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Johannes Lepsius –Eine deutsche Ausnahme

Der Völkermord an den Armeniern,Humanitarismus und Menschenrechte

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Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme

Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus

und Menschenrechte

Herausgegeben vonRolf Hosfeld

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In MemoriamHermann Goltz

1946 – 2010

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Inhalt

Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Rolf HosfeldJohannes LepsiusEine deutsche Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

M. Rainer LepsiusJohannes Lepsius’ politische Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Hans-Lukas KieserNahostmillenarismus, protestantische Internationaleund Johannes Lepsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Manfred AschkeChristliche Ethik und PolitikJohannes Lepsius über die Gebote der Bergpredigt und die legitimen sozialen Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Manfred Gailus»Ein Feld weiß und reif zu einer Geistesernte liegt vor uns!«Deutsche Protestanten im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . 95

Ulrich SiegDeutsche Intellektuelle und ihre Haltungzu Armenien im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

Margaret Lavinia AndersonHelden in Zeiten eines Völkermords?Armin T. Wegner, Ernst Jäckh, Henry Morgenthau . . . . . . . . . 126

Axel MeissnerDas Armenische Hilfswerk von Johannes Lepsius .Umfang und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Christian SchneebeckDie Armenierhilfe zwischen nationalen Interessenund internationaler Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

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inhalt

Aschot HayruniJohannes Lepsius’ armenische Verbindungen . . . . . . . . . . . . 207

Gabriel GoltzVon Potsdam nach PlovdivDie Islam-Mission als Aufgabe der Deutschen Orient-Mission . . . 227

Rolf HosfeldEin Völkermordprozess wider Willen . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Manfred AschkeDas menschenrechtliche Vermächtnis von Johannes Lepsius . . . . 258

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Lebenslauf Johannes Lepsius(1858-1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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Zu diesem Buch

Der Theologe Johannes Lepsius (1858-1926) war ein aktiver Menschen-rechtler aus christlicher Überzeugung und der international erste bedeu-tende Dokumentarist des Genozids an den Armeniern im Ersten Welt-krieg . Einem größeren Publikum bekannt wurde er als authentische Figur in Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh . Es ist in erster Linie der Initiative von Hermann Goltz (1946-2010) zu verdanken, dass die Grundrisse seiner gesamten Lebensleistung einer interessierten wis-senschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt werden konnten . Ein wichtiges Datum war eine Konferenz, die er bereits 1986 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter nicht ganz leichten Rahmenbedingun-gen ausgerichtet hat .1 Unschätzbar sind auch die großen Leistungen von Hermann Goltz und Axel Meissner bei der detaillierten wissenschaftlichen Erschließung und Kommentierung des Nachlasses von Johannes Lep-sius,2 der sich jetzt im Potsdamer Lepsiushaus befindet . Uwe Feigel und Axel Meissner haben mit ihren Dissertationen über das evangelische Deutschland und die Armenierfrage3 sowie über Martin Rade4 Wichtiges zum Verständnis des Umfelds von Lepsius beigetragen . Aschot Hayruni hat nach intensivem Quellenstudium, vor allem im Johannes-Lepsius-Archiv, eine umfangreiche armenische Monographie verfasst .5Andreas Baumann hat in einer biographisch angelegten Dissertation die theologi-schen Grundlagen seines Handelns erforscht,6 Gabriel Goltz sein reflek-tiertes Verhältnis zum Islam .7 Manfred Aschke, Olaf Glöckner, Hans-Lukas Kieser, Mario Rainer Lepsius und andere haben in Vorträgen im Potsdamer Lepsiushaus einzelne Aspekte beleuchtet . Mehrere akademi-

1 Hermann Goltz (Hg .), Akten des internationalen Dr .-Johannes-Lepsius-Sympo-siums 1986 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 1986 .

2 Hermann Goltz, Alex Meissner (Hg .), Deutschland, Armenien und die Türkei 1895-1925, Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr . Johannes-Lepsius-Archiv, 3 Teile, München 1998-2004 .

3 Uwe Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien, Göttingen 1989 .4 Axel Meissner, Martin Rades »Christliche Welt« und Armenien . Bausteine für

eine internationale Ethik des Protestantismus, Berlin 2010 .5 Aschot Hayruni: Die Mission des Johannes Lepsius . Eriwan 2002 (armenisch) .6 Andreas Baumann, Der Orient für Christus: Johannes Lepsius – Biographie und

Missiologie, Gießen 2007 .7 Gabriel Goltz, Eine christlich-islamische Kontroverse um Religion, Nation und

Zivilisation . Die osmanisch-türkischen Periodika der Deutschen Orient-Mission und die Zeitung Balkan in Plovdiv, 1908-1911, Göttingen 2002 .

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zu diesem buch

sche Abschlussarbeiten sind in den letzten Jahren im Archiv des Lepsius-hauses entstanden, unter anderem über die deutsche humanitäre Hilfe im Osmanischen Reich .

Viele wichtige Fragen, seine Person betreffend, sind aber noch nicht in der Tiefe und im Detail erforscht . Das betrifft Fragen der Zusammen-hänge zwischen seinen sehr eigenständigen theologischen Ansichten und seinen ethisch-politischen Positionen, die Spannung von Nationalismus und Internationalismus, der er ausgesetzt war, sein Verhältnis zum Islam, das ganze Netzwerk seiner humanitären Hilfe für die Armenier, das Netz-werk seiner politischen Verbindungen, bis in die internationale Politik, das Auswärtige Amt und armenische Kreise, Aspekte seiner Haltung zur wilhelminischen Politik, seine Hoffnung auf eine pazifizierende Wirkung des deutschen Rechtsstaats im Orient, seine Haltung zum Versailler Ver-trag ebenso wie sein zuletzt mitunter resignatives Verhältnis zur Weima-rer Republik . Einiges dazu sollen die Aufsätze in diesem Buch beitragen, die im Wesentlichen aus Vorträgen zu einer internationalen Konferenz des Lepsiushauses im September 2012 an der Universität Potsdam her-vorgegangen sind . Sie thematisieren Aspekte seines Lebens, Denkens und Handelns sowie das Umfeld, in dem er sich bewegte und zu dem er in Beziehung zu setzen ist . Unter den Protestanten und intellektuellen Wortführern im Ersten Weltkrieg zählte Lepsius zu den großen Ausnah-men . Er dachte und handelte angesichts von Menschheitsverbrechen wie dem Völkermord an den Armeniern als bekennender Christ, der bereit war, ethisch-internationalistische und menschenrechtliche Beweggründe über die Staatsräson des Deutschen Reichs zu stellen .

Potsdam, im Frühjahr 2013

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Johannes LepsiusEine deutsche Ausnahme

Rolf Hosfeld

In der New York Tribune konnte man Ende Juli 1919 unter der Über-schrift »Another Chapter in Germany’s Confession of Turkish Guilt« die folgenden, für viele amerikanische Leser unerwarteten Sätze lesen:

No more powerful indictment of Turkey’s crimes in Armenia appeared during the war than that presented by a German writer, Dr . Johannes Lepsius, chairman of the German Orient Mission and the German-Armenian Society . Dr . Lepsius has investigated the Armenian persecu-tions on the spot and incorporated his findings in a report entitled »Die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei«, published secretly at Potsdam in 1916 .1

Während des ganzen Krieges, heißt das, frei übersetzt, gab es keinen mäch-tigeren Beweis für die türkischen Verbrechen in Armenien als jene, die der deutsche Schriftsteller sowie Vorsitzende der Deutschen Orient-Mission und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Dr . Johannes Lep-sius, persönlich vor Ort untersucht und 1916 heimlich, d . h . an der Zen-sur vorbei, in Potsdam unter dem Titel Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei ver öffentlicht hat .

Amerika hatte sich 1919 noch nicht aus der Weltpolitik zurückgezogen, was zum Unheil Europas und übrigens auch der armenischen Frage im Frühjahr 1920 geschah, als der Senat in Washington den Versailler Frie-densvertrag endgültig ablehnte und sich durch dieses Votum auch nicht am Völkerbund beteiligte . Noch residierte Präsident Woodrow Wilson im Weißen Haus, der mit der Devise »the war to end all wars« Anfang April 1917 in den Weltkrieg eingetreten war . Wilson wollte die Nach-kriegswelt auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts und eines Bundes der Völker »sicher für die Demokratie« machen . Gerechtigkeit für das armenische Volk, das seit 1915 Opfer einer systematischen Vernich-tungspolitik durch die osmanischen Behörden geworden war, spielte in dieser Vision, anfangs zumindest, eine nicht unerhebliche Rolle . Die USA wollten bis zu ihrem unerwarteten Rückzug aus der Weltpolitik sogar eine Art Mandat über Armenien übernehmen und sandten deshalb 1919 General James G . Harbord mit einer Militärmission in die verwüsteten

1 Another Chapter in Germany’s Confession of Turkish Guilt, in: New York Tri-bune, 27 .7 .1919 . PA-AA R 14106 .

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armenischen Siedlungsgebiete der heutigen Osttürkei . Armenien war 1919 in Amerika ein öffentliches Thema wie in kaum einem anderen Land . Dass die bedeutendste Anklage gegen das dort begangene Staatsverbre-chen aber ausgerechnet von einem Deutschen kam – das Deutsche Reich war bekanntermaßen im Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbün-det –, wird den Leser der New York Tribune überrascht haben .

Johannes Lepsius, las man dort, verurteilte schon während des Krieges die deutsche Zensur und demonstrierte damit implizit eine deutsche Mit-schuld an den Vorgängen in der Türkei, zumindest in moralischer Hin-sicht . Wieso, fragte sich dieser Mann, durfte man angesichts der ungeheuer-lichen Verbrechen im Machtbereich eines militärischen Bündnispartners eigentlich nicht die Wahrheit sagen? »Halbwahre Dinge zu sagen, hat keinen Wert«, schrieb Lepsius 1916 in dem erwähnten Bericht und schloss das Buch mit dem bemerkenswerten und klarsichtigen Satz: »Die mora-lischen Folgen der armenischen Massakers und Deportationen werden erst nach dem Kriege fühlbar werden« .2

Es gab während des Ersten Weltkriegs viele andere Publikationen zu diesem Thema . Amerikanische Zeitungen berichteten seit 1915 über die Vorgänge in der Türkei . 1916 erschien in London James Bryce’ The Treat-ment of the Armenians in the Ottoman Empire, 1915-1916, eine umfang-reiche Dokumentensammlung mit erschütternden Augenzeugenberich-ten und einem analytischen Beiwort des damals noch ganz jungen Historikers Arnold Toynbee . Lepsius’ Buch aber war, nimmt man die New York Tribune beim Wort, »more powerful« . Es war politischer . Es war mutiger . Lepsius zitierte in seinem Bericht sogar Verlautbarungen, die nach den üblichen Maßstäben des Krieges eigentlich als Feindpropa-ganda zu gelten hatten . Zum Beispiel die folgende Erklärung der En-tentemächte vom 24 . Mai 1915:

In Anbetracht dieses neuen Verbrechens gegen Menschlichkeit und Zivilisation geben die alliierten Regierungen der Hohen Pforte öffentlich bekannt, daß sie alle Mitglieder der türkischen Regierung sowie diejeni-gen ihrer Beauftragten, die an solchen Massenmorden beteiligt sind, in Person verantwortlich machen .3

Vor allem aber, so das Urteil des amerikanischen Korrespondenten, zeich-nete sich der Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei durch eine bewundernswerte analytische Klarheit aus .

2 Johannes Lepsius, Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei, Potsdam 1916, S . 297 .

3 Ebd ., S . 200 .

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Die Verfolgung und Vernichtung der osmanischen Armenier, so Lep-sius, hatte nicht einmal im Ansatz etwas mit kriegsbedingten militärischen Maßnahmen zu tun . Etwa Maßnahmen eines in totaler Härte geführten Krieges, wie sie auch deutschen militärischen Planern vorschwebten, als es darum ging, in Osteuropa durch die Deportation der polnischen Grenzbevölkerung eine »völkische Militärgrenze« gegen die Russen ein-zurichten .4 In Wirklichkeit, so Lepsius, konnte man in der Türkei jedoch etwas beobachten, was es in der Geschichte bisher noch nicht gegeben hatte: das unter dem Deckmantel des Krieges vollzogene Menschenexpe-riment einer innenpolitischen Apokalypse . »Die einzige Erklärung, wel-che die Maßregel der Behörden nicht als eine sinnlose Handlung erschei-nen läßt«, heißt es in seinem Bericht von 1916, »bietet die Annahme, daß es sich um die Durchführung eines innerpolitischen Programms handelte, das sich mit kalter Überlegung und Berechnung die Vernichtung des ar-menischen Volkselements zur Aufgabe machte .«5 Das war, mitten im Krieg, ein ungewöhnlich klares und alle Konventionen der sogenannten Heimatfront und des Burgfriedens herausforderndes Urteil über einen militärischen Verbündeten .

Johannes Lepsius stammte aus dem gehobenen Berliner Bildungsbürger-tum mit exzellenten Beziehungen zu wichtigen Kreisen von Politik, Wis-senschaft, Kirche und Hof . Seine Mutter, eine Tochter des Komponisten Bernhard Klein und der Schriftstellerin Lilly Parthey, unterhielt in der Bendlerstraße einen der letzten Berliner Salons von Rang . Ihr Urgroßvater war der mit Moses Mendelssohn befreundete Aufklärer und Verleger Friedrich Nicolai . Johannes Lepsius’ Vater Carl Richard war in den vier-ziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Leiter einer vier Jahre dau-ernden preußischen Ägyptenexpedition und der eigentliche Begründer der deutschen Ägyptologie . Dass Johannes Lepsius nach vollendetem Theo-logiestudium 1884 als Hilfsprediger und Lehrer nach Jerusalem ging, lag ganz auf der Linie der auf den Orient gerichteten Interessen, mit denen er von Kindheit an konfrontiert war . In Jerusalem, wo er seine in Nazareth geborene spätere Frau Margarethe kennenlernte, begegnete ihm zum ersten Mal die Realität des osmanischen Vielvölkerstaats, dessen Probleme sein Leben bestimmen würden . Palästina war ein kleiner Vielvölkerkosmos für sich . Muslimische und christliche Araber lebten in dieser osmani-schen Provinz, Juden, Armenier, Türken, Griechen und Europäer .6

4 Wolfgang J . Mommsen, Der »polnische Grenzstreifen« . Anfänge der »völkischen Flurbereinigung« und der Umsiedlungspolitik, in: Ders ., Der Erste Weltkrieg . Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a . M . 2004, S . 118-136 .

5 Lepsius, 1916, a .a .O ., S . 217 .6 Hermann Goltz, Pfarrer D . Dr . Johannes Lepsius (1858-1926) – Helfer und

Anwalt des armenischen Volkes, in: Akten des internationalen Dr .-Johannes-

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Dieses Umfeld prägte Johannes Lepsius mehr noch als sein Elternhaus . Der Orient galt den Zeitgenossen schon länger als die eigentliche Wiege der Kultur . Palästina im Besonderen aber war vor allen Dingen das Land der Bibel, und auch das fand zunehmend Aufmerksamkeit . Lepsius kam hier in Kontakt mit Kreisen, die der Schweizer Orientalist und Historiker Hans-Lukas Kieser – dem wir im Übrigen auch die erste große verglei-chende Darstellung vom Genozid an den Armeniern und der Shoah ver-danken7 – das informelle Netzwerk einer »Protestantischen Internatio-nale« genannt hat . Von einem wiedergeborenen Nahen Osten sollte sich nach ihrer Vorstellung der Frieden weltweit ausbreiten .8 Lepsius’ späteres lebhaftes Interesse für Theodor Herzls Zionistenbewegung würde noch von diesem frühen Impuls zehren . Politisch waren sie meist angelsäch-sisch beeinflusste progressive Liberale . Ein funktionierender osmanischer Rechts staat, der auch den Christen und Juden bürgerrechtliche Gleichheit und Sicherheit bot, sollte die Voraussetzung dafür sein, dass ihre Visionen in Erfüllung gehen konnten . Johannes Lepsius entwickelte sich, so Kie-ser, in diesem Milieu schnell zu einem »von der Protestantischen Interna-tionale und ihrer Nahostmission inspirierten, neupietistischen und libe-ralen lutheranischen Christen« .9 Das hieß, um es in eine zeitangemessene Denkweise zu übersetzen, politische Verantwortung aus frommer Gesin-nung im Zweifelsfall auch gegen nationale Obrigkeiten wahrzunehmen und sich nicht in machtgeschützte Innerlichkeit zurückzuziehen .

Zehn Jahre später – er war nach seiner Jerusalemer Zeit seit 1886 Pfar-rer im mansfeldischen Friesdorf – zog es ihn wieder in den Orient . Alle Hoffnungen auf einen osmanischen Rechtsstaat waren durch Nachrich-ten von unvorstellbaren Massakern in den armenischen Gebieten Anato-liens, die seit 1894 die europäische Öffentlichkeit erreichten, plötzlich zunichtegemacht . Lepsius fasste den Entschluss, eine eigene Erkundungs-reise zu unternehmen . Die Impulse der protestantischen Interna tionale, die er in Palästina empfangen hatte, wurden nun zum ersten Mal politisch wirksam .

Im Frühjahr 1896 befand sich Johannes Lepsius auf dem Weg zu einer Informationsreise in die Türkei . »Als aus den englischen Zeitungen Be-

Lepsius-Symposiums 1986 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, S . 27 ff .

7 Hans-Lukas Kieser, Dominik Schaller (Hg .), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah / The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002 .

8 Hans-Lukas Kieser, Nearest East . American Millenialism and the Mission to the Middle East, Philadelphia 2010, S . 3 .

9 Hans-Lukas Kieser, Johannes Lepsius, Orientmissionar . Annäherung an eine deut-sche protestantische Biografie der Belle Epoque . www .lepsiushaus-potsdam .de, Aktivitäten/Publikationen .

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richte nach Deutschland kamen, die den schauderhaften Umfang und den bestialischen Charakter der Blutbäder nicht mehr verschwiegen«, erinnert er sich später, »schrie die deutsche Presse wie mit einem Munde: Eng-lische Lügen! Englische Lügen!«10 Der preußische Generalstabsoffizier und Marschall Colmar von der Goltz zum Beispiel, der zwölf Jahre als Reorganisator der osmanischen Armee im Orient tätig war und insofern als Autorität galt, sprach in der Kölnischen Zeitung von »Schauergeschich-ten« .11 Solchen Bewertungen wollte Lepsius das eigene Urteil entgegen-setzen .

Nach seiner Rückkehr reiste Lepsius wochenlang mit Vorträgen über die unter der armenischen Bevölkerung verübten Massaker durch Deutsch-land . Am 12 . August 1896 erscheint der erste Artikel seiner Serie Die Wahrheit über Armenien in der Zeitung Der Reichsbote . Im Herbst kommt sein Buch Armenien und Europa heraus, das bis 1897 sieben Auf-lagen erreicht und eine erhebliche Öffentlichkeitswirkung entfaltet .

Die Schrift wurde bald ins Englische, Französische und partiell auch ins Russische übersetzt . Lepsius wurde über Nacht eine international respek-tierte Persönlichkeit . Doch das politische Europa verhielt sich merkwür-dig still in dieser Zeit, das meinte auch der britische Liberale und ehemalige Premier William Ewart Gladstone, als er sich zu einem persönlichen Dankschreiben an Lepsius veranlasst sah, in dem er dem »Autor des wertvollen Buchs über die Massaker an den Armeniern, das mir selbst von großem Nutzen war«, seinen persönlichen Respekt bekundete . Das von imperialen Großmachtinteressen statt von politisch-moralischen Maßstä-ben geleitete Bild, das die Regierungen Europas über die Massaker ver-breiteten, so Gladstone in Übereinstimmung mit Lepsius, sei »eine der traurigsten, wenn nicht die traurigste Tatsache dieser Zeit .«12

Diese Apokalypse war ein schwerer Schlag für die Träume der protes-tantischen Internationale . Sie war zugleich die Geburtsstunde einer großen internationalen Menschenrechtsbewegung, in der Amerika und die ameri-kanischen Missionare eine herausragende Rolle spielten . Johannes Lepsius selbst ging es zunächst darum, die Überlebenden – meist Frauen und Waisenkinder – zu retten und so die Grundlagen für eine Wieder geburt

10 Johannes Lepsius, 30 Jahre Deutscher Orient-Mission . Meine erste armenische Reise 1897, in: OLDOM 11/12 (1925), S . 129-134, S . 130 .

11 Colmar Frhr . von der Goltz, Die Ereignisse in Talory (Sassun), in: Kölnische Zeitung, 2 . Beilage zur Sonntagsausgabe, Nr . 168, 24 . Februar 1895 .

12 William Ewart Gladstone an Johannes Lepsius, 25 .7 .1897, in: Hermann Goltz, Axel Meissner (Hg .), Deutschland, Armenien und die Türkei 1895-1926 . Doku-mente und Zeitschriften aus dem Dr . Johannes-Lepsius-Archiv, Teil 1: Katalog, München 1998 (im Folgenden: LAP + Katalognummer), Katalognummer 157-1710 .

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des dezimierten armenischen Volkes zu schaffen . Auf seiner Reise durch Anatolien gründete er 1896 mit Hilfe amerikanischer Missionare in Urfa die erste Niederlassung des künftigen Lepsius-Hilfswerks .

Er wusste aber, dass größere Mittel nur aufgebracht werden konnten, wenn man zuvor die Öffentlichkeit mit unanfechtbaren Informationen über die wirklichen Vorgänge im Osmanischen Reich versorgte und die Legende von den »englischen Lügen« in der deutschen Öffentlichkeit widerlegt war . Insofern diente seine Publikationstätigkeit auch dem ganz praktischen Zweck, einer proarmenischen Bewegung im Deutschen Reich Hebammenarbeit zu leisten . Im Unterschied zu den vielfältigen Hilfs-aktivitäten, die damals auch weite Teile der evangelischen Gemeinschafts-bewegung erfassten, verstand Lepsius seine Arbeit jedoch von Anfang an ausgesprochen politisch .

Adolf Stoeckers Deutsche Evangelische Kirchenzeitung warf ihm vor, dabei politisch wie theologisch von englischen Einflüssen abhängig zu sein,13 wie generell die antibritische Stimmung damals bemerkenswert zunahm . Das preußische Innenministerium intervenierte . Es störte, dass er sich nicht auf die karitative Linderung der Not vor Ort beschränkte, sondern zugleich die Großmächte vehement öffentlich kritisierte . Er konnte zudem, bedingt durch eine intensive Beschäftigung mit der Kunst des Schauspiels seit seiner Studentenzeit – er selbst hat im Lauf seines Lebens sechs Theaterstücke verfasst –, als charismatischer Redner sein Auditorium in seinen Bann ziehen . Für Max von Baden, der ihn für einen begnadeten Propagandisten hielt, verkörperte er den Typus eines Gelehr-ten mit der Seele eines Künstlers und Missionars, der Schrift und Rede wie kaum ein Zweiter beherrschte .14 Auch das störte . Johannes Lepsius war, wie sein französischer Zeitgenosse Émile Zola, ein öffentlicher An-kläger, der auf die politische Macht des Wortes vertraute .15

Die evangelische Amtskirche, entsetzt über die Angriffe, die in Lepsius’ Publikationen und Vorträge erhoben wurden, unternahm den entschei-denden Schritt . Sie verweigerte ihm einen längeren Urlaub für seine pro-armenische Tätigkeit und handelte dabei, wie Martin Rade – der links-liberale Herausgeber der Christlichen Welt – feststellte, keineswegs aus kirchlich-evangelischen Erwägungen heraus, sondern vielmehr durchsich-

13 Uwe Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien, Göttingen 1989, S . 52 .14 Prinz Maximilian von Baden, The Memoirs of Prince Max of Baden, Vol . 1, hrsg .

v . William M . Calder, C . W . H . Sutton, New York 1928, S . 80 .15 Hans-Lukas Kieser, Zion – Armenien – Deutschland . Johannes Lepsius und die

»protestantische Internationale« in der spätosmanischen Welt, in: Armenisch-Deutsche Korrespondenz, 143 (Jan . 2009), Heft 1, S . 15-21, und 145 (Aug . 2009), Heft 3, S . 21-28, auch unter: www .lepsiushaus-potsdam .de; Publikationen .

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tig politisch wie eine Staatsbehörde .16 Lepsius zog die einzig mögliche Konsequenz, die für ihn denkbar war . Er kündigte . Der ehemalige evan-gelische Pfarrer Dr . Johannes Lepsius war von nun an bis an sein Lebens-ende freiberuflicher Organisator einer – wie man heute sagen würde – NGO, einer Non Governmental Organisation .

Er musste die Erfahrung machen, dass die damit verbundenen Mühen der Ebene seine äußersten Kräfte beanspruchten . An der prekären Lage der Armenier im Osmanischen Reich änderte sich nichts, und Lepsius wurde nicht müde, in seiner Zeitschrift Der Christliche Orient immer wieder darauf hinzuweisen . 1902 sprach der sozialdemokratische Veteran Eduard Bernstein auf einer Großversammlung in Berlin unter Berufung auf Johannes Lepsius die Befürchtung aus, dass die Massaker von 1895/96 vielleicht nur der Auftakt zu einem langsamen, aber zielbewusst geführten Vernichtungskampf waren, und verlangte von Deutschland in dieser Frage – wie er es nannte – die Entschiedenheit einer »freiheitlichen« Außen-politik .17 Die jungtürkische Verfassungsrevolution von 1908 ließ zwar einige Hoffnungen aufkommen, aber schon das darauffolgende Jahr erlebte Armenierpogrome in der Gegend von Adana mit mehr als 20 000 Toten . Dann kamen die verheerenden Balkankriege . Hunderttausende von mus-limischen Flüchtlingen überschwemmten Anatolien und wurden meist in den von Armeniern bewohnten Gebieten angesiedelt . 1913 etablierte sich in Istanbul die erste Einparteiendiktatur der modernen Geschichte,18 was eine Militarisierung und Türkisierung des öffentlichen Lebens zur Folge hatte . Das Osmanische Reich, immer noch weit davon entfernt, ein funk-tionierender Rechtsstaat zu sein, befand sich zu dieser Zeit in einem äußerst labilen Zustand, als sich in Berlin ein Armenian Turn in der Politik andeutete . Deutschland und Russland engagierten sich gemeinsam auf diplomatischer Ebene für Reformen in den armenischen Provinzen der Türkei, die endgültig das Versagen von 1895 korrigieren sollten, und übten entsprechenden Druck auf die zu dieser Zeit wegen der Balkankriege zu

16 Axel Meissner, Martin Rades »Christliche Welt« und Armenien . Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus, Berlin 2010, S . 111 .

17 Bernstein nahm ausführlich Bezug auf Lepsius’ Armenien und Europa und for-derte dazu auf, die Stimme zu erheben »zugunsten eines Volkes, gegen welches langsam, aber zielbewußt ein grausamer Vernichtungskampf geführt wird« . Eduard Bernstein, Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas . Rede, gehalten auf einer Berliner Volksversammlung am 26 . Juli 1902, in: Hel-mut Donat (Hg .), Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas, Bremen 2005, S . 19-56, 51, 21 .

18 »The Young Turk Revolution resulted in the gradual emergence of a radically new type of regime that was to become frighteningly familiar in the twentieth century: one-party rule .« M . Sükrü Hanioglu, A Brief History of the Late Otto-man Empire, Princeton/Oxford 2008, S . 151 .

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einer temporären Entlastung ihrer östlichen und südarabischen Problem-zonen gezwungenen Regierung in Istanbul aus .19

Johannes Lepsius hat als Berater des Auswärtigen Amts eine entschei-dende Rolle dabei gespielt, den Armeniern einen Reformplan nahezu-bringen, der von der Überlegung ausging, dass man auf Grund der Misch-besiedlung Ostanatoliens – im Unterschied zu vorausgehenden Regelungen auf dem Balkan – kaum in der Lage wäre, »auf ethnographischer oder his-torischer Basis die Grenzen für ein autonomes Armenien zu bestim men« .20 In der Konsequenz sah dieser Plan die Schaffung von zwei Provinzen in den Gebieten Anatoliens mit hohem armenischem Bevölkerungsanteil vor, für die ein besonderer Minderheitenschutz vorgesehen war . Die In-tegrität des Osmanischen Reichs wurde damit nicht angetastet, aber poten-tiell auf rechtsstaatliche Grundlagen gestellt . Im Prinzip entsprach dies auch den Vorstellungen der sozialistischen Armenischen Revolutionären Föderation,21 mit der Lepsius in ständigem Kontakt stand .

Für Lepsius war das erfolgreich ausgehandelte armenische Reform-programm von 1913 der Höhepunkt seines Lebenswerks . Es war ihm etwas gelungen, was lange Zeit kaum denkbar erschien . Er hatte es ge-schafft, durch »Realpolitik« ein Ziel zu erreichen, das seine Letztbegrün-dung in seinen Grundsätzen politisch-theologischer Ethik fand . Das hieß, in moderne Sprache übersetzt: Er war der Realisierung rechtsstaatlicher Verhältnisse auf Erden einen Schritt näher gekommen . Eine der daraus folgenden Konsequenzen war die Gründung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft im Jahre 1914 unter seinem Vorsitz . Der Weltkrieg aber würde nur wenige Wochen später alle diese Hoffnungen in kurzer Zeit zunichte machen, auch wenn Lepsius deshalb zunächst – und wie er bald feststellen musste, irrtümlich – keine Verschlechterung der Lage der os-manischen Armenier erwartete .

Zur Beurteilung seiner Person ist es wichtig festzuhalten, dass die politi-sche Ethik in seinem Wertekanon immer an erster Stelle stand . Schon 1897 hatte er sich in Maximilian Hardens Zukunft entschieden gegen die Ansicht ausgesprochen, den Nationalismus zum Maßstab sittlichen Den-

19 Ebd ., S . 175 . Zur gleichen Zeit wurden mit Großbritannien Vereinbarungen über die Aufteilung des Jemen getroffen – einer der Gründe, weshalb London bei den armenischen Reformen diesmal nicht part of the game war . Eigentlich, so Max von Baden in seinen Memoiren, war Johannes Lepsius aber von einer mög-lichen positiven Rolle Russlands in der armenischen Frage nie wirklich überzeugt . Er hätte einer britisch-deutschen Intervention unter anderen Bedingungen den Vorzug gegeben, auch im Interesse der Türkei selbst . Siehe: Prinz Max von Baden 1928, a .a .O ., S . 8 .

20 Wangenheim an Bethmann Hollweg, 24 .2 .1913 . PA-AA R 14078 .21 Holstein an Bethmann Hollweg, 22 .5 .1913 . PA-AA R 14079 .

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kens und Handelns zu erheben . Besonders deutlich wurde er während einer heftigen Kontroverse mit Friedrich Naumann auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress 1900 in Karlsruhe um die Frage von Machtpolitik . Naumann hatte kurz zuvor den armenischen Opfern einen höheren Sinn abgewinnen wollen, der seiner Meinung nach in Deutschlands angeb-licher Bestimmung zur Weltpolitik begründet lag . Das war in den Augen von Johannes Lepsius kaum mehr als eine blasphemische Theodizee, und seinen Widerspruch fand es auch, als Naumann gegen ihn auf diesem Kongress verkündete, heute sei der Kampf das Prinzip in der Politik der großen Nationen .22

Lepsius war kein Gegner von Weltpolitik, aber sie hatte für ihn nur sehr bedingt etwas mit den wilhelminischen Konjunkturen deutscher Macht-politik zu tun . Weltpolitik bedeutete für ihn in erster Linie eine Gewissens-sache, eine Vorbedingung des endlichen Anbruchs des Reiches Christi, das er als ein Reich von oben her, aber stattfindend auf dieser Erde als eine nach den Grundsätzen des Evangeliums rechtsstaatlich eingerichtete Welt – One World – betrachtete .23 Lepsius verstand darunter die innere Bereitschaft zur Friedfertigkeit als kategorisches Prinzip,24 das im realen Leben nicht im Sinne einer Gesetzesreligion, sondern als regulatives Prin-zip von Politik und Recht wirksam werden sollte und das im konkreten Fall ein pragmatisches Einzelurteil erforderte . Im Prinzip waren solche Gedankenfiguren im Deutschland des Neukantianismus nicht ganz unge-läufig . Sie entsprachen im Großen und Ganzen dem, was Immanuel Kant bereits in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger licher Absicht formuliert hatte, wobei sein Weltbürgertum durchaus Züge eines säkularisierten Reichs Christi an sich hatte . Solche Gedanken wiesen zwei-fellos auch Berührungspunkte mit den ebenfalls evangelisch-theologisch fundierten politischen Friedensvisionen Woodrow Wilsons auf . Mit dem nicht unbedeutenden Unterschied allerdings, dass Lepsius nicht im demo-kratischen Amerika, sondern in Luthers Deutschland Gottes prädestinier-tes Land sehen wollte .

Er befand sich aus diesem Grund zeit seines Lebens in einem unauflös-baren Dilemma zwischen seinen theologisch begründeten Zukunftserwar-tungen und den Niederungen und Abgründen der deutschen Real- und Machtpolitik . Immer wieder versuchte er, im wilhelminischen Deutsch-land in erster Linie den geistigen Erben der Reformation und eines authen-tischen Christentums zu sehen . Nie gelang es ihm . Er feierte zwar nicht,

22 Siehe auch Manfred Aschke, Das christliche Deutschland und die Weltmacht-politik; www .lepsiushaus-potsdam .de, Publikationen .

23 Meissner 2010, a .a .O ., S . 92 .24 Siehe dazu auch den ersten Beitrag von Manfred Aschke in diesem Band .

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wie die Mehrzahl der gebildeten Protestanten seiner Zeit, den August 1914 als ein nationales Pfingsterlebnis, aber er betrachtete den Ausbruch der Feindseligkeiten als unvermeidlich, wenn das Volk Martin Luthers nicht untergehen wollte . Er musste jedoch erleben, wie die im Krieg begangenen Verbrechen zunehmend in Widerspruch gerieten zu den Hoffnungen, die er 1913 in die armenischen Reformen gesetzt hatte, und letztlich auch in Widerspruch zu seiner Vision des kommenden Reichs Christi auf Erden .

Ein Schlüsselerlebnis dabei war seine Reise nach Istanbul im Sommer 1915 . Kurz zuvor war sein Sohn an der Ostfront von einer Kugel tödlich getroffen worden . Er unternahm die Reise dennoch, nachdem man ihm im Auswärtigen Amt ein Telegramm des deutschen Botschafters in Istanbul, Hans von Wangenheim, vorgelegt hatte, das beunruhigende Nachrichten über das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich enthielt . Im Zweifel entschied sich Johannes Lepsius immer für die Wahrheit, der er jetzt – wie 1896 – wieder auf den Grund gehen wollte .

Den Höhepunkt dieser Reise kann man in Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh nachlesen . Während der Belagerung des Ber-ges Musa Dagh am Mittelmeer, auf den sich etwa 5000 Armenier auf der Flucht vor ihren Verfolgern zurückgezogen hatten, befand sich Johannes Lepsius in Istanbul, wo er am 10 . August 1915 durch Vermittlung des Aus-wärtigen Amts und der deutschen Botschaft zu einer Audienz bei Kriegs-minister Enver Pascha empfangen wurde . Ursprünglich hatte er, als ihm im Frühjahr die Nachricht von den allgemeinen Deportationsbefehlen zu Ohren gekommen war, einen verzweifelten diplomatischen Vermittlungs-versuch in letzter Minute unternehmen wollen, um wenigsten die Arme-nier des Westens vor der Verderbnis zu retten und vielleicht einen Teil der verhängnisvollen Politik zu korrigieren . Doch schon während der Vorbereitungen und bei Gesprächen auf der Reise war ihm klargewor-den, dass hier etwas vor sich ging, das an Ungeheuerlichkeit alles bisher Dagewesene überstieg .

Lepsius hat ein Protokoll dieses Gesprächs im Kriegsministerium an-gefertigt . »Ich übernehme die Verantwortung für alles«, sagt Enver, als ihn Lepsius auf die Vorgänge im Inneren anspricht, und holt dann zu einem langen Vortrag aus, in dem er über die militärischen Notwendigkeiten, die in der Kriegszeit das Vorgehen gegen die revolutionären Elemente im Reich zur Pflicht gemacht hätten, doziert . »Ich selbst glaube nicht an eine armenische Verschwörung«, hält ihm Lepsius entgegen und fragt, ob es denn dafür irgendwelche handfesten Beweise gäbe . In diesem Augen-blick setzt Enver das ihm eigene überlegene Lächeln auf und antwortet: »Deren bedarf es nicht, wir kommen selbst von der Revolution her und wissen, wie so etwas gemacht wird .« Fast wörtlich hatte er dasselbe bei anderer Gelegenheit auch zu dem amerikanischen Botschafter Henry

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Morgenthau gesagt .25 Und er fügt gegenüber Lepsius hinzu: »Wir kön-nen mit unseren inneren Feinden fertig werden . Sie in Deutschland kön-nen das nicht . Darin sind wir stärker als Sie .«26

Nicht nur Lepsius ist das ganze Ausmaß der Armenierpolitik des herr-schenden jungtürkischen Komitees erst langsam klargeworden . Schließ-lich hatte es 1908 eine Verfassungsrevolution gegeben, an der die Armeni-sche Revolutionäre Föderation als Bündnispartner der Jungtürken beteiligt gewesen war, und niemand erwartete eine Wiederholung, geschweige denn eine Steigerung der hamidischen Massaker von 1895/96 . Doch die beunruhigenden Nachrichten nahmen zu . In den ersten Monaten des Krieges konnte man noch lokal begrenzte Maßnahmen vermuten, und auch die tödlichen Konsequenzen der angeblich kriegsbedingten Depor-tationen wurden erst nach und nach deutlich . Spätestens im Frühsommer war kaum noch zu übersehen, »daß die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten«,27 wie Botschafter von Wangenheim aus Istanbul am 7 . Juli 1915 unmiss-verständlich an Reichskanzler Bethmann Hollweg kabelte .

Lepsius hatte ursprünglich, als er im Juni seine Reise plante, in Ab-sprache mit dem Auswärtigen Amt28 und dem Zentralbüro der Armeni-schen Revolutionären Föderation,29 der osmanischen Führung den Vor-schlag machen wollen, dass die russischen Armenier gegen den Verzicht auf weitere Deportationen »ihre Sache von der Sache Russlands tren-nen«30 würden . Zumindest rechnete er damit, dass bei Einstellung der Vernichtungsmaßnahmen sich die russischen Armenier veranlasst sehen könnten, sich im Interesse ihrer türkischen Volksgenossen zurückzuhal-ten .31 Es war, wie Margaret Anderson einmal betont hat, eine ziemlich riskante Mission in auswegloser Lage .32 Für das Auswärtige Amt stellte

25 Henry Morgenthau, Ambassador Morgenthau’s Story, Garden City/New York 1919, S . 347 .

26 Johannes Lepsius, Mein Besuch in Konstantinopel Juli/Aug . 1915, in: OLDOM 1/3 (1919), S . 21-33, S . 28 .

27 Wangenheim an Bethmann Hollweg, 7 .7 .1915 . PA-AA R 14086 .28 »Dr . Lepsius wünscht dorthin zu reisen nicht um auf Pforte Druck auszuüben,

sondern um Armenier zur Vernunft zu bringen .« Zimmermann an Wangenheim, 6 .6 .1915 . PA-AA R 14086 . Das ist natürlich eine diplomatisch stark geglättete Sicht von Lepsius’ Intentionen, an die Zimmermann möglicherweise selbst ge-glaubt hat .

29 Lepsius an den Legationsrat des Auswärtigen Amts Rosenberg, 11 .6 .1915 . An-lage 1 . PA-AA R 14086 .

30 Lepsius an Rosenberg, 22 .6 .1915 . PA-AA R 14086 .31 Lepsius an AA, 17 .4 .1916 . PA-AA R 14091 .32 Germany and the Armenian Genocide . An Interview with Margaret Lavinia

Anderson by Khatchig Mouradian, ZNet, 11 . November 2006 .

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sie jedoch eines der vielen optionalen Kriegsplanspiele dar, die damals keine Seltenheit waren und von denen es in dieser Variante – außer dem Besuch von Lepsius bei Ismail Enver – insgesamt drei dokumentierte Vor-stöße im Osmanischen Reich gab, die bis in den Herbst 1915 andauer-ten .33 In Istanbul aber interessierte sich niemand dafür, weil die innen-politische Agenda gegenüber den Armeniern schon längst feststand .

In Basel, Genf, Bukarest und Sofia hatte Lepsius sich auf der Hinreise vor allem durch seine armenischen Verbindungen mit Informationen ver-sorgt . Die Informationen, die er in Istanbul von Seiten der deutschen Bot-schaft, des armenischen Patriarchats oder durch Hinweise von Henry Morgenthau erhielt – für den Lepsius ein »high-minded Christian gentle-man«34 war –, bestätigten ihm nur das, was er zuvor bereits erfahren hatte .

»Liebe Alice«, schrieb er Anfang August 1915 aus Istanbul an seine zweite Frau in Potsdam:

Es ist unsagbar, was geschehen ist, und noch geschieht . Die vollkom-mene Ausrottung ist das Ziel – alles unter dem Schleier des Kriegsrech-tes . Vorläufig ist nicht mehr dazu zu sagen . […] Es ist – wenn man gegen die ersten Eindrücke hart geworden ist, um mit allen Kräften des Geistes auf Abhilfe zu sinnen, von äußerstem psychologischem Inter-esse, zu sehen, wie sich die verschiedenen Menschen zu dieser Tatsache stellen . »Das Scheußlichste, was überhaupt in diesem Weltkrieg ge-schieht«, sagte mir einer unserer Diplomaten – und wie reagiert man darauf?35

Wie reagierte Johannes Lepsius? Die deutsche Zensur hatte den Brief geöffnet und reagierte sofort . »Da der Brief militärische bzw . politische Nachrichten enthält, deren Bekanntwerden im vaterländischen Interesse nicht erwünscht ist«, so der amtliche Vermerk des Zensors, »ist es erfor-derlich, daß sein Inhalt geheim gehalten wird .«36 Lepsius aber mobilisierte sofort seine eigenen Ressourcen und die seines Netzwerks, darunter seine amerikanischen Verbindungen . »Ich versuche Mittel und Wege zu fin-den«, ließ Lepsius den bulgarischen Außenminister bereits auf seinem Rückweg aus Istanbul im Sommer 1915 wissen, »um die völlige Vernich-tung des armenischen Volkes in der Türkei zu verhindern .«37 Zwei Dinge standen für ihn im Vordergrund . Aufzuklären und so viele Arme-nier wie möglich zu retten .

33 Rolf Hosfeld, Operation Nemesis . Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern . Köln 2005/2009, S . 255 f .

34 Morgenthau 1919, a .a .O ., S . 343 .35 Lepsius an Alice Lepsius, Anfang August 1915, LAP 118-1320 .36 Ebd .37 Lepsius an den bulgarischen Außenminister, 16 .8 .1915, LAP 147-1713 .

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Im Unterschied zu der nicht unbeträchtlichen Anzahl von Personen im Deutschen Reich, die genau wussten, was in der Türkei vor sich ging, beschloss er, nicht aus Gründen der Staatsräson und des Kriegszustands zu schweigen . »Das Gewissen des Staatschristentums«, meinte er in dieser Zeit, »fühlt sich bei solchen Interessengegensätzen leicht versucht, das was menschlich geboten ist, dem was politisch bequem ist, unterzuord nen .«38 Lepsius tat dies nicht . Er wusste, dass in dieser Situation – gewisser-maßen einem moralischen Ausnahmezustand – außerordentliche Mittel notwendig waren . Auch um die Gefahr, die Grenzen des politisch und legal Erlaubten zu überschreiten .

Er war kaum von seiner Reise nach Istanbul in Deutschland zurück, als er am 5 . Oktober 1915 im Berliner Reichstag eine Pressekonferenz ab-hielt, auf der er die Wilhelmstraße als Sklaven der Hohen Pforte anklagte, was ihm sofort die Aufmerksamkeit der Militärzensur verschaffte .39 Für Johannes Lepsius – an dem Morgenthau bereits in Istanbul eine deutliche und sehr emotionale Verstörung über die Orientpolitik seiner eigenen Regierung bemerkt hatte40 – war dies der erste bedeutende Schritt heraus aus der öffentlichen Lüge .41

Am 11 . Januar 1916 wurde ein Gespräch, das Karl Liebknecht mit Lepsius geführt hatte, Anlass zu einer Anfrage des sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag . »Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt«, so Liebknecht, »daß Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen …?« Hier wurde der Vortrag durch die Glocke des Präsidenten mitten im Satz unterbrochen .42 Eigentlich war es so, dass in Deutschland kaum jemand wissen wollte, was im Inneren der Türkei wirklich vorging .

Im Sommer 1916 veröffentlichte Lepsius seinen 300-seitigen Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei . Trotz der drohenden Militärzensur gelang es ihm, zwanzigtausend Exemplare davon privat

38 Lepsius an August Winkler, 26 .3 .1916, LAP 7183 .39 Am 7 . Oktober 1915, zwei Tage später, wurde über die armenische Frage eine

totale Zensur verhängt .40 »He expressed to me the humiliation which he felt, as a German, that the Turks

should set about to exterminate their Christian subjects, while Germany, which called itself a Christian country, was making no endeavours to prevent it .« Mor-genthau 1919, a .a .O ., S . 344 .

41 Margaret Lavinia Anderson, Who Still Talked about the Extermination of the Armenians? German Talk and German Silences, in: Ronald Grigor Suny, Fatma Müge Göcek, Norman M . Naimark (Hg .), A Question of Genocide . Armenians and Turks at the End of the Ottoman Empire . Oxford/New York 2011, S . 199-220, S . 211 .

42 Anfrage des Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht in der 26 . Sitzung des Reichstags vom 11 . Januar 1916, PA-AA R 14089 .

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drucken und verteilen zu lassen, versehen mit dem Vermerk: »Als Manu-skript gedruckt! Streng vertraulich!« Es war ausschließlich dieser Kraft-akt zivilen Ungehorsams, der die Publikation und die Verbreitung der Schrift ermöglicht hat . Selbst Mitarbeiter und Partner von Lepsius weiger-ten sich, teils aus Angst, teils aus Gründen nationaler Besorgnis, sich an dem Unternehmen zu beteiligen . Zwei Rollwagen brachten schließlich zwanzigtausend Exemplare zur Post, adressiert an die Superintendenten der evangelischen Kirche . Am 29 . Juli 1916 gingen fünfhundert Exemplare an andere ausgewählte Persönlichkeiten und die Redaktionen der größe-ren deutschen Tageszeitungen .

Am 7 . August 1916 wurde die Broschüre von der Militärzensur ver-boten und, soweit überhaupt noch greifbar, beschlagnahmt . Danach ver-ließ Lepsius Deutschland und übersiedelte ins neutrale Holland, wo eine niederländische Übersetzung seines Berichts erscheinen konnte . Sie musste allerdings ohne Namensnennung des Autors anonym publiziert werden, weil die deutsche Botschaft in Den Haag Lepsius öffentliche Aktivitäten in der armenischen Angelegenheit strikt untersagt hatte . Seinen Lebensunter-halt verdiente er sich durch die Auswertung der britischen Presse mit Blick auf Signale für einen möglichen Verständigungsfrieden mit dem Deut-schen Reich . Doch in erster Linie war er weiter für die armenische Sache aktiv .43 Er organisierte von hier aus seine Hilfsaktivitäten im Orient und unterhielt Kontakte zu Lord Bryce,44 dem Herausgeber des offiziellen britischen Blaubuchs über die Armenier, sowie zu dem in Genf lebenden armenischen Politiker Boghos Nubar Pascha .45 Unter anderem entwarf er in Holland auch die Statuten für eine Internationale Philarmenische Liga, die 1920 als Ligue internationale philarménienne in Paris mit Sitz in Genf gegründet wurde . Schon 1916 – noch in Potsdam heimlich vervielfältigt – lag eine französische Übersetzung seines Berichts mit dem Titel Rapport sur la situation du peuple Arménien en Turquie. Par le Dr Johannes Lep-sius, Président de la Deutsche Orient-Mission et de la Société Germano-

43 Max von Baden meint, Lepsius hätte bei seinen Talenten in dieser Frage sogar ein guter Propagandist für die Anhänger eines Verständigungsfriedens und damit für die deutsche Sache werden können – wenn sein Engagement für die Armenier ihn nicht primär beansprucht hätte . Siehe: Prinz Max von Baden 1928, a .a .O ., S . 80 .

44 Für James Barton vom amerikanischen Near East Relief waren James Bryce und Lepsius die beiden herausragenden Personen, die am meisten zur Aufklärung der Verbrechen im Osmanischen Reich beigetragen haben . James L . Barton, Story of the Near East Relief (1915-1930), New York 1930, S . 47 .

45 Feigel 1989, a .a .O ., S . 223 .

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Armenénienne vor .46 Sie erschien 1918, mit einem Vorwort versehen, als Buch in Paris .

Nach dem Krieg hat Lepsius – der den 9 . November 1918 ganz in der Tradition der protestantischen Internationale als Durchbruch einer neuen demokratischen Weltära begrüßte47 – einen vom Auswärtigen Amt selbst ausgewählten Teil der Dokumente und des Schriftwechsels zu den Ereig-nissen in der Türkei während des Krieges unter dem Titel Deutschland und Armenien in seinem Potsdamer Tempel-Verlag veröffentlicht . Dies war die erste systematische Dokumentation diplomatischer Quellen zum Völker-mord an den Armeniern . Der Leser/die Leserin erfährt erschütternde De-tails über die Vorkommnisse, die Abläufe und Verantwortlichkeiten in der Türkei während des Krieges, wie sie von deutschen Konsulaten, teil-weise auch Mi litärs, an die Botschaft in Istanbul und von dort nach Berlin berichtet wurden . Danach stand es außer Zweifel, dass die türkische Regie-rung eine systematische Ausrottungspolitik gegenüber den Armeniern be-trieben hatte, über die man in der deutschen Reichsführung bestens infor-miert gewesen war, ohne etwas Wirksames dagegen zu unternehmen .

Man war in der Tat bestens informiert . Wobei allerdings bemerkens-wert ist, so die Deutsch-Armenische Gesellschaft Ende 1918, dass zynische antiarmenische Äußerungen wie in den 1890er Jahren diesmal weitge-hend unterblieben .48 Man war tief irritiert über diese grenzüberschrei-tende und totale Vernichtungsgewalt gegenüber einer am Krieg unbeteilig-ten Zivilbevölkerung . Man intervenierte – anders als Österreich-Ungarn, das Bedenken hatte, sich damit als parteiische »christliche Macht« zu er-weisen – mehr oder weniger vorsichtig bei der Hohen Pforte .49 Paul von Hindenburg sprach vom »Erwachen der Bestie im Menschen« und einem der »schwärzesten Kapitel in der Geschichte aller Zeiten und Völker« . Doch gleichzeitig vertrat er die Ansicht, man müsse aus zwingenden mi-litärischen Gründen die osmanische Reichsleitung um jeden denkbaren Preis unterstützen .50 Es war die Moral eines zunehmend totaler werdenden Krieges, die hier wirksam wurde und die Deutschland – mit der Menta-lität, auch solche »Kollateralschäden« größten Ausmaßes letztlich dem all-

46 Ein Exemplar dieser französischen Ausgabe befindet sich nach Auskunft von Axel Meissner in der Wiener Mechitaristen-Bibliothek . Meissner 2010, a .a .O ., S . 231 ff .

47 Siehe auch den Beitrag von M . Rainer Lepsius in diesem Band .48 Deutsch-Armenische Korrespondenz 1 (1918), S . 3 .49 Donald Bloxham, Power Politics, Prejudice and Propaganda: A Reassessment of

the German Role in the Armenian Genocide of WWI, in: Hans-Lukas Kieser, Dominik J . Schaller (Hg .): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002, S . 213-244, S . 228 .

50 Paul von Hindenburg, Aus meinem Leben, Leipzig 1920, S . 208 f .

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gemeinen Weltkriegsziel unterzuordnen – zu einem »realpolitischen« Komplizen der Verbrechen im Orient werden ließ . Diese bellizistische Moral verhinderte jene Empathie, die Botschafter Wolff Metternich im-mer wieder veranlasste, von der Wilhelmstraße entschiedenere Schritte gegen die genozidale Politik in der Türkei zu fordern .51

»Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unse-rer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht«, so die Gegenposition von Reichskanzler Bethmann Hollweg Ende 1915: »Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen .«52 Erst im späten Frühjahr 1918 drohte Erich Ludendorff Enver Pascha mit harschen Worten einen völligen Bruch des Bündnisses an, als türkische Truppen die im Vertrag von Brest-Litowsk gezogenen Grenzen missachteten und in den Kaukasus einmarschierten .53 Aber hier waren deutsche Interessen im Spiel; es ging um das Öl am Kaspischen Meer . 1915 hätte man sich solche deutlichen Worte ebenfalls gewünscht, doch sie unterblieben . Zweifellos ist die armenische Frage insofern auch ein Teil der deutschen Geschichte .

Johannes Lepsius jedoch tat sich immer schwer damit, eine qualifizierte Mitschuld des Deutschen Reichs an diesem ersten großen europäischen Völkermord in vollem Umfang einzugestehen, selbst wenn er Anfang 1919 von Mitverantwortung sprach . Er tat sich vor allem deshalb schwer, weil er wie die meisten Deutschen seiner Zeit, einschließlich führender Sozial-demokraten wie Philipp Scheidemann, mit dem Versailler Vertrag haderte . Immer wieder versuchte er, unter anderem durch die auf vierzig Bände an gelegte Aktenpublikation Die große Politik der europäischen Kabinette, die er in den zwanziger Jahren als Orientexperte gemeinsam mit Friedrich Thimme und Albrecht Mendelssohn Bartholdy unter Anleitung des Aus-wärtigen Amts herausgab, mit teils problematischen Mitteln54 gegen die

51 »Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen wir der türkischen Regie-rung Furcht vor den Folgen einflößen . Wagen wir aus militärischen Gründen kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als mit ferneren erfolglosen Ver-wahrungen, die mehr verärgern als nützen, zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert .« Wolff Metternich an Bethmann Hollweg, 7 . Dezember 1915 . PA-AA R 14089 .

52 Notiz Bethmann Hollweg 17 . Dezember 1915 zu Wolff Metternich an Beth-mann-Hollweg, 7 . Dezember 1915; PA-AA R 14089 .

53 »Wie Eurer Exzellenz bekannt, habe ich stets Ihre Interessen und Wünsche warm vertreten . Ich muß es Eurer Exzellenz gegenüber klar aussprechen, daß ich dies für die Folge nicht nur nicht tun kann, sondern daß das vertragswidrige Vorgehen der Türkei für mich jedes Zusammengehen mit Eurer Exzellenz aus-schließen würde .« Berckheim an AA, 8 . Juni 1918 . PA-AA R 11047 .

54 »Die Akten des Kriegsschuldreferats beweisen, daß die Beamten bei diesem Un-ternehmen immer wieder auf die Herausgeber eingewirkt haben, belastende

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sogenannte »Kriegsschuldlüge« vorzugehen . In depressiven Zeiten wäh-rend der großen Inflation – die er als »Irrenhaus des Weltfrie dens«55 emp-fand – stellte er privatim manchmal sogar die handlungs unfähige deutsche Republik, die er anfangs enthusiastisch begrüßt hatte, wieder in Frage .56

Aber er war – und das unterschied ihn in der Weimarer Republik von vielen seiner Landsleute – alles andere als ein militanter Revanchist . Wenn die Deutschen sich aus dem nächsten Weltkrieg fernhalten könnten, schrieb er 1924 in seiner Zeitschrift Der Orient, zwei Jahre vor seinem Tod, ganz im Geist theologisch begründeter politischer Ethik, dann habe die sinnlose Niederlage vielleicht doch einen Sinn gehabt .57 Sein Haupt-interesse allerdings galt auch in dieser Zeit in erster Linie dem Schicksal der Armenier . Sein Auftritt als Hauptgutachter in dem Prozess gegen den armenischen Attentäter des Anschlags auf den ehemaligen Großwesir Talaat Pascha 1921 in Berlin, der mit einem überraschenden Freispruch endete, bescherte ihm noch einmal internationale Aufmerksamkeit .

Besonders traf ihn der Vertrag von Lausanne 1923 nach dem Sieg der Nationalbewegung Mustafa Kemals, durch den ganz Anatolien einschließ-lich der ehemaligen armenischen Kernsiedlungsgebiete türkisch wurde . Er besiegelte das Ende aller armenischen Hoffnungen nach dem Ersten Welt-krieg und sanktionierte durch die Vertreibung von über einer Million kleinasiatischer Griechen nach seinen Worten die neue Methode der Eva-kuierung ganzer Völker durch »internationalen Vertragszwang« .58 Ein

Dokumente nicht aufzunehmen, sie zu kürzen oder durch apologetische Kom-mentare zu relativieren .« Ulrich Heinemann, Die Last der Vergangenheit . Zur politischen Bedeutung der Kriegsschuld- und Dolchstoßdiskussion, in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hg .), Die Weimarer Republik 1918-1933, Bonn 1988, S . 371-386, S . 376 .

55 Lepsius an Benedictsen, 2 .1 .1923, LAP 1432-14469 (1) .56 So in einem Rundumschlag Ende Oktober 1922, der insbesondere auch dem

kraftlosen Zustand der evangelischen Kirche galt . »Ob es möglich sein wird, auf der tabula rasa einen neuen Geistesbau aufzurichten, muß die Zeit lehren«, schreibt Lepsius da: »Hoffentlich wird das Intermezzo Ebert dann durch einen neuen Abschnitt deutscher Kaisergeschichte abgelöst sein .« 24 .10 .1922, LAP 1504-15180 (1) . Das bedeutet aber keineswegs zwingend einen antidemokrati-schen Standpunkt . Die Dinge liegen etwas komplizierter . Das Reich war seit dem 28 . Oktober 1918 eine parlamentarisierte Monarchie, noch bevor am 9 . Novem-ber die Republik ausgerufen wurde . Laut Max von Baden hat Lepsius bei der Entscheidung zur Parlamentarisierung des Reichs sogar eine nicht unwichtige Rolle gespielt . Er setzte dabei auf eine vollständige Parlamentarisierung unter Beibehaltung der Monarchie, um einen politischen Zusammenbruch wie in Russland zu verhindern . Siehe: Prinz Max von Baden 1928, a .a .O ., S . 145 .

57 Johannes Lepsius, Krieg und Frieden . Ein Kapitel Religionsgeschichte, in: OLDOM 1/2 (1924), S . 1-7, S . 7 .

58 Lepsius an Weckeser, 2 .12 .1922, LAP 141-1555 (1) .

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fataler Präzedenzfall für die Zukunft war damit in die Welt gesetzt, wie sich im weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zeigen sollte .

In seinen letzten Lebensjahren war Johannes Lepsius ein schwer kran-ker Mann und blieb teilweise monatelang an sein Zimmer gefesselt . Ge-rade in dieser Zeit entwickelte er einen Überschuss an neuen Plänen, als wolle er damit den nahenden Tod besiegen . Oft aber waren sie, wie sein langjähriger Mitarbeiter Richard Schäfer in einer seltenen kritischen Be-merkung feststellte, »mit der rauhen Wirklichkeit in der Praxis« nur schwer zu vereinbaren .59 Dazu zählte auch die 1925 schon in Details ausgearbei-tete Idee, am Potsdamer Pfingstberg in der Villa Henkel eine armenisch-deutsche Akademie zu errichten . Unerwartet starb Johannes Lepsius wäh-rend eines Kuraufenthalts in Meran im Februar 1926, wo sich sein Grab noch heute befindet .

Was bleibt? Johannes Lepsius’ klarsichtige Analyse der destruktiven Potentiale eines extremen Nationalismus, seine Bereitschaft, mitten im Weltkrieg das Schweigen zu brechen und ethisch-internationalistische Beweggründe über die eigene Staatsräson zu stellen, sein Insistieren auf einer rechtsstaatlichen Regelung von Minderheitsproblemen bei Wahrung der kulturellen Identität, sein unzeitgemäßer ziviler Ungehorsam und seine unermüdliche und erfindungsreiche Aktivität, einer verfolgten und von der Vernichtung bedrohten Ethnie – den Armeniern – praktische Hilfe zu leisten, kennzeichnen ihn auch heute noch als eine deutsche Ausnahme-figur .

59 Richard Schäfer, Geschichte der deutschen Orient-Mission, Potsdam 1932, S . 119 .

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Johannes Lepsius’ politische AnsichtenM. Rainer Lepsius

Johannes Lepsius war Theologe und blieb Theologe, er wurde nicht Politi-ker, wie etwa seine theologischen Kollegen Friedrich Naumann oder Paul Rohrbach . Er wandte sich der Mission der Muslime zu und wurde, durch äußere Umstände veranlasst, zu einem Unterstützer der verfolgten Ar-menier in Anatolien . Aber er war immer auch ein politischer Mensch, hatte sich kirchenpolitisch engagiert, auf die Armenierpolitik des Deutschen Reiches Einfluss zu nehmen versucht, sich im Ersten Weltkrieg für einen Verständigungsfrieden und nach dem Krieg gegen die These von der Al-leinschuld Deutschlands eingesetzt . Stets stand sein Handeln in einem ausdrücklichen Wertbezug .

Im Folgenden werden seine politischen Ansichten und Handlungen in vier historischen Kontexten behandelt: in den Jahren 1896, 1913-1916, 1916-1918 sowie 1919-1922 .1

Die Verfolgung der Armenier 1896

Als Johannes Lepsius von den Massakern an den Armeniern 1895 hörte,2 entschloss er sich spontan, aus seiner Pfarrei in Friesdorf im Südharz auf-zubrechen, um ein Bild von den Zuständen in der Türkei zu gewinnen und Hilfsgelder für die Versorgung armenischer Waisenkinder zu überbrin-gen .3 Nach seiner Rückkehr begann er über die mörderischen Gescheh-nisse zu berichten . Schon im August 1896 hatte er Armenien und Europa:

1 Zu Johannes Lepsius siehe: Hermann Goltz, Axel Meissner (Hg .), Deutschland, Armenien und die Türkei 1895-1926 . Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr . Johannes-Lepsius-Archiv, Teil 3: Thematisches Lexikon zu Personen, Institu-tionen, Orten, Ereignissen, München 2004; Hermann Goltz, Zwischen Deutsch-land und Armenien . Zum 125 . Geburtstag des evangelischen Theologen Dr . Jo-hannes Lepsius (15 .12 .1858-3 .2 .1926), in: Theologische Literaturzeitung, 108 . Jg ., Dezember 1983, Sp . 865-888 .

2 Zur Geschichte und Vorgeschichte des Völkermordes an den Armeniern sei gene-rell verwiesen auf die umfassende und differenzierende Darstellung von Ives Ter-non, Tabu Armenien . Geschichte eines Völkermordes, Frankfurt a . M ./Berlin 1981, zuerst Paris 1977 .

3 Vgl . dazu und zum Folgenden: Andreas Baumann, Der Orient für Christus . Jo-hannes Lepsius – Biographie und Missiologie, Gießen 2007, S . 43-49, sowie den Reisebericht von Johannes Lepsius, Dr . Lepsius’ erste Armenische Reise Mai bis Juni 1896, in: EOL (1903), S . 6-9 .

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Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland4 verfasst . Darin stellte er fest, der Plan zur Verfolgung der Armenier sei von Sultan Abdul Hamid II . gefasst und von den osmanischen Behörden systematisch ausgeführt worden, nicht aber, wie behauptet, sei er das Ergebnis armenischer Aufstände gewesen . Etwa 100 000 Armenier seien verhungert oder getötet worden, weite Landstriche verwüstet und zahlreiche Dörfer zerstört . Mit dieser Schrift betrat Johannes Lepsius den politischen Raum . Auch die europäischen Großmächte machte er für die Massaker verantwortlich: »Niemand an-ders [hat] die furchtbare Vernichtung herbeigeführt, als die Politik der christlichen Großmächte selbst .« Sie hätten »die armenische Frage« ge-schaffen .5

Was war damit gemeint? Auf dem Berliner Kongress 1878 hatten die Großmächte in Artikel 61 des Vertrages von der Türkei verlangt, in den von Armeniern bewohnten Provinzen in Ostanatolien weitgehende Re-formen durchzuführen und über deren Vollzug zu berichten . Damit hatten sie einen Anlass für Interventionsdrohungen gegen die Türkei geschaffen . Das Osmanische Reich hatte Reformen stets in Aussicht gestellt, sie aber nicht umgesetzt . Die Türkei versuchte, sich dieser Interventionsdrohung zu entziehen, indem sie die armenische Minderheit verschärft verfolgte und schließlich 1915/16 vertrieb und größtenteils ermordete . Insofern war die armenische Frage auch das Resultat der Intervention der Großmächte zugunsten der Armenier . Johannes Lepsius schrieb bereits 1896: »Es scheint uns dringend notwendig, daß sich Europa mit einem baldigen Wie-derausbruch der armenischen Unruhen ernstlich beschäftigt« und sich nicht nur mit dem Austausch diplomatischer Noten begnüge .6 Er forderte die Wiedergutmachung an den Armeniern und die Beendigung der zwangs-weisen Bekehrungen zum Islam . Aber »das christliche Europa [nimmt] von einer Christenverfolgung im Morgenland ungefähr soviel Notiz wie von einem Mondwechsel« .7 Lepsius war empört über die Untätigkeit der europäischen Mächte und die Gleichgültigkeit der christlichen Kirchen . Die Mächte instrumentalisierten die armenische Frage für ihre politi-schen Interessen: die Russen für ihre expansive Kaukasuspolitik, die Eng-länder für ihr Bestreben, den Bosporus gegen die Russen zu kontrollieren und ihre Interessen in Mesopotamien durchzusetzen . Die deutsche Orient-politik richtete sich auf die Erhaltung und Stärkung der Türkei: Seit 1883

4 Johannes Lepsius . Armenien und Europa . Eine Anklageschrift wider die christ-lichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland, Berlin 1896 .

5 Ebd ., S . 83 .6 Ebd ., S . 118 .7 Ebd ., S . 115 .