Interview „Die große Heilung kommt erst mit dem Erwachen“ · Eckhart Tolle: Man könnte sagen:...

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Interview „Die große Heilung kommt erst mit dem Erwachen...“ Ein Interview mit Eckhart Tolle Von Oliver Klatt Manchmal erhalten wir Impulse von außen, um zu erkennen, welche Verände- rungen für uns anstehen. Manchmal kommen Impulse auch direkt von innen, um uns zu zeigen, in welche Richtung es weiter geht. Sind wir offen für lebendige Impulse jeglicher Art, dann sind wir in Kontakt mit unserem Sein - und ganz im gegenwärtigen Moment. D er gegenwärtige Moment ist das Leben. Jetzt ist das Leben. Wenn wir ja zum Moment sagen, ja sagen zu dem, was jetzt ist, dann sagen wir ja zum Leben!“ So hatte ich das noch nie gesehen. Eine inte- ressante Verknüpfung, denke ich für mich: der augen- blickliche Moment und das Leben... Wenn wir also der fünften Lebensregel folgen, wenn wir „dankbar für alles Lebendige“ sind, dann sind wir zugleich auch dankbar für den gegenwärtigen Moment. Dankbarkeit für das Jetzt, als Basis, um darin zu verweilen... Der Mann vorne auf der Bühne ist fast am Ende seines Vortrags angelangt, oder besser: am Ende seiner Er- forschung der Momente bzw. des Momentes zwischen 14 und 16 Uhr, an einem Samstag in Berlin, vor rund tausend Menschen, die ihm dabei aufmerksam zuhö- ren - was ihnen zu helfen scheint, das Mysterium des Jetzt besser zu verstehen und zunehmend darin ver- weilen zu können. Ich befinde mich im Fontane-Haus, im Märkischen Vier- tel, im Norden Berlins. Draußen scheint die Sonne, es ist windig heute. Neben mir sitzt Heidrun, meine Frau. Sie hört dem Mann auf der Bühne ebenso aufmerksam zu wie ich. Der Mann auf der Bühne ist Eckhart Tolle. Er spricht aus seinem unmittelbaren Erleben des Jetzt heraus. Ganz wie in seinem Buch „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“, das auch auf der Bestsellerliste der New York Times zu finden war und mittlerweile in 30 Spra- chen übersetzt wurde. Die Veranstaltung ist zu Ende. Wir verlassen den Saal, gehen die Straße entlang, steigen in unser Auto und fah- ren los. Auf der Rückfahrt, während ich noch versuche, mit Hilfe der eben erhaltenen Impulsen mein Erleben des Jetzt dauerhaft zu bewahren, schweifen meine Ge- danken immer wieder ab, hin zu gestern, wo ich die Ge- legenheit hatte, Eckhart Tolle zu interviewen. Spirituelles Erwachen Oliver Klatt: Erst einmal vielen Dank, Herr Tolle, für Ihre Bereitschaft zu diesem Interview. Das Usui-System des Reiki ist eine Heilmethode, bei der durch Handauflegen universelle Lebensenergie übertragen wird. Ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt, ist die Frage, in- wieweit Heilung von Bedeutung ist für das spirituelle Erwachen. Können Sie etwas dazu sagen? Eckhart Tolle: Man könnte sagen: Das spirituelle Erwa- chen ist die Quintessenz von Heilung überhaupt, es ist die große Heilung. Ein anderes Wort für spirituelles Er- wachen ist Heilung. Ohne das spirituelle Erwachen ist der Mensch immer noch ungeheilt, auf irgendeiner Ebe- ne - die große Heilung kommt erst mit dem Erwachen. Die Heilung von physischen Symptomen ist natürlich 1/08 5 19.11.2007 12:09 Uhr Seite 16

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Interview

„Die große Heilung kommterst mit dem Erwachen...“

Ein Interview mit Eckhart Tolle

Von Oliver Klatt

Manchmal erhalten wir Impulse von außen, um zu erkennen, welche Verände-

rungen für uns anstehen. Manchmal kommen Impulse auch direkt von innen, um

uns zu zeigen, in welche Richtung es weiter geht. Sind wir offen für lebendige

Impulse jeglicher Art, dann sind wir in Kontakt mit unserem Sein - und ganz im

gegenwärtigen Moment.

„Der gegenwärtige Moment ist das Leben. Jetzt istdas Leben. Wenn wir ja zum Moment sagen, ja

sagen zu dem, was jetzt ist, dann sagen wir ja zumLeben!“ So hatte ich das noch nie gesehen. Eine inte-ressante Verknüpfung, denke ich für mich: der augen-blickliche Moment und das Leben... Wenn wir also derfünften Lebensregel folgen, wenn wir „dankbar für allesLebendige“ sind, dann sind wir zugleich auch dankbarfür den gegenwärtigen Moment. Dankbarkeit für dasJetzt, als Basis, um darin zu verweilen...

Der Mann vorne auf der Bühne ist fast am Ende seinesVortrags angelangt, oder besser: am Ende seiner Er-forschung der Momente bzw. des Momentes zwischen14 und 16 Uhr, an einem Samstag in Berlin, vor rundtausend Menschen, die ihm dabei aufmerksam zuhö-ren - was ihnen zu helfen scheint, das Mysterium desJetzt besser zu verstehen und zunehmend darin ver-weilen zu können.

Ich befinde mich im Fontane-Haus, im Märkischen Vier-tel, im Norden Berlins. Draußen scheint die Sonne, es istwindig heute. Neben mir sitzt Heidrun, meine Frau. Siehört dem Mann auf der Bühne ebenso aufmerksam zuwie ich. Der Mann auf der Bühne ist Eckhart Tolle. Erspricht aus seinem unmittelbaren Erleben des Jetztheraus. Ganz wie in seinem Buch „Jetzt! Die Kraft derGegenwart“, das auch auf der Bestsellerliste der New

York Times zu finden war und mittlerweile in 30 Spra-chen übersetzt wurde.

Die Veranstaltung ist zu Ende. Wir verlassen den Saal,gehen die Straße entlang, steigen in unser Auto und fah-ren los. Auf der Rückfahrt, während ich noch versuche,mit Hilfe der eben erhaltenen Impulsen mein Erlebendes Jetzt dauerhaft zu bewahren, schweifen meine Ge-danken immer wieder ab, hin zu gestern, wo ich die Ge-legenheit hatte, Eckhart Tolle zu interviewen.

Spirituelles Erwachen

Oliver Klatt: Erst einmal vielen Dank, Herr Tolle, für IhreBereitschaft zu diesem Interview. Das Usui-System desReiki ist eine Heilmethode, bei der durch Handauflegenuniverselle Lebensenergie übertragen wird. Ein Thema,das mich immer wieder beschäftigt, ist die Frage, in-wieweit Heilung von Bedeutung ist für das spirituelleErwachen. Können Sie etwas dazu sagen?

Eckhart Tolle: Man könnte sagen: Das spirituelle Erwa-chen ist die Quintessenz von Heilung überhaupt, es istdie große Heilung. Ein anderes Wort für spirituelles Er-wachen ist Heilung. Ohne das spirituelle Erwachen istder Mensch immer noch ungeheilt, auf irgendeiner Ebe-ne - die große Heilung kommt erst mit dem Erwachen. Die Heilung von physischen Symptomen ist natürlich

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wunderbar. Sie hat ihren Platz in dieser Welt und istauch wichtig. Aber Menschen, bei denen nur physischeSymptome oder Krankheiten geheilt werden, bleibenauf einer anderen Ebene noch ungeheilt. Für diese Men-schen ist es wichtig zu erkennen, dass durch die Hei-lung eine Dimension jenseits der physischen Dimen-sion in ihr Leben getreten ist. Dies können sie zum Aus-gangspunkt dafür nehmen, sich zu öffnen für das spiri-tuelle Erwachen, so dass sie nicht wieder zurückfallen.Denn das ist oft das Problem bei der Heilung von phy-sischen Symptomen: dass der Mensch zurückfällt in ei-ne geistige Verfassung, wie sie vor der Heilung bestand,die dann wieder die gleichen Krankheiten erzeugt wievorher, weil im Bewusstsein immer noch die alten Ge-dankenmuster tätig sind.

Wunderbare Leichtigkeit

Vor vielen Jahren, als ich anfing, mit Menschen zusam-men zu sitzen und Fragen zu beantworten, da saß mireinmal eine ältere Dame gegenüber, die einige psycho-logische Probleme hatte. Sie war Schwester in einemkatholischen Orden gewesen, war dann aber ausgetre-ten, weil sie dort nicht zu Gott hatte finden können. Ichsprach mit ihr und fühlte plötzlich, wie ich eintrat in ei-nen Zustand wunderbarer Leichtigkeit und tiefen Frie-dens, während sie mir ihre Probleme erzählte. Ich saßda, in diesem Zustand tiefen inneren Friedens und derFreude, und schaute sie nur an. Plötzlich hörte sie aufmit der Schilderung ihrer Probleme und sagte zu mir:„Sie heilen jetzt gerade, sie heilen mich!“ Und das wardas erste Mal, dass ich das Wort Heilen verband mit derBewusstseinsveränderung. Da ich zu diesem Zeitpunktnoch nicht viel verstand von dem, was mit mir gesche-hen war, von der inneren Verwandlung, dachte ich: ‚Ah...ich bin Heiler.’ Und dann kamen einige Jahre lang Leu-te zu mir, und ich war „Spiritual Healer“. Viele kamen,um physisch geheilt zu werden. Einige von ihnen wur-den geheilt. Nach zwei, drei Jahren kamen immer mehrMenschen, die eigentlich nur ihre physischen Sympto-me loswerden wollten. Da fand ich es nicht mehr so zu-frieden stellend, nur auf physischer Ebene zu heilen.Von da an habe ich das Wort Heiler nicht mehr ge-braucht. Obwohl ich weiß, dass alles, was ich tue, imweitesten Sinne, Heilen ist. Es ist das Heilen des Men-schen überhaupt.

Oliver Klatt: Kann man sagen, dass ein gewisses Maß anHeilung die Voraussetzung für spirituelles Erwachenist? Oder ist es eher so, dass Heilung ein „Nebenpro-dukt“ von spirituellem Erwachen ist?

Eckhart Tolle: Heilung kann von innen kommen, und siekann von außen kommen - und wird dann im Innen et-was aktivieren, im Menschen. In manchen Fällen kommtdie Heilung allein von innen, ohne dass ein andererMensch daran beteiligt ist. Ich hatte nie einen geistigen

Lehrer bzw. einen Heiler. Bei mir kam der Heilungspro-zess ganz spontan. In meinem Fall kann ich es nicht ein-mal einen Heilungsprozess nennen, weil alles so schnellgeschah. Aber bei den meisten Menschen ist das Er-wachen ein Heilungsprozess. In manchen Fällen ist derAnlass eine von außen kommende Heilung, vielleicht so-gar durch einen Arzt, was heutzutage recht selten ist,weil viele Ärzte regelrecht besessen sind von gedankli-chen Inhalten, wodurch das Räumliche meist zu kurzkommt. Aber wahrscheinlich gibt es immer noch Aus-nahmen. Die Heilung kann in einer therapeutischen Si-tuation eintreten, manchmal auch ohne dass der The-rapeut weiß, dass plötzlich diese heilende Dimension daist und aktiv wird. Ich glaube sogar, dass das oft ge-schieht, oder sagen wir: Es kann geschehen. Und für ei-nige Menschen ist dies der Ausgangspunkt, die Erfah-rung von Heilung in einer therapeutischen Situation. Da-nach kann man entweder wieder zurückfallen, sagenwir in das normale Stadium des Bewusstseins. Oderman kann sich von dort ausgehend öffnen.

Der innere Raum

Ich denke, es ist wichtig, dass der Heiler dem Menschenhilft, nicht bloß frei zu werden von physischen Proble-men, sondern zugleich auch frei von der Anhaftung anGedanken. Denn ein wichtiger Prozess des Erwachensist es, frei zu werden von der vollkommenen Identifika-tion mit dem Fluss der Gedanken, so dass der innereRaum sich öffnen kann, dem jedes Heilen entstammt:die Stille, die Weite, das räumliche Bewusstsein, ausdem die heilende Kraft kommt. Wer noch nicht in diesesräumliche Bewusstsein gefunden hat, bei wem dasräumliche Bewusstsein vollkommen überdeckt ist vomFluss der Gedanken, der wird wieder zurückfallen in �

Foto

: Kim

Eng

Eckhart Tolle

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alte gedankliche Muster und in Fehlverhalten, das dannwieder die gleichen Symptome produziert wie vorher.Deshalb ist es wichtig, dass der Heiler auch die Dimen-sion des Gedanklichen anspricht. Und es ist natürlichwichtig, die Stille zu erfahren: die Stille der Heilsituation.Die Stille kommt zunächst in dem Heiler. Der Heiler, dernicht die Stille findet, kann kein wirklicher Heiler sein.Der Heiler muss in sich die Stille finden, die jenseits derGedanken liegt. Das ist dann manchmal schon dieganze Heilung. Jeder, der in das Feld der Stille eintritt,sofern er nicht vollkommen blockiert ist, wird diese Di-mension, dieselbe Dimension, in dem anderen Men-schen aktivieren - und dann geschieht der Heilungspro-zess.

Oliver Klatt: Im Usui-System des Reiki haben wir eineReihe von Lebensregeln, mit denen wir arbeiten. Darinheißt es z. B.: Ärgere dich nicht, sorge dich nicht, seidankbar - dies sind Bereiche, zu denen ich Sie auch be-fragen möchte. Zunächst: Wie kann es gelingen, Ärgerund Sorge weitestgehend zu vermeiden?

Eckhart Tolle: Ärger und Sorge sind ja eigentlich ge-wisse Gedanken, die durch den Kopf gehen. Und die Re-aktion des Körpers auf diese Gedanken, das ist dann dieEmotion. So haben Ärger und Sorge zwei Aspekte: dengedanklichen Aspekt und den emotionalen Aspekt. Är-ger fängt damit an, dass man eine Situation gedanklichnegativ beurteilt. Dabei ist man so identifiziert mit dergedanklichen Beurteilung der Situation, dass der Kör-per mit einer Emotion reagiert. Und diese Emotion gibtdem negativen Ursprungsgedanken dann noch mehrEnergie, und der Gedanke wird erweitert, führt zu einemzweiten, dritten, vierten Gedanken. Der Mensch hat denersten Moment verpasst, um zu sehen. Das, was er Är-ger nennt, war eine gedankliche Benennung einerSituation, die, so wie jede Situation, einfach so ist, wiesie ist: an sich neutral. Ärger ist das, was man dazu tut.Ärger ist das Fehlverhalten. Man muss Ärger und Sorgeerkennen als das, was sie sind: Gedankenformen. Wennich immer so identifiziert bin mit meinen Gedanken,dass überhaupt kein Raum da ist, jenseits der Gedan-ken, dann kann ich mich noch so sehr bemühen, michnicht zu ärgern, es wird mir nicht gelingen. Wenn ichnicht erkannt habe, dass Ärger dann entsteht, wenn einGedanke in meinen Kopf kommt und ich vollkommen andiesen Gedanken glaube... da ist dann kein Abstandmehr zwischen mir und dem Gedanken, ich bin so iden-tifiziert, dass ich hundertprozentig glaube, was der Ge-danke sagt: „Das ist ja eine furchtbare Situation!“ So zudenken, ist schon der erste Fehler. Es ist keine furcht-bare Situation. Es ist, wie es ist. Das Furchtbare ist derGedanke. Und das ist Ärger. Man muss also das grund-legende Fehlverhalten erkennen, denn sonst kann mansich bemühen, so viel man will. Vielleicht denkt man: Ichdarf mich nicht ärgern, es ist schlecht für meine Ge-sundheit. Aber solange man nicht erkannt hat, in sich

selbst, wie überhaupt der Ärger entsteht, kann man niefrei davon werden, so sehr man sich auch bemüht, denndas Bemühen selbst wird wieder ein Problem erzeu-gen. Eine andere Ebene von Problemen. Und das glei-che trifft auch für Sorgen zu. Sich Sorgen zu machen istja ein Stück weit normal, aber es ist zugleich auch einFehlverhalten. Sich Sorgen zu machen heißt ebenso, je-dem Gedanken vollkommen Glauben zu schenken. Manmacht sich z. B. Sorgen, wenn man im Bett liegt, es ist3 Uhr morgens, ich wache auf und mache mir solcheSorgen... Aber was bedeutet das überhaupt: Ich machemir Sorgen? Es bedeutet: Ein Gedanke nach dem an-deren geht durch meinen Kopf, der nichts mit dem jet-zigen Moment, welcher die einzige Wirklichkeit ist, zutun hat. Wenn ich aber erkenne, dass der ständige Ge-dankenfluss durch meinen Kopf überhaupt nichts zutun hat mit dem Moment, in dem ich mich befinde, wennich das plötzlich erkenne, dann ist das ein Moment derFreiheit. Dann glaube ich nicht mehr hundertprozentigan das, was jeder Gedanke sagt, sondern ich kann denGedanken als Gedanken erkennen. Es ist nur ein Ge-danke, nicht die Wahrheit. Und dann erkenne ich, dassdie Sorge zum größten Teil eine Illusion ist. Solangeman diesen Prozess in sich nicht erkannt hat, kann mannoch so sehr versuchen, sich nicht zu sorgen, es wird ei-nem nicht gelingen.

Dankbarkeit

Oliver Klatt: Ein anderes zentrales Thema in den Reiki-Lebensregeln ist Dankbarkeit. Können sie etwas sagenzu der Bedeutung von Dankbarkeit für das spirituelle Er-wachen?

Eckhart Tolle: Ja, Dankbarkeit ist ungeheuer wichtig.Dankbarkeit bedeutet natürlich, dass ich mich innerlichdem öffne, was ist. Dem, was im gegenwärtigen Mo-ment ist. Wirkliche Dankbarkeit ist Dankbarkeit für das,was jetzt ist. Das ist der Ausgangspunkt für alles. Dasinnere Ja-sagen zum jetzigen Moment und ein freudigesAnnehmen dessen, was ist. Nur das kann die Basis sein,wenn man sein Leben verändern will. Es gibt ja Leute,die unzufrieden sind mit ihrer Lebenssituation, und dasmag seine Gründe haben. Vielleicht leben sie an einemOrt, der unsicher ist oder unangenehm, vielleicht ist esdort zu kalt, zu heiß, oder sie haben andere Lebenssi-tuationen, die Unzufriedenheit bringen. Es ist sehr ge-fährlich, wenn diese Menschen anfangen zu versuchen,ihr Leben zu verändern, und sie dabei ausgehen von ih-rer Unzufriedenheit mit dem, was ist. Was sie auch ma-chen, selbst wenn sie äußerlich Erfolg haben: die Un-zufriedenheit wird sie weiter begleiten. Wichtig ist, sichzunächst mit dem jetzigen Moment anzufreunden, auchwenn dieser Elemente enthält, die man lieber nicht er-fahren würde. Denn man kann nicht verleugnen, dassder Moment immer so ist, wie er ist. Man freundet sichalso am besten einfach mit dem So-sein an. Mit dem So-

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sein der Dinge. Das So-sein betrifft immer nur den jet-zigen Moment. Es betrifft nicht meine Lebenssituation,die ja eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, sondernnur den jetzigen Moment. Vielleicht ist es so: Ich habekein Geld, essen zu kaufen. Ich habe nur noch 50 Centin der Tasche. Das ist das So-sein. Ich sitze hier auf ei-ner Bank, und ich weiß nicht, wo ich heute Nacht schla-fen werde. Das ist das, was man normalerweise eine„nicht zufrieden stellende Situation“ nennen würde.Jetzt ist es aber wichtig, sich anzufreunden mit dem,was ist. Das bedeutet nicht zu sagen: Okay, ich muss ak-zeptieren, dass ich obdachlos bin, ich muss akzeptie-ren, dass ich arm bin, ich muss akzeptieren, dass ich kei-ne Chance mehr habe, dass ich alles vertan habe, alleChancen in meinem Leben... all das sind gedanklicheIllusionen. Man darf das Akzeptieren des So-Seins nichtverwechseln mit gedanklichen Illusionen. Es geht le-diglich um die einfache Realität des jetzigen Momentes,nicht um dessen gedankliche Beurteilung. Dieser Mo-ment ist, wie er ist. Hier ist die Bank. Ich sitze auf derBank, ich atme, ich schaue, ich höre, fühle die Energiein meinem inneren Körper, und ich fasse mit der Handin die Tasche und habe noch 50 Cent - das ist der jetzi-ge Moment, und der ist, wie er ist. Wenn ich jetzt voll-kommen ja sage, dann gibt es viele Gründe dafür, dank-bar zu sein. Ich kann dankbar dafür sein, dass der Atemfließt. Ich kann dankbar für die Energie sein, die ich inmeinem Körper spüre, für die Lebendigkeit im Körper.Ich kann dankbar sein für das Rascheln der Blätter amBaum, das leichte Säuseln, das ich höre, für den Wind.Ich kann dankbar sein für die Sonne, die Wolken und fürdas Wunderbare des jetzigen Momentes. Das benötigtkeine gedankliche Beurteilung. Es geht nur darum, dieLebendigkeit dieses Momentes zu sehen, zu fühlen,äußerlich und innerlich, und dann kommt die Dankbar-keit wie von selbst.

Einheit allen Seins

Dankbarkeit sollte man nicht fabrizieren wie ein Ge-dankengebäude und z. B. sagen: „Oh, ich müsste ei-gentlich dankbar sein, es gibt so viele Leute, die vielschlechter dran sind als ich.“ Dann würde ich versu-chen, die Dankbarkeit über einen Umweg zu erreichen,über die Gedanken. Das ist aber nicht das Wirkliche. Es

ist doch eigentlich schade, wenn ich nur dankbar seinkann, wenn ich daran denke, dass es anderen nochschlechter geht als mir. Das ist nicht die wirkliche Basisfür Dankbarkeit. So geht es also nicht. Der einzige Wegist, sich der Lebendigkeit des jetzigen Momentes zu öff-nen. Dann sieht man plötzlich, wie wunderbar es ist,wenn man den jetzigen Moment nicht beschwert durchGedankengebäude. Man erfährt die Lebendigkeit desjetzigen Momentes, und dann ist die Dankbarkeit da.Das ist ein vollkommenes Sich-öffnen, auch für die Ener-gie, die hinter den Dingen liegt. Wenn ich den Baum se-he, vollkommen ohne gedankliche Beurteilung, dannspüre ich auch die Energie, die dahinter liegt - weil ichsie in mir spüre. Es ist die gleiche Energie, im Baum, indem Vogel, im Wind... Ich spüre dann auch die Einheitallen Seins, ohne es mir gedanklich erklären zu müssen.Wenn ich mich dem jetzigen Moment hingebe, dann er-fahre ich sofort, dass ich eins bin mit allem, ohne esüberhaupt sagen zu müssen. Und das ist Dankbarkeit.Auf dieser Basis kann ich dann Dinge unternehmen, umirgendetwas zu tun, meine Situation zu verändern, unddann fließt eine vollkommen andere Energie in das, wasich tue. Ich würde sagen, es ist dann nicht mehr die kar-mische Energie, die Gegensatz, Spannung erzeugt. Esist nicht mehr die Energie, die aus der Negativität her-aus kommt, sondern sie kommt dann aus dem Seinselbst. Und so wird alles viel erfolgreicher, was ich un-ternehme. Das ganze Leben wird viel leichter, dieSchwere geht dann weg.

Die geistige Quelle

Oliver Klatt: Vielen Dank für diese erweiternde Sichtzum Thema Dankbarkeit. Ich möchte noch zu einemThema kommen, das Sie eben bereits angesprochenhaben: die Lebensenergie. Im Usui-System des Reiki ar-beiten wir mit einer universell ausgerichteten Form derLebensenergie Ki. In Ihrem Buch „Jetzt! Die Kraft derGegenwart“ benennen sie an einer Stelle die Lebens-energie Ki als „inneres Energiefeld des Körpers“, als die„Brücke zwischen dem äußeren Du und der Quelle“ so-wie als „Verbindung zwischen dem Unmanifesten unddem physischen Universum“. Können Sie mehr dazusagen, welche Rolle die Lebensenergie für das spiritu-elle Erwachen spielen kann? �

Eckhart Tolle wurde in Deutschland geboren und verbrachte hier die ersten 13 Jahre seines Lebens. Nachdem Studienabschluss an der University of London war er in Forschung und Supervision an der CambridgeUniversity tätig. Im Alter von 29 Jahren erlebte er nach eigenen Angaben ein plötzliches und radikalesspirituelles Erwachen. Die Jahre danach verbrachte er damit, diese Erfahrung zu vertiefen und zu integrie-ren. Seit mehr als 15 Jahren unterrichtet er nun als geistiger Lehrer in Nord- und Südamerika sowie inEuropa. In seinem weltbekannten Buch „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ beschreibt er die von ihm erlebte,von traditionellen Mystikern als „Erleuchtung“ bezeichnete Loslösung aus der Identifikation mit seiner Per-sönlichkeit.

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Eckhart Tolle: Das Ki wird aktiviert, wenn man sich derinneren Stille öffnet. Die innere Stille ist ein anderesWort für das Unmanifeste. Die innere Stille ist das Nicht-Gewordene - ich glaube, das ist ein buddhistischer Aus-druck -, das „Nicht-Geborene“, das formlose Sein. Dasformlose Sein ist der Ausgangspunkt. Es ist wichtig fürden Menschen, diese Dimension in sich zu finden, die injedem Menschen schon vorhanden ist, als die Lebens-essenz selbst. Wenn ein Mensch das findet und derFluss der Lebensenergie nach außen geht, stärker wird,sich aktiviert... dann kann der Mensch eine heilendeFunktion haben, selbst wenn er überhaupt nicht darandenkt. Jemand, der diese Dimension in sich aktivierthat, jemand, in dem sie sich aktiviert hat, muss eine hei-lende Funktion haben. Das Ki fließt dann in alle mögli-chen Dinge. Das kann vollkommen formlos sein. Wennich in einem Raum sitze, mit einem anderen Menschenoder mit mehreren anderen Menschen, dann kann dasschon eine Übertragung von Lebensenergie sein. Oderdie Energie überträgt sich mit einem Blick, fließt hinü-ber zu einem Menschen, wenn ich ihn anschaue. Natür-lich auch, wenn ich einen Menschen anfasse. Und dieEnergie kann fließen, wie ich es oft erfahre, in Worten...Wenn ich spreche, kommt das, was ich sage, direkt ausdem Sein, nimmt dann Form an, wird erst die Lebens-energie, und dann zu einer gedanklichen Form. Die ge-dankliche Form, die direkt aus der Quelle kommt, trägtnoch die Energie der Quelle in sich, die „Quellenener-gie“... und kann dadurch eine sehr starke, transformati-ve Kraft haben. Das ist die Kraft einer geistigen Lehre,die wirklich direkt aus der geistigen Quelle kommt. Dagibt es dann jenseits der Informationen, die die Wortevermitteln, immer noch eine andere Dimension, die

noch wichtiger ist, die Tiefendimension, die Energiedi-mension, die die Worte trägt. Und darüber hinaus gibtes noch etwas, was ich überhaupt nicht verstehe, aberwas der Fall ist: Selbst wenn jemand etwas schreibt,das direkt aus der Quelle kommt, dann ist die Energieimmer noch in dem Geschriebenen. Und sobald einMensch es liest - er braucht nur eine gewisse Offenheitdafür zu haben -, dann ist plötzlich die Energie wiederda. Das ist die Kraft einer geistigen Lehre, auch wennsie auf Papier geschrieben ist. Wenn sie wirklich aus derQuelle kommt, ist selbst in dem geschriebenen Wortnoch die Kraft enthalten. Wer das erkannt hat, wer daserfühlt hat, der kann sehr leicht in einen Buchladen ge-hen, ein Buch aufschlagen, ein paar Zeilen lesen und so-fort spüren, ob die Kraft da ist oder nicht. Es gibt ja heut-zutage sehr viele Bücher im spirituellen Bereich, diedurch Gedanken geschrieben sind, d. h. sie kommennicht direkt aus der Quelle. Diese Bücher kann man sovon den anderen unterscheiden, und dann braucht mannicht mehr so viele Bücher zu kaufen... (Lachen)

Oliver Klatt: (Lachen) Ja, ich verstehe, was Sie meinen.Und auch so gibt es sicher noch ausreichend Bücher,sodass man sein Leben lang genug zu lesen hat...

Eckhart Tolle: Ja, es ist wunderbar, wo die Wahrheitheutzutage überall zu finden ist... das gab es frühernicht so. Da musste man 30 Jahre im Kloster verbrin-gen, und dann hatte man immer noch nur einen kleinenTeil dessen, was man heute überall hat.

Oliver Klatt: Herr Tolle, vielen Dank für das Interview. �

Buchtipps:• „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“, Eckhart Tolle, J. Kamphausen Verlag• „Eine neue Erde“, Eckhart Tolle, Goldmann Verlag

Website:www.EckhartTolle.de

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