Insel Verlag · 2015. 10. 25. · Beispiel dafr ist Hugo Willrich, der seinen Artikel Die...

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  • Im Jahr 38 n. Chr. wurde im �gyptischen Alexandria das �lteste j�di-sche Getto errichtet; in einem Gewaltexzeß wurden zahllose Judenvon ihren eigenen Mitb�rgern niedergemetzelt. Gibt es eine Erkl�-rung f�r ein solches Geschehen? Ist der antike Antisemitismus dieFolge konkreter Konflikte, die zur religiçsen und politisch-sozialenDiffamierung des j�dischen Gegners bis hin zu seiner physischenVernichtung f�hrten? Oder entz�ndete er sich an den als fremd emp-fundenen j�dischen Lebensformen und wurde dann zur Durchset-zung der eigenen Interessen lediglich instrumentalisiert?Peter Sch�fer stellt anhand der antiken Quellen dar, wie Juden mit

    ihrer besonderen Lebensweise und ihren religiçsen �berzeugungenvon ihrer Umwelt wahrgenommen wurden. Was dachten Nichtjuden�ber den Sabbat, die Beschneidung und die Enthaltung von Schwei-nefleisch? Wie wirkten auf sie der j�dische Monotheismus und dasSelbstverst�ndnis, als Gottes auserw�hltes Volk aus �gypten ins LandKanaan gef�hrt worden zu sein? Wie reagierten sie darauf, daß diej�dische Religion zunehmend Anziehungskraft auf Nichtjuden aus-�bte? Diese Wahrnehmungen stellen das potentielle Arsenal an anti-j�dischen Motiven bereit.Die exemplarische Darstellung zweier historischer Ereignisse (in

    Elephantine und Alexandria) verdeutlicht Schl�sselursachen undStrukturen des antiken Antisemitismus. So kann schließlich anhanddreier notorischer Konfliktherde (�gypten, Syrien/Pal�stina undRom) gezeigt werden, wie politisch-soziale Interessen und antij�di-sche Motive in konkreten Situationen eine unheilige Allianz eingin-gen und das Ph�nomen hervorbrachten, das wir den antiken Anti-semitismus nennen.

  • PETER SCH�FERJUDENHASS

    UND JUDENFURCHTDIE ENTSTEHUNG

    DES ANTISEMIT I SMUSIN DER ANTIKE

    Aus dem Englischen vonClaus-J�rgen Thornton

    VERLAG DERWELTRELIGIONEN

  • Gefçrdert durch dieUdo Keller Stiftung Forum Humanum

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    � Verlag der Weltreligionenim Insel Verlag Berlin 2010

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    durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Einband: Hermann Michels und Regina Gçllner

    Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

    Bindung: Buchbinderei Lachenmaier, ReutlingenPrinted in GermanyErste Auflage 2010

    ISBN 978-3-458-71028-8Titel der Originalausgabe:

    Judeophobia. Attitudes toward the Jews in the Ancient WorldCambridge, Mass.: Harvard University Press 1998

    1 2 3 4 5 6 – 15 14 13 12 11 10

  • JUDENHASS UND JUDENFURCHT

  • INHALT

    Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Einf�hrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    Teil I : Wer sind die Juden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Vertreibung aus �gypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Der Gott der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Enthaltung von Schweinefleisch . . . . . . . . . . . . . . . 1014 Sabbat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245 Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1396 Proselytismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

    Teil II : Zwei historische Schl�sselereignisse . . . . . . . . . . 1757 Elephantine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1778 Alexandria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

    Teil III : Konfliktzentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2359 �gypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23710 Syrien-Pal�stina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24611 Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

    Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Siglen- und Abk�rzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 392Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394Stellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414Verzeichnis moderner Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426Sach- und Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

    Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

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  • F�r Barbara

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  • VORBEMERKUNG

    Die ersten Vorstufen dieser Untersuchung gehen auf ein Semi-nar zur�ck, das ich am Institut f�r Judaistik der Freien Univer-sit�t Berlin durchgef�hrt habe. Mit Freude und in Dankbar-keit erinnere ich mich an die anregenden Diskussionsbeitr�gemeiner Studenten.

    Ich begann mit der Abfassung dieses Buches im Herbst1992 w�hrend meiner Horace W. Goldsmith-Gastprofessuran der Universit�t Yale. Eine vorl�ufige Version von Kapitel 1erschien unter dem Titel The Exodus Tradition in Pagan Greco-Roman Literature in dem von Isaiah M. Gafni, Aharon Oppen-heimer und Daniel R. Schwartz herausgegebenen Band TheJews in the Hellenistic-Roman World. Studies in Memory of MenahemStern (Jerusalem: Zalman Shazar Center for Jewish History1996, S. 9*-38*). Den Großteil des Buches schrieb ich am In-stitute for Advanced Study in Princeton, zun�chst w�hrendeines Aufenthaltes als Gastmitglied (1993) und dann w�hrendeiner Gastprofessur als Visiting Mellon Professor (1994-1996).Ich bin der School of Historical Studies und der Mellon Foun-dation außerordentlich dankbar f�r das Privileg, an dem an-spruchsvollen und stimulierenden Forschungsbetrieb des In-stituts teilgenommen zu haben.

    Die englische Fassung dieses Buches war das erste Buch,das ich gewagt habe, vollst�ndig auf englisch zu schreiben;zweifellos hat meine Princetoner Umgebung dazu gef�hrtund mich darin best�rkt. Es hat mir enorme Freude bereitet,auf englisch zu schreiben und dabei zu erkennen, in wie gro-ßem Maße unsere Denkweise davon bestimmt ist, in wel-cher Sprache wir schreiben. In den Vorbemerkungen zur eng-lischen Fassung schrieb ich, daß mit Sicherheit ein anderesBuch entstanden w�re, wenn ich es auf deutsch verfaßt h�tte.Dies bleibt wohl richtig, doch bin ich mir keineswegs sicher,

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  • daß es ein besseres Buch geworden w�re. Jedenfalls bin ichdem Verlag der Weltreligionen dankbar, daß er es auf sich ge-nommen hat, eine deutsche �bersetzung der urspr�nglichenenglischen Fassung auf den Weg zu bringen.

    Ich habe von der Kritik und Anregung einer Reihe vonFreunden und Kollegen profitiert, die Einzelprobleme mitmir diskutierten oder das Manuskript ganz oder teilweise la-sen. Ich nenne hier nur Elaine Pagels, Glen Bowersock, Pietervan der Horst und Hans-J�rgen Becker. Vor allem hat mirTony Spawforth selbstlos seine Zeit und sein Wissen zur Ver-f�gung gestellt und mich so davor bewahrt, in die eine oderandere Falle auf dem Gebiet der Alten Geschichte zu gehen.Mit Bewunderung denke ich an die Geduld zur�ck, mit derer mich in das einf�hrte, was f�r ihn die Grundkenntnisseseiner Disziplin gewesen sein m�ssen.

    Mein besonderer Dank gilt Claus-J�rgen Thornton, der diedeutsche �bersetzung besorgt hat. Ich h�tte mir keinen fach-kundigeren und einf�hlsameren �bersetzer w�nschen kçn-nen als ihn.

    Bei der Wiedergabe von antiken Quellen habe ich, soweitdies mçglichwar, zweisprachige Ausgaben oder deutsche �ber-setzungen zugrunde gelegt. Dabei habe ich gelegentlich auch�nderungen vorgenommen, wo mir dies aus sprachlichenGr�nden w�nschenswert oder nach Vergleich mit dem Ori-ginaltext sachlich geboten schien.

    Das Buch ist meiner Frau Barbara als ein kleines und unzu-l�ngliches Zeichen meiner Dankbarkeit gewidmet. Ich schul-de ihr sehr viel mehr, als mir ermçglicht zu haben, B�cherzu schreiben.

    12 vorbemerkung

  • EINF�HRUNG

    Der ›Antisemitismus‹ hat eine lange, endlose Geschichte. Einj�ngster, aufschlußreicher Ausl�ufer davon erschien in derdeutschen Rechtschreibpr�fung meines Textverarbeitungs-programms (einem amerikanischen Produkt). Sie stolperte�ber das Wort ›judenfreundlich‹, das ich in einem deutsch-sprachigen Aufsatz verwendet hatte, und schlug statt dessen›judenfeindlich‹ vor. Zun�chst war ich �berzeugt, in meinemComputer sitze ein kleinerAntisemit, der sicheinen geschmack-losen Witz erlaubt hat, aber nat�rlich ist es in Wirklichkeitnicht so dramatisch und dennoch von grçßter Bedeutungf�r unser Thema. Das Deutschwçrterbuch, das dem Textver-arbeitungsprogramm zugrunde liegt, kennt schlicht und er-greifend das Wort ›judenfreundlich‹ nicht und schl�gt deshalbvor, es durch ein �hnlich aussehendes zu ersetzen: ›judenfeind-lich‹. Daher hat der f�r die Rechtschreibpr�fung Verantwort-liche sich nicht einen schlechten Scherz erlaubt, sondern einfeinsinniges Urteil �ber die deutsche Sprache und die in ihrzum Ausdruck kommende Haltung gegen�ber Juden gespro-chen: Das Wort ›judenfreundlich‹ gibt es nicht, weil die Deut-schen niemals freundlich zu Juden waren oder sind. Nichtskçnnte das Terrain besser beleuchten, das ein deutscher Autorbetritt, der �ber Antisemitismus schreibt, und sei es auch nur�ber die ›ferne‹ Geschichte des antiken Antisemitismus.

    »Der Judenhaß und die Judenhetzen sind so alt wie die Dia-spora selbst«: Mit diesem Satz aus dem f�nften Band seinerRçmischen Geschichte begr�ndete Theodor Mommsen die mo-derne Erforschung dessen, was �blicherweise als ›antiker Anti-semitismus‹ bezeichnet wird. Mommsen begann das Kapitel»Jud�a und die Juden« zu Beginn des Jahres 1884,1 nur wenigeJahre nach seiner çffentlichen Auseinandersetzung mit Hein-

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  • rich von Treitschke, einem Kollegen an der Berliner Univer-sit�t, im sogenannten ›Berliner Antisemitismusstreit‹. DieseVerbindung ist nicht rein zuf�llig. Die Erforschung des anti-ken Antisemitismus hatte in den sp�ten siebziger und den fr�-hen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen, zeitgleichmit dem Entstehen eines antisemitischen Klimas bald nachder erfolgreichen neuen Reichsgr�ndung. Das heißt, dieseForschung entstand genau zu der Zeit, als der moderne Anti-semitismus aufkam. Vieles spricht daf�r, wie Christhard Hoff-mann in einer ausgezeichneten Studie gezeigt hat, daß »diese�hnlichkeit zwischen antiken und modernen Erscheinungs-formen der Judenfeindschaft (im Unterschied etwa zum Mit-telalter) die Hauptursache daf�r gewesen [ist], daß sich auchdas wissenschaftliche Interesse an den antiken ›Antisemiten‹,wie z. B. Apion, steigerte und der neue Begriff [Antisemi-tismus] rasch auf die antiken Verh�ltnisse Anwendung fand«.2

    Mit seiner eher beil�ufigen Aussage wollte Mommsen si-cherlich keine Theorie des Antisemitismus bieten, und eben-sowenig wollte er ihre zeitgençssische Abart rechtfertigen.Im Gegenteil, im Antisemitismusstreit hatte er sich als ent-schiedener Gegner der neuen Form von Antisemitismus zuWort gemeldet. Die meisten deutschen Historiker reagiertenjedoch ganz anders. Sie waren mehrheitlich offen darauf aus,aus der Antike nicht nur Aufschl�sse �ber die damalige anti-semitische Stimmung zu gewinnen, sondern auch das gegen-w�rtige Klima zu rechtfertigen. So wollte zum Beispiel ArthurG. Sperling ›die Ehre‹ des Alexandriners Apion ›wiederher-stellen‹, »de[s] grçßte[n] Judenhetzer[s] des Altertums« undVork�mpfers »einer Bewegung, durch welche die Bildung desGriechentums im Vereine mit der Leidenschaft der Orienta-len gegen das alles �berwuchernde Judentum noch einmalim Felde liegt«, Apions, der genau aus diesem Grund, so Sper-ling, in der Gegenwart Aufmerksamkeit f�r sich beanspru-chen d�rfe.3 In �hnlicher Weise fand Konrad Zacher im anti-ken Antisemitismus »die interessantesten Parallelen zu denErscheinungen unserer Zeit«.4 Wie der Historikerstreit Endeder achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde diese eher ideo-

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  • logische alswissenschaftlicheKontroverse typischerweise nichtnur in Fachzeitschriften gef�hrt, sondern h�ufig, und dies mitBedacht, in einer breiteren �ffentlichkeit. Ein schlagendesBeispiel daf�r ist Hugo Willrich, der seinen Artikel Die Ent-stehung des Antisemitismus in der antisemitischen Monatsschrift›Deutschlands Erneuerung‹ publizierte.5

    Die meisten Arbeiten �ber den antiken Antisemitismus seitdem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart beginnen mit dermethodologischen Voraussetzung, daß die singul�ren religiç-sen, kulturellen und sozialen Eigenschaften des Judentumsselbst die Ursache dessen sind, was sp�ter unter dem Begriffdes ›Antisemitismus‹ bekannt wird. Hoffmann nennt diesenAnsatz treffend den »substantiellen Erkl�rungstypus«. Es istdies ein Interpretationsmodell, das voraussetzt, daß Antisemi-tismus sozusagen ein ›nat�rliches‹ Ph�nomen in jeder Gesell-schaft sei, das keiner weiteren Erkl�rung bed�rfe, ein Modell,das mit Kategorien wie ›das Wesen des Judentums‹ oder ›derAntagonismus zwischen Judentum und Hellenismus‹ arbeitet,die nat�rlich vielf�ltig interpretiert werden kçnnen.6 Diesermethodische Ansatz ist keineswegs auf offen antisemitischeAutoren beschr�nkt, sondern gilt auch f�r eine breite Vielfaltvon ideologischen Sichtweisen, unter Einschluß von entschie-den christlichen wie auch j�dischen Positionen. In dieser Ka-tegorie finden wir sowohl Mommsen als auch Zacher, der,ohne Mommsen auch nur zu erw�hnen, dessen Dictum einebedeutungsvolle Wendung gab: »Antisemitismus Y. . . y ist soalt wie das Judenthum selbst und die j�dische Diaspora« und derbehauptet: »Wie man sieht, ist er [der Antisemitismus] die ein-fache Folge der von der Judenschaft selbst mehr und mehrvollzogenen Absperrung gegen die Welt, in deren Mitte sielebte«.7 Zu guter Letzt hat kein Geringerer als der große Hi-storiker Eduard Meyer das Wort ›Diaspora‹ ganz ausgelassenund einfach erkl�rt: Der Judenhaß »ist denn auch eben so altwie das Judentum selbst«. F�r ihn liegt der Grund daf�r inden »zahlreiche[n] absonderliche[n] Anschauungen und aber-gl�ubische[n] Riten und Br�uche[n]« des Judentums, in seiner»hochm�tige[n] �berhebung und Y. . . y geh�ssige[n] Absper-

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  • rung gegen alle Andersgl�ubigen«, in seiner »rege[n] Betrieb-samkeit im gesch�ftlichen Leben, die die r�cksichtslose Aus-beutung der Ungl�ubigen als das gute, ihnen von Gott verlie-hene Recht der Juden ansah« – all dies Besonderheiten, die»den Judenhaß notwendig herausfordern« mußten.8 Im selbenJahr (1921) �ußerte Hugo Willrich eine �hnliche Meinung miteindeutig antisemitischem Unterton;9 zuvor schon hatte zuBeginn des Jahrhunderts Fritz Staehelin die grobe Behaup-tung aufgestellt: »Das starre, exklusive und gegen alle Anders-gl�ubigen geh�ssige Wesen, das im Judentum jetzt durchausvorherrschte, konnte auf die von Haus aus so toleranten Grie-chen nicht anders als abstoßend wirken.«10

    Die Besonderheit der Juden, die sich aus der speziellen Artihrer Religion ergibt, und insbesondere ihre Absonderung vonanderen sozialen Gruppen ist zum Standardargument der›substantiellen‹ Interpretation des Antisemitismus geworden.Der Einleitungssatz von Edmond Jacobs Artikel Antisemitis-mus. I. Im Altertum in der Encyclopaedia Judaica lautet, in offen-sichtlicher Anspielung auf die sp�teren Abwandlungen vonMommsens Dictum: »Versteht man unter A[ntisemitismus]die feindselige Haltung gegen das Judentum, dann ist er soalt wie das j�dische Volk, da jedes Volk mit ausgesprochener,dem andern unbequemer Eigenart und jede Gemeinschaft,die unterscheidende Werte zu vertreten behauptet, angefein-det wird und das Judentum von vornherein mit diesem An-spruch in die Geschichte eingetreten ist.«11 In seinem bekann-ten Buch Verus Israel formulierte Marcel Simon in beinaheklassischer Weise: »Die prim�re Ursache f�r den griechisch-rçmischen Antisemitismus lag in der j�dischen Absonderung.Das bedeutet in letzter Konsequenz, daß sie in ihrer Religionlag, denn die Religion brachte diese Absonderung hervor.«12

    Victor Tcherikover, der sich ausdr�cklich als ein Vertreterder ›substantiellen‹ Auslegungsschule zu erkennen gab, argu-mentierte in �hnlicher Richtung, wenn auch mit unmißver-st�ndlich zionistischem Unterton:

    Die Hauptgefahr, die auf ihn [den Historiker] lauert, ist es,die innere Beschaffenheit des Antisemitismus, die immer

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  • und �berall dieselbe ist, und seine vielf�ltigen Ausgestaltun-gen, die sich je nach Ort und Umst�nden �ndern, mitein-ander zu verwechseln. Die innere Beschaffenheit des Anti-semitismus entspringt der schieren Existenz des j�dischenVolkes als eines Fremdkçrpers unter den Vçlkern. Die frem-de Eigenart der Juden ist die Hauptursache f�r das Entste-hen von Antisemitismus, und diese fremde Eigenart hatzwei Aspekte: Die Juden sind den anderen Vçlkern fremd,weil sie Fremdst�mmige aus einem anderen Land sind, undsie sind fremdartig wegen ihrer fremden Gebr�uche, die inden Augen der einheimischen Bevçlkerung seltsam undfremdartig wirken.13

    Dasselbe gilt f�r die derzeit ausf�hrlichste Monographie zumThema ›heidnischer Antisemitismus‹ von Jan Nicolaas Seven-ster, der die Eigenst�ndigkeit der heidnischen Form von Anti-semitismus gegen�ber der sp�teren christlichen betont. Seven-ster zufolge »ist heidnischer Antisemitismus in der antikenWelt von grundlegend religiçser Art«, und sein »fundamen-talster Grund Y. . . y liegt fast immer nachweislich in der Fremd-artigkeit der Juden inmitten der antiken Gesellschaft. Y. . . y DieJuden waren nie ganz wie die anderen; sie neigten immerdazu, sich abzukapseln. Y. . . y Es war immer etwas Ungewçhn-liches an der Religion der Juden, und das erschwerte den so-zialen Umgang mit ihnen und ihre Anpassung an die antikeGesellschaftsstruktur.«14

    Die Gegenthese zur ›substantiellen‹ Auslegungsschule, dievon Hoffmann treffend als der »funktionelle Erkl�rungstypus«bezeichnet wird,15 wurde von Isaak Heinemann in seinem Auf-satz Ursprung und Wesen des Antisemitismus im Altertum16 und inseinem Artikel Antisemitismus in Pauly’s Realencylop�die der Clas-sischen Alterthumswissenschaft17 entwickelt, der viel umfangrei-cher ist und grçßeren Einfluß aus�bte als der fr�here Beitrag.Heinemann zufolge basiert der antike Antisemitismus nichtauf dem ›Wesen‹ des Judentums, wie auch immer man diesesdefiniert, sondern viel eher auf sehr konkreten politischen Kon-flikten. Er arbeitete drei solcher »Konfliktsherde«, wie er sienannte, heraus, n�mlich den syrisch-pal�stinischen, den �gyp-

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  • tischen und den rçmischen. In all diesen Konfliktherden warideologische Judenfeindschaft nicht die Ursache, sondern dieKonsequenz des politischen Machtkampfes:

    Nirgends erweist sich der geistige Judenhaß als ein zurei-chender Grund f�r die politischen Verwicklungen. Wohlaber haben Machtk�mpfe, die in der Hauptsache rein poli-tisch oder national motiviert sind, den N�hrboden f�r dieung�nstigen Urteile �ber das Wesen der j�dischen Religionabgegeben. Der geistige Kampf ist also auch hier vor allemals Reflex des politischen anzusehen, im selben Sinne und –mit derselben Einschr�nkung – wie in der Gegenwart.18

    Insofern Heinemann dem syrisch-pal�stinischen Konfliktherdeine hervorgehobene Rolle zuwies, sowohl im chronologi-schen Sinne als auch in seiner Bedeutung f�r sp�tere Entwick-lungen,19 hatte sein funktionelles Modell auch weitreichendeImplikationen f�r die Frage nach dem Ursprung des antikenAntisemitismus. Heinemann zufolge erwuchs der Antisemitis-mus aus einer konkreten historischen Situation in Syrien-Pa-l�stina, nicht in der Diaspora (womit er ausdr�cklich Momm-sens Dictum zur�ckwies): Er ist »nicht die Wurzel, wohl aberdie notwendige Frucht der Hellenisierungspolitik des [Antio-chos IV.] Epiphanes und der Fortsetzer seiner Grunds�tze«.20

    Heinemanns Ansatz wurde von dem anderen großen Histo-riker des antiken Judentums, Elias Bickerman, und in j�nge-rer Zeit auch von Martin Hengel, Christian Habicht, KlausBringmann und anderen weiterentwickelt.21 All diese Autorenfolgen dem ›funktionellen‹ Auslegungsmodell (obwohl zuge-gebenermaßen mit ›substantiellen‹ Elementen) und stimmendarin �berein, daß die makkab�ische Erhebung und die erfolg-reiche Expansionspolitik der Hasmon�er im 2. Jahrhundertv. Chr., die auf die gewaltsame Hellenisierung unter Antio-chos IV. Epiphanes folgten, die entscheidende Rolle beim Auf-kommen des antiken Antisemitismus spielten.

    Die j�ngste Variante des funktionellen Modells stammt ausdem Werk von Adalberto Giovannini.22 Auch er betrachtetden antiken ›Antisemitismus‹ einzig und allein als ein Ergeb-nis der politischen Konflikte des 2. Jahrhunderts v. Chr., aber

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  • eines, das nicht so sehr aus den hasmon�ischen Eroberungenresultierte als vielmehr daraus, daß Rom im Nahen Osten diepolitische B�hne betrat. Damit verband sich, so argumentierter, nicht nur eine Verbesserung der Situation der Juden in derDiaspora, sondern auch eine ›Umkehrung der Hierarchie‹ zwi-schen Juden und Griechen zugunsten der Juden: »Von demAugenblick an, als die Juden sich entschlossen, sich unter denSchutz Roms zu stellen, war die feindliche Reaktion der Grie-chen unausweichlich.«23 Obwohl er hier den seinerzeitigenpolitischen Status quo angemessen beschrieben haben mag,kann Giovannini die Verbindung zum ›Antijudaismus‹ – die-sen Ausdruck zieht er vor – damit nicht wirklich erkl�ren. In-dem er einfach behauptet, daß einzig und allein die rçmischeAllianz mit den Juden der Grund f�r den griechischen ›Anti-judaismus‹ war, weicht er der eigentlichen Frage aus.24

    Im Gegensatz zum ›substantiellen‹ Auslegungsmodell undunter Aufnahme von Heinemanns funktionellem Modell ent-wickelte sich nach dem ZweitenWeltkrieg einweiterer Ansatz.Seine Vertreter sehen einen fundamentalen Unterschied zwi-schen heidnischer Feindseligkeit gegen�ber Juden und christ-lichem Antisemitismus; das heißt, sie wollen den Ausdruck›Antisemitismus‹ in seiner urspr�nglichen, engeren Bedeutungauf die christliche Variante dieses Ph�nomens beschr�nken.Danach ist der christliche Antisemitismus etwas Neues undSingul�res und in keiner Weise mit dem gelegentlichen Aus-bruch heidnischer Antipathie gegen�ber Juden vergleichbar.Zu den Vertretern dieser Sichtweise gehçren Jules Isaac,25

    Marcel Simon,26 L�on Poliakov27 und insbesondere RosemaryRuether.28 John G. Gager kann ebenfalls dazu gerechnet wer-den. Obwohl er einr�umt, daß es »Hinweise darauf gibt«, daßdie politischen Konflikte des 2. Jahrhunderts v. Chr. in Sy-rien-Pal�stina »den Beginn des heidnischen Antisemitismusmarkieren«,29 datiert er den Hçhepunkt des antiken Antise-mitismus dennoch eindeutig ins 1. Jahrhundert n. Chr., insbe-sondere in Alexandria. (Seine Behandlung der griechisch-rçmischen Exodustradition ist �brigens ein gutes Beispiel f�rdie Untersuchungen, die darauf zielen, die vorhandenen Belege

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  • mçglichst sp�t anzusetzen und damit den voralexandrinischenHellenismus, wenn mçglich, von antisemitischen Tendenzenfreizusprechen.) Insgesamt warnt er davor, den heidnischenAntisemitismus �ber- und die Sympathien der Griechen undRçmer f�r die Juden unterzubewerten.30 Die Betonung so-wohl der Sympathien f�r die Juden als auch ihrer Errungen-schaften in der griechisch-rçmischen Welt ist auch die er-kl�rte Absicht des Buches Jew and Gentile in the Ancient Worldvon Louis H. Feldman, das aber aufgrund seiner allzu apolo-getischen Tendenz weit �bers Ziel hinausschießt. Nur einmalf�llt der Ausdruck ›Antisemitismus‹, und das – wie das Regi-ster ausdr�cklich betont – nur, um seine ›Unzweckm�ßigkeit‹zu dokumentieren.31 Keine weitere Pr�fung des Ph�nomens,gleich wie man es nennen will, wird geboten.

    Das vorliegende Buch ist ein Versuch, ein altes Thema nichtmit neuem Quellenmaterial (es gibt keines) anzugehen, son-dern mit einem neuen Zugang zu allen vorhandenen Quellen,welche die Geschichte der Judenfeindschaft in der griechisch-rçmischen Welt, den sogenannten heidnischen oder antikenAntisemitismus, beleuchten. Wir gehen von der Voraussetzungaus, daß in der Antike ein Ph�nomen existierte, das man als›Judenhaß‹, ›Judenfeindschaft‹, ›Antisemitismus‹, ›Antijudais-mus‹ bezeichnen kann oder welchen Begriff auch immerman w�hlen mag, um es zu beschreiben. Obwohl Gager, Feld-man und andere zu Recht feststellen, daß wir in der antikenWelt auch einem bemerkenswerten Maß an Sympathie f�rdas Judentum begegnen, sind die Muster der Feindseligkeitnicht zu leugnen. Was genau es jedoch bedeutet, �ber ›Feind-schaft‹, ›Haß‹ und ›Antisemitismus‹ in der Antike zu sprechen,wird im Verlauf dieses Buches durch detaillierte Quellenana-lysen aufgezeigt.

    Obwohl ich verschiedene Begriffe f�r das Ph�nomen ver-wende, das wir untersuchen, habe ich trotz des offensicht-lichen Anachronismus keine Bedenken, den Ausdruck ›Anti-semitismus‹ zu gebrauchen. (Wer zur�ckhaltender ist, mçgein Gedanken Anf�hrungszeichen hinzusetzen.) Der Begriff

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