefanie Kuhlenkamp

Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs- und Entwicklungsprozesse im Kindesalter

Einleitung

Das Forschungsprojekt „Bewegung in der frühen Kindheit“1 ist im Zusammen- hang mit der Ausweitung der Weiter-

1 Die Veröffentlichung ist im Zusammenhang mit dem BMBF-Projekt „Bewegung in der frühen Kindheit“ (Fördernummer: 01NV1104) entstan- den. Das Projekt wird von der Universität Köln (Prof. Dr. Klaus Fischer) koordiniert und im Verbund der Technischen Universität Dortmund (Prof. Dr. Gerd Hölter/Dr. Stefanie Kuhlenkamp) und den Hochschulen Koblenz (Prof. Dr. Wolf- gang Beudels) und Niederrhein (Prof. Dr. Christina Jasmund/Prof. Dr. Astrid Krus) durchgeführt. http://www.kompetenzprofil-bik.de/ Als Mitarbeiter/Innen gehören dem Projekt standortbezogen folgende Personen an: Köln: Dr. Melanie Behrens (bis 30.6.2012), Petra Graul-Mayr, Kristin Kallinich (bis 31.8. 2012), Joachim Klein, Michaela Koch (Projekt- koordina tion). Dortmund: Judith Freitag, Dr. Stefanie Kuhlenkamp, Dr. Anke Lengning (bis 30.9.2011), Marina Moll (bis 31.5.2012), Lena von Zabern (seit 1.10.2011). Koblenz: Sabine Bremser, Nicola Böcker, Dr. Janine Stahl- von Zabern. Mönchengladbach: Stephanie Bahr, Aida Kopic (ab 1.1.2012), Katrin Nowak (bis 31.12.2011), Sylvia Siems.

Stellenwert der Bewegung für inklusive frühkindliche Bildungs- und Entwick-lungsprozesse einen adäquaten Niederschlag in den aktuellen Profes-sionalisierungsprozessen pädagogischer Fachkräfte im Fachakademie- und Hochschulbereich findet. Dazu wird eine differenzierte Ist-Stand-Analyse vorgenommen. Der Beitrag repräsentiert den grund-legenden Teil des Projektes als unab-dingbare Verständigung auf zentrale Definitionselemente des „Bedeutungs-phänomens Bewegung“. Als Muster wurde zunächst von der in der deutsch-sprachigen Leibeserziehung und Sportpädagogik seit über 40 Jahren systematisch entwickelten analytischen Reduktion des Bewegungsphänomens nach Bildungsmotiven und Sinnrichtun-gen (Grupe 1976; 1984), nach Sinn-dimensionen und Handlungsfeldern (Kurz 1979) bzw. nach Funktionen (Funke-Wieneke 2004) vorgegangen, d. h. nach Entwürfen in der Sportdidak-tik, die sich unter dem Stichwort „Mehrperspektivität des Bewegungs-handelns“ zusammenfassen lassen. Zunächst wurde durch eine systemati-sche fachspezifische Analyse von Bildungs- und Orientierungsplänen sowie Ausbildungscurricula in der Kindheitspädagogik deren Plausibiltät und Gültigkeit auch für diesen Bereich überprüft. Um interdisziplinären Ansprüchen zu genügen, wurde die

Forschungsteam „BiK“

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Recherche auf die Analyse der wissen­schaftlichen Diskurse zur Bedeutung der Bewegung in den Disziplinen Sportwissenschaften, Erziehungswis­senschaften, Medizin, Neurowissen­schaften sowie Psychologie ausgewei­tet, dabei neben ausgewiesenen Monografien und Sammelwerken die letzten 10 Jahrgänge von 76 interna­tionalen Fachzeitschriften ausgewertet. Die erarbeiteten Kategorisierungen von Zielen, Sinn und Bedeutung von Bewegung für Bildungs­ und Entwick­lungsprozesse lassen sich interpretativ den folgenden vier Hauptkategorien bzw. Bedeutungsfeldern zuordnen.

„Bewegung als Lerngegenstand“„Bewegung als Medium zur Gesund-heitserziehung“„Bewegung als Medium des Lernens“„Bewegung als Medium der Entwick-lungsförderung“

Im Weiteren werden diese vier „Bedeu­tungsfelder“ mit ihren theoretischen Grundlagen und praktischen Bezügen präzisiert.

Bewegung als Lerngegenstand

Dieses Bedeutungsfeld umfasst die Vorstellung, dass Bewegung in der frühen Kindheit eine lebenslange Teilhabe an Bewegungs­, Spiel­ und Sportkulturen gewährleisten soll (vgl. Fikus 2012, 3). Fokussiert wird hier auf die frühpädagogische Aufgabe der „Erziehung zur Bewegung“. Die Ausbil­dung motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten steht im Mittelpunkt. Zum einen sollen Grundtätigkeiten des Sich­Bewegens erlernt werden, zum anderen die Mitgestaltungskompetenz (z. B. Kooperations­ und Kommunika­tionsfähigkeiten) gefördert werden. Diese Grundlagen ermöglichen dem Individuum die Teilhabe am kulturellen System „Bewegung, Spiel und Sport“. Gleichzeitig dienen sie der individuellen und sozialen Selbstverwirklichung. „Bewegung als Lerngegenstand“ umfasst somit die notwendigen Grundlagen, um selbst Sport ausüben zu können, die Hinführung zum Sport sowie die Grundlagen des Sports.Um sich bewegen zu können, müssen zunächst die Grundtätigkeiten des Bewegens erlernt werden. Dazu zählen

z. B. greifen, gehen, laufen, springen, klettern, werfen. Diese Grundtätigkeiten bilden wiederum die Bewegungsvoraus­setzungen für das spätere Sporttreiben. Das Verhältnis von Sport treiben und sich bewegen kann wie folgt beschrie­ben werden: Wer lebenslang Sport treiben möchte, muss sich bewegen. „Wer Sport treibt, der bewegt sich nach Wettkampfregeln und folgt bestimmten Leistungsanforderungen, oder er bereitet sich auf Wettkämpfe im Rahmen eines Trainings vor. Wer etwas anderes tut, was nicht von Wettkämp­fen, ihren Regeln und ihrem Training maßgeblich strukturiert wird, der ‚bewegt sich‘“ (Funke­Wieneke 2004, 6). Sich­Bewegen­Können bedeutet sowohl den Erwerb der Grundtätigkeiten des Bewegens als auch Bewegung als Werkzeug und Instrument zu erfahren. Illustriert werden kann dies anhand

der Entwicklung des Greifens. Nach dem Abbau des Greifreflexes gelangt das Kind zu der Erkenntnis, dass seine Hände zu ihm gehören und willentlich steuerbar sind. Über zahlreiche Erfah­rungen lernt das Kind gezielt nach Dingen zu greifen, diese zu umfassen, z. B. zum Mund zu führen, an andere zu über geben und auch wieder loszulassen. Später lernt es zu werfen und zu fangen. Ohne diese elementaren Fähigkeiten wäre beispielsweise ein späteres Basketball­ oder Handball­spielen nicht möglich. Diese phänomenologische Sichtweise beruht auf motorischen Grundeigen­schaften, wie den konditionellen Fähigkeiten (z. B. Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit) und den koordinativen Fähigkeiten (z. B. Gleich­ gewichtsfähigkeit, Kopplungs fähigkeit, Umstellungsfähigkeit, Differenzierungs­fähigkeit, Reaktions fähigkeit, Orientie­

r Bild 1: Bewegung als Lerngegenstand (van Zoest)

Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs­ und Entwicklungsprozesse im Kindesalter

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rungsfähigkeit, Rhythmisierungsfähig­keit). Diese bilden ebenfalls eine Voraussetzung um Sport treiben zu können. An diesem Beispiel wird deutlich, dass im Mittelpunkt dieses Lernfeldes der Weg von den fundamen­talen Bewegungen hin zum elementa­ren und sportbezogenen Sich­Bewegen steht. In der Praxis konkretisiert sich dieses Bedeutungsfeld beispielsweise in den Eltern­Kind­Turnangeboten wie dem „Kinderturn­Club“ des Deutschen Turner­Bundes. Die zweite wichtige Voraussetzung um sich bewegen zu können bildet die Mitgestaltungskompetenz. Sich­Bewe­gen bedeutet auch im Kontext zu anderen zu stehen. Daher sind neben den motorischen Voraussetzungen auch soziale Grundlagen wie z. B. die Kooperationsfähigkeit von entscheiden­der Relevanz. Offensichtlich wird dies beispielsweise bei den Mannschafts­sportarten. Um hier teilhaben zu können, müssen sich Individuen in eine Mannschaft integrieren, Teamfähigkeit zeigen, sich aufeinander bei Spielzügen beziehen, für die anderen mitdenken.

Hier zeigt sich, dass sowohl Selbst­ und Sozialkompetenz als auch kognitiv­taktische Grundlagen als Elemente der Mitgestaltungskompetenz benötigt werden.

Bewegung als Medium der Gesundheitserziehung

Bewegung als Medium der Gesundheits­erziehung hat im Diskurs unterschiedli­cher Fachdisziplinen eine lange Tradition, die in ihren Anfängen auf die Philo­sophen der Antike zurückgeht. Bereits Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) erkennt in seinem Werk „Politik“ (1998) die Gymnastik als körperlich wohltuend und der Gesundheit dienend an. Gesundheit beschreibt nach der Defi­ nition der WHO (1948, 2) „einen Zustand des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krank­heit und Gebrechen“. Eine Erweiterung dieses eher statischen WHO­Gesund­heitsbegriffs nimmt Hurrelmann vor, der Gesundheit als „ein Stadium des

Gleichgewichts von Risiko­ und Schutzfaktoren bezeichnet, das dann eintritt, wenn einem Menschen eine Bewältigung sowohl der inneren (körperlichen und psychischen) als auch äußeren (sozialen und materiellen) Anforderungen gelingt“ (Hurrelmann 2005, 2). Diese Definition impliziert bereits die Vielschichtigkeit und ganzheitliche Sicht von körperlichen, psychisch­emotionalen und sozial­ökologischen Gesundheitsfaktoren, die sich gleichfalls im Bedeutungsfeld „Bewegung als Medium der Gesund­heitserziehung“ abbilden. Die Förderung physischer Gesundheits­ressourcen durch Bewegung ist eins der Kernthemen, das in den Sport­/Bewegungs­ und Gesundheitswissen­schaften (Riedel/Zimmermann 2008; Fischer 2007) diskutiert wird. Physische Gesundheitsressourcen umfassen u. a. Aspekte von Kraft und Ausdauer, Koordination und Haltungsschulung sowie allgemeine Fitness. Bewegungs­aktivitäten im Kindesalter fördern nicht nur die Leistungsfähigkeit des Herz­Kreislauf­ und Immun­Systems, sondern

r Bild 2: Bewegung als Medium der Gesundheitserziehung (Beudels)

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insbesondere die Kräftigung der Muskulatur und Körperhaltung zur Vorbeugung gegen Haltungsschwächen und ­störungen. Die Körperkonstitution und motorische Handlungskompetenz bestimmen maßgeblich die Bewältigung der sozialen und materiellen Anforde­rungen des kindlichen Alltags (vgl. Krell/Bös 2012). Die Körperkonstitution wird dabei nicht allein durch Bewegungs­aktivitäten beeinflusst, sondern in gleichem Maße durch die Ernährung, die im Rahmen der Gesundheitserzie­hung zunehmend mehr eine zentrale Rolle spielt. Die Themen Gesundheit, Körper/Bewegung und Ernährung sind mittlerweile untrennbar miteinander verbunden. Bundesweite Erhebungen zur Kinder­ und Jugendlichengesund­heit belegen, dass 15% der 3­ bis 17­Jährigen unter Übergewicht leiden und davon 6,3% eine Adipositas mit Krankheitswert aufweisen (Kurth/Schaff rath 2007). Die Ursachen dafür sind in einem Zusammenspiel verschie­dener Risikofaktoren wie möglicher genetischer Prädisposition, Migrations­hintergrund, einem niedrigen sozialen Status sowie sich verändernder Lebensbedingungen (übermäßige Zufuhr von Kalorien­ und fettreicher Nahrung bei zunehmender körperlicher Inaktivität) zu sehen. Auch die Sicherheitserziehung spielt unter diesem physischen Aspekt der Gesundheitsförderung eine wichtige Rolle. Wahrnehmungs­ und Bewe­gungsangebote führen nicht nur zu einer verbesserten Körperkontrolle sondern schulen gleichermaßen die Konzentration, differenzierte Wahrneh­mung und realistische Einschätzung von Situationen. Hierdurch können Gefahren früher erkannt, bessere Reaktionen durch eine differenzierte Handlungsfähigkeit hervorgerufen und damit das Unfallrisiko gesenkt werden (Dordel 2005). Pädagogisch bedeutsam sind dabei die Entwicklung einer Risikokompetenz, die Minimierung der Verletzungsgefahr und das Eingehen von Risikowagnis. Kinder müssen z. B. lernen zu fallen, mit Höhen und Tiefen sowie Gefahren umzugehen (Kuhnen 2004; Lensing­Conrady 2004; 2005; Vetter 2004).Die Fokussierung der Wahrnehmung und die Konzentration auf den eigenen Körper sind darüber hinaus zentrale Elemente der Entspannung. Entspan­

nung und Wellness beinhalten die Erfahrung des Wechsels von Anspan­nung (aktive Phasen) und Entspannung (ruhige Phasen) und die daraus resultie­renden positiven Wirkungen von situativem Wohlbefinden, Stressabbau und Auseinandersetzung mit Körper­reaktionen. Diese bilden eine Grund­voraussetzung für die Bewältigung der sich aus Zeit­ und Leistungsdruck ergebenden psychischen Belastungen und fördern den Aufbau eines posi­ tiven Selbstkonzeptes (vgl. Quante 2000; 2003).Eine weitere Perspektive der mehr­dimensionalen Betrachtung von Bewegung im Kontext der Gesundheits­erziehung fokussiert auf die Betrach­tung unter den Konzepten der Saluto­genese und der kindlichen Resilienz. Beide Ansätze thematisieren physische wie psychische Gesundheit unter dem Aspekt eines dynamischen Modells der Bewältigung von Anforderungen, die in einer Balance zwischen Risiko­ und Schutzfaktoren angesiedelt sind. Der amerikanische Medizinsoziologe Antonovsky (1997) entwickelte in den 1970er Jahren das salutogenetische Modell, welches die Gesunderhaltung des Menschen in den Mittelpunkt rückt. Ausschlaggebend für die Gesunderhal­tung des Menschen ist das so genannte Kohärenzgefühl (sense of coherence), das „eine globale Orientierung aus­drückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inne­ren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind und einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderun­gen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen und zugleich diese Anforde­rungen Herausforderungen sind, die Anstrengungen und Engagement lohnen“ (Antonovsky 1997, 36). Diese Überzeugung der Sinnhaftigkeit im eigenen Leben und Tun ist von zentraler Bedeutung, da „alle Maßnahmen, die Kindern helfen, selbstbewusste, sozial geachtete Persönlichkeiten zu werden, somit eine herausragende gesundheitli­che Bedeutung haben“ (Liebisch/Quante 2006, 386). Diese These wird durch Ergebnisse der Resilienzforschung aus psychologischer Sicht untermauert, die den Fokus auf die protektiven Faktoren

(Stärken und Ressourcen) der Kinder oder ihrer Umwelt richtet, „welche die Wirkung von Risikofaktoren moderieren und so die Wahrscheinlichkeit für die Herausbildung von Störungen senken können“ (Opp/Fingerle 2007, 14). Perso­ nale Ressourcen wie z. B. kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen, Temperamentsmerkmale sowie körper­liche Ressourcen als auch soziale Res­ sourcen (z. B. Beziehungen, Erziehungs­ und Familienklima, soziale Unterstüt­zung) stehen in Wechselwirkung mit Risikofaktoren, zu denen u. a. Überge­wicht/Adipositas, Bewegungsmangel, veränderte Lebensumwelten, fehlende familiäre oder soziale Unterstützung, Migration, Arbeitslosigkeit der Eltern, Armut, Einflüsse neuer Medien zählen (vgl. Opp/Fingerle 2007).Der Stellenwert von Bewegung rückt in den Mittelpunkt der salutogenetischen Gesundheitsförderung und der Stärkung der kindlichen Resilienz. Durch Bewe­gung können die Ressourcen und Kompetenzen entwickelt und erweitert werden, die notwendig sind, um erfolgreich mit belastenden Lebens­ereignissen umzugehen. Es werden Bewältigungsstrategien entwickelt, die zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden können (vgl. Zimmer 2006, 309) und damit den Aufbau generalisierter Kontrollüber­zeugungen und eines positiven Selbst­konzeptes unterstützen (vgl. Krus 2006; Zimmer 2006). Allen Fachdisziplinen gemeinsam ist die Betonung der Relevanz der sozialräum­lichen Lebenswelt des Kindes und seiner Familie für die Förderung der Gesund­heit durch Bewegung. Veränderungen im Bewegungsangebot und ­umfang ergeben sich durch sozioökonomische Einschränkungen, welche die Teilnahme an z. B. Sportvereinen erschweren, beengte Wohn­ und Lebensverhältnisse, eine zunehmende Partikularisierung der alltäglichen Lebensführung (Verinselung nach Zeiher 1983), eine hohe zeitliche und räumliche Koordination der Vielfalt an außerschulischen Betreuungs­ und Betätigungsmöglichkeiten sowie intensiven Medienkonsum. Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft ebenso das Wohnumfeld. An dem Ort, wo Kinder leben, muss auch Spiel­ und vor allem Bewegungs­ und Explorationsraum vorhanden sein. Geringe Freiflächen für bewegungsintensive Spiele ebenso wie

Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs­ und Entwicklungsprozesse im Kindesalter

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normierte Spielgeräte, die nur geringes exploratives Handeln ermöglichen, schränken die Bewegungslust, ­aktivi­täten und damit auch die Risikokompe­tenz und Selbstsicherungsfähigkeit maßgeblich ein.

Bewegung als Medium des Lernens

In der aktuellen Bildungsdiskussion wird das Kind weitgehend einvernehmlich als sich in großen Teilen selbstbildendes Wesen verstanden, das zwar der Begleitung und Unterstützung des Erwachsenen sowie einer anregenden Umgebung bedarf, ansonsten aber in der Lage ist, von der Geburt an aktiv, reflexiv und selbstgesteuert die Welt zu erschließen. Wenn auch im Elementar­bereich unterschiedliche und kontrovers diskutierte Bildungsansätze auszuma­chen sind, hier ist v. a. auf die Ausein­andersetzung zwischen den Vertretern des sog. „Selbstbildungsansatzes“ (u. a. Schäfer 2005) und denen des „Kompe­tenzansatzes“ (u. a. Fthenakis/Textor

2000) zu verweisen, so scheint es doch unstrittig, dass kindliche Aktivität und kindliches Handeln als entscheidende Triebfedern in der und für die kognitive Entwicklung anzusehen sind. Die Betrachtung von Wirkzusammenhängen zwischen Bewegung bzw. Aktivität und dem Aufbau kognitiver Kompetenzen bzw. Vermittlung von Wissen sind nicht neu. Eine systematische theoretische Analyse von Erziehungsprozessen und die Erforschung der zugrundeliegenden Faktoren finden seit der Aufklärung statt. V. a. seit Mitte des 18. Jahrhun­derts (es bezeichnet sich selbst als „Das pädagogische Jahrhundert“) führten die dabei gewonnenen Erkennt­nisse nicht nur zu Konzepten der pädagogischen Methodik und Didaktik, sondern trugen auch dazu bei, dass Erziehung insgesamt der gesellschaftli­chen und öffentlichen (Mit­)Verantwor­tung übergeben wurde. Damit einher entstand die Notwendigkeit zum Aufbau eines nach Standards geregel­ten Bildungswesens. Dies konnte jedoch nur Sinn machen, wenn damit auch Fragen danach gestellt wurden, wie

Kinder lernen, wie sie Wissen und Kompetenzen aufbauen, was Lernen fördert und hemmt, aber auch danach, welche Anteile daran das Kind selbst bzw. die „Erzieherinnen“ haben. Mit den Ansätzen und Konzepten, die die kindliche Selbsttätigkeit und ein multisensorisches Erfahrungslernen als zentrale Medien des Lernens ansehen, lässt sich ein großer Bogen von der Aufklärung über die Reformpädagogik bis hin zur aktuellen Frühpädagogik spannen. Ohne Anspruch auf Vollstän­digkeit sei hier z. B. Séguin (1812­1880) erwähnt, dessen sog. „Physiologische Methode“ das Ziel verfolgte, mit Hilfe von Sinnesmaterialien im Zusammen­spiel von Bewegung, Intelligenz und Wille Bildungs­ und Lernprozesse v. a. bei Kindern mit einer geistigen Behinderung zu initiieren. Auch die „Philanthropen“, allen voran Basedow (1724–1790), Vieth (1763–1836) und GutsMuths (1759–1839) betonten immer wieder die überragende Bedeu­tung der „Sinne“ und des „Leibes“ bei der „Erkenntnis der Welt“. Ihr pädagogi­

r Bild 3: Bewegung als Medium des Lernens (Schönrade)

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sches Angebot sollte die Trennung von Körper und Geist aufheben und kann als die erste planmäßige Leibeserziehung angesehen werden. Darüber hinaus ist Pestalozzis (1746–1827) Forderung nach „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ längst zu einem geflügelten Wort geworden. Auch Montessori (1870–1952) verwies auf die überragende Bedeutung selbstgesteuerten Handelns v. a. in den drei ersten Lebensjahren. So sieht sie z. B. die Entwicklung der Hand in enger „Verbindung mit der Entwicklung der Bewegung und Intelligenz, des auf­rechten Ganges und der Sprache sowie der emotional­sozialen und sittlich­moralischen Dimension des kindlichen Menschen“ (Holtstiege 2004, 31) und zieht daraus Konsequenzen für die Gestaltung des Erziehungsprozesses bzw. des pädagogischen Angebots (z. B. Angebote zum Tasten, Berühren und Greifen, Betätigung der Hand und Impulse zur Entwicklung des Gleichge­wichtsvermögens usw.).Aus lern­ bzw. entwicklungspsychologi­scher Sicht wurde die Bedeutung kindlicher (Eigen­)Aktivität bzw. Bewegung im Konstruktionsprozess von Wissen durch Piaget (1896–1980) erstmals systematisch erforscht und beschrieben. Die Ergebnisse seiner Arbeiten hatten und haben nach wie vor großen Einfluss nicht nur auf die Gestaltung von Unterricht, sondern auch auf das Arrangement von Bil­dungsangeboten in Kindertageseinrich­tungen, aber auch auf die Konzeption und Praxis von Maßnahmen für Kinder mit spezifischem Förderbedarf. Trotz der Verschiedenheit des Settings liegt dank Piaget den pädagogischen Bemühungen die Einsicht zugrunde, dass nicht nur „pädagogische Einwirkung am Kopf des Kindes endet“ (Schäfer 2011), sondern erfolgreiche Bildung und nachhaltiges Lernen v. a. im frühen Kindesalter an Eigenaktivität und Handeln bzw. an Bewegung geknüpft sind.In aktuellen Bildungs­ und Förderansät­zen im Elementarbereich werden diese Zusammenhänge berücksichtigt und genutzt. Bewegung, Spiel und Eigen­aktivität werden als zentrale Medien des Lernens angesehen, haben aber zu einer Praxis geführt, die sich in einem Spannungsfeld von „Programmatischen und stark strukturierten Angeboten“ auf der einen Seite – mit einer Tendenz zur „Scholarisierung“ der Kindertagesstätte

(vgl. Textor 2009) – bis hin zu sich selbst überlassenen Kindern im vermeintlich „freien Spiel“ auf der anderen Seite ansiedelt. Dennoch ist erkennbar, dass viele Einrichtungen den großen „pädagogischen Freiraum“ sinnvoll nutzen und variable multi­sensorische Erfahrungs­ und Lern­ räume bieten, in denen Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Sprechen und Sich­Bewegen gleich wertige (und oft gleichzeitige) Rollen spielen (vgl. Beins/Cox 2001; Beins 2005; Zimmer 1993; 2003a).Bewegung unter dieser Perspektive nimmt damit nicht die Ausbildung und Vermittlung (sport­)motorischer Fähig­ und Fertigkeiten in den Blick, die ja auch immer verbunden wäre mit einer entsprechend notwendigen physischen Belastung. Vielmehr wird Bewegung hier primär verstanden als die spielerische, experimentierende, explorierende Handlung des Kindes in der Auseinandersetzung mit und Erschließung der dinglichen und perso­ nalen Umwelt. Bei diesen Lernprozessen sind „immer Wahrnehmung und Emp ­ finden, Fühlen und Denken, Handeln und Denken beteiligt“ (Zimmer, 2004a, 42).Lernen in der frühen Kindheit bedeutet in allererster Linie „Erfahrungslernen“. Der Aufbau grundlegender und über­dauernder intellektueller, motorischer, sozialer und emotionaler Kompetenzen vollzieht sich dabei in einem Prozess der „Selbstbildung“ in für das Kind sinnvollen Zusammenhängen (vgl. Beudels/Braun 2008). Es ist ein Prozess, in dem Handeln, Empfinden, Fühlen, Denken, Werte, sozialer Austausch, subjektiver und objektiver Sinn mitein­ander in Einklang gebracht werden müssen“ und der „Selbst­ und Welt­bilder zu einem mehr oder weniger spannungsvollen Gesamtbild verknüpft“ (Schäfer 2005, 15). Das Erfahrungs­lernen vollzieht sich dabei bei Kindern in unterschiedlichen Aktivitäten und Tätigkeiten, die nur idealtypisch voneinander abgrenzbar sind. Dies sind „Spiel“, „Bewegung“, „Sammeln und Sortieren“, „Bauen und Konstruieren“, „Basteln“, „Bildnerisches Handeln“, „Musikalisches Handeln“ (vgl. Brenne 2008, Beudels/Braun 2008).In der Praxis führt ein solches ganzheit­liches Lernen mit und über Bewegung sowohl zur Entwicklung basaler

Kompetenzen bzw. Lernvoraussetzungen wie auch zum Erwerb von Wissen in sämtlichen Bildungsbereichen. „Denken vollzieht sich zunächst in Form des aktiven Handelns; über die praktische Bewältigung von Problemen gelangt das Kind dann zu ihrer gedanklichen Beherrschung“ (Breithecker 2001, 212). Konkretes Handeln und unmittelbare leiblich­körperliche Rückmeldungen führen zur formalen, verinnerlichten Handlungskompetenz. So bilden z. B. „grundlegende Raum­erfahrungen […] die Basis für die Ent­ wicklung des Orientierungsvermögens, für die Begriffsbildung und den Umgang mit Zahlen“ (Zimmer, 2004b, 12). Ver­ schiedene Raum­Lage­Positionen vermitteln Beziehungen zum eigenen Körper sowie zu Objekten der Umge­bung. Dabei dient das Körperschema als Grundlage räumlicher Orientierung mit ein­ und mehrdimensionaler Geometrie.Im Bereich der Mathematik bzw. des Rechnens und der Physik können in Bewegung Längen und Massen durch den eigenen Körper erfahren, geometri­sche Figuren dargestellt, im Raum gefunden und zugeordnet werden. Ebenso werden Naturphänomene (z. B. Schwerkraft und Gefälle) durch Bewe­gungshandeln erlebbar und hinsichtlich ihrer Ursache­Wirkungs­Zusammen­hänge verstehbar gemacht. Sprachliche und begriffliche Kompeten­zen werden erworben, geübt und erweitert, z. B. dadurch, dass Buch­staben, Zahlen, Formen mit Materialien oder menschlichen Körpern ausge­ legt werden. Wörter und Begriffe werden gleichsam ganzkörperlich erfasst und abgebildet (vgl. Müller/Obier, 2001). Im gemeinsamen Spiel ergeben sich zahlreiche Sprachanlässe, die genutzt werden (müssen), um dasselbe aufrechtzuerhalten und/oder zu einem Ergebnis bzw. Produkt zu kommen.Vor allem (zunehmend) komplexe Bewegungs­ und Spielsituationen fördern einen Transfer von Bewegungs­erfahrungen auf den Bereich basaler schulischer sowie metakognitiver Kompetenzen. So haben Problem­stellungen in Bewegungssituationen nicht nur einen hohen Aufforderungs­charakter und bieten verschiedene Schwierigkeitsstufen mit möglicher­weise unterschiedlichen Lösungsmög­

Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs­ und Entwicklungsprozesse im Kindesalter

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lichkeiten, sondern erfordern (und fördern auch) Aufmerksamkeit sowie psychische Ausdauer und tragen ebenso zur Erweiterung strategischer und planerischer Fähigkeiten bei. Zur Erklärung von Wirkzusammenhän­gen zwischen Bewegung und Lernen unterscheidet Seewald (2003) bewe­gungsorientierte Ansätze, die strukturel­le Ähnlichkeit von Bewegung und Lernen betonen und eine direkte Verbindung zwischen beiden postulieren („Strukturaffine Ansätze“), von Ansät­zen, die Effekte durch Bewegung auf Lernleistungen durch indirekte Zusam­menhänge plausibel belegen („Nicht­strukturaffine Ansätze“). Zur ersteren Kategorie zählt er Ansätze bzw. Modelle mit einer „Strukturgeneti­schen Perspektive“, bei der Erfahren und Erkennen der Welt über einen direkten körperlichen Umgang mit den Dingen geschehen. V. a. in der frühen Kindheit stehen Bewegung und Lernen in einem unlösbaren Zusammenhang), sodann Ansätze mit einer „Symboltheoretischen Perspektive“ (Lernen und das Lösen von Problemen finden unter Zuhilfenahme bzw. unter Verwendung des eigenen Körpers, d. h. „kinästhetisch“, statt der oder neben der sprachlichen und logisch­mathematischen Symbolisie­rung), ebenso Ansätze mit einer „Phänomenologischen Perspektive“ (Lernen und Verstehen vollziehen sich durch ein „Sich­zu­eigen­Machen“ bzw. durch „Einleibung“ über virtuelle Bewe­ gungen und Bewegungsphantasien) und schließlich „Neuropsychologische Konzepte“ (spezielle Bewegungsaufga­ben und ­übungen verbessern basale sensorische Integrationsleistungen und schaffen Voraussetzungen für höhere kognitive Leistungen).Zur zweiten Kategorie gehören die „Reizhungerhypothese“ (der natürliche kindliche Bewegungsdrang ist Aus­gangspunkt und Voraussetzung von Lernprozessen), die „Kompensations­hypothese“ (sinnlich­musisches­gestal­terisches­bewegtes Lernen bietet einen Ausgleich zum einseitig kognitiv ausgerichteten Sitzunterricht), die „Schulklima­ und Schulkulturhypo­these“ (Bewegung als wichtiger Teil der Schulkultur, Schule wird damit nicht nur als „Leistungsanstalt“ erlebt) und die „Selbstwertstabilisierungshypothe­se“ (Bewegung, Spiel und Sport vermitteln Erfolgserlebnisse, die zur

sozialen Anerkennung, zu einem positiven Selbstbild beitragen und dadurch auch die Lernmotivation verbessern).Unterstützt wird die Hypothese, dass Bewegung direkte positive Effekte auf das Lernen und die Lernleistung ausübt durch Befunde aus der Neurobiologie bzw. den Neurowissenschaften. So sorgt Bewegung offensichtlich für eine ausgewogenere Funktionsweise des zentralen Botenstoffsystems. Körperli­ches Training verbessert insgesamt die Gehirnvaskularisierung, die so genannte „Spine­Produktion“ sowie die Synap­senbildung und die Neurogenese. Auch konnten über Bewegungsprogramme eine Erhöhung der Widerstandfähigkeit und Funktionssteigerung von Neuronen festgestellt werden. Über körperliche Bewegung werden Botenstoffe (Dopa­min, Serotonin) aktiviert, so dass darüber eine Erhöhung des Adaptati­onsniveaus im Zentralen Nervensystem angenommen werden kann (vgl. Hollmann et al. 2003). Auch Teuchert­Noodt (2000) verweist darauf, von welch hoher Bedeutung gerade frühkindliche Bewegungserfahrungen im Hinblick auf die allgemeine Neuroplastizität des Gehirns sind. Fehlen entsprechende Bewegungs­erfahrungen oder sind diese unzurei­chend, sind spätere, dann schwer kompensierbare Lernschwierigkeiten wahrscheinlich.Empirische Belege für die Wirksamkeit „Bewegten Lernens“ liegen derzeit fast ausschließlich aus dem Bereich der Schulforschung vor. Eine Reihe von z. T. sehr unterschiedlichen schul­ und unterrichtsintegrierten bewegungs­orientierten Angeboten konnte positive Auswirkungen auf das (Lern­)Verhalten und die Verbesserung von Lernvoraus­setzungen bzw. kognitiver Leistungs­fähigkeit nachweisen. So stellten Wamser/Leyk (2003) fest, dass sich über ein Aerobictraining die Konzentrations­fähigkeit von Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 6–9 signifikant steigern ließ. Auch Dordel/Breithecker (2003) konnten in ihrer Untersuchung der Aufmerksamkeits­leistung bei Kindern dreier Schulklassen im Verlauf des Schulvormittages z. T. hochsignifikante Unterschiede zwischen den Kindern zeigen, deren Schulalltag eher bewegungsaktiv abläuft, und jenen, die am herkömmlichen Unter­

richt teilnahmen. Signifikant hohe Korrelationen zwischen Konzentrations­leistungen und Körperkoordination ergaben sich auch in einer Studie von Graf et al. (2003) bei 668 Grundschü­lern. Olson (1994) wies in seiner Studie nach, dass sportliche Kinder im Ver­ gleich zu weniger sportlichen Alters­genossen in (schulischen) Prüfungen signifikant besser abschnitten.

Bewegung als Medium der Entwicklungsförderung

Bewegung und Körperlichkeit haben aus interdisziplinärer Perspektive in den letzten eineinhalb Jahrzehnten eine erhöhte Aufmerksamkeit und Aufwer­tung erfahren. Gegenwärtig etabliert sich im interdisziplinären Fachdiskurs ein dynamisch­systemisches Entwick­lungsverständnis (Goldfield/Wolff 2004; Thelen/Smith 2006), das den Bereichen Bewegung und Körperlichkeit eine fundamentale und verbindende Bedeutung für alle Entwicklungs­domänen zuschreibt (Michaelis 2003; Krist 2006; Kubesch/Walk 2009). Es geht darum, die Wechselwirkung von Bewegung, Kognition und sozial­emotionaler Kompetenz zu verstehen und für Prozesse der kindlichen Bildung und Entwicklungsförderung zu nutzen (Berthoz 2000; Nelson 2007; Posner/Rothbart 2007; Kastner 2010).Damit einher geht ein verändertes wissenschaftliches Verständnis der menschlichen Motorik. Die klassische Denkweise in Bezug auf die körperliche Bewegung ging von der reifungsbiolo­gisch gestützten Sichtweise aus, dass der zerebrale Cortex alle neuromusku­lären Funktionen kontrolliert. Bewe­gungsverhalten war danach die Reaktion des Organismus auf sensori­schen Input und motorische Aktivität quasi die Folge zentraler Programmie­rung. Dem Kind wurde dabei lange Zeit die Rolle des passiven Rezipienten zugeschrieben. Es wurde zum Adressa­ten motorischer Lernprogramme. Die neue Denkweise sieht den Entwick­lungsprozess der menschlichen Motorik als nichtlinear und diskontinuierlich an (Michaelis 2003). Über die Rezeption der wegweisenden Arbeiten des russischen Physiologen Bernstein (1967) entwirft Reed (1982) eine allgemeine

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Theorie der Bewegungsaktivität, die Bewegungsentwicklung und Bewe­gungslernen nicht infolge von motori­schen Programmen, sondern als handlungsbezogene Person­Umwelt­Beziehung thematisiert. Unauflöslich damit verbunden ist die Sichtweise der engen Kopplung von Wahrnehmung und Handlung (action­approach) (Krist 2006, 153), die auf die ökologische Wahrnehmungspsychologie von James und Eleanor Gibson zurückgeht. Danach ist Handeln Erkundungsaktivität und Wahrnehmungslernen (Fischer 2008) als aktives Suchen des Kindes nach sinnvollen Angeboten (affordances) in der Umgebung zu verstehen, um seine Handlungsziele zu verwirklichen (Krist 2006; Fischer 2009, 127). In der Entwicklungsforschung hat das Prinzip der Eigenaktivität unwider­sprochene Akzeptanz gefunden. „Entwicklung erfolgt wesentlich über die Eigenaktivität des Kindes in der Interaktion mit Personen und Gegenständen“ (Ohrt 2006, 146). Bewegung wird somit zum Mittler von Entwicklungsprozessen und die Art

des Gestaltungsprozesses zu einer bedeutsamen didaktischen Kategorie. In kindheitspädagogischen Kontexten wird diesbezüglich von Selbstbil­ dungsprozessen gesprochen (Schäfer 2005).In internationalen Publikationen hat sich dafür der Begriff „embodiment“ (Körperlichkeit) etabliert. Nach langer Zeit der Fragmentierung entwicklungs­bezogener Fragestellungen, findet gegenwärtig ein Umdenkprozess statt, bei dem die Körperlichkeit (embodi­ment) eine Art Integrationsfaktor darstellt. „… embodiment is the most central of these basic concepts, because embodiment is a concept of synthesis that bridges and integrates biological, sociocultural, and personcentered approaches to psychological inquiry“ (Overton 2006, 47–48). Die Bedeutung des Körpers geht dabei weit über die physischen körperlichen Strukturen hinaus; „embodied action“ ist vor allem gelebte Erfahrung, die sich aktiv mit der Welt soziokultureller und physikalischer Objekte verbindet. In dieser Sichtweise erhält das Konzept den Status einer

„Metatheorie in der Entwicklungs­forschung“ (Overton 2006, 47) und Bewegung und Körperlichkeit werden zur „einigenden Perspektive“ entwick­lungsbezogener Forschung (Glenberg 2010, Fischer 2011, S. 6). Dieses gilt für alle Bereiche der Entwicklung (v. Hofsten 2001; Fleig 2008; Goldman 2009). Für den kognitiven Entwick­lungsbereich werden dabei die Unter­ themen der Planungs­ und Handlungs­fähigkeit, der Wahr neh mungsent­ wicklung und der Körper /Raumreprä­sentation differenziert, für den sozialen Entwicklungsbereich stehen die Themen soziale Sensibilität, Toleranz/Rücksicht­nahme, Kontaktfähigkeit, Kooperations­ und Kommunikationsfähigkeit und für den emotionalen Entwicklungsbereich die Themenfelder Bindung/Beziehung, Selbstwirksamkeit und Selbstkonzept­entwicklung im Vordergrund. Auch der motorische Entwicklungsbereich hat in jüngerer Zeit eine differenziertere Aufmerksamkeit zur Entwicklung motorischer Kompetenzen über die Entwicklungsspanne erfahren (Krist 2006; Haywood/Getchel 2005;

r Bild 4: Bewegung als Medium der Entwicklungsförderung (Beudels)

Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs­ und Entwicklungsprozesse im Kindesalter

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(das Körperselbst oder das sensorische Selbst);

•Erfahrungen der Wirksamkeit des eigenen Verhaltens;

•Folgerungen aus dem Sich­Verglei­chen und Sich­Messen mit anderen;

•Zuordnung von Eigenschaften durch andere.

Die Informationen über das Körper­selbst können als elementar bezeichnet

werden, da diese als Basis zur Bewusst­werdung der eigenen Person notwendig sind. Das Kind lernt durch diese Wahrnehmungen zwischen Ich und Nicht­Ich (Umwelt) zu differenzieren. Die Körperlichkeit des Kindes gewinnt als Bindeglied zwischen „innen“ und „außen“ die zentrale Bedeutung im Identitätsbildungsprozess (vgl. Zimmer 2001, 63). Hatte sich Zimmer in ihrem ursprüngli­chen Konzept auf die kognitiven und emotionalen Elemente des Selbstkons­trukts konzentriert, erweitert sie ihren Ansatz in jüngerer Zeit (2006, 51 ff.) um den motivationalen Aspekt der Selbst­wirksamkeit. Diese repräsentiert das Gefühl der Gewissheit einer Person, Kontrolle über das eigene Leben zu haben und sich seiner Kompetenzen zur Bewältigung möglicher Probleme gewahr zu sein. Kontrollüberzeugungen bzw. Selbstwirksamkeiten entstehen, wenn Kinder sich selbst als „Urheber von Handlungen“ oder als „Verursacher von Handlungseffekten“ erleben. Durch sein Handeln kann das Kind sich ein Bild von seinen persönlichen Möglichkeiten machen, „ein erstes Konzept eigener Fähigkeiten“ konstruieren. Die positiven oder negativen Erfahrun­gen, die ein Kind bezüglich der Errei­chung oder Verfehlung von Handlungs­zielen macht, haben Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl sowie auf seine Leistungsmotivation (vgl. Krus 2004, 54 f.); als (Miss­)Erfolgserwartungen sind sie auf zukünftige Ereignisse gerichtet und modifizieren das Verhal­ten. So wird Bewegungsaktivität zu einem kindgerechten Mittel bei der Moderierung der Selbstwirksamkeits­überzeugung und beim Aufbau des Selbstkonzeptes (vgl. Zimmer 2001b, 59 f., nach Fischer 2009, 88–89).

Es wird deutlich, dass insbesondere im Kindesalter die Handlungserfahrung als Strukturierungshilfe der kindlichen Persönlichkeit anzusehen ist. Dabei wird zunehmend der Blick auch auf die mikrogenetischen Prozesse des „Hand­lungsspielraumes“ für eigene Entschei­dungen sowie Erkundungs­ und Planungsprozesse gerichtet, bei denen auch der atmosphärische Appellcharak­ter des physikalischen Raumes selbst mit seinen materialen Beschaffenheiten und Erfahrungsmöglichkeiten als Bedeutungsträger für Entwicklungs­prozesse eine Berücksichtigung findet (Seeger/Seeger 2011).

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden als Ergebnis einer systematischen Recherche von unterschiedlichen Quellen, die sich zum Bereich der Bewegung in der frühen Bildung äußern, vier sog. Bedeutungs­felder näher beschrieben. Diese spiegeln unseres Erachtens den aktuellen fachspezifischen Diskussionsstand zu diesem Bereich gut wider.Die beschriebenen Bedeutungsfelder dienen zur Zeit als Such­ und For­schungsraster, um auf empirischem Weg herauszufinden, welche Akzente in den Bildungs­ und Orientierungsplänen sowie in den fach­ und hochschulischen Lehrplänen der Bundesländer im Hinblick auf diese Bedeutungsfelder gesetzt werden. Die Ergebnisse der bisherigen Analysearbeiten zeigen erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die quantitative und qualitative Gewichtung. Hierüber soll einschließlich möglicher curricularer Konsequenzen in einem weiteren Beitrag berichtet werden.

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„Mitschwingen und Resonanzbereitschaft …“

110 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

Die Studie beschreibt die theoretischen Orientierungen und Grundsätze, nach denen Psychomotoriktherapeutinnen und -therapeuten in der Schweiz ihren therapeu-tischen Alltag ausrichten. Diese Frage ist gerade heute von großem Interesse, da das vom Gesetzgeber geforderte integrative und präventive Arbeiten in der Schule auch den Beruf der Psychomotoriktherapeutin tangiert. Es lassen sich vier Themenbereiche herauskristallisieren. Diese umfassen die für die Psychomotoriktherapie relevanten Bezugstheorien und die sich daraus ableitenden Arbeitsweisen und Therapieziele sowie die Beziehung zwischen der Therapeutin und dem Kind und seinem Umfeld. Die Studie gibt Aufschluss über ein berufliches Selbstverständnis, das sich im Spannungsfeld von Pädagogik und Therapie bewegt und sich den Herausforderungen einer sich verändernden schulischen Realität stellen muss.

Susanne Amft, Brigitta Boveland, Kathrin Hensler Häberlin, Beatrice Uehli Stauffer

„Mitschwingen und Resonanzbereitschaft …“Eine Studie zu den theoretischen Konzeptionen und beruf-lichem Selbstverständnis von Psychomotoriktherapeutinnen

Susanne AmftProf., Diplom Motologin, Leiterin des Departements Pädagogisch-therapeu-tische Berufe der Hochschule für Heilpädagogik Zürich, Therapeutin für Tanztherapie und Konzentrative Bewegungstherapie.

Anschrift der Verfasserin:Schaffhauserstr. 239, 8050 ZürichTelefon: 04 41 44 3 17 11 60E-Mail: [email protected]

Brigitta BovelandPh.D. Environmental Psychology, City University of New York, ist Lehrbeauftragte und Mitarbeiterin im Forschungsprojekt im Bereich Psycho-motoriktherapie der Hochschule für Heilpädagogik Zürich.

Anschrift der Verfasserin:Gerechtigkeitsgasse 14, 8001 ZürichE-Mail: [email protected]

Einleitung

Die jüngsten Entwicklungen in der Schweizer Schullandschaft sehen unter anderem eine Neuorganisation der sonderpädagogischen Fördermaß-nahmen vor. Während diese bis dahin vorwiegend in separaten therapeuti-schen Settings stattfanden, sollen Schülerinnen und Schüler mit Verhal-tens- und Lernstörungen vermehrt im Rahmen der Regelklasse gefördert werden. Der Leitgedanke der Integration vor Separation wurde in verschiedenen neuen kantonalen Gesetzgebungen zur Volksschule festgeschrieben und kommt insbesondere in der frühen schulischen Laufbahn der Kinder zum Tragen. Mit der Neuorientierung der Regel schule hin zu mehr Integration muss sich auch die Psychomotorik auseinandersetzen. Psychomotoriktherapeutinnen werden in Zukunft immer mehr in der Schule tätig sein, wo sie Hand in Hand mit den Lehrpersonen die kindliche Entwicklung fördern, um möglichen schulischen Problemen entgegenzuwirken. Diese veränderte bildungspolitische Landschaft bildet den Hintergrund für ein mehr-dimensionales Projekt zur Erforschung des Potentials der Psychomotorik zur Förderung sozio-emotionaler Kompe-tenzen bei Kindern im Vorschul- und frühem Schulalter, das gegenwärtig an

der Zürcher Hochschule für Heilpädago-gik (HfH) durchgeführt wird.1 Im Rahmen dieser Forschung wurde auch eine Gruppe Psychomotorik-therapeutinnen und -therapeuten nach ihren theoretisch-philosophischen Konzeptionen befragt, nach denen sie ihr therapeutisches Handeln ausrichten. An der schriftlichen, offen zu beant-wortenden Befragung beteiligten sich siebzehn Psychomotoriktherapeutinnen (darunter ein Psychomotoriktherapeut2), alle mit Arbeitsort in der deutschen Schweiz, darunter Berufsanfängerinnen, aber auch Therapeutinnen mit bis zu 30-jähriger Berufspraxis. Die meisten unter ihnen sind Absolventinnen der Hochschule für Heilpädagogik (HfH) bzw. deren Vorgängerin, dem Heil-pädagogischen Seminar (HPS) in Zürich und brachten vor ihrer Ausbildung bereits pädagogische Berufserfahrung aus ihrer früheren Tätigkeit als Kinder-gartenlehrperson oder Lehrperson, Hortnerin, Sozialpädagogin oder Heilpädagogin mit. Auch wenn es sich hier nicht um eine systematische und

1 Weitere Informationen zum Forschungsprojekt ist unter folgendem Link zu finden: http://www.hfh.ch/forschung/

2 Im weiteren Text sprechen wir immer von Psychomotoriktherapeutinnen, schließen dabei aber immer auch den Psychomotorikthera-peuten mit ein.

111motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

repräsentative Erhebung handelt, waren die Antworten der beteiligten Psycho­motoriktherapeutinnen reichhaltig und differenziert und ließen, ein anschauli­ches Bild ihres konzeptionellen Denkens nachzeichnen. Nachfolgende Darstel­lung dieses theoretischen Wissens und der professionellen Grundsätze bewegt sich auf der Ebene des Deskriptiven und lässt sich als eine Art Landkarte lesen, welche einer Gruppe von Psycho­motorik therapeutinnen in ihrem Alltag Orientierung gibt. Diese abzustecken,

ist das Ziel und mag zur Klärung des beruflichen Selbstverständnisses von Psychomotoriktherapeutinnen in einer im Wandel begriffenen Bildungs­landschaft beitragen. Im Folgenden beschreiben wir die theoretischen Orientierungspunkte und die sich daraus ableitenden Handlungs­ und Erklärungsmuster für eine psycho­motorische Praxis, wie sie die an der Studie teilnehmenden Psychomotorik­therapeutinnen formuliert haben. Inwieweit die hier vorgenommene Demarkierung aussagekräftig für die Psychomotoriktherapie in der Schweiz – und für Deutschland – ist, muss eine Diskussion unter Fachleuten weisen oder allenfalls in einer Nachfolgestudie systematisch überprüft werden.

Die theoretischen Konzeptionen von Psycho-motoriktherapeutinnen

Es lassen sich vier, in sich verschränkte Themenbereiche aus den Aussagen

der Psychomotoriktherapeutinnen herausschälen. Diese betreffen die Bezugs theorien, die Arbeitsweisen, die Therapieziele und die Beziehung zwischen Therapeutin und dem Kind und dessen Umfeld.

BezugstheorienBei den Bezugstheorien fällt die relative Bedeutung des Gedankenguts auf, das

sich der humanistischen Psychologie zuordnen lässt. Manche Therapeutinnen erwähnen explizit das humanistische Menschenbild, das für sie wegweisend ist, wie beispielsweise jene Therapeutin, die sagt:

„Meine sozial­ und sonderpädagogi­sche Grundausbildung sowie meine Ausbildung an der Hochschule für Heilpädagogik sind stark durch die humanistische Psychologie und das humanistische Menschenbild geprägt. Die kindzentrierte psycho­motorische Entwicklungsförderung orientiert sich an diesem Men­schenbild und sieht das Kind als ein aktives Wesen, das ein Bedürfnis nach sinnvollem Dasein hat und nach Autonomie und Unabhängig­keit strebt.“

Andere nennen den humanistischen Psychologen Carl Rogers als theoreti­schen Orientierungspunkt, vor allem, wenn das eigene Verhalten gegenüber dem Kind thematisiert wird, das von „Wertschätzung und Achtung vor der Individualität des Kindes“ geprägt ist. Wiederum andere betonen die „ganz­heitliche Betrachtungsweise“ in ihrer Sicht auf den Menschen und die „Wechselbeziehung emotionaler, sozialer, motorischer, kognitiver und somatischer Prozesse“ und unterstrei­chen damit Aspekte, welche zentrale Anliegen der humanistischen Psycho­logie darstellen. Insbesondere auch in den Aussagen zur kindlichen Entwicklung finden sich deutliche Anklänge an das humanisti­sche Menschenbild. Eine Therapeutin spricht für viele, wenn sie sagt: „Ich verstehe das Kind als Wesen, das einerseits aus sich selbst heraus wächst und sich andererseits durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt. Der Mensch ist dabei ein aktives, sich selbst organisierendes Wesen. Die Richtung der Entwicklung soll hinführen zu Autonomie und Selbstbestimmung, zu Kontakt und Beziehungsfähigkeit und zu verant­wortlichem Handeln.“ Und eine andere ergänzt: „Ich sehe Entwicklung als dynamischen, lebenslangen Prozess, in dem subjektiv bedeutungsvolle und sinnvolle Erfahrungen prägend sind für die sich entwickelnde Person und deren Selbstkonzept.“Kommt es zu eigentlichen Bezugs­theorien was die kindliche Entwicklung angeht, dann steht bei vielen Erik Erikson mit seinem Konzept der krisen­ haften Entwicklung an prominenter Stelle. Vereinzelt finden Jean Piaget, Donald Winnicott, Robert Havighurst, Jean Ayres, Hans­Christoph Steinhau­sen, Richard Davidson und Daniel Goleman Erwähnung. Aber auch die Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori mit dem Leitsatz „Hilf mir, es selbst zu tun“ und der in der Pädago­ gik wirksame Psychologe Lew Vygotski mit seinem Verständnis der kindlichen Entwicklung als eine in sozialen und kulturellen Kontexten eingebundene, sind genannt. Eine Therapeutin führt die Neurowissenschaftler Gerhard Roth und Joachim Bauer an, dies im Zusam­menhang mit der Entwicklung von Emotionen und der Bedeutung früh­

Kathrin Hensler HäberlinMSc, Psychomotoriktherapeutin und Erziehungswissenschaftlerin, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich.

Anschrift der Verfasserin:Schaffhauserstr. 239, 8050 ZürichTelefon: 04 41 44 3 17 12 26E­Mail: [email protected]

Beatrice Uehli StaufferDr. phil., Psychologin, Leiterin des Studiengangs Psychomotoriktherapie der Hochschule für Heilpädagogik Zürich.

Anschrift der Verfasserin:Schaffhauserstr. 239, 8050 ZürichTelefon: 04 41 44 3 17 11 79E­Mail: [email protected]

„Mitschwingen und Resonanzbereitschaft …“

112 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

kindlicher Bindung zur Emotions­entwicklung. Eine andere nennt die Autoren Karen Olness und Daniel Kohen im Kontext von Hynotherapie und Kinderhypnose.Von besonderem Interesse ist die Frage, wie das Fachgebiet der Psychomotorik­therapie im engeren Sinne in den theoretischen Konzeptionen der Psychomotoriktherapeutinnen abgebil­det ist. Im Gegensatz zur Vielfalt der Autoren und theoretischen Richtungen aus anderen Fachgebieten, sind es innerhalb der Psychomotoriktherapie vergleichsweise wenig theoretische Referenzpunkte, auf die sich die Psychomotoriktherapeutinnen beziehen. Vereinzelt sind die Begründerin der Psychomotoriktherapie in der Schweiz, die sich am Tanz und Musikimprovisa­tion orientierende Susanne Naville sowie der französische Psychomotoriker Bernard Aucouturier und seine Schüle­rin Marion Esser genannt, die dessen psychoanalytischen Ansatz im deutsch­sprachigen Raum zu verbreiten sucht. Dieser werde zunehmend aufgegriffen. So schreibt eine Therapeutin, „ … dass das Interesse an einer tiefenpsycholo­gisch orientierten Psychomotorik in

letzter Zeit vor allem in Deutschland … deutlich zugenommen hat.“ Sie erwähnt die Autoren Gerd Hölter, Hans Becker, Hans von Lüpke und Bernd Hachmeister, welche in Deutschland diesen tiefen­psychologisch ausgerichteten Ansatz repräsentieren. Im Unterschied zu den oben aufgeführ­ten und nur vereinzelt genannten Autoren und Autorinnen findet sich in Renate Zimmer eine Autorin innerhalb der Fachrichtung Psychomotorikthera­pie, die viele der an der Studie beteilig­ten Therapeutinnen als theoretischen Referenzpunkt angeben. Renate Zimmer gelingt es, die diversen und oftmals unvereinbaren theoretischen Rich­tungen im Rahmen ihres „kindzentrier­ten Ansatzes“ zusammenzufügen, den eine Therapeutin folgendermaßen beschreibt:

„Der kindzentrierte Ansatz wurde und wird im Feld der Psychomotorik vor allem von Renate Zimmer weiterentwickelt. Bewegung und Spiel werden als wichtige Medien gesehen, durch welche Kinder zu einer positiven Einschätzung ihrer

Person gelangen sollen. Im Vorder­grund steht dabei weniger die reine Verbesserung der motorischen Funktionen, sondern das Verändern der Selbstwahrnehmung des Kindes und seines persönlichen Ausdrucks.“

Zimmers Ansatz klingt auch bei anderen Therapeutinnen an, wenn sie beispiels­weise ihre Arbeit als „kindzentrierte Entwicklungsförderung“ mit „kind­zentrierten Angeboten“ in einem „individuellen, auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnittenen Rahmen“ beschreiben. Im Zentrum von Renate Zimmers Arbeit steht die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts. Auch für die meisten der hier zu Wort kommen­den Therapeutinnen bedeutet die Förderung bzw. Stärkung des kindlichen Selbst ein zentrales Anliegen, wobei die Vielfalt der genannten Aspekte und Facetten des Selbst erstaunt. So wird die Förderung der Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Selbstaktivität, Selbstentfaltung, Selbstwirksamkeit, aber auch des Selbstwerts und des Selbstvertrauens erwähnt. In der Betonung des Selbst und die verschie­

Entwicklungs-psychologie

Piaget

Steinhausen

Ayres

Winnicott

Havighurst

Erikson

Menschenbild

Humanistische Psychologie

BeziehungRogers

Psychomotorik

Esser von Lüpke

Hölter

Becker

Hachmeister

Zimmer

Naville

Aucouturier

PädagogikNeuro-

wissenschaftenDavidson &Goleman

Roth

Bauer

Montessori

Vygotski

r Abb. 1: Theoriebezüge der Psychomotoriktherapeutinnen

113motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

denen Facetten des Selbst, die mit den vielen Wortkombinationen zum Ausdruck gebracht werden, mag sich wiederum die breite Resonanz wider­spiegeln, die diese Autorin mit ihrem kindzentrierten Ansatz im Berufsfeld der Psychomotoriktherapie findet. Es spiegelt sich hierin aber auch ein Selbstverständnis der Psychomotorik­therapeutinnen, wonach ihre Arbeit nicht allein eine Anleitung zur Ver­besserung der Motorik darstellt, sondern dass diese Arbeit ganz zentral auch auf die Stärkung des kindlichen Selbst zielt und dass dieses Selbst in all seinen Facetten – sozialen, emotionalen und kognitiven Facetten – zu fördern sei.Die Abbildung 1 fasst die Theoriebezüge unter Berücksichtigung ihrer Anzahl Nennungen zusammen. Zentrale Bezugswissenschaften, Theorien und Autoren sind in der Mitte abgebildet und unterscheiden sich zu weniger bedeutsameren durch die Darstellungs­größe.

ArbeitsweisenDie Praxis der Psychomotoriktherapie ist gekennzeichnet durch ein pragma­tisches, vielfältiges Vorgehen, das sich, ganz im Sinne des kindzentrierten Ansatzes von Zimmer, an den Bedürf­

nissen des Kindes oder einer Gruppe von Kindern orientiert. Kaum formuliert hingegen sind eine spezifische thera­peutische Methode und sich daraus ableitende, klar definierte Arbeits­weisen. Sicher, die kindliche Bewegung und das Spiel sind Elemente eines psychomotorischen Vorgehens. Wie aber genau diese Elemente eingesetzt werden und welchen Platz sie im therapeutischen Geschehen der Psychomotoriktherapie einnehmen, bleibt im Ermessen der einzelnen Therapeutin. Angesichts einer fehlenden verbindli­chen Methodik überrascht es nicht, dass die Antworten der Studienteilneh­merinnen eine beachtliche Vielfalt von möglichen Arbeitsweisen aufweisen. So betonen manche Therapeutinnen in ihren Arbeitsweisen beispielsweise das Üben einer Fertigkeit und die mit der Wiederholung gewonnene Sicherheit. Andere arbeiten eher am kreativen Ausdruck des Kindes. Oder sie beschrei­ben die Möglichkeit des Kindes, im geschützten Rahmen der Psycho­motoriktherapie seine Probleme verstehen und bearbeiten zu können. Sie knüpfen an den Stärken und der Motivation des Kindes an, helfen ihm, Konflikte zu lösen und Herausfor­derungen zu meistern. Sie schulen die Körperwahrnehmung und über die

Körperwahrnehmung die Fähigkeit, sich psychisch und sozial zu steuern. Sie helfen dem Kind, seine in der Therapie gemachten Erfahrungen zu versprach­lichen und reflektieren und fördern so ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kompetenz. Es scheint, als wähle jede Therapeutin entsprechend ihrer theoretischen Orientierungen, ihrer Erfahrungen und ihrer Interpretation der spezifischen Situation des Kindes, das zu ihr in die Therapie kommt, ein jeweils eigenes Vorgehen, wobei durchaus auch per­ sönliche Vorlieben oder so etwas wie der eigene Stil die Therapiestunde mitgestalten können. Manche haben zusätzliche Ausbildungen in spezifi­schen therapeutischen Ansätzen und Techniken und bringen dieses Wissen in ihre Arbeit ein. Eine Thera­peutin beschreibt beispielsweise die tiefenpsychologisch orientierte Sandspieltherapie als eine wertvolle Ergänzung ihrer psychomotorischen Arbeit. Eine andere Therapeutin arrangiert in ihrer Therapiestunde Interventionen, welche von der Hypnotherapie und Kinderhypnose inspiriert sind. Die äußerst individuellen und kaum auf einen Nenner zu bringenden Arbeits­weisen lassen bei genauem Hinsehen aber durchaus etwas Gemeinsames, ein

Bezieh

ung

Bewegung & SpielPositives

Selbstkonzepterlebnis- und handlungs-

orientiertes Lernen

üben

verstehenverarbeiten

versprachlichenreflektieren

r Abb. 2: Therapeutische Arbeitsweisen

„Mitschwingen und Resonanzbereitschaft …“

114 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

einigendes Muster erkennen. Fast alle der hier zu Wort gekommenen Thera­peutinnen beschreiben nämlich das am Erleben und Handeln des Kindes anknüpfende Lernen als ihr zentrales Anliegen. So soll das therapeutische Arbeiten „erlebniszentriert“, „erfah­rungs­ und handlungsorientiert“ sein, „Mut, Spaß und Lust am Ausprobieren, Explorieren, Entdecken, Experimentie­ren“ ermöglichen. Diese Betonung der Subjektivität des Kindes gibt den scheinbar so disparaten Vorgehens­weisen einen einigenden Fokus. Der Referenzpunkt ist das subjektive Erleben des Kindes, welches sich im Kontext seiner individuellen Lebenswelt ereignet und aus ihr Sinn bezieht. Aussagen wie „sinnverstehendes“ Arbeiten oder „die Themen des Kindes“ entdecken, zielen dann auf die Erkun­dung der inneren Welt des Kindes. So sollen auch die Gestaltung des Spiel­geschehens und des Bewegungsange­bots in der Therapiestunde einen Bezug zur Erlebniswelt des Kindes haben und dadurch Erfahrungen ermöglichen, die mit der Lebensgeschichte des Kindes zu tun haben und bedeutungsvoll sind. Eine Therapeutin drückt es so aus: „Zentrales Leitmotiv meiner Arbeit … ist die Suche nach dem psychologischen und emotionalen Verständnis der individuellen (Lebens­)Geschichte des Kindes. Welches sind die Motive seines Handelns? Wie sind seine Spielthemen, seine Handlungen, sein Verhalten, seine Aussagen zu verstehen? “ Und mit Rekurs auf die Lebensgeschichte kann sogar das wiederholte Üben einer Hand­ lung im Sinne einer reinen Verbesserung der Funktionstüchtigkeit durchaus zu einer sinnvoll erlebten Erfahrung werden. „So ist es mir auch bei der grafomoto­rischen Förderung wichtig, dass es Raum für das Kind gibt, in dem es aktiver werden kann“ schreibt eine Therapeutin und beruft sich auf das humanistische Menschenbild, ein Menschenbild, das die erlebende Person und die Sinn­haftigkeit ihres Tuns ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt.Abbildung 2 fasst einerseits die genann­ ten Arbeitsweisen zusammen, anderer­seits stellt sie diese in Bezug zu den psychomotorischen Medien Spiel und Bewegung und zum positiven Selbst­konzept als Therapieziel.Es ist unschwer zu erkennen, dass die hier beschriebenen Arbeitsmodalitäten

die unterschiedlichen – psychologi­schen – Bezugstheorien widerspiegeln, welche tiefenpsychologische, verhal­tenstherapeutische und kognitive Ansätze umfassen. Diese werden aber nicht beliebig eingesetzt. Im Fokus dieser Arbeitsmodalitäten steht das sich erlebende Kind in seiner Lebenswelt und seiner Geschichte. Hierin drückt sich wiederum der prägende Einfluss der humanistischen Psychologie aus, den viele Therapeutinnen für sich reklamieren. Auch klingt hier Zimmers kindzentrierter Ansatz an, der sich gerade durch die Offenheit gegenüber den verschiedenen pädagogisch­thera­peutischen Methoden auszeichnet, je nach Bedürfnislage des Kindes. Ganz in diesem Sinne schreibt eine Therapeutin: Ich orientiere „meine Arbeitsweise an den Bedürfnissen und Zielsetzungen der Kinder“ und sie fährt fort „folgende Ansätze sind in meiner Arbeit zentral:

• VerstehenderundkindzentrierterAnsatz: Hier steht der psycho­soziale Prozess im Vordergrund (z. B. Aufarbeitung sozialer Konflikte oder die Verarbeitung negativer Erlebnisse).

• Erlebnis-undhandlungsorien-tierter Ansatz: Durch das Erleben, Erkunden und das Handeln soll das Kind die eigene Umwelt ,be­greifen’ dürfen.

• FunktionalerAnsatz:Hierliegtder Schwerpunkt auf der Erweite­rung der Bewegungskompetenzen wie auch auf das Erlernen von Fähigkeiten und Fertigkeiten im grob­, fein­ und grafomotori­schen Bereich.

• VerschiedeneAnsätzeausderVerhaltenstherapie: Vermitteln von Strategien (Selbstregulator); ausarbeiten eines individuellen Token­Programms (Belohnungs­system) für die Lehrperson (vorwiegend bei Kindern mit einer hyperkinetischen Störung und Verhaltensauffälligkeiten).

• VerschiedeneElementeausderHypnotherapie.

• KognitiveTherapieansätze:Vermittlung von Arbeitstechniken und Entwicklung von Lernmotiva­tion und Lerntrainings. Entwick­lung grundlegender Denk­ und Lernprozesse.“

Ein solchermaßen differenziertes Arbeiten setzt neben differenzierten Fachkenntnissen ein unvoreingenom­menes Einlassen auf das Kind und seine Problematik voraus. Dieselbe Thera­peutin schreibt, dass der Beginn des Therapieprozesses dem Vertrauens­ und Beziehungsaufbau gewidmet ist, und spricht damit eine Ebene an – die Beziehung zwischen Therapeutin und Kind – die bei vielen eine zentrale Stelle in ihrer psychomotorischen Praxis einnimmt.

Beziehung

Die Beziehung zwischen Therapeutin und KindDie Mehrzahl der an der Studie teilnehmenden Therapeutinnen machen in ihren Statements Aussagen zu ihrem Beziehungsverständnis und unter­streichen damit die weitreichende Bedeutung, die sie ihrer Beziehung zum Kind beimessen. Einige weisen explizit auf die zentrale Stellung der thera­peutischen Beziehung hin. So sagt eine Therapeutin: „Die Grundlage und Basis meiner psychomotorischen Arbeit ist die Beziehung zwischen dem Kind und mir.“ Und eine andere: „Die Grundlage für mein Schaffen bildet die thera­peutische Beziehung.“ Und wieder eine andere: „Die Beziehung erachte ich als wichtigste und effektivste Ebene in der Arbeit mit dem Kind und den Eltern.“Geht es um die Beziehungsgestaltung, dann bemerkt man den Einfluss Carl Rogers, den dieser mit seinen Anforde­rungen an eine therapeutische Bezie­hung formuliert hat, und auf den sich manche der hier beteiligten Psycho­motoriktherapeutinnen ausdrücklich beziehen. Aber auch wenn nicht explizit erwähnt, finden sich Rogers Maxime in den Äußerungen vieler Therapeutinnen wieder. „Die Beziehung ist geprägt von Wertschätzung und Achtung vor der Individualität des Kindes, seiner Lebens­ geschichte und seines sozio kulturellen Hintergrundes.“ Eine „teilnehmende, verlässliche, positiv zutrauende, Selbst­ wert stärkende Haltung“ sind ebenso wichtige Elemente dieses Beziehungs­verständnisses wie „kongruentes Verhalten bzw. Echtheit“ der Thera­peutin.

115motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

Innerhalb dieses Beziehungsverständ­nisses nach Carl Rogers lassen sich drei Typen von Beziehungen, wie Abbildung 3 aufzeigt, unterscheiden, je nachdem, wie aktiv die Therapeutin im therapeu­tischen Geschehen involviert ist und dieses gestaltet – die leitende Bezie­hung, die begleitende Beziehung und die dialogische Beziehung. Es scheint, dass die Studienteilnehmerinnen sich auf keinen Typ festlegen, sondern die verschiedenen Typen entsprechend der jeweiligen konkreten Therapie­situation variieren. So kann einmal eine „klare, vertrauensvolle Führungsrolle“ übernommen, oder das Kind in seiner Entwicklung begleitend „unterstützt und befähigt“ werden, oder ein „fort­ schreitendes Handeln“ (also Handlungs­kompetenz) nach dem dialogischen Prinzip durch „Vorschlag und Gegen­vorschlag“ erreicht werden. Manche Therapeutinnen suchen bewusst eine ausgesprochen nahe Beziehung zum Kind. So schreibt eine Therapeutin, „dem Kind soll deutlich werden, dass ich mich freue, dass es zu mir in die Therapie kommt. Es soll in jeder Stunde eine möglichst intensive Begegnung zwischen dem Kind und mir statt­ finden … Auch wenn ich mich zurück­halte, bin ich immer als Person anwe­send.“ Eine andere sieht sich zwar nicht als „Heilerin“, ist aber „in ständigem Kontakt mit dem Kind auf dem Weg, so dass es neue Entwicklungsschritte gehen kann.“ Dass nicht allein die physische Nähe gesucht wird, sondern vor allem auch eine emotionale, macht nachfolgende Aussage deutlich: „Das ‚Öffnen’ und Bereitsein des emotionalen Filters des Kindes ist die grundlegende Voraussetzung für ein effektives Lernen. Die emotionale Teilhabe der Thera­peutin, das ‚Mitschwingen’ – Resonanz­bereitschaft ist ein grundlegendes Element der Therapeutin­Kind­Bezie­hung.“ Hier ist die therapeutische

Beziehung nicht bloßer Rahmen, in dessen geschützter Atmosphäre Entwicklungsförderung stattfinden kann, sondern die Beziehung selbst wird zum Instrument, das den therapeuti­schen Prozess in Gang setzt, vorantreibt und gestaltet.

Das Kind in seinem UmfeldDass das Kind nicht isoliert von seinem Kontext zu betrachten sei, betont knapp die Hälfte der an der Studie beteiligten Psychomotoriktherapeutinnen. Diese Therapeutinnen bekennen sich zu einem „systemischen Ansatz“, der „zentral“ in ihrem therapeutischen Tun sei, wobei insbesondere die Zusammenarbeit mit der Familie und Schule im Rahmen der Psychomotoriktherapie gepflegt werden soll. Doch während die Therapeutinnen die Beziehung zum Kind in lebendigen, mit Metaphern bestückten Worten schildern, sind spezifische Aussagen, wie die soziale Umwelt des Kindes in die Arbeit mit einzubeziehen sei, rar. So bedeutet der Einbezug des kindlichen Umfeldes zwar ein wichtiges Anliegen, doch ohne konkrete Details bleiben diesbezügliche Aussagen auf fallend blass. Im Gegensatz zur Mehrzahl schildern zwei Therapeutinnen ausführlich, wie sie das systemische Denken in ihrer Arbeit umsetzen. Eine Therapeutin schreibt: „Für mich ist es wichtig, das Kind in seinem ganzen System zu erfassen. Ich investiere relativ viel Zeit für Gespräche mit den Eltern, unterstütze diese in ihrem Handeln und berate sie in erzieherischen Belangen. Ich führe auch fachlichen Austausch mit Lehrpersonen und Berufskolleginnen.“Dieser Austausch mit Personen aus dem kindlichen Umfeld kommt einerseits bei der gründlichen Diagnostik der Proble­matik des Kindes in der Anfangsphase der Therapie zum Tragen. Eben zitierte Therapeutin integriert beispielsweise in

dieser Phase Eltern in die Therapie­stunde. Aber nicht allein in der Anfangs­ phase, sondern während des gesamten therapeutischen Prozesses, betrachtet sie eine vertrauensvolle Zusammenar­beit mit den relevanten Bezugspersonen und Fachpersonen als förderlich für die Bewältigung wichtiger Entwicklungs­schritte des Kindes. Eine zweite Therapeutin bezeichnet ebenfalls die Arbeit mit dem Umfeld des Kindes als einen Kernpunkt ihrer therapeutischen Arbeit: Es „ergeben sich für meine Arbeit zwei Hauptschwerpunkte. Die Arbeit mit dem Kind und seinen Entwicklungsthemen sowie die Arbeit mit dem Umfeld des Kindes im ent­sprechenden familiären, schulischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext.“Was sie unter dem „kulturellen und gesellschaftlichen Kontext“ beispiels­weise versteht, macht sie in ihrem kritischen Kommentar zu heutig gängigen Erziehungspraktiken deutlich: „Kinder werden oft aus der Erwachse­nensicht gesehen und mit Wertungen, Feindseligkeiten und Zuschreibungen ‚überdeckt’. Andererseits wird die Führung des Kindes zu wenig übernom­men, wichtige Rahmenbedingungen und Grenzen, die für den Schutz und die Sicherheit des Kindes wichtig sind, werden zu wenig gesetzt. Das Kind steht in einer eher partnerschaftlichen Beziehung zu den Eltern und erhält wenig sichere, Halt gebende Führung. Ich beobachte, dass den Kindern einerseits sinnvolle Verantwortung oft abgenommen wird, andererseits werden den Kindern Entscheidungen übergeben, die sie noch gar nicht fällen können.“ Mit diesem kritischen, über die engere Therapiesituation hinausgehenden Blick bleibt diese Stimme unter den hier zu Wort kommenden Therapeutinnen jedoch allein.

Leitende Rolle in Beziehung Begleitende Rolle in Beziehung Dialogische Beziehung

Akzentuierungen im Beziehungsverständnis

r Abb. 3 : Akzentuierungen im Beziehungsverständnis

„Mitschwingen und Resonanzbereitschaft …“

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Zusammenfassung und abschließende BemerkungenWill man ein Resümee der theoreti­schen Konzeptionen der an der Studie beteiligten Psychomotoriktherapeutin­nen ziehen, dann fällt die übergeordne­te Bedeutung des humanistischen Gedankenguts auf. Diese Denktradition unterstreicht die typisch menschlichen Qualitäten unserer Existenz wie Selbstbewusstsein, die Fähigkeit, Werte und Ziele zu setzen, Sinn zu stiften, Urteile zu fällen. Sie betrachtet den Menschen als fähig, einen eigenen Weg im Leben zu wählen, ohne von den Realitäten seiner Umwelt oder seiner inneren Dispositionen überwältigt zu werden. In der humanistischen Tradition zeichnet sich der Mensch durch sinnhaftes Handeln aus. Er plant und strukturiert seine Lebensumstände im Versuch, eine optimale Selbstverwirk­lichung zu erreichen. Es ist dieses Menschenbild, und ins­ besondere dessen Ausformulierungen in der humanistischen Psychologie, zu dem sich viele der Therapeutinnen bekennen. Aber nicht nur beim Menschenbild, sondern auch bei der Zielsetzung des therapeutischen Arbeitens fungieren die Leitsätze der humanistischen Psychologie an prominenter Stelle. So stellt für nahezu alle Befragten die Arbeit am Selbst ein zentrales Ziel dar. Die hier zu Wort gekommenen Psychomotorikthera­peutinnen wollen das Kind in seinem Bestreben nach Verwirklichung seiner Möglichkeiten unterstützen, d. h. es soll im Rahmen der Therapie seine Ressourcen kennen lernen, so dass es gestärkt den eigenen Weg beschreiten kann. Auch bei der Betrachtung der Arbeits­weisen der Studienteilnehmerinnen finden wir einen starken Widerhall wichtiger humanistischer Konzepte. Viele Therapeutinnen betonen in ihren Interventionen die Bedeutung des subjektiven Erlebens und das Anknüp­fen an die Lebensgeschichte des Kindes als Voraussetzung für sinnhafte und damit motivierende Alltagssituationen in der Therapiestunde. Und von ganz offensichtlicher Bedeutung ist die humanistische Psychologie, wenn es um die Gestaltung der Beziehung zum Kind geht. Zwar nicht immer mit Namen erwähnt, prägen die Leitsätze

des humanistischen Psychologen Carl Rogers die therapeutische Grund­haltung der Studienteilnehmerinnen gegenüber dem Kind. Das humanistische Denken und die humanistische Psychologie lassen sich also als die große Klammer der theore­ tischen Orientierungen der Studienteil­nehmerinnen lesen. Damit ist aber ein weites, das menschliche Verhalten und Erleben noch wenig nach spezifisch psychomotorischen Kriterien bearbeite­tes Territorium abgesteckt. Es über­rascht deswegen kaum, dass sich die hier befragten Psychomotoriktherapeu­tinnen innerhalb der großen Klammer des humanistischen Denkens einer ganzen Bandbreite spezifischer theoretischer Ansätze aus dem großen Fundus pädagogisch­psychologischen Wissens bedienen. Für diese Gruppe von Psychomotoriktherapeutinnen trifft offenbar der Befund zu, den Klaus Fischer (2011) für die Psychomotorik allgemein feststellt, wenn er schreibt: „Die Psychomotorik ist weit davon entfernt ein einheitliches Erklärungs­konzept als Bezugsgrundlage zu formulieren. Einig ist die Scientific Community darin, die Schlüsselbegriffe Bewegung, Wahrnehmung, Körper/Leib, Beziehungsgestaltung, Selbst konzept/Identitätsbildung und soziale Kompe­tenz unter einer Entwicklungs­ bzw. Förderperspektive zu betrachten (S. 97). Maßgabe ist allein das Kind und seine Bedürfnisse. Mit dem Fokus auf dem Kind lassen sich divergierende und durchaus auch widersprüchliche theoretische Konzepte in Einklang bringen, solange sie dem Wohle des betroffenen Kindes dienen. So kann man das Fehlen eines „einheitlichen Erklärungskonzepts“ (Fischer, s. o.) in der Psychomotorik beklagen, oder aber diese Leerstelle als Aufforderung begreifen, die verschiedenen theore­tischen Ansätze und methodischen Vorgehensweisen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problem­stellung des Kindes zu nutzen. Denn diese Offenheit gegenüber der Vielfalt der Ansätze und Methoden ermöglicht „… einerseits das Aufbrechen eingefah­rener Denkmuster und Beurteilungs­schemata zum Zweck eines besseren Verständnisses des Kindes. Andererseits eröffnet sie die Chance einer Variation der eigenen Verhaltensweisen im Hinblick auf die spezifischen Erforder­

nisse des Kindes“ (Zimmer, 2006, S. 50). Die hier Befragten folgen bei ihrem pragmatischen und sich keiner einzel­nen Theorie verpflichtenden Vorgehen dem Vorbild Renate Zimmers, die mit genau diesem theoretisch und metho­disch offenen Ansatz, der auch als „kindzentriert“ bezeichnet wird, das Feld der Psychomotorik offensichtlich auch in der Schweiz maßgeblich beeinflusst.Eine zweite Beobachtung betrifft das berufliche Selbstverständnis der befragten Psychomotoriktherapeutin­nen. Liest man ihre Statements unter dem Gesichtspunkt von beruflicher Identität, dann kann man feststellen, dass diese von der Betonung einer therapeutischen Haltung geprägt sind. Die Betonung des therapeutischen Aspektes der beruflichen Identität mag an unserer Fragestellung gelegen haben (wir fragten nach den theoretischen Konzepten, die den therapeutischen Alltag leiten), berücksichtigt man aber die Eloquenz und Wortwahl, mit welcher die Therapeutinnen ihre Beziehung zum Kind und ihre Ziel­orientierung an der kindlichen Selbst­entfaltung beschreiben, dann scheint die Vermutung berechtigt, dass das hier zum Ausdruck gebrachte thera­peutische Selbstverständnis nicht allein ein Artefakt unserer Befragung ist. Das therapeutische Selbstverständnis zeichnet sich in deutlichen Konturen ab: Die Psychomotoriktherapeutin nutzt ihr Wissen um die Probleme der kindlichen Entwicklung und richtet ihre Interven­tionsangebote danach aus. Sie setzt ihr spezifisches Wissen um die kindliche Bewegung und die Materialität von Erfahrung ein, um dem Kind Räume für sinnliche und lustvolle Erlebnisse zu eröffnen. Sie möchte eine tragfähige Beziehung aufbauen und im Rahmen dieser Beziehung dem Kind Sicherheit geben, seine nächsten Entwicklungs­schritte zu wagen. Sie beschreiben es als ihre Aufgabe, die Probleme des Kindes zu erkennen und zu verstehen und ihm im geschützten Rahmen der Psychomotoriktherapie zu helfen, diese zu meistern. Die hier befragten Psychomotoriktherapeutinnen drücken ein Vertrauen in die eigene fachliche Kompetenz aus, die ihnen erlaubt, genau diese Rolle als Therapeutin wahrzunehmen.

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Angesichts dieser, vom therapeutischen Selbstverständnis geprägten Berufs­identität bedeuten die Veränderungen in den Aufgaben der Psychomotorik­therapie aufgrund der neuen Volks­schulgesetzgebung eine Herausforde­rung, die mit Achtsamkeit angegangen werden sollte. Denn das im neuen Gesetz geforderte, integrative und präventive Arbeiten, Seite an Seite mit der Lehrerin oder Kindergärtnerin im Klassenzimmer im Rahmen des norma­len Unterrichts bedeuten nicht nur eine andere Arbeitsweise, sondern auch eine Perspektivenerweiterung die auch Bildungsziele beinhaltet. Diese Verän­derungen müssen von den Psycho­motoriktherapeutinnen akzeptiert, verinnerlicht und in die berufliche Identität integriert werden, damit die anvisierten Reformen erfolgreich reali­ siert werden können.Neben den veränderten Aufgaben­stellungen und der Anpassung der beruflichen Identität, erscheint es uns zudem notwendig eine Theoriediskus­sion zu führen, so wie sie auch Klaus Fischer fordert, die eine „… Verschmel­zung von Behandlungsaspekten mit (heil­)pädagogischen, persönlichkeits­bildenden Zielsetzungen …“ (Fischer,

2011, S. 98) konzeptualisiert. Damit aber eine solche konzeptionelle Verknüpfung der Perspektiven in der Praxis fruchtbar wird, braucht es, so argumentiert Fischer weiter, auch eine Bildungsdebatte. Denn nur „unter einem erweiterten Bildungsbegriff, der nicht allein auf Wissensentwicklung unter einer fachdidaktischen Perspek tive zielt, erhält die Psychomotorik eine Schlüsselfunktion in der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen als Konzept der Allgemeinbildung und als körper­orientierte Theorie der Erfahrung“ (Fischer, 2011, S. 98). Und nur im Rahmen eines solchermaßen erweiterten Bildungsbegriffs kann die Psychomoto­rik ihr spezifisches Potential für eine allgemeine Entwicklungsförderung in einem schulischen Setting zum Wohle des Kindes einlösen. Eine letzte Beobachtung betrifft die Sprache der Studienteilnehmerinnen. Beim Lesen der vorgestellten theore­tisch­philosophischen Konzeptionen fällt der ungewöhnliche Gebrauch der Sprache auf, die bemerkenswert oft mit bildhaften Ausdrücken wie „Entwick­lungsthemen der Kinder“, „Raum geben“, „Wesen des Kindes“, „Kind abholen, wo es steht“, „seine Themen

finden“, „Mitschwingen und Resonanz­bereitschaft“, „emotionalen Filter öffnen“, „Schlüssel sein für …“ operiert. Auch diese metaphorische Sprache deutet darauf hin, dass Psychomotori­kerinnen in der Schweiz sich in ihrer Identität einem therapeutischen Berufsverständnis zugehörig fühlen. Möglicherweise kann hier ein „psycho­motorischer Fachdiskurs“ ansetzen, der aus einem funktionierenden Praxisfeld hervorgeht und daraus einen wissen­schaftlichen Diskurs ableitet und bereichert. Ein Diskurs, der mit Meta­phern arbeitet, ist vielleicht in besonde­rer Weise geeignet, genau dieses Praxisfeld in all seiner Reichhaltigkeit, Breite und auch Offenheit abzubilden.

LiteraturFischer, K. (2011). Meilensteine und

Erkenntnisfortschritte des psychomotorischen Paradigmas. Motorik, 34, 2, 96–101.

Zimmer, R. (2006). Handbuch der Psychomotorik: Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Freiburg im Breisgau: Herder.

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Auf der Suche nach der sinnvollen Einheit

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Umwelt ein ganzheitliches Beziehungs­gefüge bilden sieht (vgl. 1982, S. 81). Jene Einheiten sind durch Minder­wertigkeits­ oder Ohnmachtsgefühle Erschütterungen ausgesetzt, die das Individuum auszugleichen versucht: In diesem entwicklungsrelevanten Kompensationsverhalten strebt es danach, die nämliche Einheit über die Erweiterung autonomer (kompetenz­orientierter) oder sozialer (beziehungs­orientierter) Ressourcen wiederherzu­stellen. Unter jener Zielausrichtung

Die Individualpsychologie (IP) spielt im Fachdiskurs der Motologie/Psychomotorik bisher kaum eine Rolle, obwohl sie deren Kriterien für eine Bezugnahme umfassend erfüllt. Der Autor skizziert die theoretischen Grundlagen der IP und stellt mit ihrem Bestreben, das Individuum über Organdialekt und Bewegungsgesetz ganzheitlich zu verstehen, wertvolle Anknüpfungspunkte für die Motologie/Psychomotorik heraus. Er verweist mit der Psychomotorischen Prioritäten- und Teleoanalyse auf einen neuen Fachansatz, der sich den individualpsychologischen Erkenntnissen bedient und die individuellen Problemlösungsstrategien in den praxeologischen Fokus nimmt.

Kimon Blos

Auf der Suche nach der sinnvollen EinheitIndividualpsychologische Impulse für die Motologie

Dr. phil. Kimon BlosStudium der Sportwissenschaften (Köln) und Motologie (Marburg). Leiter der Psychomotorik­Therapiestelle und der Schuldienste (Fachbereiche der Logopädie, Psychomotoriktherapie und Schulpsychologie) in CH­Willisau/LU. Wissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte: Selbst­ und Identitätsentwicklung in der Postmoderne, leibliche Aspekte der Individualpsychologie, Praxeologie psychomotorischer Ansätze sowie die Entwicklung der Psychomotorischen Prioritäten­ und Teleoanalyse.

Anschrift des Verfassers:Schuldienste Willisau/ Psychomotorische TherapiestelleSchlossstrasse 4, Schulhaus Schloss 26130 Willisau/LU, SchweizTelefon: 00 41 / (0) 41 972 62 58E­Mail: kimon.blos.psychomotorik@

willisau.ch

Die bisher gesponnenen Beziehungs­fäden zwischen Motologie und Indivi­dualpsychologie (IP) gründen insbeson­dere auf zwei renommierten Vertretern, müssen aber noch als eher dezent beschrieben werden: Auf Seiten der Motologie hat sich Ernst J. Kiphard, v. a. im Hinblick auf Erziehungs­ und Beziehungsgestaltung bzw. im Umgang mit aggressivem Verhalten, wiederkeh­rend auf individualpsychologische Autoren bezogen (vgl. z. B. Kiphard 1990, S. 38 f., S. 101 ff. bzw. 1983, S. 282) und eine intensivere Auseinan­dersetzung mit deren Gedankengut angeregt. Auf Seiten der IP hat Toni Reinelt (2004) Verbindungen zwischen der Tiefenpsychologie und v. a. der französischen Psychomotorik geknüpft, dabei jedoch gleich einschränkend die Frage aufgeworfen, „ob deren theoreti­sche Konzeptionen und Praxisanleitun­gen noch als Psychomotorik im originä­ ren Sinne verstanden werden können“ (S. 87). Dieser Beitrag zielt darauf, die psychomotorische Praxis um Interpreta­tionsmöglichkeiten des Bewegungs­verhaltens unserer Klientel vor dem Hintergrund individualpsychologischer Konstrukte zu erweitern. Dafür ist zunächst darzulegen, inwieweit die infrage stehende Theorie sich in ihrer Erkenntnissuche auf die motologie­relevanten Parameter Körper, Leib oder Bewegung bezieht (vgl. Seewald 2009, S. 33). Nach einem entsprechenden Einblick folgt der Transfer dieser individualpsychologischen Impulse in die Theorie und Praxis der Motologie,

der wiederum zur Psychomotorischen Prioritäten­ und Teleoanalyse führt.

Skizze der theoretischen Grundlagen der Individualpsychologie

Die Individualpsychologie betont die nicht zu teilende (in dividere) Einheit des Menschen. Ihr Name darf also keinesfalls als etwaiger Hinweis auf eine Vernachlässigung der sozialen Komponente fehlgedeutet werden, die mit dem Gemeinschaftsgefühl sogar eine herausragende Stellung im Theoriegebilde der IP einnimmt. Gemäß Antoch (1981, S. 42, kursiv im Original) handelt es sich bei diesem „um eine prinzipielle Zugewandtheit, die als Kontakt, Nähe und Aufgeschlossenheit der Welt, dem Leben und den Mit-menschen gegenüber zu begreifen ist“ und orientiere sich an einem echten Interesse an einer konstruktiven Problemlösung. So dient es zum einen dem einzelnen Individuum als Ressour­cenpool zur Kompensation eigener Unzulänglichkeiten und ermöglicht zum anderen auch jedem Individuum seinen Beitrag für die gemeinsame Entwick­lung einzubringen. Denn jene Einheit, auf die die IP verweist, besteht auf zwei Ebenen: der intrapsychischen, auf der Adler die Freud’sche Teilaspektanalyse nach Ich/Es/Über­Ich ablehnt (vgl. z. B. 1973, 76 f.) und eben der interpsychi­schen, auf der er das Individuum mit seiner sozialen und lebensweltlichen

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entwirft und konkretisiert sich der Mensch, der entsprechend nur über seine Wirk­ oder Gestaltungs absicht innerhalb seiner Lebensumwelt ver­ standen werden kann.Die IP sucht somit nach dem Ziel individuellen Handelns, mit der der Mensch die Wiederherstellung seiner Einheit anstrebt. In diesem selbst kreierten Konstrukt von problematisier­ter Lebensweltinterpretation (Probleme „stehen in direkter Korrelation zu unserem Selbstverständnis. Denn Probleme werden auf dem Niveau wahrgenommen, auf dem wir uns selbst begreifen.“, Gerhardt 1999, S. 47, kursiv im Original) und eigenem Lösungs­ansatz nimmt die Sinndimension des Individuums Gestalt an („Wie einer sich bewegt, so ist sein Sinn des Lebens“, Adler 1973, S. 77), denn in seinen Bewegungen kommen seine Befürch­tungen, Bedürfnisse und Wünsche zum Ausdruck („Nur in der Bewegung ist Wahrheit“, Adler 1912, 1972, S. 139), gewinnen ideelle Werte konkrete Form („Bewegung wird gestaltete Bewegung: Form. – So ist Menschenkenntnis aus Form möglich, wenn wir die gestaltete Bewegung in ihr erkennen“, Adler 1973, S. 67).Damit hat Adler die naturwissenschaft­lich argumentierende Triebpsychologie zugunsten einer Werteorientierung verlassen: Nicht kausale Zwänge begründeten unser Tun, sondern die an Kant angelehnte Selbstbindung an ein eigenes Ziel. Mit jenem zielsetzenden Anfang aber entschieden wir uns für folgerichtiges Handeln (Kausalität durch Freiheit), eben dieses Ziel auch zu erreichen (vgl. Vetter 1991) und manifestieren jene intrapsychische Einheit, der gemäß Adler sämtlich individuelle Strukturen folgen. Dabei kommt dem Spüren, dem leiblichen Wahrnehmen und Unterscheiden eigener Befindlichkeiten, prägende Bedeutung zu: In der Differenzerfah­rung (Seewald 2000, S. 100) zwischen ich bin und ich bin nicht, zwischen angenehm/unangenehm, zwischen wichtig/unwichtig, zwischen Bedürfnis und Befürchtung entwickelt der Mensch gemäss Adler (1973, S. 95) „die seiner Haltung zugrunde liegende Meinung vom Leben, weder in Worte gefasst noch gedanklich ausgedrückt (…).“ In diesem Verständnis dient der Leib als Quelle der Selbstinterpretation und

Selbstgestaltung, sind Leib­ und Lebenserfahrungen identisch: „Ich bin reflexiv uneinholbar dieser Leib“ (Kühn/Titze 1991, S. 207, kursiv im Original), in dem „alles Tun von diesem funda­mentalen ‚Leibwissen’ begleitet ist“ (Heisterkamp/Kühn 1995, S. 292 f.): „In Zorn, Angst, Trauer oder jeder anderen Emotion, immer spricht der Körper; und der Körper jedes Individu­ums spricht in seiner eigenen Sprache (Adler 1979, S. 42).

Adlers Organdialekt und individuelles Bewegungsgesetz

Innerhalb der skizzierten Leiborientie­rung verdienen aus motologisch­psy­chomotorischer Sicht mit Organdialekt und Bewegungsgesetz zwei Teilaspekte besondere Beachtung, da sie uns Einblick in das Verständnis sowohl der individuellen Ganzheit als auch der theoretischen Entwicklung Adlers gewähren.

„Dabei stossen wir auf den Sinn, auf die Meinung der Ausdrucks­bewegungen, die Worte, Gedanken, Gefühle und Handlungen sein können. Wie sehr aber auch der Körper unter diesem Bewegungs­gesetz steht, verrät der Sinn seiner Funktionen, eine Sprache, meist ausdruckvoller, die Meinung deutlicher aufzeigend als Worte es vermögen, aber immerhin eine Sprache des Körpers, die ich Organ­ dialekt genannt habe“ (Adler 1973, S. 57).

Adler (1870–1937) war Mediziner und hat sich dem menschlichen Körper zunächst unter funktionalen Gesichts­punkten genähert. Im Kreise Freuds, dessen Mittwochsgesellschaft er von 1902 bis 1911 angehörte, beschäftigte er sich dann aber verstärkt mit psychia­trisch­psychologischen Fragestellungen. Dabei führte er Krankheitsursachen neben exogenen Faktoren, wie Infektion oder Vergiftung, auch auf endogene zurück. Bestimmte Organe, die er als minderwertig bezeichnete, zeigten sich anfälliger als andere. Auf besondere Beanspruchung reagierten diese entsprechend ihrer abweichenden Lage, Form oder Funktion mit einer im Vergleich zu vollwertigen Organen

erhöhten Reaktionsbereitschaft, dienten somit entweder als Orte vornehmlicher Krankheitslokalisation oder aber auch möglicher Kompensation und Überkom­pensation.Gemäß Adler wirken sich andauernde psychische Spannungen und Erschütte­rungen am Ort des geringsten Wider­stands auch funktional aus. Das minderwertige Organ reagiert mit einer Auffälligkeit auf die psychische Irritation, die sich ihrerseits in dieser körperlichen Auffälligkeit ausdrückt. Während Rattner (1974, S. 24) bereits dieses Phänomen als Organdialekt im Sinne Adlers bezeichnet, präzisiert Schmidt (1995, S. 361 f.), dass erst eine psychische Barriere, die ein Gefühl als unzulässig und somit unerlebbar blockiert, die Voraussetzung für die gemeinte Körpersprache bildet. Der Organdialekt beschreibe also somatisch, was psychisch nicht zugänglich war. In diesem Prozess der Konversion (Freud 1905/1971, S. 127), der Transformation psychischer Konflikte in körperliche Symptome, prägen sich die individuel­len „Blockierungen originärer Lebens­ oder Selbstbewegungen“ (Heisterkamp 1990, S. 86) aus, die tiefenpsycholo­gisch den „körperlichen Phänomenen und Bewegungsmustern Ausdrucks­ und Mitteilungscharakter“ (Reinelt 2004, S. 82) verleihen. Der Organdialekt verweist demnach nicht lediglich auf eine körperliche Schwachstelle, sondern kommuniziert einen individuellen Bedeutungsgehalt und appelliert damit an die Unterstützung seiner sozialen Gemeinschaft.Mit der Organminderwertigkeit geht Adler zunächst von einer objektiven Prädisposition für individuelles Reak­tionsverhalten aus, die im Organdialekt eine rein subjektive Ausdruckskompo­nente gewinnt („Je mehr man von dem Aufbau seelischer Struktur versteht, umso mehr wird man begreifen, dass es Symptome, die das Gleiche bedeuten, nicht gibt“, Adler 1936, S. 174), sich im späteren Minderwertigkeitsgefühl aber auf einen möglichen, jedoch unnötigen Kompensationsimpuls reduziert. Nun reicht die persönliche Interpretation der Lebenswelt aus, eine die eigene Einheit destabilisierende Problemkonstellation zu entwerfen, die es entweder bereits antizipatorisch abzuwehren oder aber reaktiv zu überwinden gilt. Dieser Prozess steht unter dem Einfluss des

Auf der Suche nach der sinnvollen Einheit

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individuellen Bewegungsgesetzes. Darunter fassen Adler und seine IP das persönliche Problemlösungsschema zusammen, wobei daran zu erinnern wäre, dass auch schon die Herausbil­dung jener zu begegnenden Probleme als Teil der darin verorteten Gesetz­ mäßigkeiten zu verstehen sind. Im Bewegungsgesetz „sind alle früheren Erfahrungen und Entscheidungen des Individuums aufgehoben“, es „legt die gegenwärtigen und zukünftigen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühlserlebnisse nahe“ und stellt „eine Abstraktion von der Vielfalt der konkreten Erlebnisse, eine Selektion von aktiven und perzeptiven Reaktionsmög­lichkeiten und eine Generalisierung über Personen und Situationen hinweg dar“ (Bruder­Bezzel 1991, S. 178).

Die Prioritäten

Das Bewegungsgesetz rückt die Motiva­ tionsbedingungen in den Vordergrund, warum wir uns bewegen, bewegen lassen oder auch bewegt werden. Dahinter stehen zwei einfache Grund­prinzipien, die die angesprochene Bewegungsausrichtung bestimmen: Annäherung (an eine erhoffte Bedürf­niserfüllung) und Rückzug (von einer vermeintlichen Gefährdung). Darauf aufbauend haben Kefir/Corsini (1974) ihre Persönlichkeitstheorie der Priori­täten vorgestellt. Ihre Metastudie zu den Grundzügen menschlichen Verhal­tens arbeitet eine Typologie heraus, die vier polar angeordnete Verhaltens­präferenzen oder Problemlösungs­strategien unter dem Fokus eines Bewe­gungsimpulses („hin zu“ – „weg von“) kategorisiert (siehe Tab. 1).Diese Prioritäten spiegeln die persön­lichen Erfahrungen (v. a. der frühen Kindheit) wider, welches Verhalten die günstigste Prognose bezüglich Bedürfniserfüllung oder Befürchtungs­abwehr erwarten lässt. Dabei beschrei­ben sie zunächst prinzipiell lediglich

eine Tendenz, eine Vorliebe für einen bestimmten Lösungsweg, der abwei­chende Alternativen und Varianten so lange nicht ausschließt, wie das eigene Selbstwertgefühl untypische Aspekte tolerieren und integrieren kann. In diesen tendenziellen Ausprägungen dient die Priorität der konstruktiven Problemlösung, ist Mittel zum Zweck und eröffnet ein breites Handlungs­spektrum. Ihr gegenüber steht die fixierte Form, in der ein instabiles Selbstwertgefühl die prioritäre Problemlösungsstrategie als Schutz­reaktion verabsolutiert. Hier konzent­riert sich die Aufmerksamkeit nur noch um die Abwehr der Befürchtung, was den Handlungsspielraum stark begrenzt. In dieser Ausprägung dient sie lediglich dem Selbstzweck der aktuellen Sicherung und verengt die individuelle Entwicklungsperspektive (vgl. Blos 2012a).Adler (1934, 1935) selbst hat innerhalb seines Bewegungsgesetzes ebenfalls charakterisierende Unterscheidungen vorgenommen, denn „unsere Beurtei­lungen gewinnen an Schärfe, wenn wir eine rationale Klassifizierung wie die von Typen einführen und anschliessend ihre besonderen Ausprägungen unter­suchen“ (1978, S. 55), in denen „der Einzelfall in seiner Einmaligkeit gefunden werden muss“ (1973, S. 30). So skizziert er anhand der Komponen­ten (1.) Ausprägungsgrad der sozialen Integration bzw. Nützlichkeit (konstruk­tiv – destruktiv) und (2.) der Bewe­gungsform bzw. Geschwindigkeit (aktiv – passiv) vier Kombinationen als nützlich, herrschend, nehmend oder vermeidend, worauf wir zurückkommen werden (vgl. Tab. 2). Um möglichen Verwechslungen vorzubeugen sei hier festgehalten, dass diese Einteilung nicht mit den Prioritäten gleichzusetzen ist, sondern dass „jeder von Adlers Typen in jeder der vier Prioritäten (…) gesehen werden kann“ (Pew 1978, S. 124, kursiv im Original). Das heißt, dass jede Priorität aktiv­konstruktive

wie auch passiv­destruktive Anteile beinhaltet und ermöglicht. Jede Priorität verspricht demnach Gewinne und Verluste, vereint Vor­ und Nach­teile, deren Gesamtbilanz nur indivi­duell bewertet werden kann.

Transfer in Theorie und Praxis der Motologie/Psychomotorik

Gemäß der IP entspannt sich die individuelle Sinndimension zwischen der die Einheit des Individuums erschütternden Problemkonstellation und der aus dem eigenen Bewegungs­gesetz abgeleiteten prioritären Lösung: Welche Bedingungsgefüge werden dem Individuum zum Problem und unter welchen Handlungsentwürfen scheinen sie selbstverträglich zu bewältigen? Das Individuum spürt die Erschütterung seiner ursprünglichen Einheit und richtet seine Bestrebungen dahingehend aus, jene Einheit wieder herzustellen bzw. gegen perspektivische Ohnmachts­gefühle zu erweitern. Dafür umschließt es in einem intentionalen Akt bzw. Prozess den als wertvoll erachteten Kompensationsgegenstand. In dessen Einverleibung erweitert sich der Körper­ raum in den Leibraum, womit die Einheit mit der Lebenswelt vollzogen wird. Im Hinblick auf individuelle Entwicklungsverläufe scheint es hilfreich, das Verhalten unserer Klientel soweit zu verstehen, dass etwaige Förderfaktoren oder Barrieren absehbar und therapeutisch nutzbar sind. Dazu gilt es, unsere Beobachtungen in der Praxis immer wieder auf die (1.) intra­ wie die (2.) interpsychische Einheit des begleiteten Menschen abzustimmen, um die jeweiligen Teilaspekte in den Gesamtkontext einordnen zu können.Zu (1.): Teilelemente wären hier bspw. motorische Fähig­ und Fertigkeiten, intellektuelle Kompetenzen oder soziale Ressourcen. Beschreiben wir den Menschen anhand dieser Gesichtspunk­te, so erhalten wir ein summatives Bild aus Einzelaspekten, das wir, je nach deren Anzahl, grob­ oder feinkörniger anlegen können. Dabei werden jene Einzelaspekte sowohl interindividuell an allgemeinen Erwartungen gemessen (schneller oder langsamer als andere, besseres oder schlechteres Verständnis logischer Zusammenhänge bzw. höhere oder niedrigere Integration im Klassen­

Tab. 1: Polar angeordnete Prioritäten

Bedürfnis („hin zu“) Befürchtung („weg von“)Überlegenheit BedeutungslosigkeitKontrolle Ausgeliefertsein, (unerwartete) ErniedrigungGefallenwollen AblehnungBequemlichkeit Belastung, Überforderung, Verantwortung

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verbund) als auch intraindividuell aufeinander bezogen (der langsame Läufer verfügt über ein gutes logisches Verständnis, jedoch nur über wenige Freunde). Doch was verraten uns diese punktuellen Hinweise über das Indivi­duum und seine Entwicklungsprognose? Tatsächlich so lange sehr wenig, wie wir sie isoliert betrachten und an allge­meinen Erwartungen und Wahrschein­lichkeiten abgleichen. Hat der langsame Läufer nur wenige Freunde, weil diese Schnellere bevorzugen? Schließt er nur mit wenigen Mitschülern Freundschaft, weil nur diese seinen logischen Über­ legungen folgen können? Oder bestehen gar keine Zusammenhänge zwischen diesen willkürlich herausgestellten Aspekten: Hat er gar nur wenige Freunde, weil er aufgrund nachlässiger Hygiene unangenehm riecht? Inte­ressiert ihn die Anzahl der Kontakte überhaupt nicht, da er sich in der Intensität der vorhandenen Freund­schaften umfänglich geborgen fühlt? Das geschilderte Beispiel mag ausrei­chen, den Spekulationsspielraum zu umreißen, den Erklärungsversuche bisheriger oder gar zukünftiger Ent­wicklungen anhand von Teilaspekten eröffnen. Größere diesbezügliche Sicherheit gewinnen wir nun aber nicht, indem wir mit schärferer Lupe weitere Teilaspekte fokussieren, da sich weder die Ungewissheit „in dem Maße

verringert, wie die Exaktheit wächst“ (Lyotard 2009, S. 135),1 noch ein Mehr „desselben die höchste Stufe der Sicherheit verspricht“ (Antoch 1995, S. 222). Ein alternatives Verstehen des Individuums verlangt vielmehr ein Öffnen der Beobachtungsperspektive, die das ganzheitliche Subjekt in seinem Lebenszusammenhang zu erfassen versucht, in dem es agiert, in dem es in Kontakt, in Beziehung tritt. Denn „wir machen unsere Bewegungen nicht in einem ‚leeren’, zu ihnen beziehungs­losen Raum, sondern in einem, der zu ihnen in ganz bestimmter Beziehung steht; Bewegung und Hintergrund sind eigentlich nur künstlich voneinander trennbare Momente eines einheitlichen Ganzen“ (Goldstein 1923, S. 162, kursiv im Original). Das Ganze, so wird in diesem Zitat deutlich, umfasst die individuelle Bewegung in ihrer Wirk­absicht auf ihre Umwelt.Zu (2.): Diese Wirkabsicht wird in den Prioritäten deutlich, die die Bezie­hungsgestaltung des Akteurs zu seiner Lebenswelt kennzeichnet. Auf der Grundlage ihrer polaren Anordnung und dem Einbezug der Adler’schen Typen ­

1 Sie wächst in dem Maße mit, wie weitere Teilaspekte die Kombinationsmöglichkeiten etwaiger Abhängigkeiten erhöht, ohne aber über tatsächliche subjektiv bestehende Zusammenhänge Auskunft geben zu können.

differenzierung seines Bewegungs­gesetzes lassen sich die in Tabelle 2 aufgeführten Ausprägungen ableiten. Dabei sind den beschriebenen Ver­haltensweisen jeweils beispielhafte Benennungen zugeordnet, um das entsprechende Erscheinungsbild greifbarer darzustellen. Diese Ver­einfachungen erlauben zweifelsohne Diskussionsspielräume. Ihre Funktion liegt jedoch nicht in einer umfänglichen Erfassung des Gemeinten, sondern lediglich in einer anschaulichen Annäherung, die ich für ausreichend gegeben halte.Das beschriebene Verhalten lässt sich in unserer Praxis beobachten (vgl. Tab. 3, wobei hier lediglich die Priorität, nicht ihre Binnendifferenzierung erfasst wird). Die so skizzierte Prioritäten­analyse bietet Anhaltspunkte, typische Verhaltensweisen in verschiedenen Beobachtungsbereichen aufzuspüren und einzuordnen, um auf der Grundlage der in ihr vermittelten Bedürfnisse und Befürchtungen passende Interventions­angebote unterbreiten zu können. Doch auch dabei müssen die Einzel­beobachtungen aus einem Betrach­tungsfeld immer wieder mit den Hypothesen aus anderen Sequenzen verglichen werden, da sich individuelle Komplexität transparenter Eindeutigkeit entzieht und somit gleiches Verhalten durchaus unterschiedlichen Absichten

Tab. 2: Differenzierung prioritätstypischer Verhaltensweisen anhand der ADLER’schen Bewegungstypen

Prioritäten

Bewegungstypen nach Adler

Überlegenheit versus Bedeutungslosigkeit

Kontrolle versus Ausgeliefertsein

Gefallenwollen versus Ablehnung

Bequemlichkeit versus Überforderung

Aktiv­konstruktiv/Sozial nützlich

Setzt engagiert die eigenen Fähigkeiten zum Wohle aller ein (Idealist)

Gruppe kontrollieren und sichern (Regisseur)

Aufmerksam die Gruppenatmosphäre harmonisieren (Diplo­mat)

Vermittelt Genüg­samkeit im sozialen Anspruchsverhalten (Fürsprecher/ Begutachter)

Aktiv­destruktiv/Herrschend

Setzt eigenes Machtpo­tenzial konsequent durch (Tyrann)

Leistungen kontrol lieren und reglementieren (Schiedsrichter)

Opportunistisches Standpunktwechseln (Populist)

Delegiert Verant wortung an andere (Verpächter)

Passiv­konstruktiv/Nehmend

Erwartet bedingungslose Mittelpunktrolle und Bewunderung (Prinz)

Ansprüche kontrol lieren und einfordern (Erbsen­zähler)

Erwartungen der anderen bedienen, Akzeptanz erhalten (Schauspieler)

Genießt nach seinen Optionen (Hedonist)

Passiv­destruktiv/Vermeidend

Stellt Behauptungen bezüglich vermeintlicher Handlungs optionen auf, die meist nicht in die Praxis übertragen werden können (Angeber)

Anforderungen kontrol­lieren und minimieren (Minimalist)

Selbstverleugnende Unterwerfung (Mitläufer)

Zieht sich in sein Phlegma zurück (Ignorant)

Auf der Suche nach der sinnvollen Einheit

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dienen kann. Erst in der Gesamtschau, in der die Teilaspekte sich zur Priorität zusammenfinden, eröffnet sich die individuelle Sinndimension.Dieser nähern wir uns einerseits über die bereits vorgestellte Prioritäten­analyse (vgl. Blos 2009), die das individuelle Bewegungsgesetz anhand definierter Kategorien abstrahiert und typisiert sowie andererseits über die Teleoanalyse, die sich in jenen allgemei­nen Kategorien wieder dem konkret

Individuellen, dem spezifisch Wesent­lichen widmet, um die individuell abweichende Begründung für ähnliches prioritäres Verhalten zu finden (siehe Tab. 4). Die Prioritätenanalyse sucht demnach die interindividuelle Einheit verschiedener Menschen gleichen Verhaltens, die Teleoanalyse hingegen die intraindividuelle Einheit des einen Menschen, in der seine Ressourcen, Biografie und Lebensumstände als ursächliche oder verstärkende Elemente

jenes Verhaltens zum Vorschein kommen, in der die Teilaspekte einen Einblick in seine Ganzheit eröffnen.Die darauf abgestimmten Interventions­angebote (vgl. Blos 2012b) zielen v. a. darauf, entwicklungshemmende fixierte Prioritätsausprägungen zugunsten einer größeren Handlungsvariabilität zu überwinden, um die eigenen Möglich­keiten zu erhöhen, sich gegen perspek­tivisch wiederkehrende Erschütterungen zu wappnen.

Tab. 3: Kurzüberblick: Prioritätenanalyse gemäß praktischer Betrachtungsfelder

Priorität

Betrachtungsfelder

Überlegenheit – Bedeutungslosigkeit

Kontrolle – Ausgeliefertsein/Erniedrigung

Gefallenwollen – Ablehnung

Bequemlichkeit – Überforderung/Verantwortung

Rollenspiel Dominieren, herrschen: Chef, Löwe

Kontrollieren, regeln, einteilen: Polizist, Verkäufer, Bauer (Einzäunen)

Umsorgen, sozial angesehene Rolle übernehmen: „Mutter“ (einkaufen, Essen bereiten, trösten)

Klein sein, schlafen; verantwortungs­ und fähigkeitsfrei genießen, Beachtung und Fürsorge erfahren (Baby, junge Tiere)

Wettkampf­/Regelspiel

Ziel: gewinnen! Verlangt Revanche bei Niederlage

Ziel: nicht verlieren Gemäßigte Reaktion auf Sieg oder Niederlage

Eher unmotiviert

Bewegungsaufgabe Fragt nach anderen (Vergleichsobjekte)

Flucht in (unproduktive) Scheinaktivität

Bemüht sich Fordert rasch Hilfe oder Erleichterung

Frei­/Kreativspiel Wählt eher über eigenem Leistungsniveau, explo­rierend, in Besitz nehmend, dehnt Hand­lungsrahmen

Sucht eher unter eige­ nem Leistungsniveau; stereotyp, schafft sich Handlungsrahmen, häufig „Arbeiten“ („Das macht man so!“)

Wählt v. a. Bekanntes; unsicher, vorsichtiges entwickeln: was ist erlaubt? Sucht Hand­lungsrahmen, möglichst Imitation

Abwartend, träge, füllt Handlungsrahmen nicht aus

Gestalterischer Ausdruck(Malen, Tonen, Tanzen, Musizieren, …)

Dirigiert, gibt „den Takt“ an, baut/malt „das Schönste“ bzw. relativiert Erzeug­nisse des/der anderen

Abhängig vom Leistungsniveau:Hoch: sehr korrekt, genau, exaktNiedrig: vorschnell, ausweichend, stereotyp

Bemüht: Sucht nach „objektiver“ (allgemein­gültiger) Schönheit

Schnell zufrieden

Umgang mit Fremdimpuls

Abwertend Abwehrend Annehmend Differenzierend

Leibliche Resonanz Polare Emotionalität: zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit, (latent) aggressiv, lobt sich selbst, über­schäumend, drängend, Körperspannung folgt emotionaler Befindlich­keit: Anspannung im „Kampf“, Entspannung bei Erfolg und z. T. auch Misserfolg

Wachsam, formal, rigide, unflexibel, (latent) aggressiv, hohe Körperspannung

Wenig profiliert, schwer fassbar, clownesk, angepasst, gehemmt, maskenhaft, hohe Körperspannung bei freiem Handlungsfeld, Entspannung bei anerkanntem Hand­lungsmuster

Wenig anstrengungs­bereit, ausweichend, verbal kompensierend, geringe Körper spannung

Sprachliche Begleitung

Ausschweifend, kommunikativ

Initiativ: anweisend Reaktiv: meist spärlich und knapp erläuternd

Floskelhaft, schema­tisch, spiegelt oft leibliches Empfinden nicht wider

Als kompensierende Ersatzhandlung und notwendige Motiva­tionserläuterung oft differenziert entwickelt

I

Fachqualifikation Psychomotorik mit älteren Menschen in Alten- und Pflegeeinrichtungendakp

Diese neue Fachqualifikation der Deut­schen Akademie für Psychomotorik rich­tet sich an alle, die in Einrichtungen der stationären Altenpflege arbeiten und sich um die psychosoziale Begleitung der Bewohnerinnen und Bewohner kümmern.Jeder kennt das lähmende Schweigen und die Bewegungslosigkeit, die oft vor­herrschen. Wie können wir dem ent­gegenwirken? Wie können wir anregen, motivieren, Freude bereiten? Angesichts der persönlichen subjektiven Lebens­bedingungen der Menschen dort keine einfache Aufgabe. Wertvolle Hilfestel­lung kommt aus der Psychomotorik.Im ersten Modul wird das „Handwerks­zeug“ vermittelt, mit dem wir diesen Anspruch verwirklichen können. Wir zeigen auf, dass durch psychomotori­sche Angebote Körper, Geist und Seele gleichermaßen berührt – und damit be­wegt werden.Auch wenn der Geist schwindet, bleibt doch: „der Mensch“. Menschen mit De­menz machen uns oft hilflos, wir kön­

nen sie nicht verstehen und nicht errei­chen. Hier werden Wege gezeigt, wie wir – über Bewegung – Zugang zu ihnen finden und sie durch unsere Angebote stützen und stärken, trotz ihrer Demenz. Und so beschäftigt sich das zweite Modul mit Menschen mit Demenz und Psychomotorik.Im dritten Teil werden theoretische Kenntnisse vertieft und erweitert, der Schwerpunkt liegt darin, das „Hand­werkszeug“ und die „Haltung“ in eige­nes Handeln umzusetzen und zu üben. Wir arbeiten daran, wie es gelingen kann, über Bewegung Beziehung aufzu­bauen.Die 60 Stunden umfassende Fachquali­fikation setzt sich aus drei ausgewie­senen Modulen mit je 20 Unterrichts­stunden zusammen. Alle 3 Module müs­sen komplett gebucht werden! Nach der erfolgreichen Teilnahme an den ausge­wiesenen Pflichtkursen erhalten Sie das dakp­Zertifikat: Fachqualifikation Psy-chomotorik mit älteren Menschen in Alten- und Pflegeeinrichtungendakp.

Kursgebühr der gesamten Fachqualifikation:

Mitglieder AKP € 525,­Nichtmitglieder € 615,­

Modul A1: „Zuerst muss die Seele bewegt werden“ – Basiswissen MotogeragogikKurs: 13A11Kurstermin: Fr 30.08. – So 01.09.2013Kursort: Evangelische Bildungsstätte für die zweite Lebenshälfte, Bad OrbPreis: Kursgebühr + + 95,– Unterkunft und VerpflegungLeitung: Dr. Marianne Eisenburger

Modul A2: „Ich versteh die Welt nicht mehr …“ – Psychomotorische Arbeit mit demenzkranken MenschenKurs: 13A21Kurstermin: Do 03.10. – Sa 05.10.2013Kursort: Institut für Sportwissenschaf­ten und Motologie, Marburg Unterkunft: Hotels, Pensionen, Jugend­herbergePreis: KursgebührLeitung: Dr. Marianne Eisenburger

Modul A3: „Vom Sandsäckchen zur Begegnung“ - Umsetzungsmöglich-keiten im eigenen HandlungsfeldKurs: 14A31Kurstermin: Fr 14.02. – So 16.02.2014Kursort: Evangelische Bildungsstätte für die zweite Lebenshälfte, Bad OrbPreis: Kursgebühr + € 95,­ Unterkunft und VerpflegungLeitung: Dr. Marianne Eisenburger

Die kompletten Ausschreibungen und Anmeldemöglichkeiten finden Sie auf der dakp-Homepage bei den Fachqua-lifikationen unter: www.dakp.de

Aktuelles aus der Akademie

II

Oktober 2012

Themenkurs: Begriffsentwickler und Wortkonstrukteure – psychomotorische Begleitung des Projekts Sprach-entwicklungKurs: 12507Kurstermin: Fr 19.10. – So 21.10.2012Kursort: Caritas Förderzentrum St. Laurentius und

Paulus, LandauLeitung: Silvia Bender, Silke Hendriks

Themenkurs: G-Fipps: Grafomotorische Förderung für Gruppen. Ein praxisnahes Konzept für Kinder im Alter von 4 bis 6 JahrenKurs: 12508Kurstermin: Fr 26.10. – So 28.10.2012Kursort: Institut für Sportwissenschaft und Motologie,

MarburgLeitung: Prof. Dr. Martin Vetter, Karoline Sammann

November 2012

Berufsqualifikation Psychomotorikdakp – Kurs 1 Entwicklung wahrnehmen – Entwicklung bewegenKurs: 12108Kurstermin: Mo 26.11. – Fr. 30.11.2012Kursort: DJK Sportschule, MünsterLeitung: Hubert Bisping, Silvia Bender

Themenkurs: „Ob der Philipp heute still, wohl bei Tische sitzen will?“ Psychomotorik bei Kindern mit Aufmerksam-keitsproblemenKurs: 12509Kurstermin: Fr 02.11. – So 04.11.2012Kursort: Jugendherberge Bad HomburgLeitung: Gabi Seidl­Jerschabek, PGL­Team

Januar 2013

Berufsqualifikation Psychomotorikdakp – Kurs 1 Entwicklung wahrnehmen – Entwicklung bewegenKurs: 13101Kurstermin: Mi. 30.01. – So 03.02.2013Kursort: Pallotti­Haus, NeunkirchenLeitung: Silvia Bender, Kerstin Twellmeyer

Fortbildungsübersicht dakp Oktober 2012 – Januar 2013

Themenkurs: Kleine Weltentdecker – Bewegung als Motor für Entdeckung von Wirksamkeit und InteraktionKurs: 13501Kurstermin: Fr 18.01. – So 20.01.2013Kursort: Institut für soziale Berufe, RavensburgLeitung: Silke Storch­Schöbinger

Detaillierte Informationen zu den Kursen finden Sie unter www.dakp.de

Das neue Fortbildungsprogramm für 2013/2014 ist erschienen. Sie können es kostenlos bei der Geschäftsstelle bestellen: Deutsche Akademie für PsychomotorikKleiner Schratweg 32, 32657 LemgoTel. 05261 970971, Fax. 05261 [email protected]

Impressionen und Eindrücke aus den Kursen der dakpIch habe viele Impulse bekom­men über die eigene Arbeit und meine Motivation nachzu­denken. Meine Blickwinkel wurden durch die Fortbildung immer mehr auf ressourcenorientier­tes Arbeiten gerichtet.Durch die ständige Verknüp­fung von Theorie und Praxis kann ich ganz viel im Kinder­garten umsetzen.

Fachveranstaltungen des AKP Oktober 2012 – Januar 2013

Oktober 2012

„Gewalt bewegt – Wege aus der Gewalt: Wie wir in der Psychomotorik mit Gewalt umgehen können“Veranstaltung: HE­HS­10­12Termin: 06.10.2012Ort: EschbornReferent: Prof. Dr. Holger Jessel

„Rund um den Mund! – Beobachtung und Unterstützung von Kindern mit Problemen der Mundmotorik und Sprache“Veranstaltung: SA­10­12Termin: 06.10.2012Ort: DresdenReferent: Marius Rosenow

„Bewegung von Anfang an“Veranstaltung: BY­10­12Termin: 13.10.2012Ort: NürnbergReferentin: Annette Röttger

„Achtsamkeit, Resilienz und safe place in der Psychomotorik“Veranstaltung: BW­NW­10­12Termin: 27.10.2012Ort: BacknangReferent: Stephan Kuntz

November 2012

„Stockkampf - Stocktanz für Kinder und Jugendliche – Die eigene Kraft finden“Veranstaltung: HE­HN­11­12Termin: 03.11.2012Ort: MarburgReferentin: Gaby Löschner

„Bewegte Begegnung“ Motogeragogik – Psychomotorik im AlterVeranstaltung: NS­NO­11­12Termin: 10.11.2012Ort: Salzgitter­BadReferentin: Claudia Drastik­Schäfer

„Bewegung von Anfang an“ – motorische Kompetenzen im KleinkindalterVeranstaltung: HE­HS­11­12Termin: 10.11.2012Ort: Darmstadt­KranichsteinReferentin: Annette Röttger

„Schwarzlicht“Veranstaltung: KB­11­12Termin: 17.11.2012Ort: NiederzierReferenten: Franz Ridderbecks/Gotthard Vaaßen

„Das Autismus-Spektrum“ – Psychomotorik als Form der Förderung (belegt)Veranstaltung: WL­11­12Termin: 17.11.2012Ort: DortmundReferentin: Yvonne Borggräfe

„Wir raufen uns zusammen“ – Raufen und Kämpfen in der PsychomotorikVeranstaltung: NR­11­12Termin: 24.11.2012Ort: DüsseldorfReferent: Wolfgang Müller

Januar 2013

„Das Autismus-Spektrum“ – Psychomotorik als Form der Förderung (Wiederholung)Veranstaltung: WL­01­13Termin: 19.01.2013Ort: DortmundReferentin: Yvonne Borggräfe

Detaillierte Informationen zu allen Veranstaltungen finden Sie unter www.psychomotorik.comAktionskreis Psychomotorik Kleiner Schratweg 32, 32657 LemgoTel. 05261 970970, Fax. 05261 970972 [email protected]

III

IV

Das neue Buch aus dem Verlag Aktionskreis Psychomotorik

Ein bewegtes Leben – Psychomotorisches Arbeiten mit älteren Menschen und Menschen mit DemenzAstrid Krus (Hrsg.)

Der vorliegende Tagungsband bietet eine reichhaltige Fülle an theoriefun­dierten Beiträgen und Erfahrungsbe­richten für Fachleute in der Theorie­diskussion und – psychomotorischen – Praxis mit älteren Menschen und Men­schen mit Demenz. Die Artikel von Clau­dia Drastik­Schäfer, Amara Renate Eckert, Marianne Eisenburger, Klaus Fischer, Ruth Haas, Joachim Klein, Eck­hart Knab, Olesja Müller, Frank Nickel, Helen Schneider, Thorsten Späker und Thesi Zak spiegeln die Herausforderun­gen und vielfältigen Ansätze und Ar­beitsweisen in diesem Handlungsfeld wider. Ruth Haas verdeutlicht, dass die Ausein­andersetzung mit dem Alter, seinen Ver­änderungsprozessen, Möglichkeiten und neuen Lebensformen bereits im mittle­ren Erwachsenenalter beginnt und zeigt auf welchen Beitrag die Psychomotorik zur Neuorientierung leisten kann. Neue Perspektiven aber auch sensorische wie motorische Veränderungen im Alter und die daraus resultierenden Konsequenzen

für die Gestaltung psychomotorischer Angebote beschreibt Helen Schneider in ihrem Bericht. Marianne Eisenburger, deren grundlegendes Konzept der Moto­geragogik sich als roter Faden durch alle Beiträge zieht, fokussiert auf die gesell­schaftliche Notwendigkeit sich mit dem Alter aus einanderzusetzen und insbe­sondere die vernachlässigten leiblichen Aspekte in der Betreuung älterer und an Demenz erkrankter Menschen zu beach­ten. Eine nicht nur an zeitlich­ökonomi­schen Pflegemaßstäben ausgerichtete Versorgung und Betreuung in Alten­ und Pflegeheimen muss auf gesell­schaftspolitischer Ebene um die Frage nach der Effektivität und Kosten­Nutzen­Rela tion derartiger Maßnah­men erweitert werden. Eckhart Knab, Joachim Klein, Marianne Eisenburger und Klaus Fischer stellen mit SPES Mo­togeragogik ein Instrument zur syste­matischen psychomotorischen Effekte­sicherung und dessen Einsatzmöglich­keiten vor.Psychomotorisches Arbeiten mit älteren Menschen erfordert und eröffnet viel­fältige Zugangsweisen, wie sie Thesi Zak und Olesja Müller aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. Beide Auto­rinnen reflektieren durch ihre authenti­schen Berichte aus der alltäglichen Pra­xis insbesondere die Rolle der Psycho­motoriker/in in all ihren irritierenden, belastenden und bereichernden Facet­ten. Amara Renate Eckert betrachtet diesen dialogischen Prozess zwischen den Handelnden aus der verstehenden Perspektive und veranschaulicht die theoretischen Grundlagen des „Verste­hens“ anhand der psychomotorischen Praxis. Thorsten Späker erweitert das psychomotorische Handlungsspektrum um die Perspektive der Natur als Erfah­rungsfeld. Dabei stehen neben theoreti­schen Grundlagen und konkreten Anre­gungen für die Praxis auch die Berück­

sichtigung raumplanerischer Gestal­tungselemente im Vordergrund. Der Depression im Alter widmet sich der Beitrag von Frank Nickel, der zu­nächst durch eine veränderte Sichtwei­se auf die „Krankheit“ Depression im Alter neue Perspektiven eröffnet und zugleich Ansätze psychomotorischen Arbeitens aufzeigt. Claudia Drastik­Schäfer beschreibt die Auswirkungen dementieller Erkrankungen für die Be­troffenen und ihre Handlungsweisen. Anhand eines konkreten Fallbeispiels aus der psychomotorischen Praxis ver­anschaulicht sie den bewegten Zugang zu den Kompetenzen und Erinnerungen der Menschen. Die Beiträge aller Auto­ren verdeutlichen sehr markant und an­schaulich, dass der leibliche Kontakt und die leibliche Kommunikation be­wegte Bilder entstehen lassen und da­mit den älteren und an demenzerkrank­ten Menschen einen Zugang zu inneren Bildern und zu Erinnerungen eröffnen, die zugleich die Basis einer gemeinsa­men Kommunikation sind. Der Tagungsband ist eine Schatztruhe an anschaulich präsentierter Theorie, die das eigene Handeln fundieren kann und vielfältigen Anregungen für die eigene praktische psychomotorische Ar­beit. Darüber hinaus ist dieses Buch eine Würdigung der langjährigen, konzeptio­nellen Grundlagenarbeit von Marianne Eisenburger und ein Werk voller Lebens­freude, Perspektiven und interessanter, bewegter und bewegender Begegnun­gen.

Verlag Aktionskreis Psychomotorik (2012), Preis: 9,90 € (plus Porto und Verpackung)

Zu beziehen über: Verlag Aktionskreis PsychomotorikKleiner Schratweg 32 | 32657 [email protected]

123motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

Tab. 4: Prioritäten­ und Teleoanalyse

Prioritätenanalyse Teleoanalyse1. Ebene: vielfältige Bewegungsbeobachtungen gemäß definierter Kategorien (Bewegungsfelder, Prioritäten)

2. Ebene: Interpretation der kategorisierten Beobachtung gemäß individueller Parameter (Ressourcen, Biografie)

Abstraktion des individuellen Bewegungsgesetzes Wesensdeutung gemäß dem individuellen BewegungsgesetzAllgemeines im Konkreten (Kategorisierung von Details) Konkretes im Allgemeinen (Spezifizierung von Details)Typisierung (Kind spielt Polizist, Kind will kontrollieren) Einzelfall (Kontrollierender Polizist wird nicht ausgelacht)Verhaltens­, Lösungs­, Kompensationsstrategie (Wie?) Zielfiktion (Was bzw. warum?)Ähnliches (prioritäres) Verhalten als Symptom Abweichende (individuelle) Begründung bzw. Bedeutung als Ursache

LiteraturAdler, A. (1912). Über den nervösen

Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individual- Psychologie und Psychotherapie. Wiesbaden: Bergmann. Reprint: Frankfurt/Main: Fischer 1972.

Adler, A. (1934). Die Formen der seelischen Aktivität. Ein Beitrag zur individualpsychologischen Charakterkunde. Internationale Zeitschrift für Individualpsycho-logie, 12, 1–5.

Adler, A. (1935). The fundamental view of Individual Psychology. International Journal of Indivi-dual Psychology, 1, 5–8 (1983 als Übersetzung unter „Typolo­gie der Stellungnahmen zu den Lebensproblemen“).

Adler, A. (1973). Der Sinn des Lebens. Frankfurt/Main: Fischer.

Adler, A. (1978). Lebenskenntnis. Frankfurt/Main: Fischer.

Adler, A. (1979). Wozu wir leben. Frankfurt/Main: Fischer.

Adler, A. (1982). Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze Band I: 1919–1929. Frankfurt/Main: Fischer.

Antoch, R. F. (1981). Anmerkungen zum Thema „Gemeinschafts­gefühl“. Zeitschrift für Indivi-dualpsychologie, 6, 1, 40–42.

Antoch, R. F. (1995). Die Lust am sicheren Untergang. In U. Lehmkuhl (Hg.), Beiträge zur Individualpsychologie, 21: Gewalt in der Gesellschaft. (S. 212–226). München, Basel: Reinhardt.

Blos, K. (2009). Profilierende Grenz­ erfahrungen – Skizzenhaftes von der Psychomotorischen Priori­tätenanalyse und ihrer Interven­tionsmethodik. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 15, 7/8, 41–47.

Blos, K. (2012a). Bewegungsverste-hen. Die Psychomotorische Prioritäten- und Teleoanalyse. Wiesbaden: Springer VS.

Blos, K. (2012b). „Darf es noch ein bisschen mehr sein?“ – Vom Geben und Nehmen im Fallbei­spiel einer fixierten Bequemlich­keitspriorität. Praxis der Psychomotorik, 37, 4 (im Druck).

Bruder­Bezzel, A. (1991). Die Ge- schichte der Individualpsycho-logie. Frankfurt/Main: Fischer.

Gerhardt, V. (1999). Selbstbestim-mung. Das Prinzip der Individua-lität. Stuttgart: Reclam.

Goldstein, K. (1923). Über die Abhängigkeit der Bewegung von optischen Vorgängen. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie – Festschrift Liepmann.

Heisterkamp, G. (1990). Konturen einer tiefenpsychologischen Analyse originärer Lebensbewe­gungen. Zeitschrift für Individu-alpsychologie, 15, 83–95 und 163–176.

Heisterkamp, G., Kühn, R. (1995). Leib/Körper/Leiblichkeit. In R. Brunner, M. Titze (Hg.), Wörterbuch der Individualpsy-chologie (2., neu bearbeitete Auflage, S. 291–298). München, Basel: Reinhardt.

Kefir, N., Corsini, R. J. (1974). Dispositional Sets: A Contri­bution to Typologie. Journal of Individual Psychologie 30, 2, 163–178.

Kiphard, E. J. (1983). Mototherapie – Teil II. Psychomotorische Ent- wicklungsförderung – Band 3. Dortmund: modernes lernen.

Kiphard, E. J. (1990). Mototherapie – Teil I. Psychomotorische Ent- wicklungsförderung – Band 2 (3. verbesserte und erweiterte

Auflage). Dortmund: modernes lernen.

Kühn, R., Titze, M. (1991). Die leib­ seelische Identität im „Können“ des Lebensstils. Zeitschrift für Individualpsychologie 16, 3, 203–216.

Lyotard, J. F. (2009). Das post-moderne Wissen. Ein Bericht (6., überarbeitete Auflage). Wien: Passagen Verlag.

Pew, W. L. (1978). Die Priorität Nummer eins. In R. Kausen, F. Mohr (Hg.), Beiträge zur Individualpsychologie: Bericht über den 13. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie vom 29.7. bis 3.8.1976 in München (S. 117–123). München, Basel: Reinhardt.

Reinelt, T. (2004). Tiefenpsychologie und Psychomotorik. In H. Köcken­ berger, R. Hammer (Hg.), Psycho- motorik – Ansätze und Arbeits-felder, ein Lehrbuch (S. 67–102). Dortmund: modernes lernen.

Schmidt, R. (1995). Organdialekt. In R. Brunner, M. Titze (Hg.), Wörterbuch der Individual-psychologie (S. 361 f.). München, Basel: Reinhardt.

Seewald, J. (2000). Durch Bewegung zur Identität? Motologische Sichten auf das Identitäts­problem. motorik 23, 3, 94–101.

Seewald, J. (2009). Wann ist ein Ansatz ein Ansatz? Über Kriterien für psychomotorische Ansätze. Praxis der Psychomoto-rik 34, 1, 31–34.

Vetter, H. (1991). Philosophische Anmerkungen zu Adlers Freiheitsverständnis. Mit Hinweisen auf Freuds Metapsy­chologie. Zeitschrift für Indivi-dualpsychologie, 16, 194–202.

Digitales Spielen – Exergames im Vergleich mit traditionellen Trainingsformen bei Älteren

124 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

nachgewiesen werden, dass sich beim Spielen auch der Energieumsatz des Spielers/der Spielerin erhöht (Biddiss/Irwin 2010; Graves u. a. 2008; Lanning­ham­Foster u. a., 2006; Unnithan u. a. 2006) und demnach von einer gewissen sportlichen Aktivität ausgegangen werden kann. Zusätzlich dazu ist der Spaßcharakter von digitalen Spielen mit Ganzkörperbewegungen zu berücksich­tigen, so dass das Ziel von Exergames klar wird: Attraktive und leicht zugäng­liche Angebote schaffen, die einen Zugang zu sportlicher Aktivität ermögli­chen und somit helfen, einen Beitrag zur Gesundheit zu leisten. In Beziehung auf Kinder und Jugendliche soll somit vor allem dem zunehmenden Anteil von Adipositas und Bewegungsarmut auf moderne und für Jüngere oft sehr

In diesem Beitrag wird eine wissenschaftliche Studie zum Thema digitales Spielen (Exergames) und Ältere und die physiologischen Auswirkungen dieses interaktiv gesteuerten Trainings auf Kraft und Koordination vorgestellt und mit einer her-kömmlich angeleiteten Trainingsform verglichen. Kraft und Koordination sind im Alter, vor allem in Bezug auf eine Sturzprophylaxe, essentiell und lassen sich auch im Alter noch gut trainieren. Allerdings sind herkömmliche Trainingsprogramme oftmals aus den verschiedensten Gründen für Teilnehmer nicht attraktiv genug (u. a. Angebot, Motivation, Barrieren), um mit diesen zu beginnen oder sie regel-mäßig auszuüben. Es wurde daher nun in dieser Studie untersucht, ob sich Kraft und Koordination bei gesunden älteren Personen durch ein achtwöchiges Training mithilfe der Ganzkörper-Eingabesteuerung Microsoft Kinect verbessern lassen.

Michael Kroll, Andreas Neubrand

Digitales Spielen – Exergames im Vergleich mit traditionellen Trainingsformen bei Älteren

Michael KrollJg. 1986, B.Sc. Sportwissenschaft 2009 an der Ruhr­Universität Bochum.M.A. Sport­ und Bewegungsgeronto­logie 2011 an der Deutschen Sport­hochschule Köln.Lebt in Köln und arbeitet dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Sporthochschule Köln im EU­Forschungsprojekt „iStoppFalls“ (www.istoppfalls.eu)

Anschrift des Verfassers:Leinsamenweg 81, 50933 KölnE­Mail: m.kroll@dshs­koeln.de

Einleitung

Die positiven Auswirkungen körperlicher Aktivität auf den alternden Menschen sind mittlerweile durch zahlreiche Untersuchungen nachhaltig belegt. Neben physiologischen Anpassungen der Ausdauer­, Kraft­ und Koordina­tionsfähigkeit (Chodzko­Zajko u. a. 2009) können vor allem alltagsrelevante Parameter wie die Lebensqualität (Klavestrand/Vingard 2009), das Wohl­ befinden sowie die geistige Leistungs­fähigkeit (Rosenbaum/Sherrington 2011) positiv beeinflusst werden. Auch in Bezug auf das Auftreten von vielfältigen Erkrankungen kann regelmäßiger sportlicher Aktivität mittlerweile eine stark präventive Rolle zugesprochen werden (Vogel et al. 2009) und ist demnach als eine zentrale nicht­medikamentöse Maßnahme für ein erfolgreiches Altern anzusehen. Leider lässt sich bei älteren Personen oft eine deutlich verringerte Teilnahme an dementsprechenden Sportangeboten feststellen, die mitunter auf fehlendes Interesse, Rücksicht auf bestehende Sportgruppen oder teilweise auch auf Vorbehalte gegenüber Fitnessstudios zurückzuführen sind (Costello u. a. 2011).Eine Alternative bietet seit einigen Jahren die Möglichkeit, körperliche Aktivität interessanter, individueller und leichter zugänglich zu gestalten: durch

sogenannte Exergames. Dieser Begriff entstand in den letzten Jahren durch weitreichende technische Neuentwick­lungen innerhalb der computerbasierten Spielindustrie. Besonders die Einfüh­rung der Nintendo Wii (siehe Abb. 1) im Jahre 2006 hat der digitalen Spiel­ industrie einen enormen Schub versetzt. Statt des traditionell bekannten Gameboys oder der klassischen Spielkonsole mit Controller, welche beide primär im Sitzen gespielt wird, sieht man Kinder und Jugendliche heutzutage eher stehend und aktiv vor dem Fernseher, während sie z. B. versuchen mit einer Bowling­Bewegung möglichst viele Kegel auf dem Bild­schirm zu treffen. Es ist zudem möglich, dass eine Skisprungbewegung im Wohnzimmer real ausgeführt wird und die virtuelle Spielfigur zeitgleich auf dem Fernsehschirm von einer original­getreuen Schanze in den Alpen exakt so kraftvoll und dosiert abspringt wie der Spieler im Wohnzimmer es mit seiner Bewegung vorgibt. Auf diese Weise prägte sich der Begriff „Exer­game“, der die Kombination aus sportlicher Betätigung (to exercise = trainieren) und spielen (game = Spiel) vereint.Da diese neue Generation von digitalen Spielen auf den klassischen Controller verzichtet und zur Eingabesteuerung große Muskelgruppen involviert sind, konnte in vielen Untersuchungen

125motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

ansprechende Art und Weise entgegen­gesteuert werden. Doch auch die ältere Bevölkerung kann von diesem innovativen Ansatz profi­ tieren. Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die Trainier­barkeit bezüglich Kraft und Koordina­tion – zwei Parametern, die besonders stark mit Stürzen in Verbindung gebracht werden (Moreland u. a. 2004). Diese Fähigkeiten gilt es gerade im Alter unbedingt zu trainieren, um das Auftreten von Stürzen und die häufig damit verbundenen weitreichenden Folgen für das Leben von Älteren vermeiden zu können. Neben der offensichtlichen Verletzungsgefahr eines solchen Vorfalls führen Stürze in den meisten Fällen zu erhöhter Sturzangst, die Ältere oftmals unbe­wusst dazu veranlasst, ihre Wohnung immer seltener zu verlassen und insgesamt noch inaktiver werden lässt (Delbaere u. a. 2004). Diese erhöhte Inaktivität führt in der Folge natürlich zu einer weiteren Abnahme der Leistungsfähigkeit, womit sich das Risiko zu stürzen erneut erhöht – ein Teufelskreis, der einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität von Älteren haben kann. Da neben den individuellen Folgen verminderter Leistungsfähigkeit im Alter auch das gesamte Gesundheitssystem belastet wird, ist es daher auch von hohem öffentlichem Interesse, diesen Belas­tungen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels möglichst effektiv entgegenzuwirken. Hier könnten Exergames daher sehr gut direkt im häuslichen Umfeld der älteren Menschen als kostengünstiges

Trainings mittel für eine wirksame Sturz prophy laxe eingesetzt werden.Sportliche Aktivität bei Älteren unterliegt im Vergleich zu jüngeren Personen jedoch gewissen Risiken, die es bei der Übungsauswahl und –aus­führung zu beachten gibt. Ungünstige Gelenkwinkelstellungen während einer Kniebeuge, zu hohe Geschwindigkeit beim Joggen oder lediglich die falsche Körperhaltung sind in diesem Zusam­menhang nur einige Beispiele, auf die es während des Sports zu achten gilt. Digitale Spiele, die auf der bereits erwähnten Platt formen Nintendo Wii (oder ähnlichen wie der Playstation Move) gespielt werden, haben demzu­folge einen großen Nachteil: Ihre Bewegungs steuerung basiert auf Sensoren, die in den Controllern

integriert sind und demzufolge auch nur auf die Bewegung des Controllers reagieren. Greift man das Beispiel des Bowlings auf, ist es demnach auch möglich, das Spiel weiterhin im Sitzen zu spielen oder eine falsche Bewegung auszuführen, solange der Controller an sich bewegt wird. Eine Kontrolle und Rückmeldung von Seiten des Gerätes erfolgt demzufolge nicht, weshalb gesundheitsschädigende Bewegungs­ausführungen auch gar nicht erst erkannt werden können. Für die Zielgruppe der jüngeren Anwender mag das auch noch ausrei­chen, da diese Personen in den wenigs­ten Fällen bereits an Gelenkschmerzen, Vorschädigungen oder anderen Erkran­ kungen leiden. Im Falle der älteren Benutzer stößt das Gerät dies bezüglich

jedoch an seine Grenzen und kann ein risikofreies

Trainieren nicht mehr gewährleis­ten. An dieser Stelle kommt daher eine Neuerung im

Bereich der digitalen Spiele zum

Zuge, die seit November 2010 als Zusatzgerät für die Xbox 360 erhältlich ist: die Microsoft Kinect (siehe Abb. 2). Mit der Zusatzsteuerung Kinect für die Xbox wird komplett auf den Einsatz eines Controllers verzichtet, so dass der Nutzer die Menuführung nur noch durch Gestik und Handbewegungen r Abb. 2: Die Zusatzleiste „Kinect“ für die Xbox 360

r Abb. 1: Senioren im Umgang mit der Nintendo Wii

Digitales Spielen – Exergames im Vergleich mit traditionellen Trainingsformen bei Älteren

126 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

steuert. Die Zusatzleiste wird zu diesem Zweck auf den Bildschirm postiert und erfasst mithilfe verschie­dener Sensoren den Spieler an über 20 Punkten des Körpers, wodurch die Bewegung auch in der Tiefe des Raumes (3D) beurteilt werden kann. Durch diese neue Form der Bewegungserfassung bei Exergames ist es möglich, eine Art „digitalen Trainer“ in das Spiel einzu­binden, der die Bewegungen des Übenden fortwährend erfasst und Rück­meldung gibt, sobald etwas nicht den Vorgaben entspricht. Ob diese Möglich­keiten jedoch auch in der Praxis zutreffen, bedarf der weiteren Klärung, da der Einsatz der Kinect bisher nicht wissenschaftlich untersucht worden ist. Doch selbst die generelle Trainierbarkeit von Kraft und Koordination durch Exergames ist bisher nahezu uner­forscht. Lediglich Kliem und Wiemeyer (2010) sowie eine Arbeitsgruppe um Sohnsmeyer (2010) konnten erste positive Effekte in diesen Bereichen zeigen. Diese Studien unterliegen jedoch methodischen Mängeln, so dass fortführende Arbeiten in diesem Bereich notwendig sind. Das Ziel der hier im Folgenden darge­stellten Studie war es demnach, die physiologischen Auswirkungen eines Exergames unter Einsatz der Microsoft Kinect bei gesunden, älteren Personen zwischen 60 und 80 Jahren zu unter­suchen. Um parallel den Vergleich zu traditionellen Trainingsformen ziehen zu können, wurden die Trainingsinhalte darüber hinaus noch in Form von Personal Training vermittelt, so dass eine direkte Gegenüberstellung der Ergebnisse erfolgen konnte.

Methodischer Zugang

Für das wissenschaftliche Experiment, das im Rahmen zweier Master­abschluss arbeiten durchgeführt wurde, wurden Probanden über das Institut für Bewegungs­ und Sportgerontologie der Deutschen Sporthochschule Köln1 rekrutiert. Die Untersuchung wurde als randomisierte Interventionsstudie mit

1 An dieser Stelle möchten wir Herrn Prof. Dr. Heinz Mechling für die hilfreichen Anmerkun­gen bei der Fertigstellung dieses Artikels sowie Dr. Sabine Eichberg für die Betreuung der Abschlussarbeiten danken.

Kontrollgruppe und Prä­/Postmessung über acht Wochen durchgeführt. Die Gesamtstichprobe umfasste N = 18 Probanden, die per Zufall den folgenden vier Gruppen zugewiesen wurden:1. Die Trainingsgruppe „Kinect 1“

(n = 5, 4 w, 1 m, 67,02 ± 1,13 Jahre) absolvierte zweimal wöchentlich für 35–40 Minuten ein Einzeltraining an der Microsoft Kinect mit einem standardisierten Trainingsplan und dem Spiel „Your Shape – Fitness Evolved“ von Ubisoft. Der genaue Trainingsablauf wird weiter unten noch näher beschrieben.

2. Die Gruppe „Kinect 2“ (n = 5, 2 w, 3 m, Median = 62 Jahre) absolvierte dasselbe Trainings­pensum, jedoch unter Hinzunahme von Zusatzgewichten in den Händen und an den Fußgelenken, welche individuell nach Ausgangsniveau und progressiv nach Trainingsentwick­lung angepasst wurden. Dies geschah, um Exergames auch hinsichtlich der Intensität beurteilen zu können.

3. Die Trainingsgruppe „Personal“ (n = 4, 2 m, 2 w, 66,30 ± 3,05 Jahre) führte inhaltlich die gleichen Übungen und dasselbe Trainings­pensum wie die beiden interaktiv trainierenden Gruppen durch, erhielt jedoch eine individuelle sport­/train­ ingswissenschaftlich begründete Anleitung während der Trainings­einheiten in Form eines Personal Trainings.

4. Die letzte Gruppe „Kontroll“ (n = 4, 2 w, 2 m, 66,30 ± 3,05 Jahre) erhielt hingegen zwischen der Prä­ und Postmessung kein Trainings­programm und diente als Kontroll­gruppe, um die Effekte der Studie im Nachhinein besser beurteilen zu können. Dabei wurden lediglich vorgegeben, dass, sofern vorhanden, die bisherigen (sportlichen) Aktivitä­ten im gewohnten Maß fortgeführt werden sollten.

Um die Auswirkungen des Trainings auf Kraft und Koordination messbar zu machen und den Vergleich zum klassisch angeleiteten Trainings­programm herstellen zu können, wurden bei allen vier Gruppen mithilfe von kontrollierten Tests Parameter für die Kraftfähigkeit, das Reaktions­vermögen und die Gleichgewichtsfähig­keit vor und nach der Studie erhoben.

Dabei wurde die Maximalkraft der Beinmuskulatur an der Bein­ und die Maximalkraft der Oberarme und des Brustmuskels an der Brustpresse jeweils isometrisch erfasst (beide Geräte von Mechatronic, Hamm, Deutschland). Die Gleichgewichtsfähigkeit wurde sowohl im beidbeinig­geschlossenen­ als auch im Tandemstand auf dem Posturomed (Haider Bioswing, Pullen­reuth, Deutschland) gemessen. Die Erhebung der Reaktionsfähigkeit erfolgte mit einer Einfach­ und einer Wahlreaktion am Wiener Testsystem (Schuhfried, Mödling, Österreich).

Trainingsinhalte

Das Exergame „Your Shape – Fitness Evolved“ der Firma Ubisoft ist vom Grundprinzip ähnlich ausgerichtet wie das allseits bekannte Telegym. Ein auf dem Bildschirm abgebildeter Trainer demonstriert die verlangte Übung, leitet sie per Sprachansage an und der Spieler macht mit. Der große Vorteil des Exergames ist es allerdings, dass der Spieler sich ebenfalls auf dem Bild­

Andreas NeubrandJg. 1984, B.A. Sportwissenschaft 2009 an der Eberhard Karls Universität Tübingen.M.A. Sport­ und Bewegungsgeronto­logie 2011 an der Deutschen Sport­hochschule Köln.Lizenzierter Knie­ und Hüftschullehrer.Lebt in Freiburg im Breisgau und arbeitet in Wittnau als Sporttherapeut in einer Rehabilitationsklinik für orthopädische und neurologische Indikationen

Anschrift des Verfassers:Kaiserstuhlstr. 24a, 79106 FreiburgE­Mail: [email protected]

127motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

schirm neben dem Trainer abgebildet sieht (siehe Abb. 3), so dass es direkt möglich ist, die eigene Bewegung mit der des Vorbildes zu vergleichen. Die Kameraausrichtung der Kinect tut darüber hinaus ihr übriges und identifi­ziert falsche Bewegungen, die dann von der Trainerstimme korrigiert werden. Die durchgeführten Spielinhalte und Übungen wurden dabei unter Berück­sichtigung des Alters der Probanden ausgewählt und nach trainingswissen­

schaftlichem Hintergrund in den jeweiligen Trainingseinheiten platziert. Übungen, die viel Aufmerksamkeit und Konzentration verlangen (Gleichge­wichts­ und Reaktionsfähigkeit), wurden am Anfang einer jeden Einheit absolviert, Kraft­ und Kraftausdauer­übungen bildeten dementsprechend den zweiten Teil des Trainings. Die Übungen selbst, wie z. B. die klassische Kniebeuge (siehe Abb. 4), beinhalteten allerdings kaum Verletzungsrisiko, da die Studien­

teilnehmer beim Spielen des Exergames auf sich allein gestellt waren und keine Anleitung seitens der Testleiter erhiel­ten. Es war jedoch stets ein Trainer anwesend, der bei gesundheitsschädli­chen Übungsausführungen korrigierend eingreifen konnte. Die Probanden wählten die Übungen mithilfe eines jeweils für die aktuelle Trainingseinheit vorbereiten Trainingsplans selbstständig im Menü des Spiels aus. Die Gruppe, die das Personal Training erhielt, absolvierte sowohl den zeitlich gleichen Umfang wie die beiden digital trainierenden Gruppen als auch inhaltlich die gleichen Übungen. Es wurde darauf geachtet, dass die einzelnen Übungen und Spiele des Spiels „Your Shape – Fitness Evolved“ nahezu „eins zu eins“ in eine reale Trainingssituation übertragen werden konnten. Anstatt des virtuellen Trainers war nun ein realer Übungsleiter als Personal Trainer anwesend, der die Übungen anleitete und korrigierend sowie motivierend und sportpädago­gisch sinnvoll mit den Probanden arbeitete.

Ergebnisse der Studie

Die statistische Bedeutsamkeit der Ergebnisse wurde durch die Berechnung einer 4 x 2 Varianzanalyse (ANOVA) mit Messwiederholung überprüft. Die Grup­ penzugehörigkeit (Kinect 1, Kinect 2, Personal, Kontroll) wurde als Zwischen­subjekt­ und die Zeit (prä, post) als Innersubjektfaktor bestimmt. Zusätzlich wurde vorab eine multivariate Varianz­analyse aller allgemeinen Probanden­merkmale und Eingangsmesswerte zur Überprüfung der Randomisierung durchgeführt. Als Signifikanzniveau wurde stets α < .05 festgelegt, bei den Normalverteilungstests 10% Irrtums­wahrscheinlichkeit angenommen.Hinsichtlich der Kraftfähigkeit der Beine und des Oberkörpers konnte im Zuge dieser Analyse festgestellt werden, dass besonders die Beinkraft von dem absolvierten Training profitieren konnte (siehe Abb. 5). Dabei konnte ein statistisch signifikanter Unterschied über die Zeit (p = .009, η2

par = .418) sowie ein Interaktionseffekt auf Trendniveau (p = .081) festgestellt werden. Für die weiteren Parameter konnten hingegen keine statistisch auffälligen Unterschiede festgestellt

r Abb. 3: Ansicht während des Training mit eigenem Abbild (rechts)

r Abb. 4: Umsetzung des Personal Training

Digitales Spielen – Exergames im Vergleich mit traditionellen Trainingsformen bei Älteren

128 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

werden, was durch verschiedene Faktoren zu erklären ist (siehe Diskus­sion). Eine weitere Auffälligkeit sollte jedoch dennoch aufgezeigt werden, die sich auf die Entwicklung der Brustkraft bezieht. So ist in Abbildung 6 gut zu erkennen, dass die Gruppen Kinect 2 und Personal in diesem Bereich Verbes­ serungen in beobachtbarem Ausmaß erzielen konnten, was sich allerdings nicht in der statistischen Auswertung zeigte. Für die koordinativen Parameter konnten sich ebenfalls keine statistisch bedeutsamen Unterschiede ausmachen lassen.

Diskussion

Abschließend konnte durch den Einsatz eines Exergames bei älteren Anwendern noch nicht die erhoffte Wirksamkeit aufgezeigt werden, was jedoch vor dem Hintergrund verschiedener Randbedin­gungen der Studie relativiert werden muss. Zum einen kann geschlossen werden, dass sich durch die sehr kleine Gesamtstichprobe (N = 18) zwangs­läufig Probleme bei der statistischen Überprüfung ergeben mussten und dass signifikante Unterschiede in diesem Fall nur sehr schwer erzielt werden konnten. Betrachtet man exemplarisch jedoch vor allem die Kraftwerte im Prä­/Post­ Vergleich an, so deutet sich gerade dort eine eindeutige Tendenz an. Sowohl die virtuellen trainierenden Gruppen als auch die persönlich angeleiteten Probanden verbesserten ihre Kraft in den Beinen (Personal: + 28%; Kinect 2: + 17%; Kinect 1: + 16%), und den Armen bzw. der Brustmuskulatur (Personal: + 25%; Kinect 2: + 14%), wohingegen die Kontrollgruppe jeweils keine Veränderungen zwischen Prä­ und Postmessung aufwies. Die Zunahme der Beinkraft verwundert nicht, da alle Übungen im Stehen ausgeführt wurden und viele Programmpunkte die Knie­beuge oder eine Variation dieser beinhalteten. Bei der interaktiv trainierenden Gruppe ohne Zusatz­gewichte konnte allerdings bei den Kraftwerten der Arm­/Brustmuskulatur kein Anstieg festgestellt werden, was darauf hinweist, dass die Intensität zu niedrig war. Teilweise ließen die Probanden ihre Arme entgegen der eigentlichen Spielausrichtung nach unten hängen und wurden vom

Programm nicht dahingehend korrigiert, was in der persönlich angeleiteten Gruppe durch den Trainer entsprechend verändert werden konnte. Die Nicht­verbesserung der Koordina tionsfähigkeit hingegen scheint hauptsächlich an den Programmen und Übungen selbst zu liegen, deren Anforderungen und Reize nicht spezifisch genug waren, um eine Verbesserung herbei­zuführen.Zusammenfassend lässt sich jedoch eindeutig sagen, dass die heutige Generation von Technik und Spiel­programmen der Exergames durchaus viel Potenzial für die Verbesserung von Kraft und Koordination bei Älteren beinhaltet, jedoch momentan nicht uneingeschränkt als empfehlenswert anzusehen ist. Wenn allerdings

Schwachpunkte wie altersgerechtere Übungen und eine verbesserte Bewe­gungskontrolle mit optimierter Rück­meldefunktion ausgemerzt werden können, so würden Exergames einen weitere Möglichkeit der körperlichen Aktivität im Alter darstellen. Dies ist besonders im Hinblick auf die Sturz­prophylaxe anzunehmen, da bereits in dieser Studie deutlich wurde, dass die Beinkraft – mitunter der zentrale Parameter in der Sturzvorbeugung – durchaus schon jetzt durch Exergames trainiert werden kann. Um jedoch gesicherte Erkenntnisse in diesem Bereich zu erlangen, sind weitere Wirksamkeitsstudien vonnöten, die mit einer größeren Anzahl an Probanden und einem altersspezifischen Exergame durchgeführt werden müssten. Im

r Abb. 5: Entwicklung der Beinkraft im Prä-/Post-Vergleich

r Abb. 6: Entwicklung der Brustkraft im Prä-/Post-Vergleich

129motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

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Lanningham­Foster, L./Jensen, T./Foster, R./Redmond, A./Walker,

Hinblick auf die demografische Veränderung unserer Gesellschaft und die immer eindringlichere Imple­mentierung von Technik in unseren Alltag kann dieser Trend jedoch unmöglich ignoriert werden, da er eine kostengünstige und einfach anzuwen­dende Möglichkeit bietet, Sport zu treiben und die eigene Gesundheit somit zu fördern.Unabhängig von der weiteren und in größerem Rahmen durchzuführenden Überprüfung der Wirksamkeit von Exergames sollte zudem der Aspekt der generationsverbindenden Wirkung beim gemeinsamen Spielen solcher digitalen Spiele untersucht werden. Die Zusam­menführung von Jung und Alt und ein Austausch der Generationen beim gemeinsamen Exergames­Training bieten eine große Chance, die oftmals vorhandenen Vorurteile und Berührungs­ängste zwischen Jungen und Älteren abzubauen und die Generationen einander für beide Seiten gewinnbrin­gend näherzubringen. Deutschlandweite Projekte wie „Generationen verbinden“ (www.wii­senioren.de), bei dem Schul­ klassen vor Ort in Altenheimen mit den Bewohnern gemeinsam Exergames spielen, sind mit Sicherheit ein sinn­voller Ansatz und können zum gegen­seitigen, besseren Verständnis der Genera tionen beitragen. Ein häufig angebrachtes Argument von zu Exergames eher kritisch eingestellten

Personen ist, dass das Training an der Konsole zu Hause zu einem verstärkten sozialen Rückzug von älteren Menschen führen kann, da alleine und ohne soziale Interaktion mit anderen vor dem Fernseher trainiert wird. Diesem kann gegenübergestellt werden, dass das Exergames­Training unter anderen auch das Ziel verfolgt, dass ältere Menschen durch das Spielen eine solche körper­liche Verfassung (wieder­)erlangen können, die es ihnen ermöglicht, das Haus selbstständig zu verlassen und am sozialen Leben teilzunehmen. Das digitale Training kann dabei ein erster Einstieg und eine Vorbereitung für ein weiteres Üben außerhalb des Hauses in einer Gruppe oder Ähnlichem sein. Zudem bieten Exergames sowohl die Möglichkeit, alleine zu trainieren, beinhalten aber gleichzeitig auch die Chance, in der Gruppe mit­ und gegeneinander zu spielen und sprechen so das gemeinsame, sportliche Erlebnis wie bei einem herkömmlichen Training an. Ob dies gelingt und diese Art von Training tatsächlich zu einer höheren Selbstständigkeit und einer größeren sozialen Interaktion führen kann, muss zweifelsfrei noch untersucht werden.Auch ein Einsatz von Exergames als pädagogisches und therapeutisches Konzept im Bereich der Psychomotorik, beispielsweise in Rehabilitationskliniken als Erweiterung der bestehenden

Übungsprogramme ist durchaus denkbar. Der spielerisch­motivierende und auffordernde Charakter dieser Spiele könnte dazu beitragen, bisher eher weniger aktive Personen, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, an die Bewegung heranzuführen und im Bereich der Wahrnehmungs­, Reak­tions­ und Entscheidungsschulung eingesetzt zu werden. Auch die Verwen­dung im Rahmen der motorischen und kognitiven Förderung von behinderten Kindern ist durchaus denkbar. Eigene wissenschaftlich entwickelte und programmierte Spiele könnten zudem im Sinne von „game­based learning“ bzw. „games for education“ die Verbindung von (Spiel­) Spaß, Simula­tion und Lernen produktiv und lernwirk­sam nutzen. Es bleibt jedoch abzuwar­ten und anhand langfristig angelegter Studien zu überprüfen, inwieweit eine anfängliche Begeisterung für die digitalen Spiele von längerfristiger Dauer ist und wie schnell sich eine erhöhte Motivation mit fortlaufender Spielzeit abnutzt.Insgesamt sind die Einsatzmöglichkeiten von Exergames enorm, die Idee der produktiven Nutzung des Spielspaßes sehr vielversprechend, sodass auf diesem Gebiet in den nächsten Jahren mit Sicherheit einige Forschungsreihen durchgeführt werden, um dieses Phänomen wissenschaftlich besser erfassen zu können.

Digitales Spielen – Exergames im Vergleich mit traditionellen Trainingsformen bei Älteren

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Steinwasenstraße 6–8 • 73614 Schorndorf • Telefon (0 71 81) 402-125 • Fax (0 71 81) 402-111 Internet: www.hofmann-verlag.de • E-Mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis unter www.sportfachbuch.de/7029

Dr. Udo Wohnhas-Baggerd

ADHS und PsychomotorikSystemische Entwicklungsbegleitung als therapeutische Intervention

Das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) gehört mit den aggressiven Verhaltensstörungen zu den häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen im Kindesalter. Das ADHS ist durch Störungen der Auf-merksamkeit, der Impulskontrolle und der motorischen Unruhe gekennzeichnet. Ein großes öffentliches Interesse an diesem Phänomen ist aus dem hohen Leidensdruck der betroffenen Kinder und der tangierten Umwelt entstanden. Das grundlegende Problem bei der Behandlung dieses Störbildes ist die Effizienz der Behandlungsmethoden, die im direkten Zusammenhang mit dem Leidensdruck der betrof-fenen Kinder steht.Format 17 x 24 cm, 216 Seiten

ISBN 978-3-7780-7029-1 Bestell-Nr. 7029 E 21.90

131motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

Interventionsformen zur personalen Kontrollgewinnung in den Vordergrund (s. auch Fischer 2011).

Exekutive Funktionen bei AD(H)S

Trotz der unterschiedlichen Standpunkte hat sich in den letzten Jahren der Konsens verstärkt, „dass es sich bei ADHS weniger um eine Aufmerksam­keitsproblematik im engeren Sinne als vielmehr um eine Störung der selbst­regulativen Fähigkeiten handelt“ (Gawrilow/Schmitt/Rauch 2011, S. 43). Unter Selbstregulation versteht man im Allgemeinen die Regulation der Gedanken, Gefühle und Handlungen durch die eigene Person. Annäherungs­ und Vermeidungstendenzen gelten in Bezug darauf als Systeme höherer Ordnung, welche untergeordnete Systeme wie z. B. Aufmerksamkeits­

Der Beitrag beschreibt die Bedeutung der exekutiven Funktionen für die Erklärung des Konstrukts AD(H)S und die Förderung von betroffenen Kindern. Nach Klärung der neurowissenschaftlichen Grundlagen werden praxistaugliche Konzepte der Fachdiskussion für die praktische Arbeit nutzbar gemacht. Dabei werden auch exemplarische Forschungsbefunde bisheriger psychomotorischer Wirksamkeits-studien berücksichtigt.

Peter Schlink und Klaus Fischer

AD(H)S – im Gehirn oder im Körper? Die Entdeckung der exekutiven Funktionen

Grundlagen

Die Zahl der Kinder mit AD(H)S hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. Als grober Richtwert kann davon ausgegangen werden, dass drei bis sieben Prozent der Schulkinder betroffen sind, was in etwa ein bis zwei Kindern pro Klasse entspricht (Lauth et al. 2009). Das Verhalten von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit­/Hyperakti­vitäts­Syndrom ist durch unterschied­lichste Einzelsymptome gekennzeichnet und wird daher als multimodale Störung beschrieben. Als Grundmerk­male können bei den Betroffenen Aufmerksamkeitsschwächen, Organisa­tionsprobleme, eine veränderte Körper­wahrnehmung und Entwicklungs­rückstände in ihren empathischen Fähigkeiten auftreten (Skrodzki 2005). Darüber hinaus benennt die Fachlitera­tur die Aspekte Impulsivität, Hyperakti­vität und Aggressivität als weitere Leitsymptome (Krowatschek 2003). Die Betroffenen werden daher häufig als ablenkbarer, unbedachter, voreiliger und unruhiger als andere Kinder beschrieben. Kinder mit ADHS können aufgrund ihres erhöhten Muskeltonus vorwiegend dem hypertonen Typus zugeordnet werden, während Kinder mit ADS eher dem hypotonen Typus mit schlaffer Körperhaltung entsprechen. Darüber hinaus ist ihre Feinmotorik nicht altersentsprechend (Skrodzki 2005). Die beschriebenen Verhaltens­weisen und ­probleme variieren allerdings je nach Kind sowohl in Qualität als auch in Quantität und unterliegen einer starken Situations­

abhängigkeit, so dass Lauth et al. (2009) eine dynamische Betrachtung einfordern. Zur Ursachenbegründung wird heute ein multifaktorielles Erklärungsmodell zugrunde gelegt, das sowohl genetische als auch soziokulturelle Faktoren einschließt. Aus Sicht der Neurobiologie haben sich Unterschiede in der Struktur des Gehirns und den Funktionen dieser betroffenen Areale herauskristallisiert. Diese Auffälligkeiten, die vor allem im Stirnhirn beobachtet werden konnten, scheinen mit einer Störung des Neuro ­ transmittersystems in Zusammenhang zu stehen (Krowatschek 2003; Lauth et al. 2009). Dieser Sachverhalt wird auch vielfach im Kontext mit der Vergabe von Methylphenidatderivaten diskutiert. Neben diesen genetischen Prädisposi­tionen sind aber ebenso soziale Bedingungen für die Entwicklung eines AD(H)­Syndroms entscheidend. Die sozialen Einflüsse der Familie, Schule und anderen Bereichen dürfen daher nicht vernachlässigt werden. Über­blickend kann festgehalten werden, dass die Ätiologie des Aufmerksam­keitsdefizit­/Hyperaktivitäts­Syndroms noch nicht gänzlich aufgeklärt ist (Biedermann 2005). Interessant ist in der gegenwärtigen Fachdiskussion, dass die lang geglaubte Bedeutung pharmakologischer Inter­ventionsstrategien nach Untersuchun­gen des US­amerikanischen national Institute of Mental Health einen Rückschritt in der Bewertung erfahren hat: Pillen haben nur eine begrenzte Wirksamkeit (Reinberger 2012, S. 34). Stattdessen rücken spielerische

Peter SchlinkStudium – Lehramt Sonderpädagogik in Köln. Momentan Referendariat an den Friedrich­von­Bodelschwingh­Schulen/ Gymnasium Sek. I im gemeinsamen Unterricht in Bielefeld.

Anschrift des Verfassers:Wall 8, 32756 DetmoldE­Mail: [email protected]

AD(H)S – im Gehirn oder im Körper?

132 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

und auch motorische Prozesse steuern und überwachen (ebd.). Diese Motiv­systeme spielen für die Zielverfolgung eine wichtige Rolle und aktivieren weitere Subsysteme. Dazu zählen unter anderem Prozesse der kognitiven Kontrolle, die die Kognition steuern und das Verhalten beeinflussen. Die kognitive Kontrolle ist ein mehrdimen­sionales Konstrukt, in dem den exeku­tiven Funktionen eine besondere Bedeutung zukommt (Gawrilow et al. 2011). Exekutive Funktionen beschrei­ben Hampel et al. (2009) als meta­kognitive Prozesse, die der Handlungs­kontrolle dienen. Sie ermöglichen die Ausführung zielgerichteter Handlungen und dienen einer optimalen Anpassung des Individuums an die Anforderungen seiner Umwelt (Hampel et al. 2009). Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist grundlegend für die Durchführung und das Gelingen einer Aufgabe. Nur so ist es möglich, ein Ziel im Gedächtnis präsent zu halten, sich die nötigen Schritte bis zum Erfolg zu

vergegenwärtigen und sich gleich­ zeitig zum Handeln zu motivieren. Eine solche Handlungsplanung und ­durchführung ist aber nur möglich, wenn störende Gedanken und Impulse unterdrückt werden können (Krowat­schek 2003). Bei jüngeren Kindern ist häufig lautes Sprechen bei der Vorbereitung und Durchführung komplexer Handlungs­abläufe zu beobachten. Es dient ihnen zum Erinnern von Zwischenschritten und zur Selbstreflexion, ist aber auch für das Befolgen von Regeln und beim Problemlösen wichtig. Die laute Sprache hilft ihnen durch Unterdrückung von Launen bei der Verhaltens anpassung und ermöglicht emotionale und motivationale Selbstkontrolle. Bei älteren Kindern werden diese Prozesse durch inneres Sprechen abgelöst. Kinder mit AD(H)S verfügen über diese Sprache nur selten. Dieses Selbstregulations­defizit wird in dem vielfach zitierten neuropsychologischen Modell von Barkley (1997) aufgegriffen und mit unzulänglich ausgeprägten Hemmungs­mechanismen (Inhibition) erklärt. Die Störung des präfrontalen Kortex, der für die Inhibitionssteuerung verantwortlich ist, führt zu sekundären Defiziten in den exekutiven Funktionen. Die mangel­hafte exekutive Funktionsfähigkeit beeinträchtigt hingegen die Qualität der internalisierten Handlungsplanung und ­kontrolle, wodurch eine adäquate Verhaltenssteuerung unmöglich wird (Gawrilow et al. 2011). Exekutive Funktionen beinhalten eine Vielzahl komplexer kognitiver Prozesse, die in einer gewissen Abhängigkeit zueinander stehen und für ein zweck­mäßiges, zielgerichtetes und selbst­reguliertes Verhalten entscheidend sind (Petermann/Toussaint 2009). Dazu zählen unter anderem Fähigkeiten wie Impuls­ bzw. Inhibitionskontrolle, Handlungsplanung und ­initiierung, Entscheidung für Prioritäten, emotio­nale Regulation, Flexibilität in der Aufmerksamkeitssteuerung, motorische Steuerung, Fehleraufdeckung und Selbstkorrektur (Röthlisberger et al. 2010). „Diese Fähigkeiten basieren auf Kompetenzen, denen exekutive Funk­tionen (EF) des Stirnhirns zugrunde liegen“ (Kubesch/Walk 2009, S. 309). Aus pädagogischer und entwicklungs­psychologischer Sicht werden die exekutiven Funktionen mit Planen,

Organisieren, Lernleistungsfähigkeit, Selbstkontrolle und ­steuerungsfähig­keit assoziiert (Denckla 2007). Aus medizinischer Sicht werden die exekutiven Funktionen vor allem mit Aufmerksamkeitsleistungen und Gedächtnisprozessen in Verbindung gebracht. Die exekutiven Funktionen umfassen zahlreiche Subkomponenten. Die Gesamtheit aller beteiligten Komponen­ten und Prozesse ist bisher aber noch nicht bestimmt und wird uneinheitlich definiert (Hampel et al. 2009; Toussaint et al. 2011). Übereinstimmend wird in der Fachliteratur allerdings von drei zentralen Teilkomponenten berichtet, die zwar voneinander unterscheidbar sind, sich aber überlappen (Röthlisber­ger et al. 2010). In englischsprachigen Artikeln werden die Komponenten mit „updating“, „inhibition“ und „shifting/switching“ bezeichnet (Denckla 2007; Röthlisberger et al. 2010), während in deutschen Beiträgen die Subkomponen­ten Arbeitsgedächtnis, Inhibition und kognitive Flexibilität unterschieden werden (Kubesch/Walk 2009). •Das Arbeitsgedächtnis dient dazu

Informationen vorübergehend zu speichern und aufrechtzuerhalten, ist an der Entstehung komplexer kognitiver Funktionen (z. B. Sprache) beteiligt und hilft dabei sich an Zwischenschritte eigener Handlungs­pläne oder Instruktionen anderer Personen zu erinnern (Kubesch/Walk 2009). Diese Anpassung und Über­wachung der Arbeitsgedächtnis­repräsentationen und ­prozesse ist eine zentrale Aufgabe der exekutiven Funktionen (Röthlisberger et al. 2010).

•Eine weitere wichtige exekutive Funktion ist die Inhibition bzw. Selbstregulation. Hierunter versteht man die Steuerungsfähigkeit der Aufmerksamkeit und des Verhaltens, indem bestehende Impulse unter­drückt und auftretende Ablenkungs­reize bei der angestrebten Zielverfol­gung ignoriert werden. Dadurch können vorschnelle oder automati­sierte Antworten unterdrückt (Röthlisberger et al. 2010) und soziales sowie selbstdiszipliniertes Verhalten unterstützt werden (Kubesch/Walk 2009).

•Die dritte Subkomponente der exekutiven Funktionen ist die

Klaus FischerProfessor für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in der Heilpädagogik an der Universität Köln; Arbeitsschwerpunkte: Psychomoto ­ rische Entwicklungstheorie und bewegungs orientierte Entwicklungs­förderung in den Entwicklungsspannen der Kindheit und der Jugend; Qualitätsentwicklung in der Psychomotorik

Anschrift des Verfassers:Universität zu KölnHumanwissenschaftliche FakultätLehrstuhl für Bewegungserziehung/­therapieGronewaldstr. 2a50931 Köln

133motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

kognitive Flexibilität, die auf dem Arbeitsgedächtnis und der exekutiven (inhibitorischen) Kontrolle aufbaut (ebd.). Sie ermöglicht es einerseits, sich schnell auf neue Situationen und Anforderungen einstellen zu können und lässt andererseits eine Betrach­tung von Personen und Zuständen aus unterschiedlichen Perspektiven zu.

Ein Hauptunterschied im Verhalten von Kindern und Erwachsenen kann darauf zurückgeführt werden, dass die exekutiven Funktionen bei Kindern noch nicht vollständig entwickelt sind. Als Einflussfaktoren, die auf die Exekutiv­funktionen einwirken, können neben dem Alter und dem Geschlecht auch die Sprache im Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status der Familie und viele andere Individualfaktoren genannt werden (Röthlisberger et al. 2010). Das System der exekutiven Funktionen unterliegt einer Entwicklung auf der Basis von genetischen Faktoren und Umwelt­ bzw. Lernprozessen. Die exekutiven Funktionen sind Basis der Selbstregulationsfähigkeit, die nach Ansicht vieler Lehrkräfte als ein besonders wichtiger Faktor für einen erfolgreichen Übergang vom Kinder­garten in die Schule angesehen wird und umfasst neben kognitiven Prozes­sen ebenso sozial­emotionale, motiva­tionale und psychische Aspekte. Aus diesem Grund gewinnen die Exekutiv­funktionen im pädagogischen Kontext zunehmend an Bedeutung und werden verstärkt mit der allgemeinen Schulbe­reitschaft, vor allem aber auch mit dem späteren Schulerfolg von Kindern in Zusammenhang gebracht und diskutiert (Röthlisberger et al. 2010). Darüber hinaus kann der Stellenwert der exekutiven Funktionen für die sozial­emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen kaum überschätzt werden, da die Funktionsfähigkeit des Exekutivsystems ebenso das Sozial­verhalten von Kindern moderiert und sich in Gruppensituationen nieder­schlägt (Kubesch/Walk 2009). Eine gut entwickelte Inhibitionskontrolle redu­ ziert die Gefahr aggressiven Verhaltens und fördert empathisches Verhalten. Die Fähigkeit zur Kontrolle störender emotionaler Impulse bzw. die Selbst­regulation fördert Aufmerksamkeits­ sowie Arbeitsgedächtnisleistungen und ermöglicht selbstverantwortliches,

eigenaktives und selbstwirksames Lernen bzw. Arbeiten. Heute wird angenommen, dass schlecht ausgebildete exekutive Funktionen im Zusammenhang mit dem Aufmerksam­keitsdefizit­/Hyperaktivitäts­Syndrom stehen. Im Kontext der exekutiven Funktionen können die zentralen Symptome des Aufmerksamkeits­defizit­/Hyperaktivitäts­Syndroms als Störung des Arbeitsgedächtnisses, der Impulskontrolle, der Selbstregulation und der Aufmerksamkeitssteuerung aufgefasst werden, weshalb auch vom „dysexekutiven Syndrom“ gesprochen werden kann (Kubesch 2008; Spitzer/Kubesch 2011, S. 9).

Körperlicher Ausdruck eines AD(H)-Syndroms

Bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefi­zit­/Hyperaktivitäts­Syndrom sind fast immer auch motorische bzw. psycho­motorische Auffälligkeiten zu beobach­ten. Aufgrund dessen zählt die Motorik auch zu den Leitsymptomen der AD(H)S­ Merkmale. Die Auffälligkeiten zeigen sich durch Schwierigkeiten in der Körperwahrnehmung, der Bewegungs­, Handlungs­ sowie Verhaltenssteuerung und ­kontrolle (Panten 2005). Nach von Lüpke (2005) läuft kein körperlicher Prozess ohne die geistige Dimension ab und umgekehrt auch kein geistiger ohne Vorgänge im Körper. Dies macht es lohnenswert einen genaueren Blick auf die motorischen Fertigkeiten von Kindern mit AD(H)S zu werfen und Auffälligkeiten, Überschneidungen sowie Korrelationen der exekutiven Dysfunktionen und dem körperlichen Ausdruck des Syndroms zu unter­ suchen.Die motorischen Probleme von Kindern mit AD(H)S sind in drei Bereichen beobachtbar: Grobmotorik, Feinmotorik und Visuomotorik. Dabei müssen die Auffälligkeiten „nicht zugleich in verschiedenen Bereichen auftreten, sondern können sich z. B. auf die Feinmotorik beschränken“ (Hahn/Pieper 2005, S. 100). Die Bewegungskontroll­störung bei den betroffenen Kindern wird dadurch ersichtlich, dass sie Schwierigkeiten haben Bewegungen zu verlangsamen oder zu stoppen, sie sich mehr, großräumiger und mit zu

hohem Kraftaufwand bewegen und darüber hinaus eine Vorliebe für primitiv­archaische Bewegungsmuster wie Rollen, Wälzen, Wackeln, Hüpfen oder Fußscharren haben (Panten 2005; Hahn/Pieper 2005). Die feinmotorischen Defizite spiegeln sich in der Auge­Hand­Koordination, Fingergeschicklich­keit und Schreibmotorik wider (ebd.). Des Weiteren können Schwächen in der statischen und dynamischen Balance, der Körperwahrnehmung und Körper­koordination bzw. im Bewegungs­ und Rhythmusgefühl sowie in der Körper­haltung und Reaktionsfähigkeit benannt werden (Skordzki 2005; Hahn/Pieper 2005). Skordzki (2005) erklärt, dass die ständigen, ungeordneten Bewegungen mit schlechter Kraft­dosierung und Selbststimulation der Ausdruck fehlender Hemmungs­mechanismen, ineffizienter oder fehlender Planung und falsch gesteuer­ter Aufmerksamkeit sind.

Argumente für eine (psycho-) motorische Förderung

Im Allgemeinen hat Bewegung und Bewegungsfähigkeit einen hohen Stellenwert für Jung und Alt und die positiven wie gesundheitsförderlichen Auswirkungen sind unumstritten. Für Kinder mit AD(H)S ist Bewegung und motorische Förderung von besonderer Bedeutung, wenn man die motorischen Auffälligkeiten bedenkt. „Grundsätzlich lassen sich Aufmerksamkeit und Konzentration über die verschiedensten bewegungs­, spiel­ und sportspezifi­schen Methoden und Inhalte positiv beeinflussen“ (Panten 2005, S. 49). Wichtig ist es diesbezüglich einen spielerischen Charakter beim Vorgehen zu finden, da Kinder lieber spielen als ihre Leistungsfähigkeit durch Sport zu trainieren (Skordzki 2005). Köckenber­ger (2005) zeigt zwei psychomotorische Handlungsbeispiele auf, die diesen Leitgedanken aufgreifen. •Eine erste Möglichkeit, die vor allem

in psychomotorischen Therapien Anwendung findet, sind Bewegungs­räume, die sich durch vorbereitete Materialaufbauten auszeichnen und dadurch eine gewisse Struktur für Kinder vorgeben. Innerhalb dieser „Spiellandschaft“ können sich die

AD(H)S – im Gehirn oder im Körper?

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Kinder frei nach ihren eigenen Wünschen, Vorlieben und Bedürfnis­sen austoben, bewegen, Buden bauen, sich zur Erholung verkriechen oder was ihnen sonst noch in den Sinn kommt machen. Dies sind Erfah­rungsräume, die besonders gut für Kinder mit AD(H)S geeignet sind (Köckenberger 2005).

•Eine andere, etwas umfassendere Idee ist die „bewegte Schule“, die für Abwechslung, Begeisterung, Entspan­nung, Konzentration, Bewegungsfreu­de, klare Strukturen wie für koopera­tive und freudvolle Lernsituationen sorgen soll. Die „bewegte Schule“ orientiert sich unter anderem am spielerischen Sportunterricht, kurzen Bewegungspausen während der Unterrichtszeit und bewegtem Sitzen, z. B. auf einem Sitzball. Durch die Lernerfahrungen mit Bewegung, bei denen die Kinder ihren gesamten Körper und alle Sinne einsetzen können, lernen sie leichter und gründlicher Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie begreifen den Lernstoff auf eine kindgerechte Art und Weise. So erhalten „hyperaktive und konzentrationsschwache Kinder […] mehr Abwechslung und über die Bewegungsfreude wieder Spaß am Lernen“ (Köckenberger 2005, S. 29). Außerdem ist mehr Bewegung nicht nur für Kinder mit AD(H)S förderlich, sondern die gesamte Schule kann von einem solchen Herangehen profitieren.

Lern­ und Bewegungssituationen, die das kindliche Spielen in den Vorder­grund stellen, erhöhen die Motivation der Kinder, steigern ihre Aufmerksam­keit und fördern ihre Selbstständigkeit, wenn sie die nötige Selbstverantwor­tung für eigene Handlungen überneh­men (Skordzki 2005). Die Verbesserung der Aufmerksamkeits­ und Konzentra­tionsfähigkeit durch bewegungs­, spiel­ und sportspezifische Angebote führt zu einer gesteigerten Qualität der Aufnahme, Analyse, Verarbeitung und Speicherung damit verbundener Prozesse bzw. zu einer vergrößerten Aufmerksamkeitsspanne und wirkt sich dadurch positiv auf die Bewegungs­ und Handlungssteuerung aus (Panten 2005). Hierdurch wird die Fähigkeit zur Selbstregulation unterstützt und einem wichtigen Symptom von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit­/Hyperaktivi­

täts­Syndrom entgegengewirkt. Zusammenfassend bestehen vielzählige Argumente, die für eine (psycho­) motorischen Förderung von Kindern mit AD(H)S sprechen „und es wird aller­höchste Zeit, dass der Stellenwert der Motorik innerhalb der kindlichen Gesamtentwicklung allerorts in seiner zentralen Bedeutung erkannt wird“ (Panten 2005).

Exekutive Funktionen und körperliche Aktivität

Einerseits wurde als Begründungsmodell eines AD(H)S die Fehlfunktionen des exekutiven Systems beschrieben, die sich durch Defizite in den Aufmerksam­keitsleistungen, der inhibitorischen Kontrolle und den selbstregulatorischen Fähigkeiten ausdrücken. Dieser Ansatz ist in erster Linie durch eine rein neuro­kognitive Sicht geprägt. Anderer­seits wurden aber auch die motorischen Auffälligkeiten von Kindern mit AD(H)S angeführt und deren umfassende Bedeutung erläutert. Hierbei wird auf Körper, Bewegung, Sport sowie die (Psycho­)Motorik fokussiert und als Ausgangspunkt für die Förderung gesehen und genutzt. Dadurch wird die Frage aufgeworfen, ob es einen Zusam­ menhang zwischen den exekutiven Funktionen und körperlicher Aktivität gibt und inwieweit sich diese Faktoren gegenseitig bedingen.Ein solcher Zusammenhang besteht und die exekutiven Funktionen können durch körperliche Aktivitäten gefördert werden (Kubesch 2008). Sowohl akute Ausdauerbelastungen als auch kurzfris­tige gesteigerte körperliche Aktivitäten wirken sich positiv auf das exekutive System von Kindern und Jugendlichen aus. „Das bedeutet, je körperlich fitter die Schüler sind, desto besser sind deren exekutive Funktionen“ (ebd., S. 52). In einer Studie mit Schülern der 7. Klasse verschiedener Schulformen konnten Kubesch und Walk (2009) nachweisen, dass sich die körperliche Fitness der Schüler entscheidend auf deren exekutive Fähigkeiten auswirkt. Durch den Einsatz der Elektroenzephalo­grafie konnte gezeigt werden, dass körperlich leistungsstärkere Schüler im Vergleich zu weniger fitten Schülern über signifikant höhere Aufmerksam­

keitsleistungen verfügen (Kubesch/Walk 2009). Die körperlich leistungsstärkeren Schüler benötigen für die gleichen Leistungen einen geringeren kognitiven Aufwand als körperlich leistungsschwä­chere Schüler (Kubesch 2008). Demnach lassen sich Arbeitsgedächtnis prozesse von Schülern durch den Sportunterricht verbessern. Außerdem wurden bei den fitten Schülern Werte gemessen, die auf eine bessere exeku tive Kontrolle bzw. eine gesteigerte Inhibitionsfähigkeit von Antwort tendenzen hindeuten. Diese „Studien ergebnisse deuten darauf hin, dass die körperliche Fitness die Leistung des exekutiven Systems verbessert, indem die geistige Anstrengung bei Prozessen der Handlungsüberwachung reduziert wird“ (Kubesch/Walk, 2009, S. 314). Darüber hinaus scheint eine Korrelation zwischen den exekutiven Funktionen und der motorischen Koordinations­fähigkeit vorzuliegen. Einerseits zeigen Studien, dass Kinder mit einer Störung der exekutiven Funktionen, also vor allem Kinder mit AD(H)S, motorische Koordinationsdefizite aufweisen. Andererseits konnten bei Kindern mit Schwierigkeiten in der motorischen Koordinationsfähigkeit Defizite im Bereich der exekutiven Funktionen festgestellt werden. Dies deutet auf eine Überlappung der motorisch­koor­dinativen und kognitiv­koordinativen, also exekutiven Leistungen hin (Röthlis­berger et al. 2010). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die exekutiven Funktionen in starkem Maß von der genetisch gesteuerten Dopamin verfügbarkeit im präfrontalen Kortex abhängen, die sowohl von einer zu hohen als auch einer zu niedrigen Neurotransmitterkonzentra­tion beeinflusst werden (Kubesch/Walk 2009).In einer differenzierten Überblicksstudie zur Bedeutung bewegungstherapeuti­scher Konzepte und Interventionen in der psychiatrischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stellt Welsche (2011, S. 488) im Übersichtswerk von Hölter (2011) fest, dass entsprechende empirische Arbeiten und Befunde in deutschen Fachzeitschriften wenig vorhanden sind bzw. rezipiert werden. Dabei ist die Zielgruppe der Kinder mit hyperkinetischer Störung noch am häufigsten vertreten. Die Autorin evaluiert mehrere Dortmunder Wirk­

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samkeitsstudien zu Bewegungsakti­vitäten (wie z. B. Zirkusprojekte, Orientierungsläufe, Bewegungsförde­rung in der Turnhalle oder im Wasser, heilpädagogisches Voltigieren) (Welsche 2011, S. 489), die die Bedeu­tung und Effektivität der Bewegungs­interventionen für die Zielgruppe nachweisen. Die Forschergruppe um Gerd Hölter (Beudels/Hamsen 2005; Hamsen/Beudels/Hölter 2004; Hölter 2001) betont die Bedeutung bewe­gungsorientierter Aktivitäten insbeson­dere als Moderatorvariable für ver­schiedene Entwicklungsaspekte für ADHS­Kinder und fordert die Berück­sichtigung des „energetischen Aspekts der Bewegungsregulation“ bei der Interventionsplanung (Hamsen et al. 2004, S. 100; Welsche 2011, S. 490). Für die Psychomotorik fasst Neuhäuser schon 1999 die Wirkfaktoren bewe­gungsorientierter Interventionen aus klinischen Studien zusammen: •Beeinflussung der Körperwahrneh­

mung, des Körpergefühls und des Körperbildes.

•Veränderung von Bewegungsäuße­rungen bez. Koordination, Gerichtet­heit und Abstimmung in Gleichge­wicht und Balance.

•Gelegenheit zum Üben der Hand­lungsplanung und ­durchführung.

•Möglichkeiten zu motorischem Lernen durch Imitation, Versuch und Irrtum, Anwendung unterschiedlicher Lösungsstrategien.

•Vermitteln sozialer Erfahrungen durch Interaktionsmöglichkeiten und ge­ meinsame Aktivitäten (zit. n. Welsche 2011, S. 491).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine rein neuro­kognitive Betrach­tung des Aufmerksamkeitsdefizit­/Hyperaktivitäts­Syndroms der Komple­xität dieser Verhaltensauffälligkeit nicht gerecht wird, da motorische Prozesse ebenso betroffen sind und berücksich­tigt werden müssen. Bei einer ganzheit­lichen Betrachtung und Auseinander­setzung mit dem AD(H)­Syndrom können körperliche Auffälligkeiten und Dysfunktionen des exekutiven Systems nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Für eine umfas­ sende Förderung, die den Bedürfnissen der betroffenen Kinder gerecht wird, scheint es daher vielversprechend diese beiden Ansätze miteinander zu vereinen.

Förderung der exekutiven Funktionen bei AD(H)SDie beschriebenen neuro­kognitiven und motorischen Beeinträchtigungen von Kindern mit AD(H)S bezeugen die Handlungsnotwendigkeit und legen eine gezielte Förderung der exekutiven Funktionen nahe, die die Selbstregula­tionsfähigkeit der Kinder verbessert. Es besteht allerdings die Problematik, dass im deutschen Bildungssystem die Bedeutung der exekutiven Funktionen weitgehend unbekannt ist und das Wissen für eine optimale Förderung fehlt. Nur wenige Pädagogen wissen generell von diesen zentralen Gehirn­funktionen und wie man diese kognitiv und körperlich trainieren kann, um die schulische Lernleistung und die sozial­emotionale Entwicklung der Kinder zu verbessern (Kubesch/Walk 2009). Als Ursache verweisen die Autorinnen auf die fehlenden pädago­gischen Konzepte, die zur Förderung der exekutiven Funktionen herangezo­gen werden können. Daher soll nach­stehend eine Übersicht zu vorhandenen Fördermöglichkeiten der exekutiven Funk tionen bei Kindern mit AD(H)S gegeben werden, aus denen bedeutsa­me Erkenntnisse für die pädagogische Praxis abgeleitet werden können. Hierfür orientieren wir uns an den beiden beschriebenen Ansätzen und berücksichtigen sowohl die neuro­kognitive als auch die körperlich­ motorische Ebene der exekutiven Funktionen, aus denen sich drei Ebenen von Fördermöglichkeiten ergeben; kognitive, körperliche und kombi­ nierte körperlich­kognitive Förder­programme.

Kognitives Training („Tools of the mind“ und „Wenn-Dann-Pläne“)

ToolsDas „Tools of the mind (Tools)“ Förder­programm wurde von einer der führen­den Wissenschaftlerinnen zur Entwick­lung und Förderung der exekutiven Funktionen, Adele Diamond, entwickelt. Es beschreibt, wie ein umfassendes Konstrukt von Aktivitäten die Arbeits­gedächtnisleistung, die inhibitorische Kontrolle und die kognitive Flexibilität bei Vorschulkindern im Alter von fünf Jahren signifikant verbessern kann

(Diamond et al. 2007a). Tools ist für den Einsatz in regulären Klassen vorgese­hen, zeichnet sich durch einfache sowie kostengünstige Methoden aus und wurde entwickelt, „um über ein spiele­ risches Training exekutiver Funktionen insbesondere die Entwicklung der Selbstregulation und darüber sozial­emotionale Kompetenzen der Kinder zu fördern“ (Kubesch/Walk 2009, S. 312). Die Übungen und Techniken sind über den gesamten Tag verteilt und in nahezu alle Aktivitäten innerhalb der Vorschulklasse eingebettet. Dem Programm liegt die Ansicht zugrunde, dass sich exekutive Funktionen vor allem dann entwickeln, wenn Kinder in spezifischen interpersonellen Interak­tionen handeln (Diamond et al. 2007b). Die Vorschüler erhalten, während sie beispielsweise mathematische oder sprachliche Fertigkeiten erlernen, ein integriertes Training der exekutiven Funktionen. Die folgenden Hand­ lungsansätze bedienen sich dieser Grundtechniken und verdeutlichen die praxisnahe Umsetzung in der Vorschule. Durch konkrete Hilfsmittel werden die Kinder auf spezifische Rollen und die damit verbundenen Aufgaben oder Verhaltensweisen vorbereitet. Beim Lesen in Partnerarbeit z. B. erhält ein Kind die Bildkarte mit einem Ohr und das andere eine Karte mit einem abgebildeten Mund, die verdeutlichen, wer welche Rolle einnimmt. Durch ergänzende Hinweise, wie „Ohren sprechen nicht, Ohren hören zu“ wird deutlich, welches Verhalten von ihnen als Zuhörer verlangt wird. Das konkrete Symbol unterstützt sie dabei zuzuhören, Unterbrechungen zu unterlassen und abzuwarten, bis sie an der Reihe sind. Im Anschluss können sie dem Erzähler Fragen stellen und sich austauschen, bevor die Rollen getauscht werden. Durch den Rollenwechsel wird das Verständnis für soziale Interaktionen gefördert und das Abwarten und Zuhören innerhalb von Gesprächen gefördert (ebd.). Eine weitere Technik ist das Verhalten anderer zu regulieren, bei dem ebenso zwei konträre Rollen verteilt werden. So kann beispielsweise beim Erlernen mathematischer Grundfertigkeiten ein Kind der Zähler und das andere Kind der Kontrolleur sein, der schaut, ob der Zähler korrekt vorgeht, abwartet bis der Zählprozess

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beendet ist und anschließend die Antwort mit einem Lösungszettel überprüft. Dadurch wird die Selbst­reflexions­ und Inhibitionsfähigkeit gefördert. Das gegenseitige Kontrol­lieren von Aufgaben und die damit einhergehende Regulation des Verhal­tens von Anderen stellen demzufolge einen metakognitiven Aspekt der exekutiven Funktionen dar. Eine andere Grundtechnik ist das Nutzen innerer Sprache zur Selbstregulation, das in Tools auf verschiedenen Wegen angebahnt und unterrichtet wird. Dazu führt die Lehrperson bei neuen Aktivitäten die Verwendung der selbstbezogenen Sprache modellhaft vor und erinnert die Kinder bei der Bearbeitung von Aufgaben die selbst­regulatorische innere Sprache zu verwenden. Ebenso zählt die Verwen­dung innerer Sprache bei Aktivitäts­wechseln zu den Grundtechniken, die die Kinder während der Durchführung des Tools­Programms, erlernen. Die innere Sprache kann beispielsweise zur Unterstützung bei Bewegungsspielen mit wechselnden Regeln angewendet werden und hilft den Kindern bei der Anpassung und Regulation des eigenen Verhaltens. Hierbei werden bestimmten Symbolen spezifische Aktivitäten zugewiesen (z. B. Kreis → Klatschen), die im Laufe des Spiels immer wieder verändert werden und eine hohe Aufmerksamkeit der Kinder erfordern. Innere Sprache wird von den Kindern zur Erinnerung der neuen Aktivität verwendet, um diese im Arbeitsge­dächtnis aufrechtzuerhalten. Diamond et al. (2007b) berichten, dass bei Kindern vor der Ausführung häufig ein Aufsagen der Handlung zu beobachten ist, ohne dass sie darauf hingewiesen wurden. Eine letzte Technik des Tools of the mind­Trainings ist das Entwickeln von Rollenspielen, das einen zentralen Grundmechanismus für die Ausbildung der exekutiven Funktionen darstellt (Diamond et al. 2007b). Dabei lernen die Kinder Spielszenarien im Voraus gemeinsam zu planen bevor sie diese durchspielen. Sie machen einen Plan der gesamten Spielszene, beschreiben die eigene Rolle und benutzen bereits während des Planungsprozesses die Wörter, die sie innerhalb der öffent­lichen Sprache während des Spiels, aber auch in der selbstbezogenen Sprache in dem Spielszenario benutzen

werden. Darüber hinaus wurden die Lehrerinnen und Lehrer angeleitet bekannte Aktivitäten so zu modifizie­ren, dass sie anschließend die Möglich­keit boten exekutive Funktionen zu trainieren.So werden die Kinder mit dem Tools­Programm dazu angeleitet Hilfsmittel zu nutzen, die ihre Aufmerksamkeits­ und Gedächtnisprozesse vereinfachen, und darin bestärkt, innere Sprache zur Selbstregulation zu verwenden. Insbesondere Kinder und Jugendliche mit beeinträchtigten exekutiven Funktionen wie Kinder mit AD(H)S können von dieser Förderung profitieren (Kubesch/Walk 2009). Eine Studie konnte nachweisen, dass die exekutiven Funktionen bereits im frühen Alter von vier bis fünf Jahren in regulären Schulklassen mit normal ausgebildeten Lehrern deutlich verbessert werden können. Das Tools­Förderprogramm beeinflusst dabei das exekutive System signifikant mehr als es den Einflüssen von Alter oder Geschlecht unterliegt (Diamond et al. 2007a). Es ist jedoch anzumerken, dass dieses Programm in erster Linie bei Kindern mit schlecht ausgebildeten Exekutivfunktionen angewendet wurde und ihnen zu besserer Leistungsfähigkeit verholfen hat. Unklar bleibt hingegen, welche Effekte das Förderprogramm bei Kindern mit besseren exekutiven Funktionen hervorbringt (ebd.). Es lässt sich jedoch eine nachhaltige Verbesserung der exekutiven Funk­tionen durch frühzeitige Förderung prognostizieren, die den Bedarf an kostspieligen Therapien reduzieren und einen Rückgang von AD(H)S und anderen Verhaltensauffälligkeiten unterstützen kann.

Wenn-Dann-PläneWie bereits im Tools­Training dargelegt, ist die Verwendung der inneren Sprache eine Leitidee selbstregulativer Instruk­tionsansätze. Der nachfolgend darge­stellte Förderansatz zeigt, wie durch konkret formulierte Handlungspläne bei Kindern mit AD(H)S die kognitive und motivationale Kontrolle der eigenen Handlungen unterstützt werden kann. Das Entwickeln von Plänen ist nach Gawrilow et al. (2011) ein effektives Instrument der Selbstregulation, da diese sowohl den passenden Beginn als auch die vorgesehene Beendigung einer

Handlung vorgeben und gegenüber Ablenkungen abschirmen. Ein besonders effektives Planungs­konstrukt stellen Wenn-Dann-Pläne dar (Gollwitzer 1999; Gollwitzer/Sheerman 2006; in Gawrilow et al. 2011). Diese haben die folgende Form: „Wenn Situation A eintritt, dann führe ich die Handlung B aus.“ Sie ermöglichen „eine effizientere Erkennung der im Wenn­Teil spezifizierten kritischen Situation und […] eine automatische Handlungs­initiierung der im Dann­Teil festgeleg­ten Handlung“ (Gawrilow et al. 2011, S. 45). Dieses Planungsformat unter­scheidet sich von einfachen Zielformu­lierungen wie „Ich möchte Z erreichen“, die ausschließlich eine Zielverpflichtung artikulieren und keine automatisierte Auslösung einer zielführenden Hand­lung beinhalten (ebd.). Folglich müssen Handlungsprozesse, die zum Erreichen des Ziels führen, erst erarbeitet werden, wodurch es zu einer erhöhten kogniti­ven Beanspruchung kommt. Die Effektivität von Wenn-Dann-Plänen beruht hingegen auf einer Automatisie­rung der Selbstregulation (ebd.). Durch die einmalige Formulierung eines Wenn-Dann-Plans wird die antizipierte Situation dauerhaft mit der zielführen­den Handlung verknüpft. Zukünftige Situationen, die dieser Situation entsprechen, sind folglich immer mit der entsprechenden Handlung verbun­den. Die Handlung kann dadurch automatisch durchgeführt werden, ohne zusätzliche kognitive Ressourcen zu beanspruchen (Gawrilow et al. 2011). Es konnte nachgewiesen werden, dass Kinder mit AD(H)S, die in einer be­stimmten Situation einen Wenn-Dann-Plan formulierten, ihre Reaktion genauso gut inhibieren können wie Kinder ohne AD(H)S. Demgegenüber reagierten Kinder mit AD(H)S, die einfache Zielintentionen formulierten, langsamer und machten mehr Fehler bei der Bewältigung von alltäglichen Aufgaben. Neben dieser Verbesserung der Inhibitionsfähigkeit stellen Wenn-Dann-Pläne zudem eine geeignete Interventionsmaßnahme zur Förderung der Belohnungsverzögerungsfähigkeit dar, die generell bei Kindern mit AD(H)S nicht sehr gut ausgeprägt ist (ebd.). Aus diesen Gründen sind Wenn-Dann-Pläne eine einfache und effektive selbstregu­latorische Fördermöglichkeit für Kinder mit AD(H)S, die sowohl im privaten als

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auch schulischen Alltag angewendet werden können.

Körperliches Training Wie bereits beschrieben besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Leistungen der exekutiven Funktionen und der körperlichen Verfassung von Kindern und Jugendlichen. Da die allge­ meine Fitness der Schüler, die Funk­tionsfähigkeit des exekutiven Systems beeinflusst und körperlich fitte Schüler über besser ausgeprägte Exekutivfunk­tionen verfügen (Kubesch 2008), sind auf körperlicher Ebene keine spezifi­schen Trainingsprogramme notwendig. Vielmehr muss die Bedeutung von Bewegung, körperlicher Fitness, Bewe­ gungsfreude und (psycho­)motorischer Ertüchtigung im Allgemeinen erneut betont werden und Einzug in sämtliche ganzheitlichen Förderüberlegungen, vor allem auch bei Kindern mit AD(H)S, erhalten.

Kombiniertes Körperlich-Kognitives Training („Achtung! Fertig! Fex!“)Die bisherigen Erkenntnisse zur Förde­ rung des exekutiven Systems legen daher eine Kombination kognitiver

Förderansätze und körperlicher Trainingseinheiten nahe, um einer umfassenden, erfolgsversprechenden Intervention gerecht zu werden. Sabine Kubesch, die Leiterin der Arbeitsgruppe „Exekutive Funktionen und Sport“ am TransferZentrum für Neurowissen­schaften und Lernen (ZNL), regt an, die exekutiven Funktionen bereits frühzei­tig, vor dem Wechsel von der Grund­schule auf eine weiterführende Schule, kognitiv wie körperlich zu trainieren (Kubesch 2008). „Insbesondere die genaue und gleichzeitig schnelle Ausführung von Aufgaben […], bzw. die Fähigkeit, auch unter Zeitdruck eine Aufgabe noch möglichst fehlerfrei ausführen zu können, scheint ein wichtiger Aspekt in der Entwicklung von exekutiven Fähigkeiten sowohl im kognitiven wie im motorischen Bereich zu sein […].“ (Röthlisberger et al. 2010, S. 102) Ob und inwieweit eine solche kombinierte Trainingsform tatsächlich effektiver ist als ein rein kognitiver oder körperlicher Förderansatz, muss allerdings noch überprüft werden (Kubesch/Walk 2009).Gemeinsam mit der HABA­Firmengrup­pe wurde am ZNL in Ulm eine Samm­

lung von Bewegungsspielen entwickelt, die auf ein kombiniertes kognitives und körperliches Training der exekutiven Funktionen von Kindergartenkindern und Grundschülern abzielt (Kubesch 2008). Zur Effektivität dieses Förder­programmes kann zum jetzigen Zeit­ punkt noch keine Aussage getroffen werden, da eine Evaluation des Trainings noch aussteht. Da es sich um das erste deutschsprachige Förder­programm zur kombinierten Förderung exekutiver Funktionen handelt, sollen die Grundlagen der Bewegungsspiele und deren Anleitung dennoch exempla­risch dargestellt werden, um einen Ausblick auf die praktische Umsetzung zu ermöglichen.

Achtung! Fertig! Fex!Die Achtung! Fertig! Fex!-Bewegungs­spiele dienen zum Training der exekuti­ven Funktionen innerhalb der Familie, in Kindergarteneinrichtungen und der schulischen Praxis (Kubesch/Walk 2009). Die Laufspielsammlung besteht aus 18 Spielideen, die sich sowohl in Sporthallen als auch in größeren Bewegungsräumen, auf Sportplätzen oder dem Pausenhof durchführen

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lassen. Die Grundideen der einzelnen Spielanleitungen sind einfach aufge­baut, können durch vorgegebene Levels oder eigene kreative Veränderungen im Schwierigkeitsgrad allerdings gesteigert werden. „Dadurch ist gewährleistet, dass die Spiele immer eine Herausfor­derung darstellen und die exekutiven Funktionen zunehmend trainiert werden“ (Kubesch et al. 2011, S. 1). Die Spielaufgaben und ­regeln sind so konzipiert, dass sie gleichermaßen ein intensives kognitives wie körperliches Training der exekutiven Funktionen ermöglichen. „Das kognitive Training ergibt sich aus der Bewegungsaufgabe, die den Kindern gestellt wird“ (Kubesch 2008, S. 53). Die körperliche Aktivität geht mit der anschließenden Ausfüh­rung der Bewegungsaufgabe einher. Dazu müssen sich die Kinder bestimmte Aufgabenstellungen merken und gleichzeitig unabhängig davon andere Bewegungsaufgaben durchführen (Kubesch/Walk 2009). Die Aufgaben zielen auf die Förderung des Arbeitsgedächtnisses, der inhibi­torischen Selbstkontrolle und der kognitiven Flexibilität ab und bieten demnach eine umfassende Förderung des exekutiven Systems (Kubesch et al. 2011). Durch die Umsetzung und Auf­ rechterhaltung der Aufgabenstellung, während die Kinder eine andere körperliche Aufgabe ausführen, wird die Arbeitsgedächtnisleistung gefördert (Kubesch 2008). Die Kinder müssen sich beispielsweise unterschiedlichste Informationen von ihren Tierkärtchen merken, diese über mehrere Spiel­stationen im Arbeitsgedächtnis speichern und gleichzeitig zahlreiche

Regeln und Kommandos befolgen (Kubesch et al. 2011). Während der Ausführung dieser Aufgaben werden die Kinder durch optische oder akustische Signale zu abrupten Bewegungsände­rungen, Richtungswechseln oder kurzzeitigem Innehalten aufgefordert. Dadurch wird die inhibitorische Selbst­ bzw. Verhaltenskontrolle geschult (Kubesch/Walk 2009). Die Kinder lernen erste, spontane Bewegungsimpulse zu unterdrücken, Aufgaben entsprechend den Regeln auszuführen sowie sich zu konzentrieren und nicht vom Bewe­gungsverhalten der anderen Kinder ablenken zu lassen (Kubesch et al. 2011). Die Förderung der kognitiven Flexibilität erfolgt durch die sehr schnellen Änderungen der Spiel abläufe, auf die sich die Kinder einstellen müssen (Kubesch 2008). Die Laufspiele unterstützen demnach die Funktionsfähigkeit des exekutiven Systems, trainieren die körperliche Fitness der Kinder und „stellen damit gleichzeitig eine gute Grundlage für viele Sportarten dar, in denen die EF stark gefordert sind“ (Kubesch/Walk 2009, S. 315). Dabei wird davon ausgegangen, dass die Förderung exekutiver Funktionen insbesondere in sozialer Interaktion gelingt (Posner/Rothbarth 2007; in Kubesch/Walk 2009). Achtung! Fertig! Fex! stellt folglich die Förderung selbstregulatori­scher Kompetenzen der Kinder inner­halb der Gruppe in den Vordergrund und bezieht neben der kognitiven Kontrolle vielfältige emotionale Prozesse mit ein. „Da sich insbesondere kleinere Kinder mit großer Freude häufig und intensiv bewegen und

zudem sehr gerne spielen, ist davon auszugehen, dass bei der Ausführung der Bewegungsspiele v. a. die Entwick­lung der kindlichen Selbstregulation gefördert wird“ (Kubesch/Walk 2009, S. 316). Die Achtung! Fertig! Fex!­Bewegungs­spiele stellen ergo einen vielverspre­chenden Förderansatz dar, dessen faktischer Trainingseffekt auf die exekutiven Funktionen und die damit verbundene Verhaltensweisen und Lernleistungen der Kinder allerdings noch wissenschaftlich abgesichert werden muss.

Hat die Diskussion um exekutive Funktionen einen Aussagewert für die psycho-motorische Entwicklungs-förderung?Bei dem hier vorgestellten (Praxis­) Konzept ging es vornehmlich darum, den Diskussionsstand zur Profilierung des Themas Bewegung und Körperlich-keit aus dem Ansatz der exekutiven Funktionen herzuleiten. In dieser Weise ist diese Diskussion auch für den psychomotorischen Fachdiskurs interessant. Einerseits ist es betrüblich festzustellen, dass empirische Befunde der Psychomotorik die Fachdiskurse der Nachbardisziplinen noch nicht erreicht haben. Anderseits ist es eine erfreuliche Erkenntnis, dass in transdisziplinärer Perspektive Bewegungsaktivität und Körperlichkeit im Rahmen multimodaler Interventionsstrategien und Förder­arbeit eine zunehmende Berücksichti­gung erfahren.

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Psychomotorik im Kontext der Gesundheits förderung – eine Sicht von außen

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Determinante den sozialen Status. Je weiter unten jemand auf der sozialen Rangskala steht, desto geringer ist seine Lebenserwartung und desto größer seine Anfälligkeit für Krankheiten. Danach folgen belastende Lebens­umstände, ein nicht optimaler Lebens­start, soziale Ausgrenzung, Stress am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, mangeln­de soziale Unterstützung, Sucht und schlechte Ernährung. Weiter wird darauf hingewiesen, dass aufgrund der modernen Technik eine Verkehrspolitik Raum für mehr Bewegung in einer gut geplanten städtischen Umwelt schaffen muss (vgl. Wilkinson/Marmot 2004). Nicht nur die Einflussfaktoren der Gesundheit sind in diesem Zusammen­hang von Bedeutung, sondern auch die Definition von Gesundheit. Ein moder­ner und breit angelegter Ansatz kommt von der schwedischen Gesundheits­

Die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit werden von verschiedenen Wissen-schaftsdisziplinen und Berufsgruppen in ihrer jeweils geprägten Sichtweise gesehen. Aus diesen Gründen werden die Vorgehensweisen zur Förderung von gesundheit-lichen Bedingungen häufig auch kontrovers diskutiert. Um eine wirkungsvolle und evidenzbasierte Praxis zu entwickeln, ist es sinnvoll, sich mit den unterschiedlichen Sichtweisen und Theorien auseinanderzusetzen. Dies gilt auch für die Teilbereiche des Gesundheitswesens. Der Beitrag stellt in einem Überblick das Handlungsfeld Gesundheit, deren Akteure und Möglichkeiten dar. Weiterhin wird auf ein Schul-projekt eingegangen, um dann am Ende den Bezug zur Psychomotorik herzustellen.

Gabriele Hanne­Behnke

Psychomotorik im Kontext der Gesundheits-förderung – eine Sicht von außen

Prof. Dr. Gabriele Hanne­BehnkePhysiotherapeutin, Diplom­Medizinpäd­agogin, Professorin für Physiotherapie im Fachbereich Gesundheit, Prodekanin an der Hochschule Fresenius Standort Hamburg, Schwerpunkte: Pädiatrie, Neurologie. Arbeitsschwerpunkte: klinische Psychomotorik, Elternberatung

Anschrift der Verfasserin:Fachbereich Gesundheit20148 Hamburg, Alte Rabenstr. 2E­Mail: gabriele.hanne­behnke@

hs­fresenius.de

Gesundheitskonzepte

Im Bereich der Gesundheitsförderung ist es zunächst sinnvoll, dass sich die Professionellen mit ihrem eigenen Konzept von Gesundheit und damit auch mit Krankheit auseinandersetzen, um dann in einem weiteren Schritt das Konzept der jeweiligen Bevölkerungs­gruppe zu erfassen. Klemperer (vgl. 2010) weist deutlich darauf hin, dass dies für eine gelungene Kommunikation notwendig ist. Er verweist auf eine englische Studie, die die Denkweise von Laien über ihr Gesundheitskonzept untersucht hat. Das Ergebnis könnte für den einen Leser logisch, für den anderen jedoch überraschend sein. Gesundheit wird in Abhängigkeit von Geschlecht, Lebensphase und verschie­denen individuellen Merkmalen unterschiedlich aufgefasst, auch die soziale Schicht spielt dabei eine bedeu­ tende Rolle. Für die einen ist Gesund­heit „frei von Beschwerden sein“, für die anderen „Bewältigung von Krankheit“ (bis auf meine Allergie geht es mir gut) oder ein Zeichen von Fitness, körperli­cher Vitalität oder Wohlbefinden. Ältere Menschen sind zufrieden, dass sie noch bestimmte Dinge tun können, Frauen fühlen sich gesund in einer guten Beziehung, aber auch eine gesunde Lebensweise (Nichtraucher, Sportler) wird mit dem Begriff „Gesundheit“ gleichgesetzt (vgl. ebd., 115).Public Health (dt. Gesundheitswissen­schaften), als eine der Bezugswissen­

schaften der Gesundheitsförderung, befasst sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit. In Abgrenzung zur Individu­almedizin beschäftigt sie sich mit der Gesundheitsförderung und Krankheits­verhütung. Die Strategien zielen darauf ab, Bedingungen zu entwickeln, in denen Menschen gesund aufwachsen können, und dabei lokale, nationale sowie internationale Reserven zu mobilisieren. Letztendlich geht es um ein gemeinschaftliches Handeln für eine nachhaltige, bevölkerungsweite Verbesserung der Gesundheit. Gesund­heitsressourcen sollen durch nicht­medizinische Interventionen gestärkt werden. Das amerikanische Center for Disease Control and Prevention kommt in einer Analyse zu dem Ergebnis, dass 25 Jahre der fast gewonnenen 30 Jahre an Lebenserwartung den Public­Health­Maßnahmen zuzurechnen sind. Die weiteren fünf Jahre werden den medizinischen Maßnahmen zugeordnet. Diese Aussage macht deutlich, dass einige Ziele der Weltgesundheitsorgani­sation (WHO) im Rahmen der Gesund­heitsförderung erreicht worden sind (vgl. ebd., 116 ff.). Neuere Ergebnisse der Gesundheits­forschung zeigen, dass die Lebensbedin­gungen einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit haben. Armut z. B. verringert die Chance auf ein gesundes Leben. Die Wirkung der sozialen Determinanten ist unumstritten. Die WHO nennt als wichtigste soziale

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wissenschaftlerin Eriksson. Für sie ist Gesundheit „Fitness, Wellness und ein Gefühl von Wohlbefinden“, aber auch „Glaube, Liebe und Hoffnung“ (Eriksson 2001, 27 ff.). Des Weiteren nennt sie noch Tugend, Bewegung, Integration. Gesundheit ist für sie aber auch „relativ“ (vgl. ebd.). Noch universeller fällt die Definition von Hurrelmann aus. Gesundheit ist nach seinem Verständnis ein „angenehmes und durchaus nicht selbstverständliches Gleichgewichts­stadium von Risiko­ und Schutzfaktoren, das zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer neu hergestellt werden muss“ (Hurrelmann/Franzkowiak 2003, 53 ff.). Wenn dieses Gleichgewicht gelinge, dann könne dem Leben Freude und Sinn abgewonnen werden. Dies ermöglicht „eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und Leis­tungspotentiale und steigert die Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu integrieren und engagieren“ (ebd., 53 ff.). Diese Aussage bezieht sich auf die Fähigkeiten eines Menschen, Belastungen und Probleme zu meistern. Das kommt dem Salutogenese­Modell von Antonovsky (vgl. 1997) nahe. Gesundheit ist für ihn ein Prozess, der einer ständigen Veränderung unterworfen ist. Nach seiner Meinung sind Gesundheit und Krankheit entge­gengesetzte Endpunkte eines Kontinu­ums, auf dem sich der Mensch ein Leben lang bewegt. Er muss sich aktiv mit den Faktoren auseinandersetzen, die seine Gesundheit bestimmen. Dazu gehören gesellschaftliche Bedingungen, Umweltfaktoren, Fragen des Lebensstils

und des Gesundheitssystems. Gesund­heit wird damit als dynamischer Zustand verstanden, der in allen Situationen gestärkt werden kann (vgl. Hurrelmann 2010).

GesundheitsförderungDiese Denkweise stimmt weitestgehend mit der Ottawa­Charta überein. Die Ottawa­Charta war das Resultat der Ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung der WHO; sie enthält ein Leitbild, in dem Handlungs­strategien und ­felder der Gesundheits­förderung beschrieben sind. Gesund­heitsförderung zielt auf einen Prozess hin, der allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihren Gesundheitszustand ermöglicht und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit befähigt. Hervorzuheben ist die partizi­ pative und salutogenetische Ausrich­tung, die Ressourcenorientierung und der Bezug zu den sozialen und psychi­schen Determinanten von Gesundheit. Damit ist die Gesundheitsförderung auch als ein multidisziplinäres Projekt mit Public­Health­Ausrichtung zu sehen. Kompetenzförderung und Empowerment für den Einzelnen und für Gruppen ist eine der beschrie­benen Strategien, um die bestehenden Unterschiede des Gesundheits­ zustandes zu verringern. Akteure innerhalb und außerhalb des Gesund­heitswesens sollen kooperieren und sich vernetzen. In den Handlungsfeldern der Gesund­heitsförderung haben die jeweiligen

Akteure unterschiedliche Aufgaben­felder. Politik und Verwaltungssektoren sollen hindernde Faktoren für Gesund­heit erkennen und berücksichtigen. Es sollen gesundheitsfördernde Lebens­welten geschaffen und lokale Aktivitä­ten gestärkt werden. Die gesundheits­fördernden Angebote sollen den Bürger im Sinne der Selbsthilfe und autonomen Gestaltung der eigenen Gesundheits­belange unterstützen. Die Angebote sind so auszurichten, dass persönliche Kompetenzen entwickelt werden können. Aus diesem Grunde müssen sich die Gesundheitsdienste neu orientieren, um z. B. die psychosozialen Dimensionen berücksichtigen zu können. Gesundheitsfördernde Lebenswelten werden in der Gesundheitsförderung durch den Setting­Ansatz berücksich­tigt. „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt“ (Klemperer 2010, 169), d. h. dort, wo gearbeitet, gespielt, gelernt, gelebt und geliebt wird. So zählt dieser Ansatz zur Bringstruktur, d. h. die Akteure begeben sich in die jeweilige Lebenswelt, während Angebote wie z. B. Rückenschulkurse oder Autogenes Training zur Kommstruktur zählen und somit auch eher der Verhaltenspräven­tion zugeordnet werden. Zu den Settings zählen Kindergärten, Schulen, Stadtteile, Einrichtungen, Heime und Betriebe. Dieser Ansatz greift am ehesten das Gesundheitsverständnis der Ottawa­Charta auf. Dadurch dass die Gesundheitsförderung vor Ort statt­findet, werden auch sogenannte schwer erreichbare Gruppen wie Menschen mit geringem Einkommen oder niedriger Bildung erreicht. Die gesundheits­belastenden Faktoren werden vor Ort ermittelt und es kann gezielt darauf eingegangen werden. In diesem Bereich der Gesundheits­förderung sind unterschiedliche Akteure zu finden. Auch die gesetzlichen Krankenkassen haben sich verpflichtet, den Setting­Ansatz zu unterstützen. In ihrem Leitfaden Primärprävention nach §§ 20 und 20a SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 27. August 2010 haben sie den salutogenetischen Ansatz aufgenommen. Dieser Leitfaden bildet die Grundlage für die Unter­stützung der gesetzlich Versicherten. Handlungsfelder und Kriterien sind hier für alle Akteure transparent beschrie­

r Abb. 1: Einflussfaktoren auf die Gesundheit gemäss Professor François van der Linde Quelle: BAG Spectra, August 2006, Nr. 58

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ben. Neben der betrieblichen Gesund-heitsförderung wird der Setting-Ansatz hervorgehoben. Es wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Krankenkassen sich nur an den Kosten beteiligen, wenn Settingträger einen „angemessenen Anteil an Eigenmitteln – auch in Form von geldwerten Leistungen – in die Aktivitäten einbringen“ (GKV-Leitfaden 2010, 13). Ebenfalls ist eine Teilnahme an Qualitätssicherungsmaßnahmen für alle beteiligten Akteure verpflichtend. Der Setting-Ansatz soll „Maßnahmen auf drei Ebenen beinhalten:

•Schaffungeinergesunden physikalischen und psycho- sozialen Umwelt

•IntegrationderGesundheits­förderung, Bildung und Erziehung in die Prozesse des Alltags

•VerknüpfungmitanderenSettingsdurch Netzwerke und Allianzen“

(GKV-Leitfaden 2010, 12).

ImPräventionsbericht2011,veröffent-licht im März 2012, ist nachzulesen, welche Leistungen die Krankenkassen 2010 unterstützen und wo diese mit welchen Akteuren stattgefunden haben. Hervorgehoben wird darin, dass die Krankenkassen 30 000 Settings unter-stützt haben und damit 2,4 Mio. Men- schen erreicht worden sind. Es fanden u. a. 16 000 Aktivitäten in Kitas statt und 9000 in allgemeinbildenden Schulen. Aus Sicht der Krankenkassen haben mehr Aktivitäten gegenüber den anderen Berichtsjahren stattgefunden und die Qualität der Aktivitäten ist ausgebaut worden. Als Kooperations-partner werden neben den Einrichtungen selbst z. B. Sportvereine, die gesetzliche Unfallversicherung, gewerbliche Anbieter, wissenschaftliche Einrichtun-gen, Gesundheitsämter und niederge-lasseneÄrztegenannt.Inhaltlichstandin den meisten der durchgeführten Angebote Bewegung und Ernährung an erster Stelle. Differenziert betrachtet lag der Schwerpunkt sowohl bei den jüngeren Kindern als auch bei den Berufsfachschulen und der kommunalen Gesundheitsförderung auf der Förde-rung von Bewegung. Bei weiterführen-den Schulen lag der Schwerpunkt eher auf dem gesundheitsgerechten Umgang miteinander (vgl. GKV-Leit-faden2010,25–46).InvielenSetting­Angeboten wurden verhältnis- und

verhaltensbezogene Aktivitäten kombiniert. Positiv hervorzuheben ist, dass die Steigerung der Ausgaben für Setting-projekte gegenüber den früheren Berichtsjahren gestiegen ist. Erfolgs-kontrollen wurden durchgeführt, wobei alswichtigsterIndikatordieZufrieden-heit und die Akzeptanz durch die Zielgruppegenanntwird(vgl.ebd.,52).Projekte mit Steuerungskreisen waren laut dem Präventionsbericht besser aufgestellt. Damit ist die Entwicklung und Etablierung von Gesundheitszirkeln gemeint, die diese Projekte über den Projektzeitraum hinaus begleiten und dafür sorgen sollen, dass die gesund-heitsfördernden Angebote über den Projektzeitraum hinaus genutzt werden. Meist sind es Personen, die in diesem Setting arbeiten oder leben, wie z. B. Sportlehrer, Erzieher, Elternvertreter, wenn es sich um ein Settingprojekt in der Schule handelt. Über eine Nachhal-tigkeit der Projekte – auch vergangener Berichtsjahre – ist leider nichts zu lesen.DieInitiativenimSetting­Ansatzsollen verstärkt gefördert werden, wobei gefordert wird, dass eben auch die „anderen Akteure die Rahmenbedin-gungen für Gesundheitsförderung“ (ebd., 103) verbessern müssen.

Ein ProjektWie ein Projekt im Rahmen des Setting-Ansatzes durchgeführt werden kann, wird am Beispiel eines Schulprojektes an einer Berliner Schule erläutert. Finanziert wurde dies u. a. von einer gesetzlichen Krankenkasse. Das Projekt an dieser Grundschule wurde auf der Grundlage der Daten des Münchner-Fitnesstests (MFT) und eines Frage-bogens durchgeführt. Die Testergebnisse des MFT zeigten deutlich, dass ein Förderbedarf bei den Schülern in den motorischen Basiskompetenzen vorhanden war. Vor allem in den Bereichen der Auge-Hand-Koordination, Körperkoordination, Beweglichkeit und Ausdauer. Wenige Kinder hatten ein ausgewogenes Fitnessprofil, die meisten wiesen ein disharmonisches Profil im Test auf. Die Ergebnisse des Fragebogens belegten, dass ein Bedarf an Stress-reduktion und Entspannung bestand. 37% der befragten Kinder wollten besser einschlafen und 76% wollten sich im Unterricht besser konzentrieren

können. Für die Durchführung und Planung des Projektes war es notwen-dig, einen Arbeitszirkel „Gesundheit“ (Projektteam) zu gründen. Dieses ProjektteamwarfürdieZielfindung,Planung und Durchführung des Projektes verantwortlich. Daran beteiligten sich die Schulleitung, drei Lehrkräfte, eine Elternvertreterin, zwei Schüler, ein Erzieher und die Leitung des Projektes.Auf Grundlage der Daten wurden Module mit 3 Themenbereichen entwickelt, die in einer Projektwoche in den Klassenstufen 3–6 durchgeführt wurden. Rückenschule – rückenfreund-licher Alltag (Ergonomie) wurde insgesamt mit 5 Unterrichtseinheiten (UEs), Entspannung mit 4 UEs und Bewegte Pause einmal für alle Klassen mit 2 UEs realisiert. Aufgrund der hohen Schülerzahl konnten nicht alle Kinder an allen Angeboten teilnehmen. Die Lehrkräfte wurden aber soweit geschult,dasssiedieInhalteinihremUnterricht einbinden konnten.Die Ziele des Projektes waren: • Reduzierung von Bewegungsmangel• Aufbau von Handlungs- und

Effektwissen zur Durchführung von Aktivitäten

• Verbesserung der Entspannungs-fähigkeit zur Stressbewältigung und Förderung der Konzentration.

Für den rückenfreundlichen Alltag erhieltendieKinderInformationenüberdie anatomischen und funktionellen Aspekte der Wirbelsäule. Darüber hinaus wurden mit ihnen ergonomische Sitzpositionen und Sitzalternativen im Schulalltag und auch für zu Hause besprochen und erarbeitet. Der zweite Teil fand in der Turnhalle in Form eines Zirkeltrainingsstatt.DieStationenbeinhalteten Rücken-, Bauch- und Ganzkörperkräftigung, Dehnungs-übungen für die verkürzte Muskulatur und Bewegungsaufgaben für die Gesamtkörperkoordination. Ergänzt wurde dies durch eine Unter-richtseinheit „Bücken, Heben und Tragen“. Das Thema „Entspannung“ wurde für die Klassenstufe 3–4 und 5–6 differenziert in zwei Modulen angebo-ten. Die Kinder lernten die Ursachen von Stress, Formen von Stress und Möglichkeiten der Stressreduktion kennen. Durch verschiedene Wahr-nehmungs- und Konzentrationsspiele, bewegte Atemübungen und das

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kindgerechte Angebot der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson sowie Phantasiereisen konnten die Kinder unterschiedliche Entspannungsverfah­ren kennen lernen. Für die „Bewegte Pause“ erprobten die Kinder Spiele für drinnen und draußen. Dazu wurden Alltagsmaterialien verwendet, die ohne großen Kosten­aufwand in den Klassen gesammelt werden können. Das Pausenspiel „Quidditch für Muggel“ wurde auf Grund der Komplexität nur in den Jahrgangstufen 4–6 mit den Kindern gemeinsam entwickelt und dann in Bewegung auf dem Pausenhof aus­probiert. Auf Wunsch der Lehrer und Erzieher wurden zwei Workshops, einmal mit dem Thema „Die Stimme des Lehrers im Schulalltag“ und zum anderen „Entspannung und Stressreduktion“ organisiert. Die Inhalte wurden den Bedürfnissen der Teilnehmer angepasst und so war es möglich, auch für diese Personengruppe gesundheitsfördernde Aspekte zu erarbeiten.Vier Wochen später wurden innerhalb einer Doppelstunde im Rahmen des Sportunterrichtes Inhalte aus den Projekttagen wiederholt und gefestigt. Spielerische Situationen zum rücken­freundlichen Alltag, Koordinations­aufgaben für die Balance und Gleich­gewichtsfähigkeit und Übungen zur Bauch­ und Rückenmuskelkräftigung wurden als Zirkeltraining durchgeführt. Zum Abschluss der Einheit konnten die Schüler zwischen einer Entspannungs­geschichte oder einem weiteren Spiel wählen. Die Eltern der Kinder wurden insgesamt zu drei Informationsabenden eingeladen. Nicht alle Eltern haben diese Einladungen angenommen, sodass sich meist etwa 15–20 Eltern genaues­

tens informieren konnten. Alle Inhalte wurden den Kindern im Rahmen eines Portfolios mit nach Hause gegeben und somit war es möglich, dass auch die abwesenden Eltern informativ erreicht wurden. Letztendlich blieb es aber jeder Familie offen, wie sie mit diesen Anreizen weiter umgeht.In der Evaluation gaben die Kinder an, dass ihnen die Einheiten mit den Bewegungsangeboten am besten gefallen haben. Des Weiteren ist auch das Modul Entspannung gut angenom­men worden. Bewegen und spielen, sich entspannen sind für die Kinder wichtige Faktoren. Es zeigte sich schon während des Projektes, dass Schüler in Pausen die Elemente der Pausengestaltung umsetzten, ihre Sitzpositionen wechsel­ten und sich gut informiert zeigten.Der nächste Schritt eines solchen Projektes ist die Umsetzung in den Alltag der Schule durch die Lehrkräfte, Erzieher und Eltern. Der etablierte Gesundheitszirkel hat nun die Aufgabe, dass die Kinder an dieser Schule vermehrt das Angebot der bewegten Pause nutzen, auf den gesundheits­

fördernden Arbeitsplatz achten und die gelernten Entspannungsmöglichkeiten nach Bedarf einsetzen und dabei von den Erwachsenen unterstützt werden. Letztendlich wäre es jetzt notwendig zu überprüfen, welche Angebote nach­haltig im Setting die Verhältnisse und das individuelle Verhalten der Personen zugunsten eines gesundheitsförderli­chen Verhaltens verändert haben.

Gesundheitsförderung und Psychomotorik

In der Gesundheitsförderung steht Bewegung in vielen Projekten an erster Stelle. Bewegung und Spiel waren auch die Elemente, die es in dem beschriebe­nen Projekt möglich machten, Zugang zu den Kindern und zu deren Bedürfnis­sen zu finden. Mit Hilfe der Erwachse­nen war es möglich, die Spiele in den Pausen zu etablieren, die neben dem gesundheitsfördernden Aspekt auch die Entwicklungspotenziale der Kinder berücksichtigten. Dazu gehörten auch die unterschiedlichsten Angebote der Entspannung, die sich die Kinder selbst aussuchten. In diesem Zusammenhang sind die Schlüsselbegriffe Selbstwirk­samkeit und Stärkung der psychosozia­len Ressourcen zu nennen. Kinder, die die Überzeugung haben, etwas selbst bewirken zu können, fühlen sich gestärkt und können Handlungen auf andere Situationen übertragen. Unter Selbstwirksamkeit wird einerseits das Wissen einer Person über ihre Fähig­keiten verstanden, mit deren Hilfe sie mögliche Probleme oder neue Anforde­rungen lösen kann, und andererseits das Gefühl, sein Leben unter Kontrolle zu

r Bewegte Pause

r Dehnungsübungen für die verkürzte Rückenmuskulatur

Psychomotorik im Kontext der Gesundheits förderung – eine Sicht von außen

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haben (vgl. Fischer 2009, 89). In diesem Zusammenhang ist auch auf die Selbst­ konzeptförderung in der Psychomotorik hinzuweisen. Kinder mit einem positi­ven Selbstkonzept fühlen sich gewach­sen, Probleme meistern zu können, dagegen erleben Kinder mit einem negativen Selbstkonzept Herausforde­rungen als bedrohlich und überfordernd (vgl. Zimmer 2006, 56 ff.). Auf die gesundheitswissenschaftliche Perspektive innerhalb der Psychomoto­rik weist Fischer (vgl. 2009, 248) in seinen Ausführungen deutlich hin:

Die „Beschäftigung mit dem Fähigkeits­ und Selbstkonzept des Kindes im psychomotorischen Konzept“ (ebd., 260) leistet seiner Meinung nach bereits einen Beitrag, um Forschungsergebnisse zu Salutogenese und Resilienz in das Bildungs­ und Gesundheitssystem zu integrieren (vgl. ebd.). Psychomotori­sche Förderung könnte einerseits als konzeptioneller Bestandteil integriert werden oder andererseits auch als Förderungsbestandteil in den einzelnen Angeboten. Die konzeptionelle Aus­richtung könnte die Gestaltung der

einzelnen Räume, der Lernumgebung und des Außengeländes betreffen. Des Weiteren müssten die dort tätigen Fachkräfte (Lehrer, Erzieher usw.) entwicklungsfördernde Angebote und Handlungen ermöglichen. Förderungen in den einzelnen Angeboten könnte bedeuten, dass die Sportstunden in der Schule nach psychomotorischen Grundprinzipien gestaltet werden. Dies sollte dann u. U. ebenfalls die Nachmittagsangebote betreffen, die z. B. außerhalb des Schulunterrichtes angeboten werden. Die Bildung von Netzwerken könnte bedeuten, dass auch bei Bedarf dementsprechende Hilfen vor Ort wie z. B. psycho­motorische Therapie oder Beratung stattfindet. Auch Elterncafés wären denkbar. Das würde die Kompetenzen aller im Setting lebenden Personen stärken. Die drei wichtigsten Kernstrategien der Ottawa­Charta sind befähigen, vermitteln und vertreten. Eine nach­haltige Gesundheitsförderung benötigt Ressourcenorientierung und Empower­ment. Für eine stärkere Verortung der Psychomotorik in diesem Feld ist es demnach von entscheidender Bedeutung, dass sie theoretische und praktische Anknüpfungspunkte für die Stärkung personaler und sozialer Ressourcen entfaltet bzw. weiter­entwickelt.

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r Abb. 2: Das hat uns gut gefallen

145motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

Jahreshaupt-versammlungAm 27.10.2012 findet die diesjährige Jahreshaupt­versammlung am IfL in Marburg, Barfüsserstr. 1 statt. Wie in den letzten Jahren auch, werden wir zunächst um 10.00 Uhr mit einem offenen Zusammen­treffen mit Frühstück­möglichkeit beginnen, bevor wir uns ab 11.00 Uhr einer Thematik zuwenden werden, die uns Motologen im beruflichen Alltag immer wieder beschäftigt: „Moto­logische Identität: Auf der Suche nach dem Kern“. Zu unserer großen Freude konnten wir zur Auseinan­dersetzung mit dieser Thematik Prof. Dr. Holger Jessel als Referenten gewinnen. Weitere Informa­tionen zu diesem Workshop finden sich unten. Wie immer ist diese Fortbildung für Mitglieder des BVDM kostenlos. Interessierte anderer Berufsgruppen und Motologen, die nicht im

Mitteilungen des Berufsverbandes der Motologen – Diplom / Master e. V.

BVDM sind, sind natürlich auch herzlich willkommen. Hier erheben wir einen Unkostenbeitrag von 15 € für die Fortbildung.Am Nachmittag werden wir uns in der Mitglieder­versammlung wieder verbandsinternen Themen stellen. Neben den obliga­torischen formalen Tages­ordnungspunkten gilt es weitere Ziele und Ideen zu entwickeln, um unser Berufsbild im öffentlichen Leben zu stärken. Wir freuen uns auf dieses immer wieder sehr konstruktive Zusam­mentreffen.

Fortbildung: „Moto-logische Identität: Auf der Suche nach dem Kern“Was macht die Motologie so besonders? Was macht uns als Motologinnen und Motologen aus? Was ist der Kern dessen, was wir aktuell in der Praxis, in der For­

schung und in der Aus­, Fort­ und Weiterbildung tun bzw. in der Vergangenheit getan haben und in Zukunft tun sollten? Was verbindet die Motologie mit sich selbst, aber auch mit anderen Disziplinen und Professionen? Warum und inwiefern wirkt die Tätigkeit von Motologinnen und Motologen? Haben wir es dabei mit Alleinstellungs­merkmalen zu tun? Gibt es so etwas wie einen Kern der Motologie überhaupt und wenn ja, wie lässt er sich beschreiben und kommuni­zieren?In diesen Fragen nach der oder einer motologischen Identität werden wir theoretische und praktische Felder zusammenführen, gesellschaftliche Entwick­lungen und Herausforde­rungen thematisieren und Perspektiven entwerfen für eine zukunftsfähige Posi­tionierung der Motologie. Dabei soll vor allem die Berufspraxis unter die Lupe genommen werden, um

sowohl die Potenziale als auch die Entwicklungs­möglichkeiten und ­notwen­digkeiten der Motologie im Dialog zu erarbeiten. Bitte bewegungsfreundliche Kleidung mitbringen.

Referent:Prof. Dr. phil. Holger Jessel, Dipl.­Motologe, Professor für Kindheitswissenschaften an der Evangelischen Hoch­schule Darmstadt; von 2003 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Master­studiengang Motologie an der Philipps­Universität Marburg, Weiterbildung in Systemischer Therapie und Beratung, Moderationstätig­keit, Dozent der Deutschen Akademie für Psychomotorik (dakp), Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Motorik“, Vorstandsmitglied des Aktionskreises Psychomotorik (AKP).

D. Beckmann-Neuhaus

Laudatio

146 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

Geboren am 06.03.1932 in Gescher (NRW) besuchte Georg Kesselmann dort bis 1949 die Volks­ und Realschule, um danach eine Lehre als Damen­ und Herrenschneider abzuschließen. Bis 1955 übte er diesen Beruf als Geselle aus. 1955 bestand G. K. die Begabten­sonderprüfung und studierte in Köln an der Sporthochschule mit dem Abschluss 1958 als Diplomsportlehrer.Als Sportlehrer unterrichtete er bis 1962 am Leibnitz­Gymnasium in Altenessen und an der höheren Privatschule in Windhuk (Südwest afrika). 1963 bis 1965 Studium an der Pädagogischen Hoch­schule Osnabrück für das Lehramt an Grundschulen. In dieser Zeit lernte er E. J. Kiphard im Rahmen eines For­schungsauftrages am Institut für Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Hamm kennen und beteiligte sich an den grundlegenden Untersuchungen zum späteren Körper­Koordinationstest für Kinder (KTK). Die Begegnung mit dem psychomotorischen Gedankengut sollte seine weitere berufliche Laufbahn wesentlich bestimmen.Bis 1969 arbeitete G. K. als Grundschul­lehrer und ging dann 5 Jahre als Lehrer und Trainer wieder nach Windhuk. Von 1975­1977 leitete er den Fachbereich Psychomotorik und spezielle Pädagogik an der Jugendpsychiatrie in Neuenkir­chen. Im Sportinstitut der Universität Osnabrück erhielt er 1978 die Stelle eines Wissenschaftlichen Assistenten, studierte gleichzeitig Erziehungswissen­schaften und Psychologie mit dem Abschluss als Diplom­Pädagoge. 1990 promovierte er im Fachgebiet Psychologie der Behinderungen an der Universität in Hannover bei Prof. D. Eggert. In der Aufbruchstimmung der Psycho­motorik haben wir mit viel Spaß zusam­men gearbeitet, diskutiert und gefeiert. Wir nannten ihn Aucki, der auch auf Suaeli scherzhafterweise antworten konnte. Als Freund, als Mitstreiter und kompetenter Psychomotoriker haben wir ihn schätzen gelernt.

Es war schon etwas besonderes, Aucki bei seiner Arbeit mit Kindern zuzuse­hen: Wie ein Dompteur hatte er alle Kinder im Blick, wie an unsichtbaren Fäden dirigiert, animierte er die Kinder zu freudvollen Bewegungsabläufen, die sie ohne diese enorme Motivation nicht geschafft hätten. Und sie lernten dabei. Was wie Spiel aussah, war ein freud­volles Erfahren neuer Bewegungsmuster und das Miteinander mit anderen Kindern. Aus seiner Afrikazeit brachte er Trommeln mit oder benutze andere Musikinstrumente, um die Kinder und Jugendlichen in ihren Bewegungs­aufgaben ohne Sprachunterstützung zu dirigieren.Er konnte nicht nur Kinder und Jugend­liche mit „seiner Psychomotorik“ begeistern, unzählige Krankengymnas­tinnen und Ergotherapeutinnen waren von seinen Fortbildungsveranstaltungen fasziniert. Er hat es verstanden, die Idee der Psychomotorik in der praktischen Ausführung emotional zu vermitteln wie kaum ein anderer. Dabei ist er immer bescheiden und zurückhaltend geblieben, er hat eher untertrieben und sein „Licht unter den Scheffel“ gestellt. Kaum hat man ihn und seine Erfolge in der Öffentlichkeit bemerkt, da er es auch gemieden hat, z. B. im Aktionskreis Psychomotorik irgendwelche Ämter oder Funktionen zu übernehmen. Mehr kennt man ihn aus zahlreichen Fortbildungsveranstaltun­gen oder durch sein Mitwirken an den Curricula verschiedener Motopäden­ und Gymnastikschulen. Dr. Georg Kesselmann hat in wissen­schaftlicher Hinsicht einiges geleistet. Ich erinnere daran, dass er als Erster mit Erfolg das Lesenlernen in die Turnhalle oder mit dem Dreier­Circuit eine alte Trainingsidee aus dem Sportunterricht in eine erstaunlich psychomotorisch orientierte pädagogische Übungsform gebracht hat. Diese Übungsform eignet sich in besonderer Weise Koordination und Geschicklichkeit leistungsschwa­cher Kinder zu fördern, um ihnen mehr

Selbstvertrauen und eine besseres Verständnis untereinander zu ver­mitteln. Ebenso wichtig sind die Langzeitstudien in seiner Disserta tion, die positive Persönlichkeitswirkungen seiner psychomotorischen Therapie in der Klinik bis ins Jugendalter nach­weisen.Seit Jahrzehnten hat Aucki Kesselmann das Therapieangebot der Clemens­August­Jugendklinik durch eine päd­ agogisch­psychomotorische Therapie­form mit integrierten Sport anteilen geprägt und damit den Ruf der Klinik deutschlandweit begründet – so der Chefarzt der Clemens­August­Jugend­klinik zu seinen Verdiensten. Auch mit 80 Jahren ist Georg Kessel­mann noch aktiv, als gern gesehener Unterhalter im Freundeskreis beliebt und diskutiert noch gern über seine Arbeit. Möge er weiterhin so lebendig sich am Alltagsgeschehen beteiligen und voller Genugtuung auf sein reiches Leben zurückblicken, auf das, was er alles mit hoher Motivation und Durchhalte vermögen erreicht hat.

Friedhelm Schilling

Laudatio

Pionier der Psychomotorischen Therapie Dr. Georg Kesselmann wurde 80 Jahre

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SummariesStephanie Bahr, Kristin Kallinich, Wolfgang Beudels, Klaus Fischer, Gerd Hölter, Christina Jasmund, Astrid Krus, Stefanie KuhlenkampClassification of semantic fields of movement for educational and devel­opmental processes during childhoodThis contribution is part of the joint research project “movement in early child­hood (BiK)” that examines the value of the educational field of movement in the landscape of training and further training in pre­school education. In this article, the results of reviewing the (inter)national and interdisciplinary discourses on the impor­tance of movement and physicality for educational and developmental processes in childhood are presented. For the field of research four fields of meaning are identified and structured.

Susanne Amft, Brigitta Boveland, Kathrin Hensler Häberlin, Beatrice Uehli Stauffer“To resonate and to be ready to resonate”: A study of the theoretical concepts and professional self­image of psychomotor therapistsIn this study, the theoretical orientations and principles are described that form the basis of the everyday therapeutic behavior of psychomotor therapists in Switzerland. This question is of great interest especially

today, as the interactive and preventive work in school, which is required by law, also affects the profession of psychotherapists. Four thematic areas can be identified. These include the reference theories that are relevant for psychomotor therapy, the work methods and goals of therapy derived from this, and the relation­ship between the therapist and the child and its environment. The study provides information about a professional self­image, which moves within the area of conflict between educa­tion and therapy and must face the challenges of a changing educational reality.

Kimon BlosIn search of a meaningful unit: the impetus of individual psychology for motologySo far, individual psychology (IP) has played hardly any role in the professional discourse of motology and psychomotricity, even though it totally fulfils their criteria for a reference. The author outlines the theoreti­cal basis of IP and holds that the quest of IP to under­stand the individual compre­hensively through organ diaIect and law of movement is a valuable starting point for motology and psychomo­tricity. In his opinion, the psychomotor priority and teIo­analysis is a new specialist approach that

makes use of individual­psychological insights and focuses on the individual problem­solving strategies from the point of view of praxeology.

Michael Kroll, Andreas NeubrandDigital games – Exergames compared with traditional forms of training with senior citizensIn this paper, a scientific study on the subject of digital games (Exergames) and senior citizens, and the physiological effects of this interactively controlled training on strength and coordination are presented and compared with a conventional form of training. Strength and coordination play an important role at old age, especially as far as fall prevention is concerned, and can be well trained at old age. However, for various reasons (including supply, motivation, barriers) conventional training programs are often not attractive enough for the participants to start on them or to take part in them regularly. That is why in this study it has now been investigated whether it is possible to improve strength and coordination in healthy older people through an eight­week training using the whole­body motion sensing input device Microsoft Kinect.

Peter Schlink, Klaus FischerAD(H)S – In the brain or in the body? The discovery of the executive functionsIn this article, the impor­tance of the executive functions for explaining the construct of AD(H)S and the promotion of children are described. After clarifying the neuro­scientific basics, practical concepts of the professional discussion are utilized for practical work. In doing so, exemplary research findings of previous psycho­motor efficiency studies are also considered.

Gabriele Hanne-BehnkePsychomotricity in the con­ text of health promotion – a view from outsideDifferent scientific disci­plines and professional groups look at the conditions of health and disease from their respective perspective. For these reasons, the procedures for the promo­tion of health conditions are often discussed controver­sially. To develop an effective and evidence­based practice, it makes sense to deal with the different perspectives and theories. This also applies to the partial areas of the health system. This article presents an overview of the field of action of health, its representatives and possibilities. In addition to this, a school project is dealt with, and finally the reference to psychomotricity is established.

148 motorik, Schorndorf, 35 (2012), Heft 3

Summaries / Résumés

RésumésStephanie Bahr, Kristin Kallinich, Wolfgang Beudels, Klaus Fischer, Gerd Hölter, Christina Jasmund, Astrid Krus, Stefanie KuhlenkampClassification de champs sémantiques du mouvement pour les processus d’éducation et de développe­ment en bas âgeLa contribution est intégrée au projet de groupement de recherches «Le mouvement en bas âge (BiK)» qui examine l’importance du domaine d’éducation Mouvement dans le paysage de formation et de formation continue. Ici sont présentés les résultats de l’examen des discours d’experts (inter­) nationaux interdisciplinaires à propos de l’importance du mouvement et du corporel dans les processus d’éduca­tion et de développement. Pour le champ de recherche quatre interprétations sont identifiées et structurées.

Susanne Amft, Brigitta Boveland, Kathrin Hensler Häberlin, Beatrice Uehli Stauffer«Vibrer en même temps et disposition de résonance …»Une étude sur les concep­tions théoriques et l’idée que l’on a de soi­même con­cernant les thérapeutes de psychomotricitéL’étude décrit les orientations théoriques et les principes de base selon lesquels les thérapeutes de psychomotri­cité fonctionnent en Suisse dans la vie quotidienne. Cette question est justement aujourd’hui de grand intérêt, puisque le travail intégratif

et préventif exigé par le législateur à l’école touche également la profession des thérapeutes de psychomotri­cité. Quatre domaines de thèmes se laissent mettre en évidence. Ceux­ci com­prennent les théories de relation relevantes pour la thérapie psychomotrice et les façons de travailler et les buts thérapeutiques qui s’en dégagent ainsi que la relation entre thérapeute et enfant et son environne­ment. L’étude explique l’idée que l’on a de soi­même au niveau professionnel qui se meut dans la zone conflic­tuelle entre pédagogie et thérapie et qui doit se soumettre aux exigences d’une réalité scolaire en plein changement.

Kimon BlosA la recherche de l’unité judicieuseImpulsions de psychologie individuelle pour la motologieLa psychologie individuelle (IP) n’a joué jusqu’ici que peu de rôle dans le discours d’experts de la motologie/psychomotricité, bien qu’elle remplisse les critères de celui­ci en référence à celle­là de façon globale. L’auteur esquisse les théories fondamentales de l’IP et met en évidence, avec son effort de comprendre l’individu globalement par le biais de dialecte organique et de loi du mouvement, des points de départ précieux pour la motologie/psychomotricité. Il renvoie à l’aide de l’analyse des priorités

psychomotrices et téléo à une nouvelle approche qui se sert des conclusions de la psychologie individuelle et se focalise de façon pratique sur les stratégies indivi­duelles de résiliation de problèmes.

Michael Kroll, Andreas NeubrandLe jeu digital – exergames en comparaison avec les formes d’entraînement traditionnel­les chez les personnes âgéesDans cette contribution une étude scientifique avec le thème de jeu digital (exergames) et personnes âgées et les conséquences physiologiques de cet entraînement dirigé de façon interactive sur la force et la coordination est présentée et comparée à une forme d’entraînement tradition­nelle. La force et la coordi­nation à l’âge, surtout en vue d’une prophylaxie de chute, sont essentielles et se prêtent bien à l’entraîne­ment à l’âge. Cependant les programmes d’entraîne­ment traditionnels, pour des raisons différentes, manquent souvent d’attrac­tivité pour les participants (entre autres offre, motiva­tion, barrières) pour les commencer ou les exercer régulièrement. C’est pour­quoi il a été examiné dans cette étude, si on peut améliorer la force et la coordination chez des personnes âgées saines par un entraînement de huit semaines à l’aide de la mise en marche corporelle Microsoft Kinect.

Peter Schlink, Klaus FischerTDA/H – dans le cerveau ou dans le corps? La découverte des fonctions exécutivesLa contribution décrit l’importance des fonctions exécutives pour l’explication de la construction TDA/H et le développement d’enfants concernés. Suite à l’éclaircis­sement des bases de la neuroscience, des concepts valables pour la pratique de la discussion d’experts pour le travail pratique sont exposés. A ce propos des résultats de recherche exemplaires d’études d’efficacité psychomotrice jusqu’à présent sont respectés.

Gabriele Hanne-BehnkeLa psychomotricité dans le contexte de la salubrité – une vue de l’extérieurLes conditions de santé et de maladie sont vues par les différentes disciplines scientifiques et profession­nelles dans leur optique respective. C’est pourquoi les procédures pour dévelop­per les conditions de santé sont discutées souvent de manière controverse. Pour développer une pratique effi­cace et basée sur l’évidence, il est raisonnable d’étudier les différentes façons de voir et théories. Ceci vaut également pour les domaines partiels de la santé. La contribution présente dans une vue d’ensemble le champ d’action santé, ses acteurs et possibilités. En plus, un projet d’école est décrit pour établir finalement la relation avec la psychomotricité.