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ALEXANDER PUSCHKIN Die Hauptmannstochter ROMAN

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ALEXANDER PUSCHKINDie Hauptmannstochter

ROMAN

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Rußland im 18. Jahrhundert zur Zeit der Bauernaufstände. Der jungeAdlige Grinjow versieht seinen Dienst als Offizier in der tiefsten Pro-vinz – und verliebt sich in Mala, die Tochter des örtlichen Komman-danten. Als er in einem heftigen Schneesturm einem Mann das Lebenrettet, ahnt er nicht, daß es sich um Pugatschow, den Anführer der Auf-ständischen, handelt und daß schon bald sein eigenes Schicksal unddas seiner großen Liebe in dessen Händen liegen werden.

Die Hauptmannstochter (1836) ist Puschkins berühmtestes Prosawerkund gilt als wichtigster Vorläufer für Tolstois Krieg und Frieden.

Alexander Sergejewitsch Puschkin wurde 1799 in Moskau als Sohneines adligen Gardeoffiziers geboren und starb 1837 in Sankt Peters-burg an den Folgen einer Schußverletzung nach einem Duell. Als Lyri-ker und Schriftsteller war er zeitlebens provokant, seine Werke unter-lagen der Zensur. Er ist einer der bedeutendsten russischen Schriftstel-ler, zu seinen bekanntesten Werken zählen u.a. Eugen Onegin, BorisGodunow und Die Hauptmannstochter.

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insel taschenbuch 4318Alexander Puschkin

Die Hauptmannstochter

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Alexander PuschkinDie Hauptmannstochter

RomanAus dem Russischenvon Arthur Luther

Insel Verlag

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Umschlagabbildung: Karl Brüllow, Bildnis U.M. Smirnova(Ausschnitt), 1837-1840

Russisches Museum, Sankt Petersburg

Erste Auflage 2014insel taschenbuch 4318Insel Verlag Berlin 2014

© Insel Verlag Frankfurt am Main 1973Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des

öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlaggestaltung: Anke Rosenlöcher, BerlinSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-36018-6

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Die Hauptmannstochter

Hüte deine Ehre von Jugend auf.Sprichwort

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Erstes Kapitel

Der Sergeant der Garde

»Als Hauptmann stell ich ihn gleichin die Garde ein.«»Ach was! Bei der Armee soll er sicherst bewähren!«»Sehr wahr! Da wird man ihn denricht’gen Dienst schon lehren . . .«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .»Wer ist sein Vater gleich?«

Knjashnin

Mein Vater, Andrej Petrowitsch Grinjow, hatte in seinerJugend unter dem Grafen Münnich gedient und 17. . als Pre-miermajor seinen Abschied genommen. Seitdem lebte erauf seinem Gut im Simbirskischen, wo er auch die JungfrauAwdotja Wassiljewna Ju., die Tochter eines dortigen armenEdelmannes, heiratete. Wir waren neun Kinder. Alle meineBrüder und Schwestern starben im Säuglingsalter.

Meine Mutter ging noch mit mir schwanger, als ich dankder Güte des Gardemajors Fürst B., eines nahen Verwand-ten von uns, bereits beim Semjonowskij-Regiment als Ser-geant eingeschrieben wurde. Hätte meine Mutter wideralles Erwarten eine Tochter geboren, so hätte mein Vatergehörigen Ortes den Tod des nicht erschienenen Sergeantengemeldet und die Sache wäre damit erledigt gewesen. Ichgalt als beurlaubt bis zum Abschluß meiner Studien. Dazu-mal wurden wir nicht so erzogen wie heutzutage. Von mei-nem fünften Jahre an ward ich der Obhut unseres Reit-knechts Saweljitsch anvertraut, der für sein gutes Betragen –

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er trank nicht – zu meinem Erzieher ernannt worden war.Unter seiner Aufsicht lernte ich als Zwölfjähriger Russischlesen und schreiben und konnte sehr sachverständig über dieEigenschaften eines Windhundes reden. Um diese Zeit en-gagierte mein Vater einen Franzosen für mich, MonsieurBeauprès, den er mit dem Jahresvorrat an Wein und Oli-venöl aus Moskau kommen ließ. Seine Ankunft war Sawel-jitsch höchst unerwünscht. »Das Kind ist, scheint’s, dochgewaschen, gekämmt und satt«, brummte er vor sich hin.»Wozu noch unnötig Geld hinauswerfen und einen Musjöhalten, als hätte man nicht genug eigene Leute.«

Beauprès war in seiner Heimat Friseur gewesen, später inPreußen Soldat; endlich kam er nach Rußland pour être out-chitel, ohne sich über den Sinn dieses Wortes recht klar zusein. Er war ein guter Kerl, aber leichtsinnig und liederlichbis zum äußersten. Seine Hauptschwäche war die Leiden-schaft für das schöne Geschlecht; für seine Zärtlichkeitenerhielt er öfters Püffe, über die er tagelang stöhnte. Außer-dem war er (wie er sich auszudrücken liebte) kein Feind derFlasche, das heißt (um es gut russisch zu sagen), er trankgern eins über den Durst. Da Wein bei uns aber nur zu Mit-tag serviert wurde und auch da nur ein kleines Gläschen fürjeden, wobei man den Herrn Lehrer meist noch überging, sogewöhnte sich mein Beauprès sehr bald an den russischenFruchtschnaps und zog ihn sogar den Weinen seines Vater-landes vor, da er für den Magen ungleich bekömmlicherwäre. Wir wurden bald einig, und obgleich er laut Vertragverpflichtet war, mich im Französischen, Deutschen und al-len Wissenschaften zu unterrichten, zog er es vor, von mir inaller Eile etwas Russisch schwatzen zu lernen, und danachbeschäftigte sich jeder von uns nur noch mit seinen eigenenAngelegenheiten. Wir waren ein Herz und eine Seele. Einen

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anderen Mentor wünschte ich mir gar nicht. Aber baldtrennte uns das Geschick, und das kam so:

Die Wäscherin Palaschka, ein dickes, pockennarbigesMädchen, und die einäugige Kuhmagd Akulka waren einesTages übereingekommen, gleichzeitig meiner Mutter zu Fü-ßen zu fallen, sich selbst verbrecherischer Schwäche zu zei-hen und sich mit Tränen über den Musjö zu beklagen, derihre Unwissenheit verführt hätte. Meine Mutter verstand indiesen Dingen keinen Spaß und beklagte sich beim Vater.Der machte kurzen Prozeß. Er ließ die Kanaille von einemFranzosen sofort holen. Ihm wurde gemeldet, Musjö erteilemir gerade Unterricht. Der Vater begab sich in mein Zim-mer. Zu der Zeit schlief Beauprès auf seinem Bette denSchlaf der Unschuld. Ich aber war ernsthaft beschäftigt. Esmuß gesagt werden, daß man für mich aus Moskau eineLandkarte verschrieben hatte. Sie hing völlig ungenützt ander Wand und lockte mich schon längst durch ihre Größeund die gute Qualität des Papieres. Ich beschloß, einen Dra-chen aus ihr anzufertigen, und machte mich, da Beauprès soschön schlief, an die Arbeit. Mein Vater kam gerade in demAugenblick herein, als ich einen Bastschwanz an das Kap derGuten Hoffnung befestigte. Als er mich bei diesen geogra-phischen Übungen überraschte, zupfte der Vater mich kräf-tig am Ohr, lief dann zu Beauprès, weckte ihn höchst un-sanft und überschüttete ihn mit Vorwürfen. Beauprès, ingrößter Verlegenheit, wollte sich aufrichten und konnte esnicht: Der unglückselige Franzose war sternhagelvoll. Nunwurde mit allem Unglück auf einmal aufgeräumt. Vaterpackte ihn am Kragen, riß ihn vom Bett herunter, warf ihnzur Tür hinaus und jagte ihn noch am selben Tage aus demHause zur unbeschreiblichen Freude des guten Saweljitsch.Damit war meine Erziehung abgeschlossen.

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Ich lebte nun als junger Tunichtgut weiter, stellte den Tau-ben nach und übte mich mit den Hofjungen im Bocksprin-gen. So wurde ich sechzehn Jahre alt. Da trat eine Wendungin meinem Schicksal ein.

Einmal im Herbst kochte meine Mutter im GästezimmerHonigsirup, ich guckte auf den wallenden Schaum undleckte die Lippen. Vater saß am Fenster und las im »Hofka-lender«, den er sich alljährlich kommen ließ. Dieses Buchwirkte immer sehr stark auf ihn: Er las es nie ohne besondereseelische Anteilnahme, und die Lektüre brachte stets seineGalle in erstaunliche Erregung. Die Mutter, die alle seineNeigungen und Gewohnheiten genau kannte, suchte dasunselige Buch immer möglichst weit zu verstecken, und sokam der »Hofkalender« ihm oft monatelang nicht zu Ge-sicht. Wenn er ihn aber zufällig einmal fand, so ließ er ihndafür auch stundenlang nicht mehr aus den Händen. Alsomein Vater las im »Hofkalender«, zuckte ab und zu die Ach-seln und brummte vor sich hin: »Generalleutnant! . . . Er warin meiner Kompanie Sergeant! – Ritter beider russischer Or-den! . . . Und wie lang ist’s her, daß wir . . .« Endlich warfVater den Kalender auf das Sofa und versank in tiefes Sin-nen, das nichts Gutes erwarten ließ.

Plötzlich wandte er sich an die Mutter: »Awdotja Wassil-jewna, wie alt ist eigentlich Petruscha?«

»Er ist im siebzehnten Jahre«, antwortete Mutter. »Er istin dem Jahre geboren, wie Tante Nastasja Gerassimownaihr Auge verlor und wie . . .«

»Schon recht«, unterbrach sie der Vater. »Es ist Zeit, daßer in den Dienst kommt. Er hat sich lange genug in den Mäg-dekammern herumgetrieben und ist in den Taubenschlaggeklettert.« Der Gedanke der baldigen Trennung von mirüberraschte die Mutter so, daß sie den Löffel in den Kessel

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fallen ließ und Tränen über ihre Wangen flossen. Dagegenläßt sich mein Entzücken schwer beschreiben. Der Gedankean den Dienst verschmolz mir mit dem Gedanken an voll-kommene Freiheit, an die Vergnügungen des PetersburgerLebens. Ich sah mich als Gardeoffizier, was nach meinerMeinung den Höhepunkt menschlicher Seligkeit bedeu-tete.

Vater mochte weder seine Absichten ändern noch ihreAusführung hinausschieben. Der Tag meiner Abreise wurdefestgesetzt. Am Abend vorher erklärte Vater, er werde mireinen Brief an meinen künftigen Vorgesetzten mitgeben,und verlangte Feder und Papier.

»Vergiß nicht, Andrej Petrowitsch«, sagte Mutter, »denFürsten B. auch von mir zu grüßen. Sag ihm, ich hoffe, daß ersich Petruschas freundlich annehmen wird.«

»Was für ein Unsinn!« sagte mein Vater und runzelte dieStirn. »Weshalb sollte ich an den Fürsten B. schreiben?«

»Du hast doch gesagt, du wolltest an Petruschas Vorge-setzten schreiben.«

»Nun ja, und was weiter?«»Petruschas Vorgesetzter ist doch der Fürst B. Petruscha

ist doch beim Semjonowskij-Regiment eingeschrieben.«»Eingeschrieben! Was geht’s mich an, wo er eingeschrie-

ben ist? Petruscha kommt nicht nach Petersburg. Was soll erin Petersburg im Dienst lernen? Geld ausgeben und Streicheverüben? Nein, in der Armee soll er dienen, von der Pike auf,und Pulver riechen und ein Soldat werden, kein Tagedieb.Bei der Garde eingeschrieben! Wo ist sein Paß! Zeig ihnher!«

Mutter holte meinen Paß, den sie in ihrer Schatulle mitmeinem Taufhemdchen aufbewahrte, und reichte ihn mitzitternder Hand dem Vater. Der Vater las ihn aufmerksam

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durch, legte ihn vor sich auf den Tisch und fing an, seinenBrief zu schreiben.

Die Neugierde plagte mich. Wohin sollte ich denn kom-men, wenn nicht nach Petersburg? Ich wandte die Augennicht von Vaters Feder, die sich recht langsam vorwärts be-wegte. Endlich war er fertig, versiegelte den Brief, steckte ihnzusammen mit dem Paß in einen Umschlag, nahm die Brilleab, winkte mich zu sich heran und sagte: »Da hast du einenBrief an Andrej Karlowitsch R., meinen alten Regimentska-meraden und Freund. Du gehst nach Orenburg, um unterihm zu dienen.«

So waren alle meine glänzenden Hoffnungen zusammen-gebrochen! Statt des lustigen Petersburger Lebens harrtemeiner öde Langeweile in einem abgelegenen, weltverlasse-nen Winkel. Der Dienst, an den ich eben noch mit solcherBegeisterung gedacht hatte, schien mir nun ein schweres Un-glück. Aber an Widerspruch war nicht zu denken. Am näch-sten Morgen stand die Reisekibitka schon vor der Tür; manbepackte sie mit einem Koffer, einer Schatulle mit dem Tee-service, Bündeln mit Weißbroten und Pasteten, den letztenZeichen des häuslichen Wohllebens. Meine Eltern segnetenmich. Der Vater sagte zu mir: »Leb wohl, Pjotr. Diene treu,wem du geschworen; gehorche deinen Vorgesetzten; lauf ih-rer Güte nicht nach, dräng dich nicht zum Dienst, aber weiseauch keinen Dienst zurück; und denk an das Sprichwort:Hüte dein Kleid, wenn es neu ist, und deine Ehre von Jugendauf.« Die Mutter bat mich mit Tränen in den Augen, anmeine Gesundheit zu denken, und schärfte Saweljitsch ein,gut für das Kind zu sorgen. Man steckte mich in meinen Pelzaus Hasenfell und zog mir noch einen Fuchspelz drüber. Ichsetzte mich mit Saweljitsch in die Kibitka, und bitterlich wei-nend trat ich meine Reise an.

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In der Nacht kamen wir in Simbirsk an, wo wir uns einenganzen Tag aufhalten mußten, um verschiedene notwendigeDinge einzukaufen, womit Saweljitsch betraut wurde. Ichwar in einem Gasthaus abgestiegen. Saweljitsch machte sichin aller Frühe nach den Kaufläden auf. Es wurde mir lang-weilig, aus dem Fenster auf die schmutzige Quergasse zugucken, und ich begann eine Wanderung durch sämtlicheRäume des Hauses. Als ich ins Billardzimmer trat, sah icheinen hochgewachsenen Herrn von etwa fünfunddreißigJahren mit langem schwarzem Schnurrbart, im Schlafrock,einen Queue in der Hand und die Tabakspfeife zwischenden Zähnen. Er spielte mit dem Markör, der, wenn er ge-wann, ein Glas Branntwein leerte, wenn er aber verlor, aufallen vieren unter dem Billardtische durchkriechen mußte.Ich blieb stehen und sah dem Spiel zu. Je länger es dauerte,desto häufiger wurden die Spaziergänge auf allen vieren, bisder Markör endlich unter dem Tisch liegenblieb. Der Herrwidmete ihm ein paar kräftige Worte als Leichenpredigt undschlug mir eine Partie vor. Ich lehnte ab, weil ich nicht zuspielen verstand. Das kam ihm anscheinend sonderbar vor.Er sah mich mit einem gewissen Mitleid an; aber wir kamendoch ins Gespräch. Ich erfuhr, daß er Iwan IwanowitschSurin hieß, Rittmeister des *** Husarenregiments war undzur Rekrutenmusterung nach Simbirsk gekommen war; erwohnte im selben Gasthause. Surin forderte mich auf, mitihm zu Mittag zu essen, ganz einfach, nach Soldatenart. Ichwilligte gern ein. Wir setzten uns zu Tisch. Surin trank vielund schenkte auch mir fortwährend ein, wobei er sagte, ichmüsse mich an den Dienst gewöhnen; er erzählte mir Anek-doten aus der Armee, über die ich so lachte, daß ich fast vomStuhl gefallen wäre; als wir vom Tisch aufstanden, warenwir die besten Freunde. Nun erbot er sich, mich das Billard-

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spiel zu lehren. »Das ist für uns vom Militär unentbehrlich«,sagte er. »Kommst du auf dem Feldzug in irgendein Nest –was fängst du da an? Man kann doch nicht immer nur dieJuden hauen. Nolens volens gehst du ins Wirtshaus undspielst Billard. Aber dazu muß man spielen können.« Ichwar ganz überzeugt und machte mich mit großem Eifer ansStudium. Surin lobte mich laut, wunderte sich über meineraschen Fortschritte und bot mir nach ein paar Lektionenan, um Geld zu spielen – nur um einen Groschen, nicht desGewinstes wegen, bloß so, damit man nicht ganz umsonstspiele, denn das wäre die allerschlimmste Gewohnheit. Ichwilligte auch darin ein, Surin ließ Punsch bringen und über-redete mich, davon zu versuchen: Er wiederholte, daß mansich an den Dienst gewöhnen müsse, ohne Punsch aber wäreder Dienst nichts wert! Ich gehorchte. Inzwischen ging dasSpiel weiter. Je häufiger ich mein Glas an die Lippen führte,desto kühner wurde ich. Die Kugeln sausten bei mir jedenAugenblick über die Bande; ich ärgerte mich, schalt denMarkör, der Gott weiß wie rechnete, erhöhte den Einsatzbei jedem Spiel – kurz, ich benahm mich wie ein dummerJunge, der zum erstenmal seine Freiheit genießen kann. In-zwischen ging die Zeit unmerklich hin. Surin sah auf dieUhr, legte das Queue fort und sagte mir, ich hätte hundertRubel verloren. Das verwirrte mich etwas. Mein ganzesGeld hatte Saweljitsch. Ich stammelte Entschuldigungen.Surin fiel mir ins Wort: »Ich bitte dich! Du brauchst dich garnicht zu beunruhigen. Ich kann noch warten. Und vorläufigfahren wir mal zur Arinuschka.«

Was soll ich noch sagen? Der Tag endete ebenso toll, wieer begonnen hatte. Wir soupierten bei der Arinuschka. Surinschenkte mir jeden Augenblick ein und wiederholte dabeiimmer von neuem, man müsse sich an den Dienst gewöh-

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nen. Als ich mich vom Tisch erhob, konnte ich kaum auf denFüßen stehen; um Mitternacht brachte Surin mich ins Gast-haus zurück.

Saweljitsch empfing uns vor der Tür. Er schrie auf, als erdie untrüglichen Beweise meines militärischen Diensteiferssah. »Was ist mit dir geschehen, Herr?« fragte er mit kläg-licher Stimme. »Wo hast du dich so vollgeladen? O Gott! Nieist dir sonst so was vorgekommen!« – »Halt ’s Maul, alterKnasterbart!« erwiderte ich mit stockender Stimme. »Dubist wohl betrunken! Geh schlafen . . . und bring mich zuBett.«

Am nächsten Morgen erwachte ich mit heftigem Kopf-weh und konnte mich der gestrigen Ereignisse nur dunkelentsinnen. Meine Betrachtungen wurden durch Saweljitschunterbrochen, der mit einer Tasse Tee bei mir eintrat. »Frühfängst du an, Pjotr Andrejitsch«, sagte er kopfschüttelnd,»früh fängst du zu bummeln an. Nach wem bist du bloßgeraten? Weder der Vater noch der Großvater waren Trin-ker – von der Mutter gar nicht zu reden; die hat ihr Lebtagaußer Kwaß nichts in den Mund genommen. Und wer ist anallem schuld? Der verdammte Musjö. Alle fingerlang kam erzur Antipjewna gerannt: ›Madam, shö wu pri, wodkü!‹ Dahaben wir nun das Shöwupri! Schöne Dinge hat er dich ge-lehrt, der Hundesohn! Sehr nötig war’s, den fremden Kerlins Haus zu nehmen! Als ob der gnädige Herr nicht genugeigene Leute hatte!«

Ich schämte mich. Ich wandte mich ab und sagte: »Gehhinaus, Saweljitsch, ich mag keinen Tee.« Aber Saweljitschwar nicht so leicht zum Schweigen zu bringen, wenn er ein-mal ins Predigen geraten war. »Nun siehst du, Pjotr Andre-jitsch, wohin das Bummeln führt. Der Kopf tut dir weh, undgenießen magst du auch nichts. Ein Trinker ist zu nichts zu

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gebrauchen . . . Trink mal Gurkenlake mit Honig; das besteaber wäre, du nähmst ein halbes Gläschen Branntwein. Sollich es bringen?«

In diesem Augenblick kam ein Junge herein und reichtemir einen Brief von I. I. Surin. Ich entfaltete ihn und las fol-gendes:

Lieber Pjotr Andrejitsch, schicke mir bitte mit meinem Jun-gen die hundert Rubel, die Du gestern an mich verloren hast.Ich habe das Geld sehr nötig.

Ergebenst Iwan Surin

Es blieb mir nichts übrig. Ich machte ein gleichgültiges Ge-sicht und wandte mich an Saweljitsch, der für mein Wohlund Geld und Wäsche Sorge trug, mit dem Befehl, dem Jun-gen hundert Rubel einzuhändigen. »Wie? Wozu?« fragteSaweljitsch erstaunt. »Ich schulde sie ihm«, sagte ich mög-lichst kühl. »Schulden!« erwiderte Saweljitsch, dessen Stau-nen immer größer wurde. »Wann hast du denn Zeit gehabt,bei ihm Schulden zu machen, Herr? Hier stimmt etwasnicht. Wie du willst, Herr, aber das Geld gebe ich nicht.«

Ich dachte, daß, wenn ich in diesem entscheidendenAugenblick den eigensinnigen Alten nicht unter meinen Wil-len zwinge, es mir später erst recht schwerfallen würde,mich von seiner Vormundschaft zu befreien; darum sah ichihn stolz an und sagte: »Ich bin dein Herr, und du bist meinDiener. Das Geld gehört mir. Ich hab es verspielt, weil es mirso gefiel. Dir aber rat ich, deine weisen Reden zu lassen unddas zu tun, was dir befohlen wird.«

Saweljitsch war von meinen Worten so überrascht, daß erdie Hände über dem Kopf zusammenschlug und mich starransah. »Was stehst du da?« schrie ich ihn wütend an. Sawel-

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jitsch fing an zu weinen. »Väterchen, Pjotr Andrejitsch«,sagte er mit bebender Stimme, »du bringst mich um. MeinLiebling, hör auf mich Alten: Schreib diesem Räuber, duhättest gescherzt, wir hätten gar nicht soviel Geld! HundertRubel! Gott steh mir bei! Sag ihm, deine Eltern hätten dirstreng verboten zu spielen, es sei denn um Nüsse . . .« – »Laßdas Geschwätz«, unterbrach ich ihn streng, »gib das Geldher, oder ich schmeiße dich zur Tür hinaus!«

Saweljitsch sah mich tief betrübt an und ging das Geldholen. Der arme Alte tat mir leid; aber ich wollte mich freimachen und ihm beweisen, daß ich kein Kind mehr wäre.Das Geld wurde Surin geschickt. Saweljitsch beeilte sich, mitmir das verdammte Wirtshaus zu verlassen. Er kam undmeldete, daß die Pferde bereitständen. Mit unruhigem Ge-wissen und stummer Reue fuhr ich aus Simbirsk fort, ohnevon meinem Lehrmeister Abschied genommen zu habenund ohne zu glauben, daß wir uns jemals wiedersehen könn-ten.

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Zweites Kapitel

Der Führer

O du Land, mein Land,O du fremdes Land!Nicht von selbst bin ich zu dir gekommen.Nicht mein wackres Rößlein trug mich her.Hergebracht hat mich, den kühnen Burschen,Wohl der jugendliche ÜbermutUnd der Rausch, den ich beim Gastwirtmir geholt Altes Lied

Die Betrachtungen, denen ich mich unterwegs hingab, wa-ren nicht sehr erfreulich. Mein Geldverlust war bei den da-maligen Preisen keineswegs unbedeutend. Ich mußte mirselber eingestehen, daß mein Betragen im Simbirsker Gast-haus sehr dumm gewesen war, und ich fühlte mich Sawel-jitsch gegenüber schuldig. Alles das quälte mich. Der Altesaß finster auf dem Bock, hatte sich von mir abgewandt undschwieg; ab und zu nur räusperte er sich laut. Ich wolltedurchaus mit ihm Frieden schließen, wußte aber nicht, wieich anfangen sollte. Endlich sagte ich zu ihm: »Nun, nun,Saweljitsch, laß gut sein! Wollen wir uns wieder versöhnen!Ich habe nicht recht getan; ich seh es selber ein, daß es nichtrecht war. Ich habe gestern dumme Streiche verübt und dichunnütz gekränkt. Ich verspreche dir, mich hinfort vernünfti-ger zu betragen und dir zu gehorchen. Nun, ärgere dichnicht, wir wollen Frieden machen.«

»Ach, Väterchen, Pjotr Andrejitsch«, erwiderte er miteinem tiefen Seufzer. »Ich ärgere mich über mich selbst –denn ich bin an allem schuld. Wie konnte ich dich allein im

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