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Leseprobe Simm, Hans-Joachim / Lux, Christian Insel-Almanach auf das Jahr 2010 Tolstoj Zusammengestellt von Hans-Joachim Simm und Christian Lux © Insel Verlag 978-3-458-17458-5 Insel Verlag

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Leseprobe

Simm, Hans-Joachim / Lux, Christian

Insel-Almanach auf das Jahr 2010

Tolstoj

Zusammengestellt von Hans-Joachim Simm und Christian Lux

© Insel Verlag

978-3-458-17458-5

Insel Verlag

Insel-Almanachauf das Jahr 2010

TOLSTOJ

Insel Verlag

Zusammengestellt von Christian Lux und Hans-Joachim SimmUmschlagabbildung: Ilja Repin,

Portr�t des Schriftstellers Lew Tolstoj, 1887Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau

� Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Nachweise am Schluß des Bandes.Umschlag: Michael Hagemann

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyErste Auflage 2009

ISBN 978-3-458-17458-5

INHALT

Aus: Kindheit (1852) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Aus: Maxim Gorki, Erinnerungen an Leo N. Tolstoi . . 11Drei Tode (1858/59) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Der Traum (1857/1863) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34Boris Ejchenbaum, �ber Lew Tolstoj . . . . . . . . . . 38Gottes M�hlen mahlen langsam (1872) . . . . . . . . . 43Aus: Meine Beichte (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . 53Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen (1884) . . . . . . . 63Aus: Viktor B. Sklovskij, Leo Tolstoi: Turgenjews Zwist

mit Tolstoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Wo die Liebe ist, da ist auch Gott (1885) . . . . . . . . . 84Aus: Isaiah Berlin, Der Igel und der Fuchs . . . . . . . . 99Wieviel Erde braucht der Mensch? (1881/1886) . . . . . 104Wie der Teufel die Brotschnitte verdiente (1886) . . . . 123Du sollst nicht tçten! (1900) . . . . . . . . . . . . . . . 127Nach dem Ball (1903) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Brief an F. Dietert, 19.-21. Februar 1903 . . . . . . . . . 148Brief an Paul-Hyacinthe Loyson, 16. Januar 1903 . . . . 149Brief an Leonid Andrejew, 2. September 1908 . . . . . . 152Aus dem Briefwechsel mit Mahatma Gandhi . . . . . . 154Brief an Bernard Shaw, 15.-26. April 1910 . . . . . . . . 161Aus: Ursula Keller/Natalja Sharandak, Sofja AndrejewnaTolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs . . . . . . . . . 162Brief an Sofja Andrejewna Tolstaja, 14. Juli 1910 . . . . 176

Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183Tolstoj im Insel und Suhrkamp Verlag:Verzeichnis der lieferbaren Titel . . . . . . . . . . . . 185

Aus: DIE KINDHEIT

O die gl�ckliche, gl�ckliche, unwiederbringliche Kinderzeit!Wie soll man die Erinnerungen an sie nicht lieben, nicht sorg-sam hegen! Diese Erinnerungen erfrischen und erheben meineSeele und sind f�r mich ein Quell hçchster Freude.

Da habe ich mich ordentlich m�de gelaufen und sitze aufmeinem hohen St�hlchen am Teetisch; es ist schon sp�t, ichhabe schon l�ngst meine Tasse Milch mit Zucker ausgetrun-ken,die Augen fallenmir vorM�digkeit zu, aber ich r�hremichnicht vom Fleck, ich sitze und hçre zu.Wie sollte ich auch nichtzuhçren? Mama spricht mit irgend jemand, und der Klangihrer Stimme ist so s�ß und freundlich. Allein dieser Klangsagt meinem Herzen so vieles! Mit schl�frigen, tr�ben Augenblicke ich starr auf ihr Gesicht, und auf einmal ist sie ganzklein geworden, winzig klein, ihr Gesicht ist nicht grçßer alsein Knopf; aber ich sehe es trotzdem ganz deutlich: ich sehe,wie sie mich anschaut und wie sie dabei l�chelt. Es gef�lltmir, sie so winzig zu sehen. Ich kneife die Augen noch mehrzusammen, und sie wird so klein wie die Bildchen in den Pu-pillen; aber da bewege ich mich – und der Zauber ist zer-stçrt; ich kneife die Augen zu, drehe mich hin und her undversuche auf alle mçgliche Art, ihn zu erneuern, aber verge-bens.

Ich stehe auf, klettere auf einen Sessel und legemich bequemzurecht.

»Du wirst wieder einschlafen, Nikolenka«, sagt Mama zumir, »geh lieber nach oben.«

»Ich will noch nicht schlafen, Mama«, antworte ich, undwirre, s�ße Tr�ume erf�llen meine Phantasie, ein gesunder Kin-derschlaf schließt mir die Lider, und eine Minute sp�ter nickeich ein und schlafe, bis ich aufgeweckt werde.Manchmal f�hleich imHalbschlaf, daß eine z�rtlicheHandmich ber�hrt; schonallein an der Ber�hrung erkenne ich sie, und noch im Schlaf

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ergreife ich sie unwillk�rlich und dr�cke sie fest, ganz fest anmeine Lippen.Alle sind schon gegangen; eine einzige Kerze brennt im Sa-

lon; Mama hat gesagt, sie selbst werde mich wecken; sie hatsich in den Sessel gesetzt, auf dem ich schlafe, streicht mir mitihrer wunderbar zarten Hand �bers Haar, und dicht an mei-nem Ohr hçre ich die liebe, vertraute Stimme:

»Steh auf, mein Herzchen, es ist Zeit zum Schlafengehen.«Sie l�ßt sich nie durch die gleichg�ltigen Blicke anderer Leute

stçren: sie scheut sich nicht, ihre ganze �berstrçmende Liebeund Z�rtlichkeit zu mir zu zeigen. Ich r�hre mich nicht, son-dern k�sse ihre Hand noch fester.

»Steh doch auf, mein Engel!«Sie faßt mich mit der anderen Hand am Hals, und ihre Fin-

ger bewegen sich ganz schnell und kitzeln mich. Im Zimmerist es still, halb dunkel; meine Nerven sind durch das Kitzelnund Aufwecken erregt; Mama sitzt dicht neben mir; sie be-r�hrt mich; ich rieche ihren Duft und hçre ihre Stimme. Undich springe auf, schlinge die Arme um ihren Hals, schmiegeden Kopf an ihre Brust und sage atemlos:

»Ach, liebe, liebe Mama, wie lieb habe ich dich!«Sie l�chelt mit ihrem traurigen, bezaubernden L�cheln, faßt

mit beiden H�nden meinen Kopf, k�ßt mich auf die Stirn undnimmt mich auf den Schoß.

»Du hast mich also sehr lieb?« Sie schweigt einen Augen-blick, dann sagt sie: »Hçr zu, habmich immer lieb,vergißmichnie! Duwirst deineMama nicht vergessen, auchwenn sie nichtmehr leben wird? Du wirst sie nie vergessen, Nikolenka?«

Sie k�ßt mich noch z�rtlicher.»Hçr auf! Sag das nicht, mein T�ubchen, mein Herzchen!«

rufe ich und k�sse ihre Knie, und Tr�nen strçmen mir aus denAugen,Tr�nen der Liebe und des Entz�ckens.

Und wenn ich dann nach oben gegangen bin und in mei-nem kleinen wattierten Schlafrock vor den Heiligenbildernstehe, was f�r ein wunderbares Gef�hl empfinde ich, wenn

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ich sage: »Lieber Gott, besch�tze meinen Papa und meineMama!« Und wenn ich die Gebete wiederhole, die meine Kin-derlippen zum erstenmal der geliebten Mutter nachgestam-melt haben, fließt die Liebe zu ihr und die Liebe zu Gott zueinem einzigen Gef�hl zusammen.

Nach dem Gebet wickle ich mich in meine Bettdecke; mirist leicht und froh ums Herz; ein phantastischer Gedanke jagtden anderen – aber was ist ihr Inhalt? Man kann sie nicht fas-sen, aber sie sind von reiner Liebe und von der Hoffnung aufein ungetr�btes Gl�ck erf�llt. Manchmal denke ich auch anKarl Iwanowitsch und sein bitteres Los – den einzigen Men-schen, von dem ich weiß, daß er ungl�cklich ist, und er tut mirso leid, ich liebe ihn so sehr, daß mir die Tr�nen aus den Augenfließen, und ich denke: ›Lieber Gott, gib ihm Gl�ck, gib mirdieMçglichkeit, ihm zu helfen, seinenKummer zu erleichtern;ich bin bereit, alles f�r ihn zu opfern.‹ Dann stopfe ich meinLieblingsspielzeug, ein H�schen oderH�ndchen aus Porzellan,unter einen Zipfel des Daunenkissens und sehe mit Vergn�gen,wie schçn warm und behaglich es dort liegt. Ich bete noch,Gott mçge allen Menschen Gl�ck geben, damit alle zufriedenseien, und daß morgen schçnes Wetter zum Spazierengehenist, dann drehe ich mich auf die andere Seite, die Gedankenund Phantasien verwischen und verwirren sich, und ich schlafemit noch tr�nenfeuchtem Gesicht sanft und ruhig ein.Werden sie jemals wiederkehren, diese Frische, diese Sorg-

losigkeit, dieses Liebesbed�rfnis und diese Kraft des Glaubens,die man in der Kindheit besitzt? Welche Zeit kann besser seinals die, in der die beiden besten Tugenden – unschuldige Frçh-lichkeit und grenzenloses Liebesbed�rfnis – die einzigen Trieb-federn in unserem Leben waren?Wo sind jene heißen Gebete? Wo die beste Gabe – die rei-

nen Tr�nen der R�hrung? Ein trçstender Engel kam geflogen,wischte l�chelnd diese Tr�nen ab und f�chelte der unverdor-benen kindlichen Phantasie s�ße Tr�ume zu.

Hat das Leben wirklich so schwere Spuren in meinem Her-

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zen hinterlassen, daß diese Tr�nen und dieses Entz�cken f�rimmer vonmir gewichen sind? Ist wirklich nur die Erinnerungdaran geblieben?

[1852]

Aus: MAXIM GORKI, ERINNERUNGENAN LEO N. TOLSTOI

Manchmal kommt es mir so vor, als sei er eben aus fernenLanden gekommen, wo die Menschen anders denken, andersf�hlen, sich anders zueinander verhalten, sich sogar anders be-wegen und eine andere Sprache reden. M�de, grau sitzt er inder Ecke, wie bestaubt mit dem Staube einer andern Erde,und betrachtet alle aufmerksam mit dem Blick eines Fremdenund Stummen.

Gestern,vor Tisch, erschien er so imWohnzimmer, ganz ent-r�ckt. Er setzte sich auf den Diwan und schwieg eine Weile;dann sagte er plçtzlich, sich wiegend und seine Knie mit denH�nden reibend, mit finsterem Gesicht:

»Das ist noch nicht alles. Nein – nicht alles!«Jemand, wie immer dumm und ruhig wie ein B�geleisen,

fragte ihn:»Was meinen Sie?«Er sah ihn scharf an, beugte sich vor, schaute auf die Ter-

rasse hinaus, wo ich, Doktor Nikitin und Jelpatjewski saßen,und fragte:

»Wovon sprechen Sie?«»Von Plehwe.«»Plehwe . . . Plehwe . . .« wiederholte er nachdenklich, nach

einer Pause, als hçre er denNamen zum erstenmal.Dann sch�t-telte er sich wie ein Vogel und sagte mit einem matten L�-cheln:

»Ich habe seit heute morgen was Dummes im Kopfe. Irgendjemand hat mir mal erz�hlt, er habe auf einem Kirchhof fol-gende Grabschrift gelesen:

›Unter diesem Steine Iwan Jegorjew ruht,Ein Gerber von Beruf. Er gerbte wacker H�ute,Arbeitete fleißig und war von Herzen gut.

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Nun ist er tot, hat’s Gesch�ft seinem Weibe vermacht.Er war noch nicht alt, h�tte gegerbt noch f�r viele Leute,Doch Gott nahm ihn hinweg ins Paradies, in der NachtVon Freitag auf Sonnabend, in der Woche vor Ostern . . .‹

Und so weiter, in der Art.«Er schwieg, dann sch�ttelte er den Kopf und setzte mit

einem schwachen L�cheln hinzu:»In der menschlichen Dummheit – wenn sie nicht bçsartig

ist – liegt etwas sehr R�hrendes, Liebes sogar . . . Immer.«Wir wurden zu Tisch gerufen.

»Ich mag Betrunkene nicht, aber ich kenne Menschen, die in-teressant werden, wenn sie angetrunken sind, die dann etwaswie Witz, Schçnheit der Rede bekommen, Gewandtheit undReichtum des Sprechens, was ihnen in n�chternem Zustandenicht eigen ist. Dann bin ich bereit, den Wein zu segnen.«

Suler erz�hlte: –Wie er einmal mit Leo Nikolajewitsch �berdie Twerskaja ging, bemerkte Tolstoi von weitem zwei K�ras-siere. Das Metall der K�rasse blitzte im Sonnenlicht, sie lie-ßen die Sporen klirren und kamen im Gleichschritt daher, alsw�ren sie zusammengewachsen; in ihren Gesichtern leuchteteder Stolz von Kraft und Jugend.Tolstoi nçrgelte �ber sie:»So eine hochtrabende Dummheit! Wie Tiere, die man mit

dem Kn�ppel dressiert hat . . .«Aber als die Soldaten an ihm vorbeikamen, blieb er ste-

hen, sah ihnenmit freundlichemBlick nach und sagte ganz ent-z�ckt:

»Wie schçn!Wie alte Rçmer.Was, Lewuschka? Diese Kraft,diese Schçnheit! Ach, mein Gott. Wie pr�chtig, wenn derMensch schçn ist, wie pr�chtig!«

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An einem heißen Tage �berholte er mich auf der »UnterenStraße«; er ritt auf einem kleinen tatarischen, ruhigen Pferd-chen auf Livadia zu. Grau, mit buschigemGesicht, einen leich-ten,weißen, pilzfçrmigen Filzhut auf dem Kopf, sah er aus wieein Gnom.

Er hielt und sprach mich an. Ich ging neben seinem Steig-b�gel her und erz�hlte ihm unter anderm, ich h�tte einen Briefvon Korolenko erhalten. Tolstoi sch�ttelte zornig den Bart.

»Glaubt der eigentlich an Gott?«»Ich weiß nicht.«»Die Hauptsache wissen Sie nicht! Er glaubt schon, nur

sch�mt er sich, das vor Atheisten einzugestehen.«Er sprach m�rrisch, launisch und kniff zornig die Augen

zu. Offenbar stçrte ich ihn; aber als ich mich entfernen wollte,hielt er mich zur�ck:

»Wo wollen Sie hin? Ich reite ja ganz langsam.«Und brummte wieder:»Ihr Andrejew sch�mt sich auch vor den Atheisten. Aber

er glaubt doch an Gott. Nur hat er Furcht vor Gott!«An der Grenze der Besitzung des Großf�rsten Alexander

Michajlowitsch Romanow standen drei Romanows in engerGruppe plaudernd auf der Straße: der Hausherr von Ai-Todorselbst,Georg und noch einer – ich glaube, PeterNikolajewitschaus Djulber: alles kr�ftige, große Menschen. Ein Einsp�nnersperrte die Straße, und ein Reitpferd stand quer her�ber, sodaß Leo Nikolajewitsch nicht vorbei konnte. Er warf den Ro-manows einen strengen, fordernden Blick zu. Sie hatten sichaber schon vorher abgewandt. Das Reitpferd trat auf der Stelleherum,wich dann ein wenig aus und ließ Tolstois Pferd durch.

Zwei Minuten etwa ritt er schweigend, dann sagte er:»Die haben mich erkannt, die Dummkçpfe!«Und eine Minute sp�ter:»Das Pferd begreift, daß man Tolstoi Platz machen muß.«

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Trotz der Einfçrmigkeit seiner Lehre ist dieser m�rchenhafteMensch unendlich vielfçrmig.

Heute im Parke plauderte er mit demMulla von Gaspra undgab sich dabei wie ein vertrauensvoller, schlichter Bauer, f�rden die Stunde gekommen ist, an das Ende seiner Tage zu den-ken. Klein, scheinbar absichtlich noch mehr zusammengezo-gen, wirkte er neben dem kr�ftigen, gesunden Tataren wie einGreis, dessen Seele zum erstenmal �ber den Sinn des Daseinsnachdenkt und vor den in ihr entstehenden Fragen Angst hat.Erstaunt hob er die buschigen Brauen, blinzelte �ngstlich mitden scharfen �uglein und ließ ihr unduldsames, durchdringen-des Feuer erlçschen. Sein forschender Blick bohrte sich reglosin das breite Gesicht des Mulla, die Pupillen verloren ihre alleMenschen sonst so befangen machende Sch�rfe. Er legte demMulla »kindliche« Fragen vor – �ber den Sinn des Lebens,�ber die Seele, �ber Gott – und erwiderte auf die Verse des Ko-rans sehr gel�ufig mit Stellen aus Evangelien und Propheten.In Wahrheit spielte er mit dem Mulla, und zwar mit erstaun-licher Gewandtheit, wie sie nur einem großen K�nstler odereinem Weisen eigen ist.Vor ein paar Tagen hatte er mit Tanejew und Suler �ber Mu-

sik gesprochen und sich wie ein Kind �ber ihre Schçnheit be-geistert. Diese Begeisterung freute ihn sichtlich selbst – bes-ser gesagt, seine F�higkeit, sich zu begeistern. Er erkl�rte, dasBeste und Tiefste �berMusik habe Schopenhauer geschrieben;er erz�hlte wie beil�ufig eine komische Anekdote �ber Fethund nannte Musik das »stumme Gebet der Seele«.

»Wieso – stumm?« fragte Suler.»Weil sie ohneWorte ist. In Tçnen liegt mehr Seele als in Ge-

danken. Ein Gedanke ist ein Beutel voll F�nfern; der Ton aberist durch nichts verunreinigt, er ist inwendig rein.«

Mit sichtlichem Behagen sprach er liebe, kindliche Worte –gerade die besten, z�rtlichsten fielen ihm ein. Dann l�chelte erplçtzlich in seinen Bart und sprach milde, wie liebkosend:

»Musiker sind immer dumme Menschen. Je begabter einer

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als Musiker ist, desto beschr�nkter ist er. Seltsam, daß fastalle Musiker religiçs sind.«

DREI TODE

Es war Herbst. Auf der Landstraße fuhren in schnellem Trabzwei Equipagen. In der vorderen Kutsche saßen zwei Frauen:die eine,die Dame,war hager und bleich,die andere,das Dienst-m�dchen, hatte gl�nzende rote Wangen und eine volle Figur.Ihre kurzen trockenenHaare dr�ngten sich unter dem verschos-senen Hut hervor, und die rote Hand im zerrissenen Hand-schuh brachte sie immer wieder hastig in Ordnung. Die hohe,mit einem bunten Tuch bedeckte Brust atmete Gesundheit;die flinken schwarzen Augen verfolgten bald durch das Wa-genfenster die dahinschwindenden Felder, bald blickten siescheu auf die Herrin, bald schweiften sie unruhig �ber dieEcken der Kutsche. Vor der Nase des Dienstm�dchens schau-kelte der ans Gep�cknetz gebundene Hut der Herrin, auf ih-ren Knien lag ein H�ndchen, ihre F�ße standen auf einemBerg von Schachteln und trommelten kaum hçrbar im glei-chen Takt mit dem R�tteln der Federn und dem Klirren derFensterscheiben.

Die Dame hielt die H�nde im Schoß gefaltet, hatte die Augengeschlossen und wiegte sich schwach in den Kissen, die manihr hinter den R�cken geschoben hatte; sie h�stelte hohl mitgeschlossenem Mund, wobei sie jedesmal das Gesicht verzog.Auf demKopf trug sie ein weißes Nachth�ubchen und dar�berein leichtes hellblaues Tuch, dessen Enden um ihren zarten,blassen Hals geschlungen waren. Ein gerader Scheitel, der un-ter dem H�ubchen verschwand, teilte das blonde, ungewçhn-lich d�nne, pomadisierte Haar; die weiße Haut dieses breitenScheitels schien eigent�mlich trocken und leblos. Die gelblicheHaut lag schlaff auf den feinen und schçnen Umrissen des Ge-sichts und hatte an denWangen und Backenknochen rote Flek-ken. Die Lippen waren trocken und unruhig, die d�nnenWim-pern waren seltsam gerade, und der Reisemantel fiel auf dereingefallenen Brust in geraden Falten herab. Obwohl die Au-

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gen geschlossen waren, dr�ckte das Gesicht der DameM�dig-keit, Gereiztheit und gewohntes Leid aus.

Der Lakai saß zur�ckgelehnt auf dem Bock und schlum-merte; der Postillion trieb mit kurzen Schreien das stattliche,schweißtriefende Viergespann an und blickte sich ab und zunach dem anderen Kutscher um, der auf dem Bock des zwei-ten Wagens saß und seine Pferde mit den gleichen Schreien an-trieb. Die parallelen breiten Spuren der Wagenr�der dr�cktensich gleichm�ßig und schnell in den kalkigen Straßenschmutz.Der Himmel war grau und kalt, feuchter Nebel lag �ber denFeldern und Wegen. Im Innern der Kutsche war es dumpf undroch nach Kçlnischem Wasser und Staub. Die Kranke warfden Kopf in den Nacken und çffnete langsam die Augen. Diegroßen Augen waren gl�nzend und von einer schçnen dunklenFarbe.

»Schon wieder!« sagte sie, indem sie nervçs mit ihrer schç-nen hageren Hand einen Mantelzipfel des Dienstm�dchenswegschob, der kaum ihren Fuß ber�hrt hatte, und ihr Mundverzog sich schmerzlich. Matrjoscha raffte mit beiden H�n-den die Schçße ihres Mantels, erhob sich auf ihren kr�ftigenBeinen und r�ckte etwas weiter weg. Ihr frisches Gesicht er-rçtete. Die schçnen dunklen Augen der Kranken verfolgten ge-spannt alle Bewegungen des M�dchens. Die Dame stemmtesich mit beiden H�nden gegen den Sitz und wollte gleichfallsetwas hinaufr�cken, doch ihre Kr�fte versagten. IhrMund ver-zog sich, und ihr ganzes Gesicht wurde durch den Ausdruckohnm�chtiger, geh�ssiger Ironie verzerrt. »Wenn du mir we-nigstens helfen wolltest! . . . Ach, jetzt ist es nicht mehr nçtig!Ich kann schon selbst; leg mir aber um Gottes willen nicht im-mer deine P�ckchen hinter den R�cken! . . . Laß es sein, wenndu es nicht verstehst!« Die Dame schloß die Augen, hob dannwieder die Lider und warf dem Dienstm�dchen einen schnel-len Blick zu. Matrjoscha starrte sie an und biß sich in die roteUnterlippe. Ein schwerer Seufzer drang aus der Brust der Kran-ken und ging in einen Hustenanfall �ber. Sie wandte sich ab,

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verzog das Gesicht und griff mit beiden H�nden an die Brust.Als der Anfall vor�ber war, schloß sie wieder die Augen undsaß unbeweglich da. Die beiden Equipagen fuhren durch einDorf. Matrjoscha steckte ihre volle Hand unter dem Tuch her-vor und bekreuzigte sich.

»Was gibts?« fragte die Herrin.»Eine Station, gn�dige Frau.«»Ich frage dich, warum du dich bekreuzigst!«»Es ist eine Kirche, gn�dige Frau.«Die Kranke wandte sich zum Fenster und begann sich lang-

sam zu bekreuzigen, mit weit geçffneten Augen auf die großehçlzerne Kirche starrend, um die die Kutsche herumfuhr.

Die Kutsche und die Kalesche hielten gleichzeitig vor derStation. Aus der Kalesche stieg der Gatte der kranken Dameund der Arzt. Sie traten an die Kutsche heran.

»Wie f�hlen Sie sich?« fragte der Arzt, ihr den Puls f�hlend.»Nun, meine Liebe, bist du nicht m�de?« fragte der Gatte auffranzçsisch. »Willst du nicht aussteigen?«

Matrjoscha nahm alle P�ckchen zusammen und dr�ckte sichin eine Ecke, um die Herrschaften in ihrem Gespr�ch nicht zustçren. »Immer dasselbe«, antwortete die Kranke. »Ich mçch-te nicht aussteigen.« Der Gatte stand noch eine Weile da undging dann in das Stationsgeb�ude. Matrjoscha sprang aus derKutsche und lief auf den Fußspitzen durch den Schmutz zumTor.

»Daß es mir schlecht geht, ist noch kein Grund f�r Sie, nichtzu fr�hst�cken«, sagte die Kranke mit einem schwachen L�-cheln zum Arzt, der vor demWagenfenster stand.

›Niemand k�mmert sich um mich‹, f�gte sie in Gedankenhinzu, als der Arzt sich mit leisen Schritten vom Wagen ent-fernte und dann in großer Hast die Stufen des Stationshauseshinauflief. ›Ihnen geht es gut, und um alles �brige k�mmernsie sich nicht. O mein Gott!‹

»Nun, Eduard Iwanowitsch«, sagte der Gatte oben im Sta-tionsgeb�ude zu dem Arzt, sich mit vergn�gtem L�cheln die

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H�nde reibend, »ich habe den Eßkorb heraufbringen lassen.Was halten Sie davon?«

»Ich bin dabei«, antwortete der Arzt.»Wie geht es ihr eigentlich?« fragte der Gatte seufzend, in-

dem er die Stimme senkte und die Augenbrauen hochzog.»Ich habe Ihnen ja schon gesagt: sie wird unmçglich bis

nach Italien kommen; ich zweifle sogar, daß sie Moskau nocherreicht. Besonders bei diesem Wetter.«

»Was soll ich tun? Ach mein Gott! Mein Gott!« Der Gattebedeckte die Augen mit der Hand. »Gib her!« wandte er sichzum Diener, der mit dem Eßkorb hereinkam.

»Sie h�tten eben zu Hause bleiben m�ssen«, entgegnete derArzt und zuckte die Achseln.

»Sagen Sie mir doch, was konnte ich tun?« entgegnete derGatte. »Ich habe doch alles versucht, um sie von der Reise ab-zuhalten; ich habe ihr die Kosten vorgehalten, ich habe vonden Kindern, die wir allein zur�cklassen mußten, und von mei-nen Gesch�ften gesprochen – sie will nichts hçren. Sie maltsich das Leben im Ausland aus, als ob sie gesund w�re. Undihr die Wahrheit �ber ihren Zustand sagen hieße sie tçten.«

»Sie ist ja schon so gut wie tot, das m�ssen Sie selbst wis-sen, Wassilij Dmitritsch. Der Mensch kann nicht ohne Lun-gen leben, und neue Lungen wachsen nicht nach. Es ist jawirk-lich sehr traurig und schwer, was kann man aber tun? UnsereAufgabe kann nur darin bestehen, daß wir ihr das Ende er-leichtern. Hier ist viel eher ein Seelsorger am Platze.«

»Achmein Gott! Versetzen Sie sich doch in meine Lage; wiekann ich mit ihr von ihrer letzten Stunde sprechen? Mag kom-men,was will, ich kann es ihr nicht sagen. Sie wissen ja selbst,wie gut sie ist . . .«

»Versuchen Sie doch, sie zu �berreden, noch bis zum Win-ter zu warten, bis man mit dem Schlitten fahren kann«, sagteder Arzt und sch�ttelte bedeutungsvoll den Kopf. »Unterwegskann ja leicht eine Verschlimmerung eintreten . . .«

»Aksjuscha, he, Aksjuscha!« schrie auf der schmutzigenHin-

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tertreppe die Tochter des Postmeisters, indem sie sich eine Jacke�ber den Kopf warf. »Wir wollen uns die Gutsherrin von Schir-kino ansehen; es heißt, daß sie wegen ihrer Brustkrankheitins Ausland f�hrt. Ich habe noch nie eine Schwinds�chtige ge-sehen.«Aksjuscha sprang herbei, und beide M�dchen liefen Hand

in Hand vor das Tor. Als sie an der Kutsche vorbeigingen, ver-langsamten sie die Schritte und blickten durch das herabge-lassene Fenster hinein. Die Kranke wandte den Kopf nach ih-nen um; als sie aber ihre Neugier bemerkte, runzelte sie dieStirn und wandte sich wieder ab.

»Du lieber Himmel!« sagte die Tochter des Postmeistersund wandte hastig den Kopf weg. »Was f�r eine Schçnheit siewar, und was jetzt aus ihr geworden ist! Einfach entsetzlich!Hast du sie gesehen, Aksjuscha, hast du sie gesehen?«

»Ja, wie mager sie ist!« best�tigte Aksjuscha. »Wir wollennoch einmal vorbeigehen, als ob wir zum Brunnen gingen.Siehst du, sie hat sich weggewandt, aber ich konnte sie nochsehen. Sie tut mir so leid, Mascha!«

»Und wie schmutzig es ist!« entgegnete Mascha, und beideliefen zum Tor zur�ck.

Die Kranke dachte: ›Ich muß wohl wirklich grauenhaft aus-sehen! Wenn ich nur so schnell wie mçglich ins Ausland kom-men kçnnte! Dort werde ich mich bald erholen.‹

»Nun, wie geht es dir, meine Liebe!« fragte der Gatte, derwieder zur Kutsche kam. Er hatte noch einen Bissen imMunde.

›Immer dieselbe Frage!‹ dachte die Kranke; ›und er selbst ißt!‹»Es geht«, murmelte sie durch die Z�hne.»Weißt du, meine Liebe, ich f�rchte, die Reise wird dir bei

diesemWetter nicht guttun; auch Eduard Iwanowitsch ist der-selben Ansicht.Wollen wir nicht lieber umkehren?«

Sie schwieg �rgerlich.»DasWetter wird ja einmal besser werden,wir werden Schlit-

tenbahn bekommen; inzwischen kannst du dich ja auch er-holen, dann kçnnten wir alle zusammen fahren.«

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