Jean-Paul Robert La Cité Manifeste · 2018. 10. 18. · 3 Lacaton&Vassal, Paris 4 Shigeru Ban,...

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10 | Bauwelt 9 2005 In Mülhausen entstand ab 1853 die erste Arbeitersiedlung Frankreichs. Ursprünglich waren auf dem Areal nordwestlich des Stadtzentrums Ein- zelbauten geplant, der „Carré Mul- housien“ mit vier Wohneinheiten à 47 m 2 unter einem Dach. Wenig später wurden auch Reihenhäuser errichtet, die im orthogonalen Ras- ter an teilweise nur 3,50 m schma- len Gassen stehen. Auf dem Luft- foto oben rechts sind die Fabrikhal- len Schottlé zu sehen, die für das Wohnquartier abgerissen wurden. Fotos: Somco, Mülhausen Zu diesem Heft Es hat sicherlich seinen besonderen Reiz, die Cité Manifeste von Mülhausen, die bedeu- tendste Arbeitersiedlung des frühen 19. Jahrhun- derts außerhalb Englands, mit Neubauten zu ergän- zen. Dies hatte sich Pierre Zemp, der Direktor der noch heute existierenden Société mulhousienne des cités ouvrières (Somco), zu deren 150. Jahrestag als Ziel gesetzt. Mit großem Elan gedachte er, die da- maligen Konzepte zum einfachen Wohnbau fortzu- schreiben und wählte fünf Architektenteams aus, die für 61 Wohneinheiten innovative Entwürfe ent- wickeln sollten. Das Resultat weckt große Neugier, doch bei näherer Betrachtung wirken die unter- schiedlichen Bauten gezwungen heterogen. Die an- gebotene Vielfalt scheint sich zu sehr am Bild der heutigen Cité Manifeste zu orientieren – doch dort war Vielfalt typologisch nicht geplant gewesen, viel- mehr hat sich diese über Jahrzehnte hinweg mit diversen Umbauten und Ergänzungen durch die Be- wohner, die heute meist Eigentümer sind, ergeben. Die Neubauten bergen zum Teil eine beachtliche Flexibilität der Nutzungen. Zur Wohnqualität der verschiedenen Hauskonzepte lässt sich aber erst viel später, wenn das Quartier vielleicht mit der Cité Manifeste zu einem Ganzen zusammen gewachsen sein wird, und nach einer Befragung der Bewohner, ein Urteil bilden. Zunächst ist es wichtig, das Enga- gement von Pierre Zemp hervorzuheben. Er hat sich neuen, mit Risiken behafteten Ideen geöffnet, die politisches Geschick und vor allem komplizierte Pla- nungsschritte erforderten. In Weimar wurde Mitte der neunziger Jahre die Idee geboren, auf einem ehemaligen Kasernengelände am Horn eine Wohnsiedlung in der Sprache der Mo- derne zu errichten. Anknüpfend an ein nicht reali- siertes Projekt von Walter Gropius für das Areal von 1922 und an das Musterhaus am Horn von Georg Muche von 1923, entwarf der Wiener Adolf Krischa- nitz ein festes Bebauungsgerüst, an dem sich alle Architekten zu orientieren hatten. Neben einigen streng dem „Dogma“ folgenden Beispielen sind auch Investoren auf den Plan getreten, deren Mietobjek- te nicht überzeugen können. Das Neue Bauen am Horn ist vor allem zu einem Quartier für Architek- ten und Lehrende der Bauhaus-Universität gewor- den. Sie bleiben unter sich. Das Konzept verlangt so oder so ein sehr tolerantes Miteinander der Be- wohner – viel Platz ist nicht. SR Mit der Cité Ouvrière de Mulhouse, der Ar- beitersiedlung von Mülhausen, nimmt die Ge- schichte des französischen Sozialen Woh- nungsbaus ihren Anfang, eine Geschichte, die es verdient, erzählt zu werden. Sie beginnt im 18. Jahrhundert mit einem Erlass des Königs, der die Einfuhr der kostbaren, bei den Damen äußerst begehrten Kaschmirstoffe aus Indien untersagt, da der weibliche Hang zum Luxus die Handelsbilanz des Königreiches empfind- lich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Mit der Herstellung bedruckter Stoffe, preiswer- ter Kopien komplizierter Mustern indischer Vor- bilder, begründete das Städtchen Mülhausen seinen rasch wachsenden Wohlstand. In knapp einem halben Jahrhundert entstehen parallel die Industriezweige Textilverarbeitung, Chemie und Maschinenbau, Voraussetzung für die Herstellung der „Indiennes“, der indi- schen Tuche. Im „Manchester Frankreichs“ bilden sich aus den wenigen protestantischen, für diesen Aufschwung verantwortlichen Bür- gerfamilien veritable Dynastien heraus. 1825 gründen sie gemeinsam die Société industri- elle de Mulhouse (Sim). Dort treffen sich die meist freimaurerischen Magnaten, die faszi- niert die ersten Erfahrungen der Engländer mit Arbeitersiedlungen verfolgen. Damals war das Los der Arbeiter von Mülhau- sen keineswegs beneidenswert. Sie hausten entweder in den Dörfern der Umgebung – was bedeutete, dass zu den täglich durchschnitt- lich 16 Arbeitsstunden noch die Wegezeiten hin- zukamen, oder in der Stadt, wo für einfache Bauwelt 9 2005 | 11 Jean-Paul Robert La Cité Manifeste Ein neues Quartier im alten Arbeiterviertel

Transcript of Jean-Paul Robert La Cité Manifeste · 2018. 10. 18. · 3 Lacaton&Vassal, Paris 4 Shigeru Ban,...

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    In Mülhausen entstand ab 1853 dieerste Arbeitersiedlung Frankreichs.Ursprünglich waren auf dem Arealnordwestlich des Stadtzentrums Ein-zelbauten geplant, der „Carré Mul-housien“ mit vier Wohneinheiten à 47 m2 unter einem Dach. Wenigspäter wurden auch Reihenhäuser

    errichtet, die im orthogonalen Ras-ter an teilweise nur 3,50 m schma-len Gassen stehen. Auf dem Luft-foto oben rechts sind die Fabrikhal-len Schottlé zu sehen, die für dasWohnquartier abgerissen wurden.

    Fotos: Somco, Mülhausen

    Zu diesem Heft Es hat sicherlich seinen besonderen

    Reiz, die Cité Manifeste von Mülhausen, die bedeu-

    tendste Arbeitersiedlung des frühen 19. Jahrhun-

    derts außerhalb Englands, mit Neubauten zu ergän-

    zen. Dies hatte sich Pierre Zemp, der Direktor der

    noch heute existierenden Société mulhousienne des

    cités ouvrières (Somco), zu deren 150. Jahrestag als

    Ziel gesetzt. Mit großem Elan gedachte er, die da-

    maligen Konzepte zum einfachen Wohnbau fortzu-

    schreiben und wählte fünf Architektenteams aus,

    die für 61 Wohneinheiten innovative Entwürfe ent-

    wickeln sollten. Das Resultat weckt große Neugier,

    doch bei näherer Betrachtung wirken die unter-

    schiedlichen Bauten gezwungen heterogen. Die an-

    gebotene Vielfalt scheint sich zu sehr am Bild der

    heutigen Cité Manifeste zu orientieren – doch dort

    war Vielfalt typologisch nicht geplant gewesen, viel-

    mehr hat sich diese über Jahrzehnte hinweg mit

    diversen Umbauten und Ergänzungen durch die Be-

    wohner, die heute meist Eigentümer sind, ergeben.

    Die Neubauten bergen zum Teil eine beachtliche

    Flexibilität der Nutzungen. Zur Wohnqualität der

    verschiedenen Hauskonzepte lässt sich aber erst

    viel später, wenn das Quartier vielleicht mit der Cité

    Manifeste zu einem Ganzen zusammen gewachsen

    sein wird, und nach einer Befragung der Bewohner,

    ein Urteil bilden. Zunächst ist es wichtig, das Enga-

    gement von Pierre Zemp hervorzuheben. Er hat sich

    neuen, mit Risiken behafteten Ideen geöffnet, die

    politisches Geschick und vor allem komplizierte Pla-

    nungsschritte erforderten.

    In Weimar wurde Mitte der neunziger Jahre die Idee

    geboren, auf einem ehemaligen Kasernengelände

    am Horn eine Wohnsiedlung in der Sprache der Mo-

    derne zu errichten. Anknüpfend an ein nicht reali-

    siertes Projekt von Walter Gropius für das Areal von

    1922 und an das Musterhaus am Horn von Georg

    Muche von 1923, entwarf der Wiener Adolf Krischa-

    nitz ein festes Bebauungsgerüst, an dem sich alle

    Architekten zu orientieren hatten. Neben einigen

    streng dem „Dogma“ folgenden Beispielen sind auch

    Investoren auf den Plan getreten, deren Mietobjek-

    te nicht überzeugen können. Das Neue Bauen am

    Horn ist vor allem zu einem Quartier für Architek-

    ten und Lehrende der Bauhaus-Universität gewor-

    den. Sie bleiben unter sich. Das Konzept verlangt

    so oder so ein sehr tolerantes Miteinander der Be-

    wohner – viel Platz ist nicht. SR

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 11:59 Uhr Seite 10

    Mit der Cité Ouvrière de Mulhouse, der Ar-beitersiedlung von Mülhausen, nimmt die Ge-schichte des französischen Sozialen Woh-nungsbaus ihren Anfang, eine Geschichte, diees verdient, erzählt zu werden. Sie beginnt im18. Jahrhundert mit einem Erlass des Königs,der die Einfuhr der kostbaren, bei den Damenäußerst begehrten Kaschmirstoffe aus Indienuntersagt, da der weibliche Hang zum Luxusdie Handelsbilanz des Königreiches empfind-lich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Mitder Herstellung bedruckter Stoffe, preiswer-ter Kopien komplizierter Mustern indischer Vor-bilder, begründete das Städtchen Mülhausenseinen rasch wachsenden Wohlstand.In knapp einem halben Jahrhundert entstehenparallel die Industriezweige Textilverarbeitung,

    Chemie und Maschinenbau, Voraussetzungfür die Herstellung der „Indiennes“, der indi-schen Tuche. Im „Manchester Frankreichs“bilden sich aus den wenigen protestantischen,für diesen Aufschwung verantwortlichen Bür-gerfamilien veritable Dynastien heraus. 1825gründen sie gemeinsam die Société industri-elle de Mulhouse (Sim). Dort treffen sich diemeist freimaurerischen Magnaten, die faszi-niert die ersten Erfahrungen der Engländermit Arbeitersiedlungen verfolgen. Damals war das Los der Arbeiter von Mülhau-sen keineswegs beneidenswert. Sie haustenentweder in den Dörfern der Umgebung – wasbedeutete, dass zu den täglich durchschnitt-lich 16 Arbeitsstunden noch die Wegezeiten hin-zukamen, oder in der Stadt, wo für einfache

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    Jean-Paul Robert

    La Cité ManifesteEin neues Quartier im alten Arbeiterviertel

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:00 Uhr Seite 11

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    Die Einzelhäuser der dicht bebautenCité Manifeste gingen sukzessiv inden Eigentum der Bewohner überund wurden individuell umgestaltet.Die Gebäude mit ihren kleinen Vor-gärten dokumentieren die Vielfaltund Lebendigkeit des Quartiers.

    Im Hintergrund sind die Neubautenvon Lacaton & Vassal, Duncan Lewisund Jean Nouvel zu sehen.

    Lageplan im Maßstab 1 : 2500 Fotos: Frédéric Lefever, Rouvroy; gro-ßes Foto: Philippe Ruault, Nantes

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    1 Mattieu Poitevin, Marseille2 Duncan Lewis, Angers; Block, Nantes3 Lacaton & Vassal, Paris4 Shigeru Ban, Tokio; Jean de Gastines, Paris5 Jean Nouvel, Paris6 Technische Oberschule7 Rue Lavoisier8 Quai du Forst9 Geplante Platzanlage

    Schlafplätze Wucherpreise verlangt wurden.Zwischen 1800 und 1850 war die Stadt von etwa5000 auf 30.000 Bewohner angewachsen. Umdas Problem der Unterkünfte zu lösen, experi-mentierte die Sim mit mehreren kostengünsti-gen Wohnungstypen, wobei dem Einfamilien-Modell der Vorzug gegeben wurde, auf dassder Proletarier seine häuslichen Tugenden alstreu sorgender Familienvater entwickele. Die-se Bemühungen korrespondierten mit den Ab-sichten des zukünftigen Napoléon III., der un-ter Verwendung von Finanzmittel, die bei derKonfiszierung der Besitztümer der Familied’Orléans freigesetzt wurden, einen landeswei-ten Architekturwettbewerb zur Verbesserungder Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft aus-schrieb.

    Zu diesem Zeitpunkt betrat der IndustrielleJean Dollfus (1800–1887) aus Mülhausen dieBühne. Er hatte sich bereits an Émile Mullergewandt, einen jungen Ingenieur der dama-ligen École Centrale, der Prototypen für Arbei-terhäuser vor den Toren der Dollfus’schen Fa-brik ausführen sollte. Muller fand eine Lösung,die später wieder aufgegriffen werden sollte:ein quadratisches Gebäude, von zwei sich kreu-zenden Trennwänden in vier Wohnungen un-terteilt, mit jeweils angrenzendem Garten. Umeinen Subventionsantrag stellen zu können,beauftragte Dollfus Muller mit dem Entwurfeiner Stadt von 320 Wohneinheiten. Die Sub-ventionen wurden bewilligt. Eigens für die Um-setzung der Planungen gründete die Sim die„Mülhauser Gesellschaft für Belange der Ar-

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    beiterschaft“. Dollfus stellte nahe seiner Fa-brik einen ausgedehnten Baugrund zur Verfü-gung.In einem Vertrag zwischen der Somco (Sociétémulhousienne des Cités ouvrières) und demStaat wurden die finanziellen Seiten des Vorha-bens präzise festgeschrieben. Vorgesehen warein Mietkauf-Prinzip, mit dem Mieter langfris-tig Wohneigentum erwerben konnten. Die Miet-einnahmen deckten die Verwaltungskosten derStadt, ebenso die Kapitalzinsen für die von derSomco veranlassten Investitionen. Damit bliebdie Sache für die Gesellschaft und ihre Geldge-ber ebenso interessant wie für die Käufer. Diestaatlichen Subventionen sollten in den Aus-bau von Straßen fließen. Ein erster Teil der Cité(200 Wohnungen) wurde fertig gestellt. Anstel-

    le von Muller, der sich in Paris aufhielt, wur-den die Bauarbeiten von Architekten der Som-co geleitet, die die ursprünglichen städtebau-lichen Entwürfe abwandelten.Während des 19. Jahrhunderts hindurch wurdean der Siedlung gebaut, insgesamt entstanden1240 Gebäude für beinahe 10.000 Bewohner.Von den beiden von Muller vorgeschlagenenGrundformen – Gebäudebänder und das „Car-ré mulhousien“ – setzte sich die letztgenanntedurch. Nach Wegfall der Subventionen fiel dasStraßenraster weniger großzügig aus, vor allemnach dem Wechsel zu Deutschland im Jahre1871. Parallelstraßen und Querverbindungenwurden zunehmend schmaler. Muller hatteder Begrünung größte Aufmerksamkeit gewid-met. Aus diesem Gesamtentwurf war schließ-

    Häuserreihe Matthieu Poitevin

    Architekten:

    Matthieu Poitevin & Pascal Reynaud,

    Art’m Architecture, Marseille

    Bauherr:

    Somco, Mülhausen

    Wohneinheiten:

    11: 2 x 69 m2/2 x 94 m2/5 x 119 m2/

    2 x 137 m2

    „Indiquons le sens des choses et lais-sons faire.“ Poitevin will den Ausbauseiner Reihenhäuser „Matchbox“ soweit es geht den späteren Bewohnernüberlassen – so wie es bei der Cité Manifeste geschehen ist. Die verschie-denen Farben der simplen Trapez-blech-Fassaden und die Dachabfolgesymbolisieren diese gewünschte Viel-falt. Innen fällt die mächtige Holzbal-kendecke ins Auge. Die Baukosten la-gen bei circa 680 Euro pro m2.

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:05 Uhr Seite 14

    lich eine Gartenstadt mit hoher Lebensqualitätentstanden, deren Bewohner ein breites sozia-les Spektrum widerspiegelten: Vorarbeiter, In-genieure, Lehrer, Sozialarbeiter und Gastwirtewohnten Tür an Tür mit den Industriearbei-tern.Die soziale Ausgewogenheit blieb bis in diesiebziger Jahre des 20. Jahrhunderts bestehen,als die wirtschaftliche Lage der Stadt Mülhau-sen sich drastisch zu verschlechtern begann.Der Kalium-Abbau im Elsass hatte die Regres-sion der Industrie zwar anfangs wettgemacht,geriet aber nun seinerseits in Bedrängnis. Einzum selben Zeitpunkt gefasster Beschluss derRegierung, die Region als Standort für die Au-tomobilindustrie zu entwickeln, erwies sich alstechnokratische Kopfgeburt: Die neue Branche

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    konnte mit den bestens ausgebildeten Fachar-beitern der traditionellen Industrien nichts an-fangen und griff stattdessen auf die Arbeits-kraft ungelernter Einwanderer zurück. Durchdie Lage an der deutschen Grenze war Mühl-hausen zudem ein Brückenkopf für die türki-schen Gastarbeiter. Mit ihrem hohen Prozent-satz an Immigranten spiegelt die Bevölkerungs-struktur von Mülhausen diese Situation wider,die Cité Ouvrière verarmte.Davon war früher nie die Rede gewesen. VonAnfang an hatten sich die Bewohner nicht da-von abhalten lassen, ihre Wohnungen zu ver-größern, Vor- und Anbauten ohne Respekt vorder Strenge des Entwurfs in die umgebendenGärtchen hinein zu bauen und so das eigeneEinkommen mit zusätzlichen Mieteinnahmen

    aufzubessern. Später machten Autos Garagenerforderlich. Statt des einheitlichen Gesichts,das die Cité im Entwurf ihrer Architekten ge-habt haben mochte, war sie nun voller Über-raschungen und zufälliger Erfindungen: eineCité, dem klassischen französischen Wohnvier-tel ähnlich und fremd zugleich, eine Stadt inder Stadt, eine fortschreitende Utopie, hervor-gebracht von den Bedürfnissen und Nutzungs-gewohnheiten ihrer Bewohner im Laufe der ei-genen Geschichte.Die Somco existiert bis heute. Sie widmet sichdem Sozialen Wohnungsbau, baut nach stren-gen Normen auf geregelte Nutzung zugeschnit-tene Miethäuser, legt Finanzierungspläne undAusstattungsstandards fest, die sich allerdingseher an quantitativen als an qualitativen Krite-

    Auffallend sind die 35 m2 großen Hal-len zur Rue de l’Arbre im Norden, dieals Garage, Werkstatt oder Lager ge-nutzt werden können. Auch ein Aus-bau ist möglich. Für die kleinen Gär-ten vor den Wohnräumen auf der Süd-seite wurden keine Vorgaben ge-macht. Sieben Wohneinheiten verfü-gen über eine Südterrasse.

    Grundrisse und Schnitt im Maßstab1 : 500Fotos: Philippe Ruault, Nantes; Seite 14oben links: Somco, Mülhausen

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    rien orientieren. Wie schon die Cité Ouvrièrezeugt auch die Cité Manifeste vom mensch-lichen Gestaltungswillen.Pierre Zemp, der heutige Direktor der Somco,feierte vor zwei Jahren den 150. Jahrestag derehrwürdigen Gesellschaft. Er ist zugleich Vor-stand der Cil de Mulhouse – eines wichtigenübergewerblichen Fonds für Wohnungsbau, dessen Aufgabe darin besteht, die vom Gesetz fürden Sozialen Wohnungsbau vorgeschriebeneAbgabe von einem Prozent einzutreiben – under hat mit Bauaufträgen in dieser Sparte eini-ge Erfahrung, die er jetzt zur Gänze einbrin-gen wollte.Anstatt sich mit den bestehenden Umständenzu arrangieren, verfolgte Pierre Zemp die einesDon Quijotte würdige Idee, ein ebenso innova-

    tives und markantes Bauvorhaben wie sei-ne fernen Vorgänger anzustoßen. Die Gelegen-heit, einen Teil eines aufgelassenen, an dieSiedlung angrenzenden Fabrikstandortes zuerwerben, bot ihm dazu die Möglichkeit. Wa-ren Sozialwohnungen in der Regel bestenfallsmittelmäßig, allzu oft gleichförmig und we-nig innovativ, so war dies, so fand er, den en-gen Vorschriften eines Systems geschuldet,das ein Bauvorhaben unter dem Vorwand vonVergleichbarkeit oder Qualitätsstandards inForm von Quadratmeterzahl, Isolierung, Wohn-komfort und Ausstattung ans Gängelbandnimmt. Sollte es nicht möglich sein, mit glei-chen Mitteln Besseres zu leisten?Zemp wandte sich – vom Architekturbeirat desDépartements unterstützt – nach dem Vorbild

    Die dreigeteilte Wohnanlage mit 1,5 mschmalen Durchgängen spielt mitdem Wechsel von Innen- und Außen-räumen. Einzelne Kuben im Erd- undObergeschoss fügen sich zu einemEnsemble. Typologisch folgt jeder Teil-bereich der „Carré mulhousien“. Diegroßen Gerüste sollen später als „grü-ne Volumen“ fungieren, die im be-grenzten Außenraum als Sichtschutzoder Rückzugszone dienen.

    Häuserreihe Duncan Lewis

    Architekten:

    Duncan Lewis,

    Scape Architecture, Angers;

    Block, Nantes

    Bauherr:

    Somco, Mülhausen

    Wohneinheiten:

    12: 2 x 69 m2/2 x 94 m2/6 x 119 m2/

    2 x 137 m2

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:08 Uhr Seite 16

    der großen Industrie-Patrone in Mülhausen antalentierte und – warum nicht? – namhafte Ar-chitekten. Damit gewänne man Publicity fürdas Bauvorhaben, von dem man sich Vorbild-charakter versprach, zugleich garantierte esöffentliche Aufmerksamkeit für den Feldzuggegen die bürokratische Trägheit, für den essich zu rüsten galt. Die erste Wahl fiel auf ei-nen, der mit seinen Projekten bereits wieder-holt verkrustete Strukturen aufgebrochen hat:Jean Nouvel. Der Architekt war rasch von derSolidität des Vorhabens überzeugt und wil-ligte ein, an diesem Abenteuer, zu dem er un-ter der Voraussetzung, dass neben ihm jünge-re und weniger bekannte Teams eine Chanceerhalten sollten, mitzuwirken und seinen be-rühmten Namen beizusteuern.

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    Der spätere Raumeindruck der Häuser-reihe wird im Schaubild der Architek-ten deutlich. Die Komposition aus Ku-ben erinnert an Visionen von Wohn-stangen der 60er Jahre. Die Wohnräu-me wurden als zweigeschossige Hal-len von 5 m Höhe mit Galerie konzi-piert. Die teilweise begehbaren Dä-cher, auf denen ebenfalls „begrünteKuben“ angeordnet sind, werden überAußentreppen erreicht.

    Dachaufsicht im Maßstab 1 : 500 Fotos: Philippe Ruault, Nantes

    Dementsprechend wurde die Mannschaft zu-sammengestellt. Zemp fragte Anne Lacatonund Jean-Philippe Vassal, ein Büro, das güns-tige und innovative Wohnhäuser vorweisenkann. Dazu kam Duncan Lewis aus Angers mitdem Partner Block, ein junges Büro aus Nan-tes, dessen Entwürfe einen aufmerksamen Um-gang mit Nutzungen und der Freiraumgestal-tung belegen. Außerdem Matthieu Poitevin, derJungstar der Marseiller Szene, bekannt gewor-den durch die Freizügigkeit seiner wenigen Pro-jekte und, im Team mit Jean de Gastines, derJapaner Shigeru Ban, zum damaligen Zeitpunktnoch wenig bekannt. Für ein Gelingen des Vor-habens sollten sich die Teammitglieder auchals Komplizen fühlen und sich die Aufgabender gesamten Operation weitestgehend teilen.

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:09 Uhr Seite 17

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    Das Konzept bietet pro Wohneinheitzwei unterschiedliche Raumeindrücke.Das Erdgeschoss aus Beton-Fertigtei-len wirkt eher geschlossen; das Ober-geschoss, das über eine Wendeltrep-pe erreicht wird, bestimmt eine offeneRaumstruktur. Sie besteht aus einemStahlgerüst und in weiten Teilen austransparenten Polycarbonat-Wändenund -Decken, die an ein Gewächshauserinnern. Auch bei dieser Wohnanlagekann die Garage auf Wunsch der Be-wohner umgenutzt werden.

    Der zu erwartende Gewinn war zweifach. Ei-nerseits ging es um den sozialen Wohnungs-bau im Allgemeinen. Sofern der durch die fürderartige Bauvorhaben genehmigten Zuschüs-se gesteckte Finanzrahmen eingehalten blieb, hatten die Architekten völlig freie Hand. Damitwaren wertvolle, handfeste Erkenntnisse ausdem Projekt zu erwarten. Zum anderen galt esauszuloten, ob man gemeinsam an die beste-hende Cité Ouvrière anschließen und ihre imLaufe der Zeit erworbenen Qualitäten auf denneu entstehenden Stadtteil übertragen könnte.Damit wäre das Neubauprojekt von städtebau-licher Relevanz – ein weiterer Erfolg.Die Parzellierung des Baugrundes wurde indiesem Sinne vorgenommen. Man verlängertedie enge Straßenführung der früheren Cité.

    Häuserreihe Lacaton & Vassal

    Architekten:

    Anne Lacaton & Jean-Philippe Vassal,

    Paris

    Projektleitung:

    David Duchein

    Bauherr:

    Somco, Mülhausen

    Wohneinheiten:

    14: 2 x 102 m2/4 x 122 m2/6 x 175 m2/

    2 x 177 m2

    Daraus ergaben sich fünf gleichwertige, wennauch nicht gleiche Teilstücke. Zwei davon be-fanden sich im Herzen der neuen Stadt (bear-beitet von Duncan Lewis und Lacaton & Vas-sal), während die drei übrigen den Kontaktzum Bestand herstellten: Matthieu Poitevinbaute gegenüber einem Carré der historischenCité, Ban & de Gastines angrenzend an einenim Süden von der Stadtverwaltung geplantenPlatz und Jean Nouvel auf einem dreieckigenGrundstück entlang der am Rand der Cité ver-laufenden Straße. Jeder der Architekten sollteein Dutzend Wohnhäuser errichten.Es folgte eine fruchtbare Phase der gegensei-tigen Anregung. So unbefangen wohlwollendsie untereinander auch hätten sein können,der vom Wettbewerbssystem aufgebaute Leis-

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:11 Uhr Seite 18

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    Den Bewohnern wird bei der Ausge-staltung freie Hand gelassen. Im Ober-geschoss sind Wintergärten bzw. Ter-rassen vorgelagert. Da die Aufheizungsehr hoch ist, wurde bereits ein Son-nensegel eingefügt. Dadurch ging derBlick ins gewölbte Dach verloren.

    Grundrisse und Schnitt im Maßstab1 : 500Fotos: Philippe Ruault, Nantes

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:13 Uhr Seite 19

  • tungsdruck ist für gewöhnlich hoch, so dassArchitekten wenig geübt darin sind, offen mit-einander zu kommunizieren. Die freundschaft-liche Grundstimmung des Gemeinschaftspro-jektes setzte der sonstigen Konkurrenzhaltungeine verbindende Gemeinschaftlichkeit entge-gen. Die Notwendigkeit, sich über die Gestal-tung des öffentlichen Raums abzustimmen,brachte, bei unterschiedlichen Lösungen fürdie einzelnen Wohngebäude, einen einheitli-chen Eindruck des Ensembles. Als Vorbild dien-te, die Entwicklung der historischen Cité, de-ren typologische Einheitlichkeit sich zuguns-ten des topologischen Zusammenhangs zuneh-mend verflüchtigt hatte.Wirtschaftlich von Vorteil war außerdem einbesonderer Ausschreibungsmodus, der die un-

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    terschiedlichen Parzellen nach Berufsspartenaufschlüsselte, so dass sich rechnerisch eineinziges, in fünf Unterguppen aufgeteiltes Pro-jekt darstellen ließ anstelle einer aus fünf klei-neren Vorhaben zusammengesetzten Summe.Zwar waren die Verhandlungen langwierig,kompliziert und teils auch heftig, doch konntedank dieser Solidarität der Finanzrahmen ein-gehalten werden. Was blieb, war die Veröffent-lichung des aufgeschlüsselten Finanzierungs-plans: Basis für die Glaubwürdigkeit des Grün-dungskonzeptes der Cité Manifeste.Ist es notwendig, die Projekte jedes für sich genommen zu betrachten, zu begutachten, siewomöglich mit anderen zu vergleichen, bevorman ihren Werk-Charakter beurteilen darf?Damit ließe man doch das Grundsätzliche und

    Häuserreihe Shigeru Ban

    Architekten:

    Shigeru Ban, Tokio;

    Jean de Gastines, Paris

    Bauherr:

    Somco, Mülhausen

    Wohneinheiten:

    14: 4 x 69 m2/2 x 94 m2/

    8 x 119 m2

    Auch bei Shigeru Ban soll das „Carrémulhousien“ Pate gestanden haben.Die Wohneinheiten reihen sich nörd-lich und südlich entlang einer mitti-gen Mauer. Leichte Stahlkonstruktio-nen als „angehängte“ Küchen-, Bad-und Lager-Boxen lassen vermuten, dassdie Grundrisse zu variieren sind. Die„Flügelschlag-Dächer“ wirken zu for-mal und geben den Häusern eine ei-gene Note. Shigeru Bans Handschriftist kaum auszumachen.Im Hintergrund schließt die Wohnan-lage von Lacaton & Vassal an.

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:14 Uhr Seite 20

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    Die sechs Gebäude stehen autark ne-beneinander. Bei den vier mittlerenwird die obere Wohneinheit über eineAußentreppe erschlossen. Der Wohn-raum wird zusätzlich über das Dachbelichtet. Die Grundrisse wurden in-zwischen leicht abgewandelt. NeuePläne liegen aber noch nicht vor. Aufder Baustelle kam es zu erheblichenVerzögerungen.

    Grundrisse und Schnitt im Maßstab1 : 500; Ansichten ohne MaßstabFotos: Philippe Ruault, Nantes; kleinesFoto Seite 20: Somco, Mülhausen

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:17 Uhr Seite 21

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    Der Gebäuderiegel sorgt für eine ge-wisse Abschottung zur Rue Lavoisier.Zwei haushohe Durchgänge verlängerndie schmalen Straßen der Cité Mani-feste nach Osten. Die Wohneinheitenliegen zwischen Schotten und öffnensich nach Westen. Wände und Dachsind mit Wellblech verkleidet.

    Häuserreihe Jean Nouvel

    Architekt:

    Jean Nouvel, Paris

    Projektleiter:

    Erwan Saliva, Hala Warde

    Bauleitung:

    Eric Maria, Genf

    Bauherr:

    Somco, Mülhausen

    Wohneinheiten:

    10: 7 x 119 m2/3 x 137 m2

    Verbindende außer Acht. Man hätte das Ver-dienst der Cité Manifeste nicht ermessen. DieTauglichkeit der vorgeschlagenen Lösungenwird sich erst im Laufe der Zeit in der Nutzungdurch die Bewohner herausstellen. Werdensich die Räume als so flexibel und den unter-schiedlichen Bedürfnissen anpassungsfähig er-weisen, wie es die Entwürfe vorsehen? Wirddas Mietverhältnis den Bewohnern ähnlicheFreiheiten zugestehen wie den Eigentümer inden alten Carrés Mulhousiens? Werden flacheSchwellen und überdachte öffentliche Räumedie für die historische Cité so charakteristischennachbarschaftlichen Bindungen befördern?Kann die Cité Manifeste jene Aufwertung desViertels leisten, die der umfassende „Stadter-neuerungs-Plan“ der Stadtverwaltung vorsieht?

    Diese und andere Fragen lassen sich wederaus Plänen noch Fotografien, noch aus irgend-welchen Aufstellungen herauslesen. Um zu erfahren, ob der Somco die Umsetzung ihresVorhabens gelungen ist, muss Zeit vergehen,muss man die Cité Manifeste unvoreingenom-men beobachten. Dagegen bleiben die grund-sätzlichen Fragestellungen des Wohnungsbaus,die im 19. Jahrhundert für heftige Unruhe sorg-ten und das 20. Jahrhundert zu guten Teilenmitprägten, eine ausgesprochen wichtige An-gelegenheit, die bis heute zu wenig ernst ge-nommen wird. Von einigen – manifesten – Aus-nahmen einmal abgesehen.

    Aus dem Französischen von Agnes Kloocke

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:18 Uhr Seite 22

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    Auf der Rückseite sind im Erdge-schoss die flexibel zu nutzenden Ne-benräume und die Garagen vorgela-gert. Bei jeder Wohneinheit verbindetein Luftraum mit Treppe die beidenEbenen. Die Lage der Schotten vari-iert. Im Westen sind Vorgärten mitHecken geplant. Die kleinen Schlaf-räume im Obergeschosse mit teil-weise spitzwinkligen Ecken lassenkaum eine Möblierung zu.

    Grundrisse im Maßstab 1 : 500 Fotos: Philippe Ruault, Nantes

    1. Mülhausen-imp_ok 17.02.2005 12:20 Uhr Seite 23