Inszeniertes Altertum

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49 SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2009 D a, schauen Sie!“, ruft Christian Schweizer und winkt den Fotografen heran. Wenn man vom Eckpfosten aus den Wei- dezaun ins Visier nimmt, bildet dieser mit dem Waldsaum in der Verlängerung und der daran anschließenden Acker- grenze eine schnurgerade Linie bis zum Horizont, querfeldein über Berg und Tal. Und wenn man ganz genau hinsieht, er- kennt man parallel zum Zaun eine flache Bodenwelle: links ein bisschen höher als die umgebende Fläche, rechts ein we- nig tiefer. Ohne den Fremdenführer würde der Besucher die sanfte Wölbung im Gelän- de kaum wahrnehmen. „Obwohl man nichts sieht“, sagt Schweizer trium- phierend, „ist das eine besondere Stelle.“ Hier, im Schwäbisch-Fränkischen Wald nördlich des Städtchens Murrhardt, ist noch ein Stück des Limes zu erahnen, jener gigantischen Grenzanlage, die vor fast 2000 Jahren die römischen Provin- zen Obergermanien und Rätien von den germanischen Stämmen im Norden und Osten trennte. Die Delle in der Land- schaft ist das Überbleibsel eines Gra- bens, der einst zwei Meter tief und sechs bis acht Meter breit war, sowie eines Walls, der aus dem Erdaushub aufge- schüttet worden war. Andernorts gibt es bei der Wande- rung etwas mehr zu sehen. Auf dem Heidenbühl etwa steht die Ruine eines ehemaligen römischen Wachturms. Dem Vorstellungsvermögen der Besu- cher hat man in jüngerer Zeit etwas nachgeholfen, indem die knapp manns- hohe Grundmauer, die vom Original übrig geblieben ist, an einer Ecke mit al- ten Bruchsteinen auf sechs Meter auf- gestockt wurde. Oder bei der Ortschaft Grab, wo ein ganzer Wachturm so re- konstruiert wurde, wie er dort einst gestanden haben könnte – nebst dem Schaustück einer Palisadenmauer vor Wall und Graben. Der Limes ist ein Publikumsmagnet, auch wenn nur karge Reste zu besichti- gen sind. Einst erstreckte er sich über 550 Kilometer, von Rheinbrohl bei Kob- lenz über Westerwald und Taunus zum Main, dann südwärts bis zum württem- bergischen Städtchen Lorch und von dort mit einem rechtwinkligen Knick nach Osten bis nach Eining nahe Re- gensburg, gesäumt von rund 120 Kastel- len und knapp 900 Wachtürmen (siehe Karte Seite 50). Der alte Grenzverlauf ist touristisch gut erschlossen: durch eine Deutsche Limesstraße, durch Rad- und Wander- wege, durch Museen und archäologische Parks, die jedes Jahr Hunderttausende anziehen. An vielen Orten entlang der einstigen Demarkationslinie finden „Rö- merfestspiele“, „Römische Märkte“ und Gladiatoren-Schaukämpfe statt. Die Darbietungen tragen bisweilen „karne- valeske Züge“, wie Stephan Bender, der Leiter des Limesinformationszentrums Baden-Württemberg in Aalen, zu be- denken gibt. Andererseits hilft der Mummen- schanz, in breiten Bevölkerungsschich- ten das Interesse an römischer Ge- schichte wachzuhalten. Bender recht- fertigt auch die historisierenden Nach- bauten als „eine Möglichkeit, den Limes erlebbar zu machen“. Seit 2005 ist der Obergermanisch- Rätische Limes Weltkulturerbe – ge- meinsam mit dem Hadrianswall in Großbritannien, der schon seit 1987 auf der Liste der Unesco steht; 2008 kam auch der Antoninuswall, ebenfalls in Großbritannien, dazu. Dadurch, so Ben- der, sei die Chance erhöht, „Substanz und Authentizität des größten Boden- denkmals in Deutschland zu bewahren“. Nicht nur Laien, auch Fachleute sind beeindruckt von einer bau- und ver- messungstechnischen Meisterleistung: Auf der gut 80 Kilometer langen Strecke zwischen Walldürn und Welzheim bau- ten die Römer ihren antigermanischen Schutzwall ohne Rücksicht auf steile Hügel und schroffe Abhänge völlig ge- radlinig durchs Gelände, als wollten sie beweisen, dass selbst die Natur ihrer Macht nicht im Wege stehen konnte. Die Groma, das Messgerät der anti- ken Geometer, eine Kombination von Eisenloten und hölzernem Visierkreuz, reichte für die Projektierung wohl nicht aus. Wahrscheinlich wurden auf den be- waldeten Höhen in recht weitem Ab- stand große Holzgerüste mit Peilvor- richtungen aufgestellt, um den linearen Verlauf abzustecken. Eine Unregelmäßigkeit gab es aller- dings. An einer Stelle war es den römi- schen Soldaten beim Ausheben des Grabens offenbar zu anstrengend, das Erdreich immer hangaufwärts auf die KAISERLICHE MACHT TOURISMUS AM LIMES Rekonstruktion eines Römer- kastells im württembergischen Welzheim, kostümierter Fremdenführer („Cicerone“) und rekonstruierter Wachturm bei Grab, Ruine eines Wach- turms bei Murrhardt, Römer- kopf als Limesmarkierung bei Aalen (im Uhrzeigersinn) Der Obergermanisch-Rätische Limes, einst Demarkationslinie gegen die „Barbaren“, wirkt heute als Publikumsmagnet. Inszeniertes Altertum Von NORBERT F. PÖTZL FOTOS: LUKAS COCH / ZEITENSPIEGEL

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Spiegel Geschichte 1/2009

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49SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2009

Da, schauen Sie!“, ruftChristian Schweizer undwinkt den Fotografenheran. Wenn man vomEckpfosten aus den Wei-

dezaun ins Visier nimmt, bildet diesermit dem Waldsaum in der Verlängerungund der daran anschließenden Acker-grenze eine schnurgerade Linie bis zumHorizont, querfeldein über Berg und Tal.Und wenn man ganz genau hinsieht, er-kennt man parallel zum Zaun eine flacheBodenwelle: links ein bisschen höher alsdie umgebende Fläche, rechts ein we-nig tiefer.

Ohne den Fremdenführer würde derBesucher die sanfte Wölbung im Gelän-de kaum wahrnehmen. „Obwohl mannichts sieht“, sagt Schweizer trium-phierend, „ist das eine besondere Stelle.“Hier, im Schwäbisch-Fränkischen Waldnördlich des Städtchens Murrhardt, istnoch ein Stück des Limes zu erahnen,jener gigantischen Grenzanlage, die vorfast 2000 Jahren die römischen Provin-zen Obergermanien und Rätien von dengermanischen Stämmen im Norden undOsten trennte. Die Delle in der Land-schaft ist das Überbleibsel eines Gra-bens, der einst zwei Meter tief und sechsbis acht Meter breit war, sowie einesWalls, der aus dem Erdaushub aufge-schüttet worden war.

Andernorts gibt es bei der Wande-rung etwas mehr zu sehen. Auf demHeidenbühl etwa steht die Ruine einesehemaligen römischen Wachturms.Dem Vorstellungsvermögen der Besu-cher hat man in jüngerer Zeit etwasnachgeholfen, indem die knapp manns-hohe Grundmauer, die vom Originalübrig geblieben ist, an einer Ecke mit al-ten Bruchsteinen auf sechs Meter auf-gestockt wurde. Oder bei der OrtschaftGrab, wo ein ganzer Wachturm so re-konstruiert wurde, wie er dort einst gestanden haben könnte – nebst demSchaustück einer Palisadenmauer vorWall und Graben.

Der Limes ist ein Publikumsmagnet,auch wenn nur karge Reste zu besichti-gen sind. Einst erstreckte er sich über550 Kilometer, von Rheinbrohl bei Kob-lenz über Westerwald und Taunus zumMain, dann südwärts bis zum württem-bergischen Städtchen Lorch und vondort mit einem rechtwinkligen Knicknach Osten bis nach Eining nahe Re-gensburg, gesäumt von rund 120 Kastel-

len und knapp 900 Wachtürmen (sieheKarte Seite 50).

Der alte Grenzverlauf ist touristischgut erschlossen: durch eine DeutscheLimesstraße, durch Rad- und Wander-wege, durch Museen und archäologischeParks, die jedes Jahr Hunderttausendeanziehen. An vielen Orten entlang dereinstigen Demarkationslinie finden „Rö-merfestspiele“, „Römische Märkte“ undGladiatoren-Schaukämpfe statt. DieDarbietungen tragen bisweilen „karne-valeske Züge“, wie Stephan Bender, derLeiter des LimesinformationszentrumsBaden-Württemberg in Aalen, zu be-denken gibt.

Andererseits hilft der Mummen-schanz, in breiten Bevölkerungsschich-ten das Interesse an römischer Ge-schichte wachzuhalten. Bender recht-fertigt auch die historisierenden Nach-bauten als „eine Möglichkeit, den Limeserlebbar zu machen“.

Seit 2005 ist der Obergermanisch-Rätische Limes Weltkulturerbe – ge-meinsam mit dem Hadrianswall inGroßbritannien, der schon seit 1987 aufder Liste der Unesco steht; 2008 kamauch der Antoninuswall, ebenfalls inGroßbritannien, dazu. Dadurch, so Ben-der, sei die Chance erhöht, „Substanzund Authentizität des größten Boden-denkmals in Deutschland zu bewahren“.

Nicht nur Laien, auch Fachleute sindbeeindruckt von einer bau- und ver-messungstechnischen Meisterleistung:Auf der gut 80 Kilometer langen Streckezwischen Walldürn und Welzheim bau-ten die Römer ihren antigermanischenSchutzwall ohne Rücksicht auf steileHügel und schroffe Abhänge völlig ge-radlinig durchs Gelände, als wollten siebeweisen, dass selbst die Natur ihrerMacht nicht im Wege stehen konnte.

Die Groma, das Messgerät der anti-ken Geometer, eine Kombination vonEisenloten und hölzernem Visierkreuz,reichte für die Projektierung wohl nichtaus. Wahrscheinlich wurden auf den be-waldeten Höhen in recht weitem Ab-stand große Holzgerüste mit Peilvor-richtungen aufgestellt, um den linearenVerlauf abzustecken.

Eine Unregelmäßigkeit gab es aller-dings. An einer Stelle war es den römi-schen Soldaten beim Ausheben des Grabens offenbar zu anstrengend, dasErdreich immer hangaufwärts auf die

KAISERLICHE MACHT

TOURISMUS AM LIMESRekonstruktion eines Römer-

kastells im württembergischenWelzheim, kostümierter

Fremdenführer („Cicerone“)und rekonstruierter Wachturmbei Grab, Ruine eines Wach-turms bei Murrhardt, Römer-kopf als Limesmarkierung bei

Aalen (im Uhrzeigersinn)

Der Obergermanisch-Rätische Limes, einst Demarkationslinie gegen die „Barbaren“, wirkt heute als Publikumsmagnet.

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Kaiser Domitian, der von 81 bis 96 re-gierte, ließ daher Schneisen ins Dickichtschlagen, die als „limites“ (Plural von li-mes) bezeichnet wurden – Postenwege,auf denen regelmäßig Soldaten patrouil-lierten. Tacitus verwendete das Wort inseiner „Germania“ erstmals im Sinn vonReichsgrenze, als er im Jahr 98 schrieb:„Bald zog man den Limes und schob Kastelle vor, so dass das Land als Vor-sprung des Reiches und Teil der Provinzbetrachtet wird.“

Die am weitesten vorverlegte Grenz-linie war um 160 erreicht – auf ihr entstand der Obergermanisch-RätischeLimes. Entlang der Provinz Obergerma-nien wurden robuste Palisadenwändeaus halbierten Eichenstämmen errichtet– sie waren wenigstens einen Meter tiefins Erdreich eingegraben, was daraufschließen lässt, dass die Palisade mindes-tens doppelt so hoch aufragte, vermutlichsogar bis zu drei Meter. Die rätischeGrenze, die westlich von SchwäbischGmünd an die obergermanische an-schloss, wurde mit einer wahrscheinlichebenso hohen Steinmauer gesichert.

Die Grenzanlage war bald fast so per-fektioniert wie eine andere innerdeut-sche Grenze 1800 Jahre später. Im Vor-feld des Limes wurde der Wald abge-holzt, um freies Sichtfeld zu schaffen.Hinter den Trennwänden, auf römischerSeite, wurden Gräben ausgehoben, diean der tiefsten Stelle spitz zuliefen. DasErdreich häufte man zu Wällen auf.

Dahinter verliefen Patrouillenwege. Die-se verbanden die Wachtürme, die inSichtweite, je nach der Topografie imAbstand von 200 bis 1000 Metern, an-einandergereiht waren.

Die Wachtürme waren mindestenszweistöckig. Der Eingang befand sich sicherheitshalber im ersten Stock undkonnte nur mit einer Leiter erklommenwerden. Im Erdgeschoss, über eine Lei-ter im Turminneren erreichbar, lager-ten Essensvorräte für die Grenzschüt-zer, vor allem Getreide, aus dem „puls“,ein mit Wasser aufgekochter Brei, zube-reitet wurde.

Rings um das zweite Stockwerk ver-lief wahrscheinlich bei den meisten Türmen eine Galerie. War Gefahr imVerzug, konnte mit Feuerzeichen undHornsignalen von Turm zu Turm Alarmgegeben werden. Aus den im Hinterlandgelegenen Kastellen rückten dann Fuß-truppen und Reitereinheiten den Grenz-verletzern entgegen.

Der Limes war jedoch „kein Bollwerkgegen fremde Heere, sondern eher eineWirtschaftsgrenze“, betont Experte Ben-der. Die zahlreichen Grenzübergangs-stellen legen nahe, dass ein Grenzver-kehr bestand, der „zwar kontrolliert, abernicht eingeschränkt werden sollte“. Ger-manische Händler waren willkommen,aber nur, wenn sie Zölle entrichteten.

In Friedenszeiten waren daher amLimes offenbar höchstens 25 000 Solda-

ten stationiert: Legionen mit jeweils5000 Mann, die alle das römische Bür-gerrecht besaßen, und Hilfstruppen(„auxilia“), in denen „peregrini“ aus deneroberten Provinzen dienten – wobei diemisstrauischen Römer zumindest an-fangs vermieden, die Leute in ihren Hei-matprovinzen einzusetzen.

Kriegerische Auseinandersetzungenam Limes gab es lediglich mit den Chat-ten (162) und den Markomannen (166bis 180). Nachdem Kaiser Caracalla imSommer 213 gegen die in Rätien undObergermanien eingedrungenen Ale-mannen zu Felde gezogen war, herrsch-te für zwei Jahrzehnte noch einmalRuhe an der Front.

Im Jahr 233 fielen die Alemannen jedoch erneut in Rätien ein, diesmal ingroßer Zahl. Sie nutzten eine Schwächeder römischen Grenzverteidigung aus:Kaiser Severus Alexander hatte starkeTruppenkontingente aus Rätien undObergermanien abgezogen, um die Per-ser im Osten des Reiches abzuwehren.Die am Limes verbliebene Auxiliar-infanterie konnte die germanischen Rei-terscharen kaum aufhalten, die bis anden Rhein und in das Alpenvorland vor-stießen. Der Kaiser sah sich genötigt,den Perserfeldzug abzubrechen und mitseinem Heer die Alemannen zu verjagen.

Die vielerorts zerstörten Grenzan-lagen scheinen nur noch notdürftig repariert worden zu sein. Angesichts eines blutigen Bürgerkriegs im Römi-

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römische Seite des Limes zu schaufeln,und so warfen sie den Wall auf der öst-lichen, der germanischen Limesseite auf.Die Nachlässigkeit ist angesichts desGeländes verständlich, „war aber si-cherlich ein grober Verstoß gegen dieBauvorschriften“, meint der ArchäologeAndreas Thiel.

Murrhardt liegt direkt an der Limes-geraden. Zu Römerzeiten stand hier einKohortenkastell, in dessen Nähe sichauch eine zivile Siedlung („vicus mur-rensis“) befand. Einmal im Monat führtChristian Schweizer Limesfans auf dieSpuren der Römer.

Schweizer ist ein „Cicerone“. So nen-nen sich die zertifizierten Limesführerin Anspielung auf die Beredsamkeit desPhilosophen Cicero. In Kursen eignen siesich historisches Grundwissen an, sieüben freien Vortrag vor Gruppen und le-gen eine Prüfung ab. Rund 80 Limes-enthusiasten sind Mitglieder im 2005 ge-gründeten Verband der Limes-Cicerones.

Christian Schweizer, 43, ist gelernterTierpräparator und leitet in dritter Ge-neration das Carl-Schweizer-Museumin Murrhardt, das sein Großvater 1931gegründet hat. Es stellt neben einer na-turkundlichen Sammlung ausgestopfterVögel und Wildtiere sowie stadthistori-

schen Schaustücken auch allerlei römi-sche Relikte aus der Region aus.

Ein Kleinod ist das Replikat einer Ju-pitersäule mit einem Relief der kapito-linischen Wölfin und der legendärenStadtgründer Romulus und Remus –eine Darstellung, wie sie bisher nir-gendwo nördlich der Alpen entdecktwurde. Der Originalstein liegt im Grabdes 850 gestorbenen Benediktinerabtsund Ortsheiligen Walterich – dort wur-de das Bildnis kopfüber eingebaut, umzu demonstrieren, dass die Macht desheidnischen Römischen Reiches end-gültig zerbrochen sei.

Vom Museum führt ChristianSchweizer die Gäste zur „Villa Franck“oberhalb des Städtchens. Das Salon-musiker-Ehepaar Brigitte Hofmann undPatrick Siben, auch er ein engagierterCicerone, hat das stattliche Jugendstil-gebäude des einstigen Malzkaffeefabri-kanten Robert Franck zu einem „Kul-tur- und Banketthaus“ umgewidmet.Den Limesfreunden wird in der Wein-stube ein „pullus farsalis“ (gefülltesHähnchen) nach einem Rezept des römischen Feinschmeckers und Koch-buchautors Marcus Gavius Apicius ser-viert; als Aperitif wird „mulsum“ ge-reicht, ein mit Bienenhonig vergorener

und mit mediterranen Kräutern ge-würzter Wein – quasi ein antiker Alcopop.

Der Spiritus mellitus regt die Phan-tasie der Ausflügler an, wenn sie dannauf den Pfaden römischer Grenzschüt-zer wandeln und der Cicerone die Ge-schichte der frühzeitlichen Sperranla-ge erzählt. Rhein und Donau bildeteneine natürliche Barriere zwischen derrömischen „Zivilisation“ und den ger-manischen „Barbaren“. Die beiden Flüs-se formen jedoch ein spitzwinkligesDreieck, das tief ins Imperium Roma-num hineinragte: Um von der rätischenProvinzhauptstadt Augusta Vindelicum(Augsburg) nach Mogontiacum (Mainz),dem Verwaltungssitz Obergermaniens,zu gelangen, war ein gewaltiger Umwegüber Augusta Raurica (Augst nahe Basel)erforderlich.

Schrittweise und ohne nennenswer-ten Widerstand dehnten die Römer imersten Jahrhundert nach Christi Geburtihr Herrschaftsgebiet in das dünnbesie-delte Land aus. Lediglich die Chatten,Vorfahren der Hessen, wehrten sich ge-gen die neuen Nachbarn. Sie stellten sichjedoch nicht der offenen Schlacht, son-dern überfielen die römischen Truppenin den unwegsamen Wäldern aus demHinterhalt.

Kaiser Domitian ließ Schneisen ins Dickicht schlagen und Postenwege anlegen, auf denen Soldaten patrouillierten.

AugsburgAugustaVindelicum

AugstAugusta Raurica

MainzMogontiacum

Saalburg

Murrhardt

Aalen

GermaniaSuperior

GermaniaMagna

Raetia

GalliaBelgica

RÖMISCHESREICHRÖMISCHESREICH

Erdwallbis 2 Meter hoch

Grabenbis 8 Meter breitund 2 Meter tief

Wachturm

Mauer

Palisadebis 3 Meter hoch

GERMANIENGERMANIEN

Rhein

Donau

Main

Quelle: Historischer Atlas derantiken Welt, Verlag: J. B. Metzler

Römisches Reichsgebietim 1. und 2. Jh. besetzt

Kastell

Limes als zusammenhängendeWall- oder Palisaden- bzw.Maueranlage

Limesverlauf1. bis 3. Jahrhundert n. Chr.

RömischeGrenzanlage

50 km

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Cicerone Schweizer, teilrekonstruierter Wachturm Schüler bei Limesführung in Welzheim

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schen Reich, der zu jener Zeit auch inden Grenzprovinzen Obergermanienund Rätien wütete, hatte Kaiser Gallie-nus andere Sorgen, als sich um denSchutz der ohnehin verwüsteten Limes-region zu kümmern.

Germanische Siedler nahmen dasTerrain allmählich in Besitz und began-nen sich auf vormals römischem Bodenpolitisch neu zu organisieren. 297 wur-de der Zwickel zwischen Rhein und Do-nau erstmals „Alamannia“ genannt.

Die Palisaden verfaulten, Wälle undGräben wurden verweht oder eingeeb-net. Die Ruinen der Wachtürme undKastelle dienten über Jahrhunderte alsbillige Steinbrüche. Raubgrabungen zer-störten, was von der Denkmalsubstanzvorhanden war.

Wissenschaftliche Forschungen be-gannen erst Mitte des 18. Jahrhunderts,und gut hundert Jahre später musste derBerliner Althistoriker Theodor Momm-sen (1817 bis 1903) konstatieren, „dassvon den noch erhaltenen Zeugen dieserfernen Vergangenheit jeden Tag Weite-res abbröckelt“.

Mommsen klagte: „Solange die Zu-fälligkeiten hier walten, solange man nur gräbt, wo zufällig Dilettanten undGeld sich dafür bereitfinden, und an

anderen Stellen, wo es viel nötiger undaussichtsvoll wäre, die Zerstörungs-arbeit ihren stillen Gang unaufhaltsamweitergeht, so lange bleibt diese Aufga-be der deutschen Geschichtsforschungungelöst, und diese am wenigsten kön-nen wir späteren Generationen ver-machen.“

Der wilhelminische Zeitgeist, der dieLimesforschung zur „nationalen Aufga-be“ erklärte, kam Mommsen zu Hilfe.1892 wurde die Reichs-Limeskommis-sion gegründet, die aus 15 führenden Al-tertumsforschern bestand, Mommsenübernahm den Vorsitz.

„Mit der Entwicklung der Volks- undder Altertumskunde besannen sich dieStaaten Mittel- und Nordeuropas aufihre eigene Geschichte“, erklärt derHeidelberger Archäologe Andreas Hen-sen. „Im Spannungsfeld zwischen derBewunderung für die Leistungen derAntike und nationalistisch geprägtenPhantasien vom Germanentum gerietauch der Limes in den Blick der Alter-tumsforscher – mal als Teil des beein-druckenden römischen Militärwesens,mal als Symbol des Freiheitskampfes derAltvordern.“

Das Interesse Wilhelms II. am Limesentsprang auch persönlichen Neigun-

gen. Schon als Kind hatte er seit 1870die Sommerferien regelmäßig in derKurstadt Bad Homburg im Taunus verbracht – in der Nähe eines längst ver-fallenen Römerkastells, der Saalburg.1897 erteilte der Kaiser den Auftrag, auf den alten Fundamenten eine Be-festigungsanlage zu errichten, wie mansich damals eine römische Kaserne vor-stellte.

Der Monarch wollte seinen Unterta-nen ein Bild edlen römischen Soldaten-lebens vermitteln. Egon Schallmayer, derheutige Direktor der Saalburg, sprichtvon einem Programm „inszenierter Ge-schichtlichkeit“.

Das Freilichtmuseum lockt bis heuteMassen an, jedes Jahr werden rund 160 000 Besucher gezählt. „Hier könnenSie was erleben!“, wirbt das antikisie-rende Disneyland für eine „Ent-deckungsreise in eine vergangene Zeit“,versprochen wird ein „Freizeiterlebnismit Niveau“.

„Das Faszinosum Rom wirkt fort“, erklärt sich der Aalener LimesexperteBender die Anziehungskraft der Aus-grabungsstätten, „jeder weiß etwas über die Römer – und sei es, dass dasWissen aus einem Hollywood-Schinkenstammt.“

Die Palisaden verfaulten, Wälle und Gräben wurden eingeebnet, die Ruinen der Wachtürme dienten als Steinbrüche.

Archäologe Bender, Römerfunde (in Aalen) Rekonstruiertes Römerkastell Saalburg im Taunus

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