Johann Gottlieb Fichte - ciando ebooksJOHANN GOTTLIEB FICHTE Wissenschaftslehre 1805 Aus dem...

28
Johann Gottlieb Fichte Wissenschaftslehre 1805 •• ,.

Transcript of Johann Gottlieb Fichte - ciando ebooksJOHANN GOTTLIEB FICHTE Wissenschaftslehre 1805 Aus dem...

Johann Gottlieb Fichte Wissenschaftslehre 1805

•• ,.

JOHANN GOTTLIEB FICHTE

Wissenschaftslehre 1805

Aus dem Nachlaß herausgegeben von

HANS GLIWITZKY

mit einem Sachregister von

ERICH). RUFF

und einem Beitrag "Zu Fichtes Tätigkeit in Erlangen" von

ERICH FUCHS

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 353

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüng-lichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für un-vermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra phi sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.ISBN 978-3-7873-0576-6ISBN eBook: 978-3-7873-2609-9

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1984. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstel-lung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck-papier, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleich tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Einleitung. Von Hans Gliwitzky . . . . . . . . . . . . . . . VII

I. 1. Die leitende Frage der Wissenschaftslehre nach

Inhalt, Form und Einheit des Wissens . . . . . . . . VII 2. Die Frage nach dem Sinn der WL selbst . . . . . . VIII 3. Die besonderen WL konstituierenden Kriterien

der Notwendigkeit und des Ausschlusses alles Faktischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X

4. Die Frage nach dem Sinn als problematischer Sinn der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI

5. Die Paradoxie als Mittel der Objektivation von Evidenz in der WL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX

6. Die Vollendung der WL durch ihre Selbstauf-hebung............................... XXI

7. Das Problem der Vollendung der WL als Wissen-schaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII

8. Zur Beurteilung von Fichtes eigenem historisch-systematischen Verständnis einer 'Vollendung' der WL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LII

II. 9. Zur Gliederung der WL 05 . . . . . . . . . . . . . . . . LXIV

10. Das Manuskript der WL 05, seine Blattfolge, seine Vortragseinteilung und -datierung . , . . . . LXVI

11. Vorläufige übersieht der WL-Darstellungen Fichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXI

12. Literatur zur WL 05 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXII 13. Editionsprinzipien mit Abkürzungsverzeichnis

und Leseschlüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXIII

Zu FichtesTätigkeit in Erlangen. Von Erich Fuchs -mit einer Liste der Teilnehmer am WL-Vortrag- LXXVII

VI Inhalt

J. G. Fichte Die Wissenschaftslehre ( 1805)

Faksimile der ersten Manuskriptseite . . . . . . . . . . . . . 2

1. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

[4. Stunde] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 [5. Stunde] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 6. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 7. Stunde................. . . . . . . . . . . . . . . . . 37 8. Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 9. Stunde... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

10. Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 11.Stunde ................................. 59

[12. Stunde] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 13. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 14. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 15.Stunde ................................. 81 16. Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 17. Stunde................................. 90 18. Stunde........................... . . . . . . 94 19. Stunde ................................. 101 20. Stunde ................................. 107 21. Stunde ................................. 113

(22. Stunde) ................................ 115 23. Stunde ................................. 120 24. Stunde ................................. 124 25. Stunde ................................. 129 26. Stunde ................................. 134 27. Stunde ................................. 139 28. Stunde ................................. 144 30. Stunde ................................. 149

Register ................................... 155 1. Personen ................................ 155 2. Zitierte Schriften ......................... 155 3. Sachen ................................. 155 4. Schemata ............................... 191

EINLEITUNG

I.

1. Die leitende Frage der Wissenschaftslehre nach Inhalt, Form und Einheit des Wissens

Die hier erstmals veröffentlichte Darstellung der Wissen-schaftslehre (WL)* J ohann Gottlieb Fichtesaus dem Jahre 1805 hat neben gewissen Erschwernissen (wie etwa der teil-weise stenogrammartigen Kürze) in mancher Hinsicht Vor-züge vor früheren Fassungen, insbesondre auch vor der viel-fach als Höhepunkt angesehenen zweiten Fassung der WL aus dem Jahre 1804.

Während z.B. in dieser zuletzt erwähnten und bereits be-kannten Darstellung1 schon im Ansatz beansprucht wird, die Wahrheit darzustellen2 - eine Behauptung, der heute nicht weniger als vor zweitausend Jahren weitgehend mit Skepsis begegnet wird -, stellt Fichte hier einfach die Fra-

* In Text und Anmerkungen benutzte Abkürzungen: AA Akademie-Ausgabe (Kant bzw. Fichte) PhB Philosophische Bibliothek, Meiner, Harnburg Sch. J.G. Fichte Briefwechsel, hrsgg. von Hans Schulz, 1. und 2.

Band, Leipzig 1925 SW Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche (I--VIII, Berlin 1845-

46) und nachgelassene (IX-XI, Bonn 1834-35) Werke, hrsgg. von I.H. Fichte

WL Wissenschaftslehre

1 Im Folgenden zitiert als WL 042 nach der Ausgabe der Philoso-phischen Bibliothek Nr. 284: "Johann Gottlieb Fichte Die Wissen-schaftslehre Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni Gereinigte J:.assung herausgegeben von Reinhard Lau th und J oachim Widmann unter Mitarbeit von Peter Schneider" Harnburg 1975.

2 WL 042 S. 7.

VIII Hans Gliwitzky

ge: 'Was ist das Wissen an sich?'3 und läßt ausschließlich in ihrer Beantwortung die WL bestehen4•

Mit dieser an das Wissen selbst gerichteten Frage zielt Fichte auf das Wissen "im Ganzen u. Einen, ohne alle zu-fällige Bestimmung" 5; er will also darstellen, was im Unter-schiede zum Wissen aus Erfahrung, wie zu nicht bewährba-ren bloßen Ansprüchen auf Wissen oder immer wandelbarer bloßer Meinung Wissen in vollkommener und endgültiger Klarheit ist.

Wer sich diese Frage stellt, kann auch ohne Vorkenntnis anderer WL-Fassungen und der Entdeckungsgeschichte, die zur WL führte, Fichtes Argumentation kontrollierend nach-vollziehen. Er kann dann an sich selbst, d.h. an seinem eige-nen bisherigen Wissen prüfen, ob ihm alle Bestimmungen, Argumente und Begründungen schon bekannt waren, ob er etwas zu bestreiten, zu ergänzen oder ob er Teile anderen gegenüber unangemessen gewichtet findet. Aus dem so -sei es schon vor der Aneignung dieser WL-Fassung oder erst anhand von ihr - durchkonstruierten Wissen wird er jeden-falls fernerhin alle anderweitigen Wissensansprüche beurtei-len.

2. Die Frage nach dem Sinn der WL selbst

Wer es am Studium der WL, wie Fichte bei deren Konzep-tion, erfahren hat, daß man nach jahrelanger Arbeit "sich wieder gerade da findet, wo man [schon vorher] war"6 , der wird auf ein Mittel bedacht sein, sich gegen mögliche Ver-strickungen in der Reflexion zu schützen. Ein solches Mit-tel wäre, sich die Frage nach dem Sinn der WL selbst ständig präsent zu halten. Es ist dies die Frage, wozu denn ein sol-ches - wie sich beim Einlassen darauf sehr bald herausstel-len wird- höchst kompliziertes Verfahren gut ist bzw. sein soll; und damit auch, ob dieses Verfahren in der von Fichte

3 WL 05 lr5,4. 4 V gl. WL 05 2v6,1: "Frage beantwortet, u. die W.L. geschlossen." 5 WL 05 lr5,4. 6 WL 05 21 v0,3.

Einleitung IX

gehandhabten Weise für die vollendete Antwort notwendig ist; kurz: die Frage nach dem letzten Sinn des sowohl in-haltlich als auch strukturell äußerst komplexen Prozesses bzw. Gebildes der sich differenzierenden WL.

Wenn demnach hier die Frage nach dem Sinn der höchst komplexen Entfaltungen der WL sozusagen als gesonderte oder andere Frage gegenüber der von Fichte aufgeworfenen herausgestellt wird, so soll damit von vomherein deutlich gemacht werden, daß in einer bis zum Ende konsequenten Beantwortung der Frage 'was ist das Wissen an sich' auch die nach dem Sinn, der ja nicht außerhalb des Wissens statt-finden kann und folglich auch in eine erschöpfende Be-handlung des Wissens gehört, ihre Antwort bzw. Lösung erhalten muß. Dabei soll hier noch unentschieden bleiben, ob Fichte in bestimmten WL-Partien trotzseiner anders ge-stellten Frage nicht auch implizit auf die durch die aus-drückliche Sinnfrage vorgenommene Verschärfung des Pro-blems Antwort gibt. Wohl aber werden mit dieser Entgegen-setzung von zwei Fragen das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis in so manchen Ausführungen Fichtes und damit Schwankungen im Selbstverständnis der WL der Aufmerk-samkeit empfohlen.

Es braucht auch nicht verschwiegen zu werden, daß eine erneute Frage, was hier unter 'Sinn' gefaßt bzw. intendiert ist, in einer diskursiven Antwort zwangsläufig- wenn schon nicht in ein unendliches Hinterfragen- mindestens grund-sätzlich in so etwas wie eine Wissenslehre führen muß. Und damit würde die hier als Hilfe zur Kontrolle der WL ange-botene Sinnfrage möglicherweise selbst in die apostrophier-te Komplikation der WL verstrickt werden. Eine Hilfe kann also diese Sinnfrage als Kriterium nur für den sein, dem es gelingt, sie en twed.er sozusagen naiv ( d. i. 'wissenschaftlich' unreflektiert) aufrecht zu erhalten oder sie gleich radikal durch ihre Aufhebung zu beantworten (siehe 4. bis 6.), um dann am einen oder anderen Falle ( d. i. an der naiv aufrecht erhaltenen oder gleich zuendegeführten Frage) den Gang der WL überprüfend nachzuvollziehen und zu beurteilen.

X Hans Gliwitzky

3. Die besonderen WL konstituierenden Kriterien der Not-wendigkeit und des Ausschlusses alles Faktischen

Neben den üblichen für eine exakte Formalwissenschaft geltenden Maximen bzw. Kriterien der gegenseitigen Unab-hängigkeit, Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit ihrer Axiome - wovon die Unabhängigkeit in der 'Wissenschaft' Philosophie, der es gerade um 'absolute Einheit' des Wissens geht, nur eine vorläufige Bedeutung haben, die Wider-spruchsfreiheit hier (wenn auch nicht in der WL selbst) als trivial vorausgesetzt werden kann und die Vollständigkeit noch zu einem besonderen Thema dieser Einleitung wird (vgl. 7 .) - sind für die WL noch die Kriterien der Notwen-digkeit und des Ausschlusses alles Faktischen besonders zu markieren.

Die WL geht nämlich darauf aus, alle im Wissen grundle-gend und damit notwendig enthaltenen Voraussetzungen reflexiv einzuholen, d.h. diese sich nochmals ausdrücklich bewußt zu machen 7•

Als letzte Begründung für das Ausgehen auf Erschöpfung aller Wissensbedingungen macht Fichte - und damit wird praktisch die Sinngebung der WL in negativer Abgrenzung vollzogen, der die 'Darstellung der Wahrheit' als positive Bestimmung entspricht, -in verschiedenen Formulierungen immer wieder geltend: nichts für 'absolut' oder das 'Abso-lute' anzuerkennen, was bloß 'relativ' oder Ergebnis von Denkgesetzen ist8• Derselbe Grund wird auch ausgedrückt in der Forderung: sich mit keinem Faktum zu begnügen9•

Denn jedes Faktum verweist (einschließlich des Faktums des V erweisens) durch die Frage nach seiner möglichen Rechtfertigung oder letztlich seinem Sinn über sich hinaus und erweist sich so selbst als noch relativ.

Man könnte hier also versucht sein den Schluß zu ziehen, daß nur, wer in einem spezifisch philosophisch-wissen-

7 Vgl. z.B. WL 05 6v0,2. 8 Z.B. WL 05 6v0,1-2. 9 Vgl. WL 05 5r5,3 (siehe dazu auch die möglicherweise modifi-

zierte "GrundMaxime der W.L." zu Beginn der 30. Stunde, 43rl.

Einleitung XI

schaftliehen System sich selbst einholend die Totalität der Wissensbedingungen reflektiert, die Chance habe, nichts bloß Relatives für absolut zu halten. - Fichte hat diese hier als möglich erscheinende Konsequenz (daß nur der Philo-soph die Verwechselung von Relativem und Absolutem ver-meiden könne) meines Wissens nicht ausdrücklich behaup-tet, so daß man sie seiner klar intendierten Lehre nicht an-lasten kann. Ob und inwiefern er sie durch sein tatsächli-ches Verfahren dennoch nahegelegt hat, wird erst zu beur-teilen sein, wenn das Verhältnis von Inhalt, Struktur und Sinn der WL deutlicher hervortritt.

Das Ausgehen aufWissensbedingungen, auf grundlegende Wissensbedingungen und auf die Totalität der grundlegen-den Wissensbedingungen stellt für sich schon ein kompli-ziertes Problem dar. Versuchen wir seine Auflösung durch eine Klärung: Worauf wird denn mit der Frage nach dem Wissen an sich eigentlich ausgegangen, da doch der Fragen· de jedenfalls um sich in seiner Existenz schon wetß, bevor er diese bestimmte Frage stellt, und indem er sie stellt, auch die Bestimmtheit dieser Frage wenigstens in gewissen Grenzen im Unterschied zu anderen möglichen Bestimmun· gen oder Verhaltensweisen seiner Existenz ebenfalls schon weiß? Wissen also vollzieht sich immer schon. Und wenn das so ist, müssen natürlich auch die grundlegenden Bedin-gungen dieses Wissens schon vollständig erfüllt sein. Wonach wird denn dann also gefragt?

So viel ist jedenfalls offensichtlich, daß der, der die Fra-ge nach dem Wissen an sich erhebt, sich mit dem Wissen um seine tatsächliche Existenz nicht begnügt. Worauf also geht er aus? Von der (stillschweigend konstitutiven und auf eine bestimmte Antwort abzielenden) Investition, die in dieser Frage nach dem Wissen gemacht wird, hängt das Ergebnis der Antwort in ihrem Selbstverständnis entschei-dend ab. Da mancherlei mit einer solchen Frage beabsich-tigt sein kann, läßt sich dies auch nicht ohne Gefahr von Mißverständnissen von Anfang an und mit einem Worte be-zeichnen. Mögliche fundamentale Ziele dieser auf Wissen gerichteten Frage müssen daher nach und nach durch Ab-grenzungen sichtbar gemacht werden.

XII Hans Gliwitzky

Zunächst und in dem einen Verständnis schließt Fichte mit der Frage 'was ist das Wissen' durch den Zusatz "im Ganzen u. Einen, ohne alle zufällige Bestinunung"10 alles Empirische aus, also alles, was für das Wissen so sein kann oder auch anders, in dem Sinne, daß zu einem je bestimmten einzelnen Wissenjeweils auch sein Gegenteil bzw. ein ande-res bestimmtes Wissen widerspruchsfrei vorstellbar ist; kurz: er schließt das Daseinszufällige oder Aposteriorische aus.

Die Frage nach dem Wissen zielt dann nicht direkt auf die Mannigfaltigkeit des faktischen phänomenalen Wissens, sondern darauf, was Wissen noch unangesehen seiner je konkreten besonderen Inhalte zu Wissen macht. Anders ausgedrückt geht es darum, was es ermöglicht, verschiedene besondere Inhalte doch alle übereinstimmend als Wirsens-inhalte oder kurz als Wissen zu behaupten. Daß wir für die Behauptung verschiedener besonderer Inhalte de facto im Leben ständig beanspruchen, sie zu wissen (ich weiß, wie spät es ist; ich weiß, daß vor mir ein Blatt Papier liegt; ich weiß, daß der Weg, den ein frei fallender Körper zurücklegt, 1/2 gt2 entspricht; usw.), bedarf keines weiteren Kommen-tars. Insofern also überhaupt Verschiedenes als gewußt be-hauptet werden kann, muß Wissen eben so geartet sein, daß es Verschiedenes beinhalten kann, oder: es muß eine bestimmte allgemeine Struktur haben, die die Vereinzelung des Konkreten ermöglicht.

Die Frage nach dem Wissen "im Ganzen u. Einen, ohne alle zufällige Bestimmung" kann sich demnach auf die allem besonderen Wissen zugrundeliegende Wissensstruk-tur richten. Soll es sich dabei nicht um speziell eingegrenzte Wissensstrukturen handeln, die nur für besondere Inhalte gelten, sondern um diejenige Struktur, die jedem Wissen überhaupt zugrundeliegt, so muß die Rekonstruktion aus-gehen von 'Wissen vom Wissen', d.i. vom sich selbst wissen-den Wissen oder existierenden Selbstbewußtsein und fort-schreitend die grundsätzlich es selbst konstituierenden Be· dingungen entfalten. Das heißt aber dann, daß in einem Rückblick auf ein schon vollzogenes tatsächliches Wissen

10 WL 05 lr5,4.

Einleitung XIII

das diesen Wissensvollzug Ermöglichende nochmals vollzo-gen oder bewußt gemacht wird um der Abgrenzung des Zu-fälligen vom Notwendigen willen, wobei der Blick gebunden ist an den faktischen Erstvollzug.

Die Abgrenzung des bloß Daseinszufälligen vom Daseins-konstitutiven kann damit eines der möglichen Ziele der Frage nach dem Wissen an sich sein. Gelingt eine solche Abgrenzung, so ist zunächst die Idee der Struktur des (fak-tisch existierenden) Selbstbewußtseins in einer Rekonstruk-tion nochmals vor sich selbst gebracht, die - bei Vollstän-digkeit letzterer - sogar ihr eigenes Sich-rekonstruieren-Können mitrepräsentieren muß. Immer aber setzt die Re-konstruktion die faktische Existenz des Selbstbewußtseins voraus und gründet so selbst in einem Faktum, d.i. in der Sich-selbst-Vorgegebenheitdes Bewußtseins.

Faßt man jedoch in einem zweiten Verständnis die Maxime der WL "sich mit keinem Faktum zu begnügen" nun so radikal, daß man sich auch mit dem unhintergehba-ren und insofern 'absoluten' Faktum der Sich-selbst-Vor-gegebenheit des Bewußtseins nicht begnügen will, so kann sich dieses Kriterium sinnvollerweise gerade nicht mehr auf den oben entwickelten Strukturaspekt des Selbstbewußt-seins beziehen. Vielmehr ist dann 'Geltung' im Sinne von Bewertung des Bewußtseins zu thematisieren, weil ein fak-tisches Datum ja tatsächlich zu keiner wertenden Begrün-dung etwas beitragen kann. Das Selbstbewußtsein als sich selbst (existentiell in seinem 'daß') vorgegebenes müßte demnach in bezugauf ein so entworfenes -jetzt werten-des (und nicht mehr strukturelles) - Wissen noch suspen-diert und unter dem nunmehr ausschließlich verbliebenen Aspekt einer essentiellen Selbstschöpfung ('was') betrachtet werden. Wohlgemerkt: nicht seiner eigenen, eben sich selbst unhintergehbaren faktischen Geltung nach; wohl aber der zunächst buchstäblichen Formalität des eigenen und nur durch sich selbst hervorgebrachten Kriteriums nach.

Da nun auch dieser Aspekt offensichtlich eine der mög-lichen Betrachtungsweisen von Bewußtsein ausmacht, muß er in der grundlegenden Systematik von Wissen und folg-lich in einem vollständigen Rekonstruieren seiner selbst

XIV Hans Gliwitzky

auch veranschlagt werden. Damit erweitert sich die bisher nur als indikative oder Ist-Struktur erschienene Wissens-struktur um die absolut eigenständige und gleich ursprüng-liche (weil qualitativ nicht weiter reduzierbare) Dimension einer Wert- oder Sollens-Struktur.

Die obige Behauptung, daß die Frage nach dem Wissen darauf ausgeht, was Wissen erst zu Wissen macht, ist selbst also noch von zunächst doppelter Bedeutung; sie führt unter dem Thema der Selbstvorgegebenheit wie auch unter dem komplementären der Selbsthervorbringung in ein Ver-hältnis wechselseitiger Verweisung: Zum ersten kann also die Frage, was Wissen erst zu Wissen macht, darauf zielen, die allen besonderen Wissensbehauptungen zugrunde lie-gende eine Wissensstruktur zu fassen. Rekonstruiert Be-wußtsein sich unter diesem Aspekt, so muß es die eigene Faktizität oder Sich-selbst-Vorgegebenheit stets gegenbild-lieh zum Regulativ eines Sich-selbst-Erzeugens erblicken und beide als seine Strukturmomente abbilden. -Will das sich rekonstruierende Bewußtsein noch verstehen, was es dabei selbst tut, so muß es diese Rekonstruktion der Struk· tur als eine freie Selbsterzeugung festhalten, die (als spezi-fisch rekonstruierende) für den Vollzug von Selbstbewußt-sein nicht notwendig ist, da es sich ja unmittelbar bewußt ist, auf einer darunter liegenden Verhaltensebene auch etwas anderes als die Rekonstruktion seiner prinzipiellen Struktur vollziehen zu können. Es bringt sich also in dieser freien Selbsterzeugung als speziell philosophisches Bewußt-sein hervor.

An diesem, Bewußtsein erst zu konkreter Essenz brin-genden Wahl- und Willensakt wird nun gerade exemplarisch die zweite Weise von Wissensgeltung deutlich: Die Frage, was Wissen noch vor aller essentiellen Besonderheit zu aktuierendem Wissen macht, kann nämlich auch ausgehen nicht auf die Struktur des Wissens, sondern auf die bestän-dige Selbsterzeugung des Wissens, also zurückführen "in die Quelle, u. den Geburtsort aller Bestimmungen", "wo es durchaus noch gar keine besondre Bestimmung giebt" 11 •

11 WL05lvl,3.

Einleitung XV

Unter diesem dynamischen Aspekt macht sich Wille bzw. Sollsein zum ausschließlichen Thema des sich reflektieren-den Bewußtseins. Läßt sich dies -unter der (übrigens fak-tischen) Bedingung einer Spaltung, Verdoppelung oder Vervielfältigung von Wille 12 - systematisieren, so wird ein System aufeinander geschlüsselter Sollenssätze, für Fichte das System der Sittlichkeit bzw. Sittenlehre, nun einsichtig zum 'absoluten Wissen' der WL 13•

Allerdings bleibt ein Drittes: Die Frage, was Wissen erst zu Wissen macht, kann auch noch auf ein Wissen oder eine geistige Wirklichkeit zielen, worin alle noch einer Frage würdige Differenz aufgehoben ist, also auch aller mit sich in Differenz befindlicher Wille und damit zugleich das kor-respondierende Soll, - eine Differenz, die ja Bedingung von Sittlichkeit und eines Systems derselben ist. In diesem Sin-ne sagt Fichte: "ist der letzte Zweck der, daß der Mensch zum e w i g e n L e b e n, zum Haben dieses Lebens und seiner Freude und Seligkeit, in sich selber und aus sich sel-ber, komme" "und nur in der Erreichung [Hervorhe-bung von mir] dieses Zweckes erreicht [das Dasein] und stellt es dar seine eigentliche Bestimmung. Nur im Wissen, und zwar im absoluten, ist Werth, und alles Uebrige ohne Werth." 14

12 Vgl. WL 043 (Fichte·Nachlaß III,7) 10r/v: "Die absolute Ein-heit des Philosophen ist das Eine reine Ich. Muß erscheinen als er-zeugt durch Freiheit aus einer gegebnen Totalität; offenbar der Iche. Das wirkliche Leben sezt daher nothwendig, als bedingt pp ein vor-handenes System von Personen, die insgesammt sich setzen als Ich." Vgl. auch WL 05 44r4.

13 Vgl. z.B. WL 01/2, Philosophische Bibliothek Band 302 S. 217: "Die tiefste Wurzel alles Wissens ist die unerreichbare Einheit des rei-nen Denkens, u. des beschriebnen Denkens der Wahrnehmung = dem Sittengesetze - als höchstem Stellvertreter aller Anschauung - denn sie erfaßt die Intelligenz, als absoluten Realgrund derselben. Dieses ist nun durchaus nicht dieses, oder jenes Wissen sondern es ist das absolute Wissen schlechthin als solches". Als weiteres Beispiel siehe "Die Thatsachen des Bewußtseins" von 1813, SW IX, S. 570: "Darin eben besteht der Erfolg dieser Klarheit [der Philosophie oder WL), daß dem Menschen das Licht aufgeht über die einzige Realität im Leben, den sittlichen Willen".

14 WL 042 S. 254 und 255.

XVI Hans Gliwitzky

Wo aber alle noch einer Frage würdige Differenz im Wis-sen aufgehoben ist, muß auch jede weitere argumentierende Aussage über das Wissen enden. Faßt man dieses Enden aller weiter begründenden Aussagbarkeit als abschließende Einsicht- wie wir sie ja hier vollziehen- noch in einer Be-rechtigung beanspruchenden Aussage, so hat diese Aussage jedenfalls eine paradoxe Form: wir sagen argumentierend aus, daß argumentierend nicht ausgesagt werden kann.

Die Kriterien der Notwendigkeit und des Ausschlusses alles Faktischen führen also nach allem Bisherigen unter Umständen zu Unverträglichkeiten miteinander. Denn die radikale Anwendung der Maxime, sich mit keinem Faktum zu begnügen, hebt sogar den auf sich als Faktum treffenden Reflex des Bewußtseins (als jedenfalls noch in Betracht zu ziehenden) auf, innerhalb dessen erst so etwas wie 'Notwen-digkeit' gewußt werden kann. Die Qualität des Sich-selbst-Hervorbringens weist also einerseits strikte jede Qualität von Notwendigkeit ab und dennoch sind wir andererseits gerade dabei, das Verhältnis dieses Widerstreits mit dem Anspruch auf Einsehbarkeit, also doch mit gutem und die Einsicht nötigenden Grund, zu entwickeln, was zunächst auf eine Art 'höhere Notwendigkeit' 15 verweist.

4. Die Frage nach dem Sinn als problematischer Sinn der Frage

Wenden wir nun diese eben entwickelte Reflexionsform der rest- und rückhaltlosen Selbstrechtfertigung (bezüglich

15 Vgl. WL 05 3v6; hierzu siehe auch Fichtes Bemerkung, daß man "einen anderen Begriff der Nothwendigkeit, als den gewöhnlichen anzuschaffen" habe (WL 05 19rl,7) sowie WL 043 (Fichte-Nachlaß 111,7) 19v: "daß in der Form meines Verfahrens zweierlei Widerspre-chendes ist a.) daß ich wieder auf eine faktische Erscheinung mich be-rufe, hier wo ja durchaus alles intelligirt werden soll b.) ist ja oben die Nothwendigkeit dieser Reflexion aus dem Gegensatze des Seyns bewiesen worden, der hier wiederum die Erscheinung der Freiheit pp beides wird sich bald heben, u. bei dieser Gelegenheit sich zeigen, warum dieser s c h e i n b a r e W i d e r s p r u c h d u r c h a u s i n k e i -nem philosophischen Systeme vermieden werden kann." (Sperrung von mir)

Einleitung XVII

selbstvorgegebener wie selbsterzeugender und schließlich differenzentledigter Geltung) auf die Frage nach dem 'Sinn' von WL an, so ergibt sich eine eigentümliche Einsicht bzw. Problemlage: Die Abgrenzung des Daseinszufälligen vom Daseinskonstitutiven, die sich in der Rekonstruktion der Wissensstruktur ausdrückt, läßt sich zufolge ihrer eigenen Basisfaktizität, die zunächst nur besagt, daß Bewußtsein ist und keineswegs, daß es wert ist, Bewußtsein zu sein, noch-mals befragen: nämlich auf ihren Sinn hin.

Zur Behandlung dieses Problems sind wir aber unweiger-lich gezwungen, uns der Bedeutung von Geltung im skiz-zierten zweiten, beständig sich neu erzeugenden Sinne zu bedienen, also jenes Geltungsaspekts mit der Leitfrage nach einem 'absoluten Wissen' um das 'Warum und Wozu' von Bewußtsein überhaupt - ein Fragehorizont, der aus der Struktur absoluter Sich-selbst-Vorgegebenheit weder her-vorgeht noch in ihr abschließend aufgehen kann. Mit der Frage nach einem nicht weiter hinterfragbaren Sinn (ange-sichts dessen jeder Begründungszusammenhang evidenter-maßen zuende gekommen ist, wohingegen das sich selbst befragende Bewußtsein aus sich selbst ein 'absolutes soll' beständig hervorzubringen hätte) ist jene Wissensqualität in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt, die wir dann fragloses oder sinnerfülltes Wis-sen zu nennen haben.

Ohne Schwierigkeit läßt sich nun aber einsehen, daß mit dem Sinn fordernden Aufwerfen dieser Frage nach sinn-erfülltem oder fraglosem Wissen (solange eine Antwort über-haupt noch begründet und damit befragbar sein soll) eine Frage sich erhebt bzw. durchhält, die das Eintreten bzw. Vollziehen dessen, worauf sie ausgeht, durch den nicht aufgegebenen Begründungsanspruch, also durch sich selbst verhindert.

Diese Einsicht legt es nahe, von der Frage abzulassen. Tut man dies zunächst formal, indem man versucht, keine Frage mehr zu artikulieren, so ist damit noch nicht garan-tiert, daß sich nun auch schon tatsächlich sinnerfülltes Wis-sen ereignet oder einstellt. Bei genauerer Betrachtung dieses Verhaltens nämlich wird sichtbar, daß trotz einer ersten Einsicht in die Unvereinbarkeit von Frage und wirklich ge-

XVIII Hans Gliwitzky

wordener Sinnerfüllung des Wissens das Fragen als geistige Realität noch keineswegs aufgehoben sein muß, sondern eben nur in negativer Konsequenz das Artikulieren von Fragen unterbleibt. Denn es ist implizit ja schon wieder ein zurecht befragbarer Anspruch, mit dem das (vorgebliche) Aufgeben der Frage sich gegen das wirkliche Eintreten sinn-erfüllten Wissens absetzt.

Im Bemerken dieses noch immer Nicht-aufgegeben-Habens bzw. Nicht-aufgegeben-Seins der Begründungsdi-mension erfährt man sich selbst als den wiederholt Fragen-den. Das Fragen muß also zwar aufgehoben sein, wenn sinn-erfülltes Wissen stattfinden soll; es kann aber nur zufolge einer Einsicht endgültig aufgegeben werden, die von der Erfahrung einer wiederholten Frage her der unendlichen Wiederholbarkeit der Frage inne wird und darin die (para-doxe) 'Antwort' erhält, daß sie grundsätzlich ohne begründ-bare Antwort bleiben muß.

Erlaubt also das sich selbst vorgegebene Wissen noch eine Frage über sich hinaus - wer diese Frage erst gar nicht stellt, etwa aus der Teileinsicht heraus, daß Wissen eben über seine eigenen Bedingungen nicht hinaus kann, der hat damit auch keine Not -, so läßt sich für das sich selbst er-zeugende Wissen in Absicht seiner Selbstbegründung nur einsehen, daß die Frage nach sinnerfülltem Wissen (die auch von der die WL leitenden Frage nach dem Wissen an sich umfaßt sein muß) aufgehoben sein und sich also aufge-ben muß, um sinnerfülltes Wissen werden zu können. Wann immer also eine Frage und damit natürlich auch die nach Sinn statt hat, ist sinnerfülltes Wissen (noch) nicht verwirk-licht.

Von daher verkehrt sich nun die Behauptung, daß sinn-erfülltes Wissen dasjenige sei, was im Blick auf Erfahrungs-und Prinzipienwissen noch darüber hinaus in Frage stehen kann, in ihr Gegenteil: Sinnerfülltes Wissen kann - von diesem Ergebnis des Durchschauens her - gerade nicht in Frage stehen. Nur ist dabei nicht zu vergessen, daß die Ein-sicht, daß sinnerfülltes WiSsen nicht in Frage stehen kann, zu ihrer einsichtigen Artikulierung eben dieser aktuieren-den und somit erfahren werden müssenden Prozedur, die

Einleitung XIX

wir hier betrieben haben und die wesentliches Thema der WL ist, initial immer schon bedurfte. Mithin muß der Fra-gende bis zur Entlassung aus der Frage - als dann eben un-mittelbar Wissen geworden - diese durch ihn geschaffene Situation einer primären Negation16 fortwährend durch Negation dieser Negation zu überwinden suchen17•

Auch dies wäre noch ein Schluß, der trotz des plausibel gemachten Endes aller Begründbarkeit, von einem sich selbst durchschauenden Wissen als WissensWissen mit gutem Grund vor sich zu bringen ist, - als weiterer einsichtiger Bestandteil einer sich selbst erschöpfenden WL. Das ein-sichtige Aufgeben der Frage (wovon hier immerhin argu-mentierend und damit implizit auch fragend noch gespro-chen wird) ist also nur darzustellen mit und in einer (be-wußt) paradoxen Umschreibung, d.h. im Wissen ihres nicht angemessen beschreiben Könnens und doch dadurch zu-gleich angemessenen Beschreibens.

5. Die Paradoxie als Mittel der Objektivation von Evidenz in der WL

Paradoxe Beschreibungen finden sich in der WL überall dort, wo die das Wissen als sich selbst genügende Sinnerfüllung (in der hier vorliegenden WL-Fassung unter "göttlichem Existieren", "totalklarem Aufgehen im Lichte", "wahrhaft innerer .Wahrheit" und anderem mehr wiederzufinden) begründenden Momente und Strukturen bis hin zur umfas-sendsten Struktur oder Form selbst als unzureichend, aber darin zugleich als unvermeidlich aufgewiesen werden.

So wird in paradoxer Formulierung z.B. vom 'Absoluten' gesagt, daß es selbst ein Relationsbegriff ist, der nur ver-

16 Vgl. AA 111, 2 S. 392: "der erste, der eine Frage über das Da-seyn Gottes erhob, durchbrach die Gränzen, erschütterte die Mensch-heit in ihren tiefsten Grundpfeilern, und versetzte sie in einen Streit mit sich selbst, der noch nicht beigelegt ist".

17 Vgl. WL 12 (SWX) S.323: "Dann [Hs.: Nun] aber ist man auch die W.L., und hat sie zum ewigen, freien Besitz. (Freilich gelingt es nicht jedesmal; da muß man es wieder versuchen.)"

XX Hans Gliwitzky

ständlich ist im Gegensatz mit dem 'Nichtabsoluten'18 und daß durch Beilegung der 'Absolutheit' sie gerade genom-men wird19; von der Form in ihrer Absolutheit: daß sie sich im Vernichten ihrer selbst setzt und sich vernichtet im absoluten Setzen20; oder von der Objektivität: daß sie "Identität in der Nichtidentität u. Nichtidentität ·(in) der Identität, in absoluter, u. unabtrennbarer Vereinigung"21

sei. Dies alles kann zwar mit durchgehender Evidenz letzt-lich nur behauptet werden durch das Wissen sinnerfüllten Wissens, welches seinem Inhalte nach gerade jeder Abgren-zung, Beschreibung, Qualifizierung usw. entzogen ist, weil es in einer solchen Beschreibung oder Qualifizierung immer schon als sinnerfülltes auch abgesetzt und erloschen ist. Dieses 'Wissen' bleibt jedoch für das Argumentieren immer ein Wissen 'von' einem Wissen, damit aber Form, die sich entgegensetzt einen 'Inhalt', bleibt also selbst als höchste oder umfassendste Form - sich erfassend nur durch ihren Gegensatz -notwendig paradox. (Im ekstatischen Aufgehen im Lichte 22 oder sinnerfüllten Wissen wird (auf) diese Form nicht mehr gesehen; anders ausgedrückt: sie findet im leben-digen Wissen der Sinnerfüllung als bloße Form oder noch abzusetzendes Faktum gar nicht mehr statt, wohl aber be-darf die Form, damit sie höchste Form des Wissens sei, immer des Bezuges- nämlich: sichtrotz faktischer Unleug-barkeit nicht als erfüllte Wahrheit gelten zu lassen - auf das jederzeit mögliche Aufgehen im sinnerfüllten Wissen.)

Die WL begreift daher selbst, daß sie sich aufgeben muß: WL wird erst durch ihre Vernichtung23• Sofern sie auf sinn-

18 Vgl. z.B. WL 05 3v52; 5v3,3. 19 WL 05 5v4. 20 WL 05 37v3,1; vgl. dazu auch 42r3,4-12. 21 WL 05 23r2,3. 22 Von einem Wege ein solches 'Aufgehen' (das der 'bei Besin-

nung' bleibende wissenschaftliche Philosoph gerade abhält) zu errei-chen, spricht Fichte möglicherweise in der WL 042 S. 35: "('Falls wir nur recht bei Besinnung bleiben,' sage ich, denn wir könnten uns auch in das Intelligible [Copia: lntelligiren] verlieren, und es giebt sogar an seinem Orte eine Kunst, mit Bewußtsein sich darin zu verlieren)."

23 VgL WL 05 17v5,4.

Einleitung XXI

erfülltes Wissen, als "totalklare[s] Aufgehen im Lichte"24

ausgeht, faßt sie schließlich die höchste Form des Wissens als bloße Bedingung des erst noch sich vollenden und voll-endet werden Sollens. So endet z.B. die WL 12 in dem Selbstverständnis: "Wer die WL. erkannt hat, ist in alle Be-dingungen eingesetzt des Willens; und es fehlt nur am Willen noch selbst. " 25

6. Die Vollendung der WL durch ihre Selbstaufhebung

Dieses Wissen des sinnerfüllten Wissens ist nun einerseits dasjenige Wissen, das jedem Menschen unabhängig von Rasse, Stand und Bildung, auch unabhängig von physischer und psychischer Gesundheit und Normalität und zu allen Zeiten - also auch vor Fichtes Entdeckung der 'WL'- so-wohl als Aufgehen darin als auch als Wissen 'von' einem Wissen (also in der Differenz und Paradoxie des dieses Auf-gehen zu sein und zugleich nicht zu sein zugänglich ist. An-dererseits ist es dasjenige, was Fichte in einer Hinsicht be-rechtigt, die WL als vollendet zu behaupten - 'vollendet' wohlverstanden nicht mehr im apodiktisch-objektivierenden (wovon noch weiter unten), sondern im Sinne des Auf-gebens und Aufgehobenseins jeglicher faktischen Position, also auch jeder Differenz als solcher und damit natürlich auch jeder nur dem Philosophen vorbehaltenen WL als WL. Diese Vollendungsbehauptung ist eben ermöglicht aus der Evidenz des Mit-sich-zur-Ruhe-Kommens als dem 'göttli-chen Existiren'.

In der hier vorliegenden WL 05 setzt Fichte nach Abwei-sung dreier 'Absoluter'26 als nicht wahrhaft absolut27 "das eigentl. Reale, das göttliche Existiren" darein, ,,daß, u. wie gelebt wird"28 und fügt hinzu, daß es sich hierbei um den "absoluten Endpunkt der Spekulation" handelt, bei dem

24 WL 05 10v4,1. 25 SW X S. 491. 26 WL0518v2,1-5. 27 Vgl. WL 05 2lv0,9. 28 WL 05 28r0,5.

XXII Hans Gliwitzky

es "bei allen weitem Bestimmungen, welche die Form er-halten dürfte" bleiben wird29•

Wenn und indem Fichte zur Überprüfung der Vollendung der Wissenschaftslehre anbietet, ihr an dem, was sie als ihr Höchstes setzt, eine Unterscheidung nachzuweisen, die sie selbst nicht gemacht hat30, so kann er die WL mit Recht als vollendet behaupten, da der Unterschied zwischen dem Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen und eben diesem 'Höch-sten': dem Aufgehen im sinnerfüllten Wissen- als Differenz einsichtig unüberbietbar ist. Man ist eben entweder in Dif-ferenz zum sinnerfüllten Wissen oder man geht darin auf. Der Transzendentalphilosoph, der in Reflexion auf die Be-dingung dieser Aussage (entweder in Differenz oder die Ein· heit zu sein), behauptet, er sei notwendig beides zugleich, behält zwar der Form nach immer Recht; er ist es jedoch insofern auch dann noch immer nur in der Form. Die Form aber ist nach Fichte selbst noch in der Form zu vernich-ten31, d. i. für ungültig (in der Bedeutung differenzentledig-ter Geltung) zu erkennen; und in diesem letzten loslassen-den Akt ist der Philosoph- wenn man nicht schon wieder seinen spezifischen Weg mitveranschlagt - von jedem sich selbst in seinem Wesen erkennenden Menschen nicht mehr zu unterscheiden.

Die jedem Menschen (zumindest von seiner Anlage her) mögliche unmittelbare Klarheit (seiner selbst) und die höchste wissenschaftliche Evidenz (der philosophischen Er-

29 WL 05 28r0,6. 30 "Wo noch irgend die Möglichkeit einer Unterscheidung deut-

lich, oder stillschweigend, eintritt, ist die Aufgabe nicht gelöst. Wer in oder an [Hervorhebung von mir] dem, was ein philosophisches Sy-stem als sein Höchstes setzt, irgend eine Distinktion als möglich nach-weisen kann, der hat dieses System widerlegt." (WL 042 S. 7) Hier geht es zunächst um das 'an dem': eine fundamentalere oder auch nur gleich fundamentale Differenz wie diejenige zwischen dem Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen und dem 'Aufgehen' darin läßt sich nicht behaupten, ohne ihr Verständnis immer schon vorauszusetzen. Das 'in dem' dagegen kann die formal-diskursive Vollständigkeit der Wis-senskonstitutiva betreffen, von der noch später (siehe 7.) die Rede sein wird.

31 Vgl. WL 05 15r4,7; 37v3,1; 42r2,6.

Einleitung XXIII

hellung) sind darin, was hier 'klar' oder 'evident' heißen soll, ein und dasselbe, verschieden nur in der unterschiedli-chen besonderen Hinsicht des Erkenntnisinteresses in und am Leben, was das unterschiedlich Besondere, also Indivi-duelle, (an) der Geschichte von Menschen ausmacht.

Eine weder im üblichen Sinne 'wissenschaftliche' noch an einem spezifischen Glaubensbekenntnis orientierte Be-schreibung sinnerfüllten Wissens in einem Augenblick findet sich in Dostojewskijs Roman "Der Idiot". Ich lasse diese hier folgen, weil sich daran jeder mit Hilfe seiner eigenen Erfahrung nochmals darüber orientieren· kann, was mit 'sinnerfülltem Wissen' und in welcher Form dieser 'Inhalt' behauptet wird. Insbesondere kehren in dieser Beschreibung die herausgestellten Charakteristika einer argumentierenden Darstellung wieder: Paradoxie, Aufgehobensein alles Zwei-feins und Fragens, Ungenügen jeder Beschreibung und das sich Nichteinlassen auf einen Disput (zum Letzteren siehe 7.1.):

"Er dachte unter anderem auch daran, daß in seinem früheren epileptischen Zustand kurz vor jedem Anfall (wenn der Anfall nicht gerade nachts im Schlaf kam) ganz plötzlich mitten in der Traurigkeit, der inneren Finsternis, des Be-drücktseins und der Qual, sein Gehirn sich für Augenblicke gleichsam blitzartig erhellte und alle seine Lebenskräfte sich mit einem Schlage krampfhaft anspannten. Die Emp-findung des Lebens, des Bewußtseins verzehnfachte sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Der Verstand, das Herz waren plötzlich von ungewöhnli-chem Licht erfüllt; alle Aufregung, alle Zweifel, alle Unruhe löste sich gleichsam in eine höhere Ruhe auf, in eine Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Sinn und letzter Schöpfungsursache. Aber diese Momente, diese Lichtblitze waren erst nur eine Vorahnung jener einen Sekunde, in der dann der Anfall eintrat (länger als eine Se-kunde währte es nie). Diese Sekunde war allerdings uner-träglich. Wenn er später in bereits gesundem Zustande über diese Sekunde nachdachte, mußte er sich sagen, daß doch all diese Lichterscheinungen und Augenblicke eines höhe-ren Bewußtseins und einer höheren Empfindung seines Ich,

XXIV Hans Gliwitzky

und folglich auch eines 'höheren Seins', schließlich nichts anderes waren als eine Unterbrechung des normalen Zu-standes, eben als seine Krankheit; war aber das der Fall, so konnte man es doch keineswegs als 'höheres' Sein, sondern im Gegenteil nur als ein niedrigstes betrachten. Und doch, trotz alledem, kam er zu guter Letzt zu einer überaus para-doxen Schlußfolgerung: 'Was ist denn dabei, daß es Krank-heit ist?' meinte er schließlich, 'was geht es mich an, daß diese Anspannung nicht normal ist, wenn das Resultat, wenn der Augenblick dieser Empfindung, nachher bei der Erinnerung an ihn und beim überdenken bereits in gesun-dem Zustand, sich als höchste Stufe der Harmonie, der Schönheit erweist, als ein unerhörtes und zuvor niegeahntes Gefühl der Fülle, des Maßes, des Ausgleichs und des erreg-ten, wie im Gebet sich steigernden Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens?' Diese nebelhaften Aus-drücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor, nur fand er sie noch viel zu schwach. Daran aber, daß dies wirklich 'Schönheit und Gebet', daß dies wirklich 'höchste Synthe-se des Lebens' war, daran konnte er nicht zweifeln, ja, konnte er Zweifel überhaupt nicht für zulässig halten. Denn das waren doch in diesem Moment nicht irgendwelche ge-träumten Visionen, wie nach dem Genuß von Haschisch, Opium oder Alkohol, die die Denkfähigkeit herabsetzen und die Seele verzerren, unnormale und unwirkliche Trug-bilder. Das konnte er nach dem Vergehen des krankhaften Zustandes völlig klar beurteilen. Jene Augenblicke waren vielmehr eine außergewöhnliche Steigerung des Selbstbe-wußtseins - wenn man diesen Zustand mit einem einzigen Wort bezeichnen soll -,des Selbstbewußtseins und zugleich eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt, im allerletzten Augenblick des Bewußtseins, vor dem Anfall, sich manchmal noch klar und bewußt zu sagen vermochte: 'Ja, für diesen Augenblick kann man das ganze Leben hingeben!', so war dieser eine Augenblick wohl etwas Einzigartiges und auch das ganze Leben wert. übrigens: für den dialektischen Teil seines Folgeschlusses konnte er nicht einstehen, der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie standen ihm als Folge-

Einleitung XXV

erscheinungen dieser 'höchsten Augenblicke' klar vor Augen. Darüber würde er im Ernst natürlich nicht disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in seiner Ein-schätzung dieses Augenblicks lag zweifellos ein Fehler, aber die Tatsache der Empfindungen, ihre Realität gab ihm doch zu denken und machte ihn einigermaßen befangen. In der Tat, was tun mit dieser Wirklichkeit? Sie ließ sich doch nicht verleugnen, war doch da, er hatte doch sich selbst noch in eben jener Sekunde zu sagen vermocht, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glückes willen, das er voll empfand, am Ende wohl das ganze Leben wert sein könne. 'In diesem Augenblick glaube ich jenes Wort zu verstehen, daß hinfort keine Zeit mehr sein soll'[.]"32

Fichtes in einem Satz formulierte Antwort auf die Frage der WL 'was ist das Wissen an sich?' könnte ebenso als ange-messene Beschreibung sinnerfüllten Wissens dienen. Sie lau-tet: "das Wissen ist an sich die absolute f oder was das glei-che bedeutet, wie sich zeigen wird, des Absoluten Exi-stenz"33. Wer etwa sein Wissen von Sinnerfüllung mit dieser Formel zu Beginn der WL beschrieben sieht, wird sich im Verlauf der ständig sich wandelnden Differenzierungen der WL in immer neue Zweifel hinsichtlich dieser Identifikation gestürzt sehen.

Dennoch ist es entscheidend, diese Identifikation auf-recht zu erhalten. Nur wenn man die Forderung Fichtes radikal ernst nimmt, sich "mit keiner Fakticität [ ... ] zu begnügen" 34 und die Einschränkung dieser Forderung, sich mit keiner Faktizität zu begnügen: 'es sei denn mit dem als notwendig und damit unvermeidlich nachgewiesenen Fak-

32 Piper-Ausgabe 1977, S. 347-349;- Zum 'Eintreten der Har-monie' laut WL vgl. z.B. in der Fassung von 1801/2: "das absolute Wissen vom absoluten Wissen = Gewißheit, träte ein, wenn diese Uebereinstimmung selbst, dieses Zusammenfallen einträte. [ ... ] Nun aber kommt, wohlgemerkt, diese Harmonie, dieses Zusammenfliessen der beiden Endpunkte nur jenseit des Wissens zu Stande, [ ... ] man kann daher wissen, das Daß, (aber nie} anschauen das Wie." AA 11,6 S. 224-225; PhB Band 302 S. 110-111.

33 WL 05 2v4,2. 34 WL 05 5r5,3.

XXVI Hans Gliwitzky

turn des Bewußtseins seiner selbst' eben gerade noch immer als Einschränkung dieser Forderung klar vor Augen behält, nur dann kommt es zum richtigen Selbstverständnis der WL. Andernfalls bleibt es bei einer Verabsolutierung der Reflexion in irgendeinem willkürlichen Standpunkte. Die Analyse der Konstitution des Schwebens zwischen einer noch faktischen Position (des 'Wir') und einer ebenfalls ob-jektivierten und damit faktischen Position einer von uns 'unabhängigen Vernunft' wird einen andern Teil der WL ausmachen. Daß der Name WL jedoch mehr bezeichnet und damit für wenigstens zweierlei steht (nämlich für das in bezug auf differenzlose Geltung Sichsuspendieren einer-seits und für das Sich-selbst-Behaupten in einer unwandel-baren Struktur andererseits), ist für die richtige Beurteilung der WL entscheidend.

Hier kam es zunächst darauf an, die WL in ihrem letzten 'Begründungszusammenhang', nämlich ihrer Selbstentwer-tung hinsichtlich differenzentledigteT Geltung, sichtbar zu machen. Dieser kommt in Fichtes WL-Darstellungen in den verschiedensten Formen immer wieder zum Ausdruck: 1801/2 lautet z.B. eine solche Beschreibung: "Sonach ist die Wissenschaftslehre, die ja das Wissen vom Wissen ist, keine Mehrheit von Erkenntnissen, kein System, oder Zu-sammenfügung von Sätzen, sondern sie ist durchaus nur ein einiger, untheilbarer Blik. " 35 Eine Passage in der hier vorlie-genden Fassung von 1805 faßt die entsprechende Einsicht so: "Objektivität im materiellen Sinne, als Wahrheit u. Rea-lität, u. im formalen, als projicirtes, sind durchaus unab-trennlich, u. im Wesen dasselbe: und die Form der Projek-tion ist eben das ewige Geständniß des Lichts von seinem eignen Nichts gegenüber der Wahrheit. Wird nun aber diese Objektivität, durch das sich selbst verstehen, in die Form des Als aufgenommen, so geht die Realität wieder verloren, und das ganze Nichts tritt abermals ein." 36 Und schließlich in der prägnantesten Kurzformel von 1805 wird die WL erst durch ihre Vernichtung: "Sie d[ie]. W.L. kann nichts

35 AA 11,6 S. 140. 36 WL 05 34v2,4-5.

Einleitung XXVII

mitbringen, denn sie vernichtet sich, u. wird erst durch die-se Selbstvemichtung. " 37

7. Das Problem der Vollendung der WL als Wissenschaft

Fichte behauptet nun aber die erstmalige Vollendung der Wissenschaftslehre als die für alle Menschen und Zeiten gül-tige Lösung des Rätsels der Welt und des Bewußtseins38• Da hier jedoch bisher nur von vollendetem Wissen als von der jedermann lebensmäßig zugänglichen Erkenntnis des Grund-wesens des Bewußtseins die Rede war, bedarf die Behaup-tung der erstmaligen Vollendung der Wissenschaftslehre erst noch ihrer Legitimation. Ein erstmalig in oder mit der WL vollendetes Wissen müßte über die Erkenntnis der Un-gültigkeit alles faktischen Bewußtseins (hinsichtlich diffe-renzentledigteT Geltung) hinaus noch in einer andem Hin-sicht vollendete Erkenntnis des Wissens sein. Denn ginge es der WL lediglich um die Wiederbelebung der 'uralten Lehre', daß nur das rechte Wissen oder die Weisheit Wert hat39,

warum sollte dann vom Zeitpunkt Fichtes persönlicher Ent-deckung und Darstellung dieser Einsicht mit mehr Recht als Wissenschaftslehre bezeichnet werden, als was in der Menschheit schon längst bekannt und auch bei den verschie-denen Völkern und Stämmen vermutlich auf verschiedenste Weise bezeichnet war?

Obwohl also nicht zu bestreiten ist, daß es Fichte mit der WL auch um den Vollzug bzw. das Erreichen einer Ein-sicht ging, die nach ihm selbst uralte Lehre ist, war es doch noch darüber hinaus in pointierter Weise seine Absicht, alles mögliche Wissen überhaupt in seiner grundsätzlichen Möglichkeit zu erschöpfen und in endgültiger Weise darzu-stellen. Da aber gerade der Weise, der ein jeder Mensch -

37 WL 05 17v5,4. 38 Vgl. das 'Pro memoria' an das Königliche Kabinett in Preußen

vom 3. Januar 1804, AA 111,5 S. 222ff. und die Ankündigung zur WL vom 1.1.1804: WL 042 S. 2.

39 Vgl. WL 042 S. 255.

XXVIII Hans Gliwitzky

auch ohne spezifisch wissenschaftliche Bildung - sein kann, weiß, daß über das Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen (als höchster Differenz) nichts hinausreicht als das Aufgehen in dem sinnerfüllten Wissen selbst, müßte die WL, wenn sie ihren Anspruch auf Neuschöpfung grundsätzlicher Art aus-weisen will, nicht nur ein vollständiges Wissen von sich selbst in diesem ihrem Grundwesen haben, sondern diese noch-mals in besonderer WeiSe als vollständig wissen; sie müßte also ein Verständnis besonderer Selbstschöpfung oder kon-struierender Nachkonstruktion haben, das der Weise nicht notwendig zu kennen braucht.

Diese Vollendung in einer besonderen Vollständigkeit, die erst den neuen Namen 'WL'- über eine bloß historische Benennung fundamentaler Selbstbesinnung des Menschen hinaus - rechtfertigen würde, stellt nun aber das weitere Problem dar.

7.1. Das Problem der formal-diskursiven Vollständigkeit der WL in ihrer apodiktischen Ausdifferenzierung

Vergegenwärtigen wir uns nochmals, wie es über die jedem Menschen grundsätzlich mögliche Vollendung des Wissens -angesichts deren WL sich durch ihre Vernichtungvollzieht-hinaus noch zu einem Problem formal-diskursiver Vollstän-digkeit der WL kommen kann. Denn aufgrund der Einsicht, daß jedem die Vollendung des Wissens als absolutes Ereig-nis40 zugänglich ist, könnte die Philosophie eigentlich enden, bevor sie noch in weiterer apodiktischer Differen-zierung begonnen hat.

Auf die Frage 'was ist das Wissen im Ganzen u. Einen ohne alle zufällige Bestimmung?' kann man - wie gezeigt -antworten: es ist sinnerfülltes Wissen, 'totalklares Aufgehen im Lichte', 'absolute Existenz' (wie Fichte in der hier vor-liegenden Fassung der WL antwortet41 ), oder wie immer sonst man es nennen möchte.

40 Vgl. z.B. WL 01/2: der "inner[e] Charakter des Wissens [ist] ein absolutes Entspringen"; AA 11,6 S. 291.

41 WL 05 2v4,2.