Joseph Cornell - press.khm.at...Sharp gemeinsam mit Sarah Lea von der Royal Academy in London....

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Joseph Cornell DE 20. OKTOBER 2015 BIS 10. JäNNER 2016

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Joseph Cornell

DE

20. OktOber 2015 bis 10. jänner 2016

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»Was ist das für ein Mensch, der mithilfe al-

ter brauner Fotografien auf Karton, die er in

Antiquariaten gefunden hat, die Grand Tour

des 19. Jahrhunderts durch Europa lebendiger

vor seinem geistigen Auge entstehen lassen

kann als jene, die tatsächlich eine solche Rei-

se unternommen haben, der nicht in jener Zeit

geboren wurde und nie im Ausland war und

dennoch weiß, wie sich der Vesuv an einem

bestimmten Morgen des Jahres 1879 ausnahm,

und die Schmiedeeisenbalkone eines bestimm-

ten Hotels in Luzern kennt? Wie konnte er

unter den Bedingungen, unter denen er das

tat, ein solches Werk zustande bringen? Es

ist ein echtes Wunder. Seine Arbeit zwingt ei-

nen dazu, das Wort ›schön‹ zu gebrauchen.

Was will man mehr?«

Der Künstler Robert Motherwell über

Joseph Cornell, New York, 1953

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EinlEitung zur ausstEllung

Joseph Cornell war einer der außergewöhn-

lichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Diese

Ausstellung, die erste seines Œuvres in Öster-

reich, zeichnet den gesamten Bogen seines be-

merkenswerten Lebens und Schaffens nach.

Sie präsentiert viele seiner wichtigen Arbei-

ten aus Museen und Privatsammlungen, dar-

unter auch Werke, die noch nie in Europa zu

sehen waren.

Cornell, 1903 geboren, lernte weder zu zeichnen,

noch zu malen, noch bildhauerisch zu arbeiten.

Er genoss keine künstlerische Ausbildung und

war für eine Reihe von Firmen tätig, um seine

Mutter und seinen behinderten Bruder unter-

stützen zu können. Nur selten entfernte er sich

weit vom Haus der Familie in Flushing, New

York. Dennoch gelang es ihm im Lauf seiner

nächtlichen Arbeit in Küche und Keller, eines

der bemerkenswertesten und originellsten Wer-

ke der jüngeren Vergangenheit zu schaffen. Sei-

ne Collagen, Filme, Assemblagen und Schaukäs-

ten haben ganze Künstlergenerationen von Ro-

bert Rauschenberg über Andy Warhol und Jasper

Johns bis zu Sol LeWitt und vielen, die heute

noch produktiv sind, tief und nachhaltig geprägt.

Cornell hat in seinem Leben kein anderes Land

betreten und sich nur selten über New York

hinausgewagt. Sein Wissen über die Welt war

jedoch erstaunlich. Die Ausstellung geht Cor-

nells Beziehung zu Europa sowie seinen fun-

dierten Kenntnissen und seinem tiefen Ver-

ständnis der Kultur, Geschichte und Geogra-

fie Europas nach und widmet sich seinem

Verhältnis in Hinblick auf viele dort auf dem

Gebiet der Wissenschaft, Naturgeschichte, Phi-

losophie und Astronomie, der Literatur, des

Balletts, der Oper, des Theaters, der Musik,

des Films und der Kunst maßgeblichen

Personen.

Durch die Präsentation im Kunsthistorischen

Museum Wien treten die Werke Joseph Cornells

in einen faszinierenden Dialog mit den Renais-

sancegemälden des Hauses, dessen Münzen- und

Medaillensammlung und den Beständen alt-

ägyptischer Grabbeigaben. Am intensivsten ent-

faltet sich der Dialog mit der Kunstkammer des

Museums (eine Beziehung, von der in dieser Pu-

blikation noch die Rede sein wird). In der Kunst-

kammer, dem Ort des letzten Abschnitts der Aus-

stellung, ist eine kleine Gruppe von Werken Cor-

nells versammelt. Ein eigener Parcours durch

die Kunstkammer betont und ergründet diese

Affinität: Die Besucher werden auf historische

Objekte aus der Sammlung des Museums auf-

merksam gemacht, deren Widerhall in Cornells

Arbeiten besonders eindringlich ist.

Kuratiert wird die Ausstellung von Jasper

Sharp gemeinsam mit Sarah Lea von der

Royal Academy in London.

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Joseph Cornell wurde am 24. Dezember 1903

in Nyack im Bundesstaat New York geboren.

Er war das älteste von vier Kindern, deren El-

tern beide aus in der Gesellschaft bekannten

Familien holländischer Herkunft stammten.

Sein jüngerer Bruder Robert litt an einer Ge-

hirnlähmung und sollte sein ganzes Leben

hindurch von Joseph betreut werden. Schon

als Kind war Cornell ein begeisterter Leser,

den die Märchen Hans Christian Andersens

und der Gebrüder Grimm faszinierten. 1917

starb sein Vater an Leukämie, und Cornell

trat in die angesehene Phillips Academy in

Andover in Massachusetts ein. Er ließ keine

besonderen akademischen Neigungen erken-

nen, verließ 1921 ohne Abschluss die Schule

und fing als Textilvertreter in Manhattan zu

arbeiten an. Auf seinen Wegen durch die Stadt

suchte er Antiquariate und Antiquitätenläden

auf und begann Dinge zu sammeln, auf die er

dort stieß. Er besuchte auch Museen und ent-

wickelte ein Interesse für das Theater, das

Kino und das Ballett. Im Mai 1929 übersiedel-

te seine Familie in ein Haus am Utopia Park-

way in Queens, wo Cornell, seine Mutter und

sein Bruder bis ans Ende ihrer Tage leben

sollten.

Um 1931 begann Cornell nach einem Besuch der

Julien Levy Gallery zu Hause am Küchentisch

der Familie an einer Serie kleiner Collagen zu

JosEph CornEll: BiographiE

arbeiten. Als Levy die Collagen sah, lud er Cor-

nell ein, an einer surrealistischer Kunst gewid-

meten Gruppenausstellung teilzunehmen, und

bot ihm dann 1932 seine erste Einzelausstellung

in der Galerie an. Nur wenige Jahre später zeig-

te Cornell einige seiner Arbeiten bei der legen-

dären Schau »Fantastic Art, Dada, Surrealism«

im MoMA. 1940 hörte er endlich zu arbeiten auf,

um sich ganz der Kunst zu widmen, und richte-

te sich im Untergeschoss des Hauses der Fami-

lie ein Atelier ein. Zwei Jahre später stellte er

gemeinsam mit seinem Freund Marcel Duchamp

in Peggy Guggenheims Museum »Art of This

Century« aus, das gleichzeitig als Galerie fun-

gierte und von dem Architekten Frederick Kies-

ler entworfen worden war.

Cornell zeigte seine Arbeiten gemeinsam mit

Willem de Kooning, Franz Kline und Philip

Guston in der Charles Egan Gallery und stell-

te später in der Stable Gallery aus, zu deren

Künstlern Robert Rauschenberg, Cy Twombly

und Joan Mitchell zählten. Anfang der 1960er-

Jahre begann Cornell mit Avantgardefilmema-

chern zusammenzuarbeiten und empfing eine

ganze Reihe junger Künstler in seinem Atelier,

darunter auch Andy Warhol, Robert Indiana

und James Rosenquist. Am 29. Dezember 1971,

fünf Tage nach seinem 69. Geburtstag, starb Jo-

seph Cornell vermutlich an einem Herzinfarkt

bei sich zu Hause.

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1

Untitled

1930er-JahreCollage auf PapierOsaka City Museum of Modern Art

2

Untitled

1930er-JahreCollage auf Papier New York, Daniel and Lauren Long, Courtesy James Corcoran Gallery, Los Angeles

Diese Collagen sind für die ersten Arbeiten Cor-

nells aus den 1930er-Jahren charakteristisch. Er

arbeitete nachts am Küchentisch der Familie,

während seine Mutter und sein Bruder schlie-

fen, und verwendete dabei Reproduktionen von

Stichen des 19. Jahrhunderts aus viktorianischen

Romanen sowie Illustrationen aus populärwis-

senschaftlichen Zeitschriften und Naturmaga-

zinen, die er zerschnitt und zusammenklebte.

Cornell verfügte über einen großen Vorrat an

solchen Materialien, hatte er doch bereits meh-

rere Jahre zuvor auf seinen Streifzügen durch

die Buchläden und Antiquitätenmärkte von Lo-

wer Manhattan Dinge dieser Art zu sammeln

begonnen.

Die Collagen belegen Cornells Leichtigkeit im

Umgang mit dem Material und seinen Sinn

für absurden Humor. Eine (Objekt 2) zeigt ei-

nen elegant gekleideten Mann, der sich, von

einer sich drehenden Münze gebannt, über ei-

nen Tisch beugt. Der Mann trägt ein Sieb auf

dem Kopf – wie ein Kind, das die Küchenkäs-

ten geplündert hat, um sich als Ritter zu ver-

kleiden. Aus den Löchern des Siebs ragen

mehrere Pfeile hervor, die andeuten könnten,

dass es bereits zum Kampf gekommen ist. Eine

andere Arbeit (Objekt 1) erinnert an das be-

rühmte Wort des französischen Dichters

Comte de Lautréamont vom »zufälligen Zu-

sammentreffen einer Nähmaschine und eines

Regenschirms auf einem Seziertisch« aus dem

Jahr 1869, das André Breton und den Surrea-

listen sehr gefiel.

Mitte der 1930er-Jahre schuf Cornell eine Grup-

pe von sechzehn für sich stehenden Collagen, die

er dem deutschen Künstler Max Ernst widmete,

dessen Werk Cornell durch den Galeristen Juli-

en Levy kennengelernt hatte. Formal verdanken

die Arbeiten Ernst und seinen Collageromanen

insofern etwas, als sie in ihren surrealistischen

Konfrontationen unerwarteter Gegenstände und

Schauplätze mit ähnlichen Maßstab- und Schritt-

wechseln operieren. Inhaltlich jedoch vermeiden

sie die Profanität und Gewalt, die Ernsts dunk-

ler Kritik der menschlichen Natur oft eigen ist,

zugunsten einer eher spielerischen und wunder-

samen Abfolge von Charakteren und Situatio-

nen. Die hier gezeigte Storyboardtafel (Objekt 3)

zeigt Verkleinerungen der ursprünglichen Colla-

gen, die Cornell mit einem Kopiergerät herstell-

te, das in seiner Arbeit eine wichtige Rolle

spielte.

Man nimmt an, dass Cornell in den 1930er-

Jahren, als die Collage in amerikanischen

Avantgardekreisen noch so gut wie unbekannt

war, 120 Arbeiten dieser Art schuf. Insgesamt

betrachtet zeugen die Werke von seiner Be-

geisterung für fiktionale Erzählungen, Bild-

und Wortspiele, für Nebeneinanderstellung

und Bewegung.

3

Untitled (stOry withOUt a name – fOr max ernst)

1930er-JahreCollage auf KartonPrivatsammlung

4

Untitled

Um 1930Pappkasten mit StichLondon, The Mayor Gallery

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Als Anhänger der Christian Science nahm

Cornell keine Medikamente zu sich, was ihn

aber nicht daran hinderte, »C. O. Bigelow«

in der Sixth Avenue, die angeblich älteste Apo-

theke Amerikas, zu besuchen, um ihre Vitri-

nen und Regale zu bewundern. Die »Minu-

tiae Objects«, die Cornell unter Verwendung

kommerziell produzierter Pillendöschen her-

stellte, gehören zu seinen frühesten Assemb-

lagen. Bis etwa 1940 schuf er weitere Objekte

dieser Art, von denen einige etwas größer sind

(siehe die Objekte 26 und 29). Die Arbeit »Mi-

nutiae Objects« verknüpft Natur (Illustratio-

nen vier verschiedener fliegender Insektenar-

ten) und von Menschen Hergestelltes (zwei

Metallschrauben). Der Spiralform der Schrau-

ben, die Cornell mit der Entfaltung der Zeit

verband, begegnet man in seinem gesamten

Werk als Hinweis auf die verborgene Ordnung

hinter den Gesetzmäßigkeiten und Wachs-

tumskreisläufen der Natur immer wieder. Die

Perlen und Glassplitter in den anderen Dös-

chen lassen sich vielleicht als Eier oder Lar-

ven deuten. Cornell war ein eifriger Sammler

marmorierter Vorsatzpapiere aus alten Bü-

chern. In diesem Fall verwendete er das Ma-

terial dazu, die Musterkiste zu bekleben, in

der er die Döschen unterbrachte.

5

Untitled (minUtiae Objects)

Etwa frühe 1930er-JahreQuaderförmige Kartonschachtel mit fünf zylindrischen Kartondöschen als Inhalt, marmoriertes Papier, Collage aus bedrucktem Papier, Bällchen, Metallschrauben, GlasWassenaar, Caldic Collectie

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PanOrama

Um 1934Collage mit Tusche auf gefaltetem und gesäumtem PapierTokio, Privatsammlung, Courtesy Shigeru Yokota, Inc.

Diese wunderbare Leporellocollage zählt zu den

vollendetsten Arbeiten aus Cornells Frühzeit.

Es ist eine Abenteuergeschichte, deren Held das

Sternbild Ursa Minor, der Kleine Bär, ist. Das

Geschöpf unternimmt eine Reise durch »chine-

sische Sternbilder«, die »teilweise Finsternis«

einer »Siesta«, eine »Fünf-Uhr«-Teestunde und

einen Sonnenuntergang in Portugal, bevor es

den Schiefen Turm von Pisa besucht und in der

»Schale des Großen Bären« anlangt, wobei all-

tägliche häusliche Arbeitsabläufe und kosmische

Abenteuer ineinanderlaufen. Die Bilderwelt von

Astronomie und Reise verbindet Cornell mit Ele-

menten wie Spielkarten und Formen in leuch-

tenden Farben, die an Illustrationen für Kinder

und Spiele erinnern.

Weit ausklappbare Darstellungen von Land-

schaften und Städten waren ein Bestandteil

der Reiseführer des 19. Jahrhunderts, die Cor-

nell so eifrig sammelte. Durch seine händi-

sche Arbeit mit Papier, die in seiner künstle-

rischen Tätigkeit eine Schlüsselrolle spielte,

entwickelte Cornell ein Interesse an Anima-

tion. »Panorama« lässt sich Seite für Seite wie

ein Buch lesen oder sich ziehharmonikaartig

geöffnet zeigen und bietet je nach Gesichts-

punkt des Betrachters zahllose verschiedene

Text-Bild-Kombinationen.

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Die erste Arbeit, die Cornell im Januar 1932

ausstellte, war eine Glasglocke, die größer war

als die hier gezeigte und eine Assemblage von

Fundstücken enthielt. In seinen frühen expe-

rimentellen Jahren schuf Cornell eine Reihe

solcher Werke. Sie wurden häufig von Gale-

rien und Museen zusammen mit Arbeiten der

europäischen Surrealisten ausgestellt, obgleich

sich Cornell von dieser Verbindung zu distan-

zieren suchte. Hier erweitert Cornell die Idee

der Collage zu einer dreidimensionalen Skulp-

tur. Im Inneren der Glasglocke – im 19. Jahr-

hundert hatte man Glasglocken zusehends

dafür zu verwenden begonnen, ausgestopfte

Vögel, Modellschiffe oder Arrangements ge-

trockneter Blumen zur Schau zu stellen – hat

Cornell ein Pferd mit einem Reiter platziert.

Wie mit einem Augenzwinkern in Richtung

der heroischen Reiterstandbilder auf öffentli-

chen Plätzen in Städten der ganzen Welt ist

das Paar mitten im Sprung über dem kleinen

roten Kegelstumpf erstarrt, der die beiden

trägt – ein Miniaturdenkmal für beständige

Bewegung. Wir können nur raten, um wen es

sich handeln mag: Stammen Reiter und Pferd

vielleicht aus einem der vielen Märchen, die

Cornell kannte und liebte, oder sehen wir Lan-

zelot auf dem Weg nach Camelot an uns vor-

beispringen?

7

Untitled

Um 1932Glasglocke, Holz, Farbe und Collage aus bedrucktem PapierNew York, Sammlung Timothy Baum

8

Object (tOwer Of babel and children Of israel)

Mit Papier collagierter Karton, Holzperlen, Klötzchen und Spielmarken, Karton- und Papierkarte Washington, D.C., Smithsonian American Art Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation

In diese kleine spielerische Arbeit flossen vie-

le von Cornells zentralen Interessen ein: Rei-

sen, Bücher, Museen, historische Kunst, Spra-

che, Spiele, Kindheit. Cornell hat einen Karton

mit Architekturzeichnungen überzogen und

ausgekleidet: die eine Hälfte mit einer Karte

des Berliner Museumsviertels mit dem Alten

Museum und dem Pergamonmuseum, die an-

dere mit Plänen der Innenräume der Alten Na-

tionalgalerie derselben Stadt. Cornell muss die-

se Gebäude durch seine Sammlung von Baede-

ker-Reiseführern gekannt haben, von deren

Umschlägen er Lettern auf den Karton und des-

sen Inhalte collagierte. Das Werk bezieht sich

auf die biblische Geschichte, die den Ursprung

verschiedener Sprachen erklärt und zum The-

ma eines gefeierten, 1563 entstandenen Gemäl-

des von Pieter Bruegel dem Älteren im Kunst-

historischen Museum in Wien wurde, das

Cornell als Reproduktion in Form einer

Ansichtskarte besaß. Im Inneren des Kartons

findet sich eine Reihe von Anweisungen Cor-

nells für den Betrachter oder »Spieler«: »Man

stelle den Turm auf den weißen Kreisschatten

(rote Scheibe) in den rot gekennzeichneten Be-

reich. Man platziere die Kinder Israels (rote

Kugeln) gegenüber. Man versuche, die Kinder

Israels am Turm von Babel vorbei auf die ge-

genüberliegende Seite zu bringen, ohne dass

der Turm den weißen Kreis verlässt.«

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Die Ikonografie der Kindheit zieht sich wie

ein roter Faden durch Cornells Werk. Wie er

sich häufig viktorianischer Stiche bediente,

um sich mit diesem Thema auseinanderzuset-

zen, so verwendete er in seinen Collagen der

1930er-Jahre auch fotografisch reproduzierte

Bilder, die er aus Magazinen und Büchern

ausschnitt. Cornell war in den New Yorker

Galerien von Julien Levy und Alfred Stieglitz

mit Avantgardefotografien in Berührung ge-

kommen und begann Street-Photography-Ar-

beiten zu sammeln, die poetische Momente

des städtischen Alltags festhalten. Besonders

verbunden fühlte sich Cornell den Arbeiten

Eugène Atgets, und sein Archiv umfasst meh-

rere Abzüge Henri Cartier-Bressons, darunter

auch Bilder von spielenden Kindern, die den

für diese Collage ausgesuchten ähnlich sind

(Objekt 10). Dass Cornell die Collage dane-

ben (Objekt 9) händisch bemalt hat, stellt eine

Abweichung von den sonst schwarz-weißen

Kompositionen dieser Periode dar. Die bemal-

ten Wollbälle sind Abbildungen sogenannter

»Spielgaben«, von Lernspielzeugen verschie-

dener geometrischer Form, die der deutsche

Pädagoge Friedrich Fröbel (1782–1852) entwi-

ckelte. Fröbels Gedanken über die Rolle des

Spiels beim Lernen gewannen nach seinem

Tod an Einfluss und führten zur Entwicklung

des Kindergartens.

9

Untitled

1933 Collage auf PapierOsaka City Museum of Modern Art

10Untitled

1934Collage auf PapierWashington, D.C., Smithsonian American Art Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation

11

Object (sOaP bUbble set)

1941 Verglaster Holzkastenrahmen, Farbe, Tonpfeife, Glasscheiben, PapiercollageThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Die Seifenblasensets, die im Lauf von mehr

als zwanzig Jahren entstanden, gehören zu

den Serien, mit denen sich Cornell am längs-

ten beschäftigte. Alle Arbeiten greifen mit der

Seifenblase eine der komplexesten und reichs-

ten Metaphern auf. Das Motiv verbindet die

Ikonografie der europäischen Malerei des

18. Jahrhunderts – in der seifenblasende Kin-

der die Vergänglichkeit der Unschuld verkör-

pern – mit der Faszination des Wissenschaft-

lers für die materielle Welt. In diesem Fall

nehmen die Seifenblasen die Form einander

überlappender Glasscheiben an, was an die

Vorbereitung von Proben und Objektträgern

für Mikroskope denken lässt; sie zeigen durch-

sichtig wirkende, fast Röntgenaufnahmen glei-

chende Bilder von Muscheln oder Fossilien.

Cornell schließt das nicht länger als ein Au-

genzwinkern währende Leben einer Seifen-

blase mit dem Maßstab geologischer Zeit kurz.

Wie bei vielen seiner Werke ist das Bild eben-

so verspielt wie ernsthaft, bewegt sich zwi-

schen Zaubertrick und gewichtiger wissen-

schaftlicher Forschung. Die Sammlung von

Tonpfeifen, die Cornell vom holländischen

Pavillon auf der Weltausstellung in New York

1939 erwarb, symbolisierte für ihn seine Vor-

fahren, waren doch beide Eltern holländischer

Herkunft.

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Diese Arbeit ist eine von vier einander ähnli-

chen Collagen, die Cornell um 1940/41 schuf

und zu denen ihn die international gefeierte

russische Ballerina Tamara Toumanova (1919–

1996) anregte. Cornell hatte Toumanova wäh-

rend seiner Mittagspausen im 51st Street The-

ater proben sehen, als er für ein nahegelege-

nes Textilstudio arbeitete, bevor er ihr im

November 1940 offiziell vorgestellt wurde.

Cornell war bei vielen ihrer Auftritte zugegen,

und Toumanova besuchte ihn im Haus der Fa-

milie am Utopia Parkway. Ihre Verbindung

bestand vor allem aus kurzen Begegnungen

hinter der Bühne, wo Cornell der Ballerina

auch manchmal ihr huldigende Arbeiten

schenkte. In diesem Fall ist die märchenhaf-

te Figur Toumanovas, deren spiralförmige

Kopfbedeckung dem Horn eines Einhorns

gleicht, von nicht zu benennenden Kreaturen

und Muscheln umgeben. Die fantastische,

schwerelose Szene, die durch einen Nebel zar-

ter weißer Farbtupfen zusammengehalten

wird, verschmilzt Tiefsee und Tiefen des

Weltalls.

12

Untitled (tamara tOUmanOva)

Um 1940Collage und Tempera auf PappeWashington, D.C., Smithsonian American Art Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation

13

Untitled (m’lle faretti)

1933Verglaster Holzkasten, Kabinettkarte, antikisierende Spiegel, Fäden und handgefertigte Ornamente Privatsammlung

»Untitled (M’lle Faretti)« ist einer der ersten

von Cornell zusammengestellten Kästen. Die

Arbeit entstand kurz nach seiner ersten Ein-

zelausstellung in der Julien Levy Gallery in

New York. Den verwendeten Kasten hatte er

wahrscheinlich gekauft; es handelt sich um

ein vorgefertigtes Stück, das zur Aufbewah-

rung und Präsentation von Sammlerstücken

gedacht war. Sobald Cornell sich dann nur

wenige Jahre später grundsätzliche Fertigkei-

ten im Tischlern angeeignet hatte, begann er

die Kästen selbst herzustellen. Trotz der frü-

hen Entstehungszeit der Arbeit fallen bereits

zahlreiche formale Charakteristika seiner spä-

teren, reiferen Werke ins Auge: die Reproduk-

tion einer jungen protagonistischen Figur, in

diesem Fall einer Ballerina hinter einem Vor-

hang rosafarbener und weißer Baumwollfä-

den, die über dem zentralen Abteil der Arbeit

einen Raster aufspannen, die symmetrische

Platzierung mehrerer gleicher Gegenstände

in den Nischen des Sturzes darüber und die

beiden flankierenden Spiegelsäulen links und

rechts. Cornell befasste sich eingehend mit

Ballett, mit seiner Geschichte sowie Darstel-

lerinnen und Darstellern. Er lernte zahlreiche

führende Tänzerinnen kennen, denen er oft

Werke widmete, die ähnliche Andenken und

Erinnerungsbilder enthielten wie die in die-

sen Kasten aufgenommenen.

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Für diese Arbeit adaptierte Cornell ein belieb-

tes, an das Thaumatrop des 19. Jahrhunderts

angelehntes Kinderspielzeug. Unter Thauma-

trop versteht man eine optische Vorrichtung,

die vor den Tagen des modernen Kinos durch

eine Form der Animation für Unterhaltung sorg-

te. Cornell hat die ursprünglichen Darstellun-

gen auf den Scheiben mit seinen collagierten

Bildern überklebt, die Schwarz-Weiß-Abbil-

dungen des Nachthimmels und Fotografien

von menschlichen Figuren in Bewegung zei-

gen. Die nicht nur männlichen Gymnasten und

Athleten erinnern an die Bewegungsstudien

der bahnbrechenden Fotografen des 19. Jahr-

hunderts Étienne-Jules Marey and Eadweard

Muybridge (denen sie teils entstammen). Wie

diese Fotografen Bilder aneinanderzureihen

beziehungsweise seriell zu arbeiten war ein

Zugang, den Cornell sich bereits in frühen Jah-

ren zu eigen machte und dann später bei vie-

len seiner wichtigsten Projekte verfolgte (sie-

he Objekt 17). Bewegung – ob implizit oder

tatsächlich – ist ein integraler Bestandteil sei-

ner Arbeit, der oft die Teilnahme des Betrach-

ters einschließt. Der ursprüngliche Besitzer

dieses Werks wird sich wohl dazu ermutigt ge-

fühlt haben, damit zu spielen.

14

»le vOyageUr dans les glaces«: jOUet sUrréaliste

1935 Kartonschachtel mit einer Metallapparatur und sieben beidseitig mit einer Papiercollage versehenen ScheibenNew York, Mark Kelman

Schon früh interessierte sich Cornell für Bewe-

gung und deren Darstellung. Optische Vorrich-

tungen, welche die Illusion filmischer Bewe-

gung hervorrufen, faszinierten ihn bereits als

Kind, und bald begeisterte er sich für den Film

selbst. »Object Fenêtre« ist eine in den ersten

Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit entstan-

dene Arbeit, die sich genau diesen Themen wid-

met. Es handelt sich um ein kleines Buch, des-

sen winzige Seiten wie eine Ziehharmonika ge-

faltet sind. Auf jede Tafel hat Cornell ein Bild

eines Fensters geklebt. Das Fenster scheint stets

dasselbe zu sein, auch wenn sich jedes Bild ge-

ringfügig vom vorhergehenden unterscheidet.

Es ist fast so, als ob man aufeinanderfolgende

Kader einer kurzen Filmsalve vor sich hätte.

Cornell hat im Lauf seiner künstlerischen Tä-

tigkeit immer wieder mit der Form des Buchs

experimentiert, indem er landwirtschaftliche

oder medizinische Zeitschriftenbände entwe-

der so bearbeitet hat, dass sie Gruppen kleiner

Objekte aufnehmen konnten, oder diese um

collagierte Elemente ergänzt und so verändert

hat. Die Leporelloform taucht in seinem Œu-

vre ebenso wiederholt auf – beispielsweise im

Fall der nur ein paar Jahre zuvor entstandenen

Arbeit »Panorama« (Objekt 6) – wie das Mo-

tiv des Fensters, das ihm zeit seines Lebens als

Quelle und Zeichen physischen und geistigen

Entrinnens galt.

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Object fenêtre

1937 Assemblage mit Fotokopien, marmoriertem Papier und gedruckter Beschriftung auf KartonNew York, Mark Kelman

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thimble theater

Joseph Cornell and Lawrence JordanEtwa 1938–194916 mm-Film, schwarz-weiß, mit Ton, ca. 6 MinutenLawrence Jordan

In den 1930er-Jahren begann Cornell frühe

französische und amerikanische Filme zu sam-

meln, bei denen es sich häufig um Raritäten

und manchmal sogar um Unikate handelte.

Die Sammlung entwickelte sich zu einer der

größten und umfangreichsten in New York,

und Cornell wandte sich an Fachleute wie

Francis Doublier, der einmal als Kameramann

für die Brüder Lumière gearbeitet hatte, um

sich im Hinblick auf die Betreuung der Bestän-

de beraten zu lassen. Noch in den 1930er-Jahren

begann Cornell dann, selbst Filme zu machen.

Indem er radikal von etablierten Verfahrens-

weisen abwich, schuf er Montagen aus Aus-

schnitten gefundenen Materials. Der hier ge-

zeigte Film »Thimble Theater (Daumenthea-

ter)« ist eine von mehreren Arbeiten, die

Cornell in den 1960er-Jahren dem Filmema-

cher Lawrence Jordan, einem seiner Assisten-

ten im Atelier am Utopia Parkway, übergab.

Jordan änderte nichts an der Struktur des

Schnitts, bearbeitete aber die Filme so, dass

man Kopien davon ziehen konnte, und ergänz-

te sie Cornells Anleitungen folgend um Ton-

spuren wie in diesem Fall um die Musik einer

Jahrmarktsorgel. »Thimble Theater« zeigt

Cornells gezieltes Manipulieren von Geschwin-

digkeit, Richtung und Lesbarkeit der Bilder.

Heute wird Cornell als Pionier des Avantgar-

defilms angesehen.

Monsieur Phot ist der fiktive Protagonist ei-

nes Filmdrehbuchs, das Cornell 1933 schrieb

und das von den Kämpfen eines Fotografen

handelt, der die Lebendigkeit seiner Erfah-

rungen durch Standbilder zu vermitteln ver-

sucht. Die Bildfolgen der hier gezeigten Kas-

tenkonstruktion, die Cornell 1940, sieben Jah-

re später, schuf, bedienen sich des Carte-

de-visite-Formats, einer frühen Form des fo-

tografischen Kontaktabzugs, die Ende des

19. Jahrhunderts in Frankreich entstand.

Die unter jeder Bildreihe gedruckten Texte

verweisen auf Themen der Historienmalerei

wie »Jakob ringt mit dem Engel« oder »Der

Triumph der Galatea«. In der frühen Studio-

fotografie mussten die Porträtierten ganz still

sitzen, gleichsam zu Statuen erstarren, um

Unschärfen zu vermeiden, und wurden oft in-

mitten von Requisiten wie Säulen und vor

Landschaftshintergründen positioniert, die

mit klassischen Gemälden wetteiferten. Im

Filmstreifencharakter dieser Arbeit verdich-

tet sich Cornells umfassendes Wissen über die

Geschichte der frühen Fotografie und die An-

fänge des Kinos im Kontext der längeren Tra-

dition westlicher Kunst. Die Glasperlen, die

frei auf jedem der mit einem Teppich ausge-

statteten Regale hin und her rollen, verkör-

pern die Bewegung, derer Monsieur Phot nicht

habhaft zu werden vermag.

17

Object: hOtel theatricals by the grandsOn Of mOnsieUr PhOt sUnday after-nOOns

1940 Verglaster, mit Scharnieren ausgestatteter Holzschrank; fotografische Reproduktionen, rote, grüne, blaue und schwarze Glasperlen, Holz, Papiercollage, StoffeYokohama Museum of Art

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Untitled (tO mar-gUerite blachas)

1940Buch mit Papier, Seide, Samt, Maschendraht, Metall, Kunsthaar und PerlmuttMadrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía

Für diese Arbeit wurde das Innere eines Buchs

ausgehöhlt, wie um ein Geheimversteck für ein

Familienerbstück zu schaffen oder einen raffi-

nierten Gefängnisausbruch in die Wege zu lei-

ten. Es handelt sich, typisch für Cornell, nicht

um ein gewöhnliches Buch, sondern um einen

Band des Journal d’agriculture pratique, eines

1911 in Paris erschienenen landwirtschaftlichen

Almanachs, den Cornell vermutlich auf einem

seiner Streifzüge durch die Buchhandlungen

von Lower Manhattan entdeckte. Der Inhalt

ist nicht weniger bemerkenswert: eine kleine

Karte, die ein Stück einer Küste zeigt und an

einen Plan denken lässt, der den Ort eines ver-

grabenen Schatzes verzeichnet, ein Stück bur-

gunderroten Samts, ein Kunsthaarbüschel, eine

Fotografie einer weißen Katze wie aus einem

Märchen von Madame d’Aulnoy, das Porträt ei-

nes jungen Mädchens und andere Dinge. Es

sind fiktive Andenken, angebliche Relikte aus

dem Leben jener unbekannten Dame, der das

Werk gewidmet ist: in einem vorgefundenen

Objekt untergebrachte Fundstücke, denen Cor-

nells überzeugende und poetische Alchimie Le-

ben und eine Geschichte einhaucht. Insofern

stellt die Arbeit eines der ersten Beispiele für

Cornells Neigung dar, Werke bestimmten Per-

sonen zuzueignen.

19

l’égyPte de mlle cléO de mérOde: cOUrs élémen-taire d’histOire natUrelle

1940Bestehender Eichenholzkasten aus dem 19. Jahrhundert mit Scharnieren, marmoriertes Papier, Glasflaschen, Kork, Glas, PapiercollageThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Dieses kunstvolle »Flaschenmuseum« ist der

für ihre Schönheit und ihr Talent gleicherma-

ßen berühmten französischen Tänzerin Cléo

de Mérode (1875–1966) gewidmet. Im späten

19. Jahrhundert war ihr auf allen möglichen

Dingen von Post- bis Spielkarten anzutreffen-

des Bild in Frankreich allgegenwärtig. Sie trat

vor König Eduard VII., dem russischen Zaren

sowie dem Vizekönig von Ägypten auf, und

ihre angebliche Affäre mit König Leopold II.

von Belgien, der sie in Verdis ägyptischer Oper

»Aida« um 1895 in Paris gesehen hatte, trug

noch zu ihrem Ruhm bei. Als Cornell dieses

Werk schuf, war Cléo de Mérode, die 1924 zum

letzten Mal öffentlich aufgetreten war, bereits

fast vergessen. Galant lässt er damit ihren

Nimbus wiedererstehen, indem er für die Tän-

zerin eine edle, mit ihrer Namensschwester

Kleopatra von Ägypten verbundene Abstam-

mung ins Auge fasst. Auf diese Weise ver-

knüpft er den altägyptischen Glauben an ein

Leben im Jenseits mit der durch weltweiten

Ruhm gewährten Unsterblichkeit. Die Inhal-

te des sich teils als naturwissenschaftliches

Musterset, teils als Schmuckschatulle präsen-

tierenden Objekts vermitteln eine Reihe von

Bezügen, deren Bogen sich von Topografie,

Landwirtschaft, Flora und Fauna bis zu Wet-

ter, Kleidung und Ritualen spannt.

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Untitled (the crystal cage: POrtrait Of berenice)

c. 1934–67 Mit Papieren beklebter Holzkoffer, Fotografien, gedruckte und fotografische Reproduktionen, Ausschnitte aus Zeitungen, Büchern und Magazinen, getippte und mit Anmerkungen versehene Notizen, Ephemera aus Papier, PapiercollageRichard L. Feigen

Dieses ausladende, im Lauf von über dreißig

Jahren angelegte Dossier umfasst Ephemera

aus Papier und eine Collage in einem innen

mit Papier beklebten Koffer aus Holz. Seine

der Arbeit zugrundeliegenden Gedanken for-

mulierte Cornell 1943 in einer siebenseitigen

Konzeptskizze für die Avantgardezeitschrift

View. Der Essay, der den Titel »The Crystal

Cage: Portrait of Berenice« trägt, vermischt

Realität und Fiktion und präsentiert in Form

von Text und Bildern eine Montage der »Re-

cherche«. Es geht um die Geschichte eines

amerikanischen Mädchens, das während ei-

nes Besuchs von Europa so sehr von der Pa-

gode de Chanteloup – einem Prachtbau des

18. Jahrhunderts, der noch heute im Loiretal

steht – in den Bann gezogen wurde, dass sei-

ne Eltern den Turm nach Neuengland brin-

gen ließen, damit ihre Tochter darin leben

konnte. Über die fiktive Figur Berenices, die

für den Künstler das Ideal eines universellen

jungen Geists und eine Art Alter Ego verkör-

pert, nehmen wir an Cornells Entdeckungen

im Bereich der Natur, Kunst und Wissenschaft

teil. Das Bild der Pagode taucht in der Zeit-

schrift als konkretes Gedicht auf, das ein In-

ventar seiner vielfältigen Interessen bietet.

21

Pharmacy

1943 Verglaster Holzkasten mit Scharnieren; marmoriertes Papier, Spiegel, Glasscheiben; zwanzig Glasfläschchen mit verschiedenen Ausschnitten bedruckten Papiers (Krepp, Seidenpapier, gedruckte Stiche, Landkarten), gefärbtem Sand, Pigment, gefärbter Aluminiumfolie, einer Feder, einem Schmetterlingsflügel aus Papier, einem getrockneten Blatt, einer blauen Glasmurmel, Fasern, Treibholz, Holzmurmeln, Glasstäben, Perlen, einer Meeresmuschel, durchsichtigen Kristallen, Stein, Holzspänen, Sägemehl, Sulfat, Kupfer, Draht, Obstkernen, Goldfarbe, Wasser, KorkSammlung Paul Schärer

Von Cornells Apothekenserie sind sechs Ar-

beiten bekannt, von denen diese als die erste

gilt. Ihre Form erinnert an historische Apothe-

kerschränke, die vor der Entstehung moder-

ner Apotheken zur Aufbewahrung von Arz-

neien dienten. Zwanzig mit wertvollen Ingre-

dienzien gefüllte Glasfläschchen sind in

schimmernden Reihen angeordnet. Es könn-

te sich um Zaubermittel handeln, die eher See-

lenkummer als körperliche Gebrechen heilen

(Cornell waren als Anhänger der Christian Sci-

ence alle Arten von Arzneimitteln verboten).

Die Arbeit verweist jedoch auch auf die Ver-

wandlung von Stoffen: Was wie Schwefel oder

Salz anmutet, könnte auch ein Katalysator

sein, wie ihn Alchimisten verwendeten, um

aus unedlen Metallen Gold zu machen. »Phar-

macy« wurde von Cornell geschaffen, als er in

regelmäßiger Verbindung mit seinem Freund

Marcel Duchamp stand. Durch eine Fügung

des Schicksals wurde Duchamp aus nächster

Nähe mit dieser Arbeit vertraut. Ihr erster Be-

sitzer war der Kunsthändler Pierre Matisse,

der Sohn des Malers Henri Matisse; das Werk

verblieb in der Sammlung seiner Frau Teeny,

nachdem sie sich 1949 hatten scheiden lassen.

Als Teeny und Duchamp später heirateten,

ging das Werk in den gemeinsamen Haushalt

ein.

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In den 1940er-Jahren schuf Cornell eine Rei-

he von »Museen«. Er baute dafür bestehen-

de, mit Scharnieren ausgestattete Holzkästen

um und füllte sie mit Glasfläschchen oder an-

deren Behältnissen. In diesem Fall handelt es

sich um Zylinder. Zehn stehen senkrecht im

Kasten und sind mit einem zusammengeroll-

ten Papierstreifen verschlossen, der an frühe

historische Dokumente alter Zivilisationen

denken lässt. Man kann sie öffnen: Sie sind

mit marmoriertem Papier und collagierten Bil-

dern ausgekleidet und enthalten Kleinigkei-

ten und Spielsachen, die an den Sammeltrieb

von Kindern erinnern (Holzperlen, Kork- und

Gummibälle, Federn, Kreisel, Muscheln usw.).

Zehn weitere, waagrecht angeordnete Zylin-

der sind verschlossen. Die Enden sind mit Zif-

ferblattcollagen versehen – ein Hinweis auf

die Museen zugrunde liegende Idee, die Zeit

anzuhalten. Jeder Zylinder ist mit den Mög-

lichkeiten eines ungeöffneten Pakets aufgela-

den. Schüttelt man die Zylinder, erzeugen die

unbekannten Inhalte in jedem unterschiedli-

che Geräusche; einer enthält nur Stille. Wahr-

scheinlich kannte Cornell den amerikanischen

experimentellen Komponisten John Cage, des-

sen 1947 entstandenes umstrittenes »stummes«

Stück »4’33”« im August 1952 uraufgeführt

wurde.

22

mUseUm

1949Bestehender Kasten aus Holz mit Schmuckeinlage, Fotokopie, Papiercollage, farbige Baumwollfäden, Pappzylinder verschiedenen InhaltsPrivatsammlung

Neapel war eine jener von Kultur und Ge-

schichte getränkten fernen Städte, von denen

Cornell träumte. Diese Stadt war der Geburts-

ort Fanny Cerritos, der winzigen Ballerina,

die ihm die liebste unter den romantischen

Tänzerinnen war, die im 19. Jahrhundert durch

Europa tourten. Die Muschel, die hier in ei-

ner Ecke des Kastens lehnt, der einen meer-

grün bemalten Rahmen aufweist, steht für die

Legende der Ondine, eine erstmals 1843 von

Cerrito am Her Majesty’s Theatre in London

verkörperte Rolle. Neapel war auch jene Stadt,

in der die von Cornell geliebten Diven des

19. Jahrhunderts Giuditta Pasta und Maria

Malibran regelmäßig auftraten. Dieses Mini-

aturdiorama mit Wäscheleine, Gepäckschild

und einer fotografischen Reproduktion einer

der berühmten engen Straßen Neapels ist eine

Hommage Cornells auf die Stadt. Viele Jahre

lang führte er ein Dossier mit dem Titel »Die

Bucht von Neapel«, das Zeitungsausschnitte,

alte Mezzotinti, Ansichten des Vesuvs, Stiche

von Cerrito und Reproduktionen des italieni-

schen Künstlers Giorgio de Chirico enthielt.

Zutiefst verstört zeigte sich Cornell, der ein

leidenschaftlicher Pazifist war, von der Ver-

wüstung der Stadt durch Bombenangriffe der

Alliierten im Zweiten Weltkrieg, die etwa

um die Zeit der Entstehung dieses Werks

stattfanden.

24

naPles

c. 1942 Verglaster Holzkasten, Metallgriff, Weinglas, Farbe, Fotografie, Muschel, Spiegel, Faden, Stoff, Papiercollage, KorkThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

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Untitled (mUsic bOx)

Um 1947Kartonkiste, Collage mit bedrucktem Papier, Briefmarken, Landkarten, Glocken und RasselnNew York, Sammlung Timothy Baum

Dieses Objekt ist eines der rätselhaftesten in

Cornells Œuvre. Einen wie ein Paket verpack-

ten Karton überzieht ein Palimpsest collagier-

ter Texte, Landkarten und farbenfroher Brief-

marken verschiedener geografischer Proveni-

enz – als befände sich die Sendung auf halbem

Weg einer epischen Reise zwischen einer Ge-

meinde anonymer Absender und Empfänger

und versäumte stets knapp den ihr zugedach-

ten flüchtigen Adressaten. Darin verschlossen

sind eine unbekannte Zahl kleiner Glocken

und Rasseln, die läuten und klappern, wenn

man die Arbeit bewegt. Der Karton ist ein Mu-

sikinstrument im eigentlichen Sinn des Worts,

wenn auch ausschließlich zum privaten Ver-

gnügen bestimmt. Die Arbeit schließt zwei von

Cornells Interessen kurz, für die er sich am lei-

denschaftlichsten begeisterte: Reisen – in Form

der Briefmarken, die er als Junge sammelte und

die für ihn die Exotik ferner Orte symbolisier-

ten, die er kannte, aber nie zu Gesicht bekom-

men würde – und die Dimension des Klangs,

mit der er experimentierte und die er ab Mitte

der 1930er-Jahre in seine Arbeiten einbaute.

Kreismotiven begegnen wir im Werk Cornells

immer wieder. In diesen beiden Werken geht

es um die Erde und deren Atmosphäre. Die

runde Form des Behältnisses der ersten Ar-

beit (Objekt 26) entspricht dem Thema: einer

fiktiven Reise um die Welt. Jede Papierschei-

be zeigt andere fotografische oder gedruckte

Bilder touristischer Sehenswürdigkeiten und

Landkarten, die in Summe eine lange Route

exotischer Destinationen abstecken. Die Dose

selbst ist innen und außen mit Landkarten

von Italien, Mitteleuropa und dem Nil über-

zogen. Briefmarken von Angola, Ifni und Spa-

nisch-Guinea erinnern an die Kolonisierung

Afrikas durch europäische Staaten. Die spä-

ter entstandene zweite Arbeit (Objekt 30) setzt

sich aus farbigen Magazinen entstammenden

Bildern zusammen, denen Cornell teils Texte

aus alten Enzyklopädien beigestellt hat, so-

wie zwei Glasscheiben, von denen eine mit

weißer Farbe bespritzt ist. Diese lassen unmit-

telbar an die blauen Himmel der Gemälde

Magrittes denken, den Cornell sehr bewun-

derte (siehe die Objekte 63 und 65). Insgesamt

betrachtet veranschaulichen die beiden Pa-

pierscheibenensembles Cornells Fähigkeit,

Zeit und Raum durch täuschend einfache Mit-

tel zu verdichten, und belegen das poetische

Zusammenspiel von Reisen, Beobachten und

Sammeln in seinem Werk.

26

Untitled

Etwa 1939/40, um 1957 Zylindrische Dose aus Pappe, PapiercollageSchweiz, Beda Jedlicka

30

Untitled

1952 Zylindrische Dose aus Pappe, Papiercollage, bemalte GlasscheibenNew York, Mark Kelman

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a ParrOt fOr jUan gris

1953/54, am 24. Juni 1957 »verjüngt«Verglaster Holzkasten, Holzteile, Ausschnitt aus einem Mehrfarbensteindruck, Papiercollage, Tusche, Metallpflock und Metallring, Schnur, Korkball, gefaltete NotizSammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Dieser Kasten war der erste von zwanzig Ar-

beiten, die Cornell dem spanischen kubisti-

schen Maler Juan Gris (1887–1927) widmete.

Die lebendige Komposition belegt Cornells in-

stinktives Verständnis der Sprache kubistischer

Collagen, eines Stils, den Braque und Picasso

berühmt gemacht hatten. Den Anstoß für die-

se Arbeiten erhielt Cornell durch ein Bild des

Künstlers, das er in einer New Yorker Galerie

sah und das einen Mann zeigt, der an einem

Kaffeehaustisch Zeitung liest. Cornells Kom-

position ähnelt in gewissen Punkten jener von

Gris’ Gemälde: in den Schattenwirkungen und

Umrissen, der Konzentration auf die Mase-

rung des Holzes, den kreuzenden Diagonalen,

der vertikalen und horizontalen Aufteilung

und den aufblitzenden hellen Farben. Alle Ar-

beiten der Serie Cornells stellen die Darstel-

lung eines Kakadus in den Mittelpunkt, der in

Gris’ ursprünglicher Komposition fehlt. Die

beiden Künstler verband eine Liebe zu

Schmuckpapieren. In diesem Fall hat Cornell

gemusterte und farbige Stücke, Seiten aus ei-

nem alten französischen Geschichtsbuch, Zei-

tungen, Landkarten der Küste von Mozam-

bique und eine portugiesische Briefmarke

verwendet.

1907 in Wien geboren, begann Tilly Losch be-

reits im Alter von sechs Jahren Ballett zu ler-

nen und tanzte bereits mit zwölf auf der Büh-

ne der Wiener Staatsoper. Sie arbeitete als

Schauspielerin und Choreografin für den ös-

terreichischen Theater- und Filmregisseur Max

Reinhardt, bevor sie sich der Kompanie von

George Balanchine anschloss. 1943 übersie-

delte sie nach New York, wo sie bald darauf

eine Ausstellung von Arbeiten Cornells in der

Julien Levy Gallery besuchte. Cornell war

hoch erfreut, als er davon erfuhr, und schuf

als Geschenk für sie einen bezaubernden Col-

lagebrief (Objekt 29), den er am 21. Dezember

1943 persönlich im Ambassador Hotel abgab.

Am Fuß eines großen Weihnachtsbaums sitzt

die junge Tilly Losch; hebt man den Text ab,

kommt darunter der Baum mit kleinen ver-

packten Geschenken zum Vorschein. Bald da-

rauf trafen Cornell und Losch einander im Fe-

bruar 1944 zum ersten Mal und wurden Freun-

de. Später erwarb Tilly Losch diesen kleinen

Kasten (Objekt 28), den Cornell einige Jahre

zuvor geschaffen hatte und der ein an den zar-

ten Fäden eines unsichtbaren Heißluftballons

hängendes junges Mädchen über schneebe-

deckten Bergen zeigt. Das Mädchen schwebt

wörtlich und im übertragenen Sinn: ein We-

sen zeitloser Anmut und Unschuld.

28

tilly lOsch

Um 1935Verglaster Holzkasten, marmoriertes Papier, Collage aus bedrucktem Papier, Bindfaden, Perle, KartonSammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

29

letter frOm jO-sePh cOrnell tO tilly lOsch

Weihnachten 1943Maschinschriftlicher Brief mit Collage, Aufklebern und Faden auf PapierState University of New York at Binghamton, Special Collections, Glen G. Bartle Library, Max Reinhardt Archive

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34Untitled (medici Princess)

Um 1948Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog)New York, Privatsammlung

32Untitled (cOm-Partmented bOx)

c. 1954–56 Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog)Stockholm, Moderna Museet

33Untitled (PintUricchiO bOy)

1942–1952Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog)Glenstone

In den 1940er- und 1950er-Jahren schuf Cor-

nell eine Reihe von Kästen und Collagen, wel-

che der legendären Familie der Medici gewid-

met waren, die vom 15. bis ins 18. Jahrhundert

Florenz regierte. Als Förderer der italienischen

Renaissance wurden die Medici Zeugen einer

Epoche tiefgreifender Fortschritte im Bereich

menschlichen Wissens und der Geburt der Vor-

stellung einer individuellen künstlerischen

Identität. Cornell hätte sich in der von inter-

disziplinärer Neugier und einer Begeisterung

für mechanische Wunder bestimmten Zeit sehr

zu Hause gefühlt.

In diesen Arbeiten verband Cornell die

»hohe« Kunst der Renaissance mit der Popu-

lärkultur der Spielsalons, die er als Kind in

den Vergnügungsparks von Coney Island ken-

nengelernt hatte. Zwei der Werke (Objekte 33

und 34) haben die Form eines Altartripty-

chons; in ihrer Ähnlichkeit mit Filmstreifen

oder Szenen aus dem Leben Heiliger weisen

ihre Seitenteile etwas Erzählerisches auf. Cor-

nells Interesse an Bilderfolgen und Raster-

strukturen kommt am klarsten in »Untitled

(Compartmented Box)« zum Ausdruck, einer

Arbeit, welche die Tradition der Porträtmini-

atur in Erinnerung ruft, die auf die Renais-

sance zurückgeht. Dieses Werk scheint die ein

Jahrzehnt später entstandenen Arbeiten Andy

Warhols vorwegzunehmen, der Cornells Kom-

36Untitled (medici variant)

c. 1955 Um 1955Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog) Wassenaar, Caldic Collectie

35Untitled (medici bOy)

Um 1953Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog) Modern Art Museum of Fort Worth

positionen bewunderte und dem Künstler 1963

in seinem Atelier einen Besuch abstattete.

Das zentrale Motiv jeder dieser Arbeiten ist eine

junge Person, die Cornell einem Renaissancege-

mälde entnommen und als Kopie reproduziert

hat. Von links nach rechts (32–36) sind das: der

»Kopf eines Knaben« von einem Schüler Cara-

vaggios (Hartford, Wadsworth Atheneum);

Bernardino Pinturicchios »Bildnis eines Knaben«

(1480–1485; Dresden, Gemäldegalerie Alte Meis-

ter); Bronzinos »Bildnis der Bia de’ Medici« (um

1542; Florenz, Uffizien); Sofonisba Anguissolas

»Bildnis des Marchese Massimiliano Stampa«

(1557; Baltimore, Walters Art Museum) und

schließlich abermals der »Kopf eines Knaben«.

Zwei der Arbeiten haben einen blauen Ton, wo-

durch sie in Anmutung und Atmosphäre an die

Frühzeit des Kinos erinnern. Eine andere wird

hinter bernsteinfarbenem Glas präsentiert und

wirkt daher wie ein früher Sepiaabzug. Mehre-

re Werke sind innen mit Baedeker-Karten und

Architekturplänen beklebt, die auf Reichtum,

Einfluss und ein bequemes Leben schließen las-

sen. Diese Hinweise werden jedoch durch die

Erinnerung daran gedämpft, dass auch die dar-

gestellten jungen Menschen der Gunst des

Schicksals und des Zufalls unterlagen: Wir ent-

decken würfelartige Formen, Bälle und Linien

auf dem Glas, die uns an das Fadenkreuz eines

Gewehrzielfernrohrs denken lassen.

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Untitled (the life Of lUdwig ii Of bavaria)

Etwa 1941–1952Mit Papier ausgeklebter Holzkoffer mit einer Sepiafotografie am Innendeckel; enthält ein Buch, eine bedruckte Mappe mit fotografischen Reproduktionen, zwei rechteckige Kästchen mit kleinen Schwänen aus durchsichtigem Glas sowie zwei zylindrische Behälter mit zerbrochenen Glassachen und Steingutscherben Philadelphia Museum of Art, Gift of The Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation, 1996

Zeit seines Lebens stellte Cornell akribische Dos-

siers über Personen oder für ihn besonders wich-

tige Orte zusammen, die häufig der Welt der Li-

teratur, des Balletts, des Films oder der Oper zu-

zurechnen sind. Eines der umfangreichsten und

als eigenständige Arbeit präsentierten Dossiers

ist eine Sammlung von Druckwerken und Ob-

jekten, die sich mit dem abwechslungsreichen

Leben König Ludwigs II. von Bayern (1845–1886)

befassen, den man seiner Liebe zu dem königli-

chen Vogel wegen »Schwanenkönig« nannte. In

einem Koffer sind eine Biografie des exzentri-

schen Monarchen, Originalfotografien des Kö-

nigs und seines Märchenschlosses Neuschwan-

stein, eine Reihe von kleinen Schwänen aus

Glas, ein Briefumschlag mit einer blonden Haar-

locke, zerbrochene Glassachen und Steingut-

scherben sowie zwei Schwanknochen unterge-

bracht. Schloss und Schwäne haben Cornell als

Ballettliebhaber sicher gefallen. Das Dossier zu-

sammenzustellen begonnen hatte Cornell wahr-

scheinlich nach einem Besuch von Léonide Mas-

sines Inszenierung der »Bacchanale« in New

York 1939, einem einaktigen, die Träume Lud-

wigs II. schildernden Ballett, für dessen Libret-

to und Bühnenbild Salvador Dalí verantwort-

lich zeichnete.

39

Palace

1943Verglaster und bemalter Holzkasten, fotografische Reproduktion, Spiegel, Holz, verkohlte Rinde, mit Farbe besprühte ZweigeHouston, The Menil Collection, früher in der Sammlung von Christophe de Menil

Vor einer kahlen Winterlandschaft ragt ein ge-

waltiger weißer Palast auf. Der verlorene Glanz

europäischen höfischen Lebens ist erstarrt, für

immer als eine Welt en miniature bewahrt, wel-

che Erinnerungen an Märchen und Puppen-

häuser von Kindern heraufbeschwört. Hans

Christian Andersen, ein Geistesverwandter Cor-

nells, der, wie wir wissen, mit Papiertheatern

spielte, kommt einem beim Anblick dieser Ar-

beit ebenso in den Sinn wie Charles Perraults

»Dornröschen«-Geschichte aus dem Jahr 1696,

in der eine Prinzessin in ihrem Schloss in ei-

nen Schlaf versetzt wird, der hundert Jahre dau-

ert, während derer der Palast von einer un-

durchdringlichen Dornenhecke überwuchert

wird.

»Palace« gehört zu einer Reihe von Arbeiten,

die Cornell zwischen 1942 und Mitte der

1950er-Jahre schuf und für die er fotokopier-

te Reproduktionen historischer Stiche ver-

wendete, die er in einem Dossier in seinem

Atelier aufbewahrte. Manche Bauwerke sind

real, andere imaginär. Die Kästen, die er da-

raus herstellte, gehören zu den theaterhaftes-

ten seines Œuvres – eine Qualität, die Cor-

nell durch verspiegelte Fenster unterstrich,

die den Betrachter in die Szene hineinziehen,

indem sie ihn zu einem unfreiwilligen Dar-

steller im Schauspiel seiner eigenen Fantasie

machen.

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Späht man durch das winzige Loch an der Sei-

te der Sperrholzbüchse, sieht man einen Fin-

gerhut. In seiner Nähe sitzen vier weitere glei-

che Fingerhüte, von denen jeder sich in den

Plättchen, die das Innere der Büchse ausklei-

den, bis ins Unendliche spiegelt, was an Bäu-

me in einem Wald denken lässt. Von oben be-

trachtet erinnert die Anordnung der Finger-

hüte an das geometrische Muster eines Bienen-

stocks. Cornell hat eine Miniaturwelt geschaf-

fen, die den 1865 erschienenen Roman »Alice’s

Adventures in Wonderland« von Lewis Carroll

ins Gedächtnis ruft. Und tatsächlich wurde eine

Ausstellung mehrerer solcher Arbeiten im Jahr

1948 von einer Beschreibung begleitet, in wel-

cher der Künstler von »einer Welt der Spiegel«

spricht, »in der man sich wie Alice auf die Grö-

ße eines Insekts geschrumpft fühlt«. In einem

Cornell gewidmeten Gedicht aus dem Jahr 1974

bietet der große mexikanische Dichter Octavio

Paz auf Hans Christian Andersen Bezug neh-

mend einen anderen Vergleich an: »Däumelin-

chen in Spiegelgärten«.

Die Architektur dieses Werks verweist auf frü-

he optische Geräte, die, wie man weiß, Cor-

nell faszinierten: etwa auf das viktorianische

Zoetrop und das Praxinoskop, zylindrische

Trommeln mit Bildern an der Innenwand, die

sich zu bewegen scheinen, wenn man die

Trommel dreht.

40

beehive

1940–1948Bestehender Behälter aus Holz im Shakerstil, Spiegel, Kork, Papiercollage, Fingerhüte aus Metall, GlasperlenRichard L. Feigen

In dieser Arbeit befasst sich Cornell mit der zur

Ikone gewordenen Commedia dell’Arte-Figur

des Pierrot, wie ihn das bekannte, 1718/19

entstandene Gemälde Antoine Watteaus im

Louvre zeigt, das früher den Titel »Gilles« trug.

Auch wenn Cornell das Bild nie im Original

gesehen hatte, übte es einen besonderen Zau-

ber auf ihn aus, weil er im rührenden, linki-

schen Wesen der Figur und ihrer verträumten

romantischen Befangenheit eine verwandte See-

le spürte. Der Pierrot lässt sich fast als eine Art

Selbstporträt sehen. Er war das Opfer seiner

Liebesträume, und Cornell hat die ausgeschnit-

tene Papierfigur in drei Teile zerlegt, die von

einem Stoffband zusammengehalten werden

und am oberen Teil des Kasten hängen: So lässt

sich die Figur wie eine Marionette bewegen.

Cornell hat sie aus der französischen Land-

schaft herausgenommen und in eine Gardero-

be hinter der Bühne versetzt, mit Sägespänen

am Boden, Theaterspiegelwänden und einem

Rautenmuster als Hintergrund, das an ein Har-

lekinkostüm erinnert. Im Unterschied zur Über-

arbeitung der »Mona Lisa« durch seinen

Freund Marcel Duchamp setzt sich Cornells

Arbeit mit der Kunst der Vergangenheit ausei-

nander, um einen ganz persönlichen Bezug zu

jenem melancholischen Wesen herzustellen,

das ein integraler Bestandteil seines eigenen

künstlerischen Empfindens war.

41

a dressing rOOm fOr gille

1939 Verglaster Holzkasten, Holztafelabdeckung, Farbe, Spiegel, Kork, Collage von bedruckten Papieren, Baumwollfaden, Stoffe, Klebeband Richard L. Feigen

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Cornell schuf mehr als zwanzig Werke, zu de-

nen ihn die russische Ballerina Tamara Tou-

manova inspirierte, die er 1940 kennengelernt

hatte und mit der er nach ihrer Übersiedlung

nach Hollywood 1942 korrespondierte. In Cor-

nells Vorstellung bestand eine starke Verbin-

dung zwischen der anmutigen Tänzerin und

einer ihrer wichtigsten Rollen: die der Odette

in Tschaikowskis Ballett »Schwanensee«

(1876), in dem eine Prinzessin Opfer eines bö-

sen Zauberers wird, der sie in einen Schwan

verwandelt, um sie ihrem Geliebten zu entzie-

hen. Für »Untitled (Fortune)« scheint Cornell

ein einziges Bild zerschnitten und auf verschie-

dene Ebenen verteilt zu haben; tatsächlich

handelt es sich aber um Kopien von mindes-

tens drei Stichen, deren Maßstab und Umris-

se so aufeinander abgestimmt sind, dass sie

ein puzzleartiges Bühnenbild in Miniaturform

ergeben. Für die zweite Arbeit (Objekt 43) ent-

warf Cornell eine ähnliche Szenerie, indem er

zwei einfache, unspektakuläre Gegenstände

verband, um ein zutiefst romantisches Gefühl

zu vermitteln. Ein Schwan aus Plastik, wie

man ihn Knallbonbons beigegeben hat oder

in billigen Läden in Manhattan finden mag,

ist auf einem Handspiegel platziert, um die Il-

lusion eines Gewässers zu erzeugen. Dieses

Werk gehörte ursprünglich Toumanova.

42

Untitled (fOrtUne)

Um 1967 oder früherMetallspiegel mit Stoffverstärkung, Plastikschwan und Papieretikett mit der Aufschrift »fortune« (Glück)New York, Sammlung Timothy Baum

43Untitled

Um 1945 Holzkasten, blaues Glas, Rheinkiesel, Collage aus bedrucktem Papier, FarbeThe Collection of Marguerite and Robert Hoffman

Diese drei Kästen (Objekte 46, 48, 49) veran-

schaulichen Cornells Interesse für die Welt und

das Universum – Themen, die ihn bereits seit

frühester Kindheit faszinierten und beunruhig-

ten. Die Arbeit in der Mitte, »Soap Bubble Set«

(Objekt 48), gehört zu einer Serie, die im Lauf

von über zwanzig Jahren entstand. In jedem ih-

rer Werke findet sich eines der komplexesten

und an Metaphorik reichsten Bilder Cornells:

eine Seifenblase – hier in Form eines den Mond

zeigenden Drucks aus dem 19. Jahrhundert. Das

Motiv der Seifenblase verbindet die Ikonogra-

fie der Vanitasgemälde Alter Meister, auf denen

seifenblasende Kinder die Kurzlebigkeit der Un-

schuld verkörpern und Pfeifen und Trinkgläser

für das irdische Leben und dessen vergängliche

Freuden stehen, mit der Begeisterung des Wis-

senschaftlers für die materielle Welt.

Linker Hand dieses Kastens findet sich eine zwei

Jahre später entstandene Arbeit (Objekt 46), die

Cornell der italienischen Sopranistin Giuditta

Pasta (1797–1865) gewidmet hat, deren Stimme

der Zeit zum Opfer gefallen ist, weil die Sänge-

rin vor dem Aufkommen von Tonaufnahmen

verstarb. Cornell war 1942 auf eine Lithografie

mit ihrem Porträt gestoßen, die sein Interesse

entfachte, und die große Primadonna wurde zum

Gegenstand eines umfangreichen vom Künstler

zusammengestellten Dossiers. Die Verbindung

zwischen der hinreißenden Erfahrung von Pas-

46

Planet set, tête étOilée, giUditta Pasta (dédicace)

1950 Verglaster Holzkasten, Likörgläser, Kristalle, Holz- und PapiercollageLondon, Tate

48

sOaP bUbble set

1948Verglaster Holzkasten, gedruckte Karte, bemaltes Objekt, Likörglas, Samt, Metall, Glasscheiben, Tonpfeifen Mr and Mrs John Stravinsky

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Untitled (celestial navigatiOn)

Etwa 1956–1958Verglaster Holzkasten, verschiedene Papiercollagen, Likörgläser, zwei blaue Murmeln, Treibholz, Landkartennadeln, collagierte Holzzylinder, Metallstab, Lade, weißer Sand, Muscheln, WälzlagerThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

tas Gesang und der Betrachtung des Nachthim-

mels ist vielleicht auf Cornells Lektüre des Be-

richts eines ihrer Zeitgenossen, des französi-

schen Schriftstellers Stendhal, aus dem Jahr 1823

zurückzuführen: »Wo sollte ich geeignete Wor-

te finden, um die Erscheinung himmlischer

Schönheit zu beschreiben, die sich uns in blen-

dendem Glanz darbietet, wenn Madame Pasta

singt, oder die seltsamen Einblicke in die Ge-

heimnisse erhabener und fantastischer Leiden-

schaften, die ihre Kunst uns gewährt?«

Der dritte Kasten, »Untitled (Celestial Navi-

gation)«, stammt aus den 1950er-Jahren, einem

Jahrzehnt, in dem sich die Grenzen der Wis-

senschaft verschoben: nach außen in den Welt-

raum und nach innen in die Struktur des

Atoms. Die Aussicht auf Reisen durch das All

und atomare Energie verlangte nach einer Neu-

bestimmung des Orts, der dem Menschen im

Universum zukam. In diesem Fall konfrontiert

uns Cornell mit einem Fenster im Fenster: Es

ist, als ob die Himmelskarte an der Rückwand

den Blick aus dem Cockpit eines Raumschiffs

oder das Bild eines Radarverfolgungsbild-

schirms in einem Kontrollturm wiedergeben

würde. Die Lade darunter ist mit einer tief-

blauen Karte des Nachthimmels ausgekleidet

und mit weißem Sand, Wälzlagern und spitz

zulaufenden spiralförmigen Muscheln gefüllt.

51

weather satellites

Um 1965Collage auf PapierNew York, Whitney Museum of American Art, Erwerbung mit Unterstützung von The Lily Auchincloss Foundation, Richard Brown Baker, dem John I. H. Baur Purchase Fund, dem Felicia Meyer March Purchase Fund, Mr. und Mrs William A. Marsteller sowie einem anonymen Spender

52

ObservatiOns Of a satellite i

Um 1960Collage auf PapierTokio, Privatsammlung

In Cornells späten Collagen tauchen bestimm-

te Motive oft in mehreren Werken auf. Den bei-

den hier gezeigten Arbeiten ist das Bild einer

Glasglocke gemeinsam, das von einem Um-

schlag der Januarausgabe 1953 des »Scientific

American« stammt; er zeigt einen Artikel über

den Metabolismus des Kolibris an, der dem Vo-

gel die Reise über den Golf von Mexiko ermög-

licht. In beiden Glasglocken sehen wir rechts

oben das Spiegelbild einer mit einem Korken

verschlossenen Glasflasche. Da die Flasche zu

schwimmen scheint, erinnert sie an eine Fla-

schenpost und die zahlreichen mit diesem Bild

verbundenen metaphorischen Vorstellungen:

einen Seenotruf, eine letzte Hoffnung, ein Auf-

flackern des Glaubens.

Ein glitzernder grüner Ikosaeder, den Cornell

aus einem Mathematikbuch seiner Bibliothek

ausgeschnitten hat, hängt geheimnisvoll an ei-

nem leuchtend blauen Himmel. Man hat das

Gefühl, dass die Glocken auf der Oberfläche

eines fremden Planeten gelandet sind und ih-

ren Insassen die Luft bieten, die sie zum At-

men brauchen. Eine Glocke enthält eine jun-

ge Prinzessin, die Cornell per Teleportation

aus dem Spanien des 17. Jahrhunderts hierher

versetzt hat: die Infantin aus Diego Velázquez’

Gemälde »Las Meninas«, die andere verschie-

dene Gesteinsproben.

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Untitled (aviary with ParrOt and drawers)

1949 Holzkasten, verglastes Mittelfach, bearbeitete bestehende Laden aus Holz, Farblithografie, Holzstücke, UhrfedernThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

1949 wurde in der Egan Gallery in New York

eine Ausstellung Cornells mit dem Titel »Avia-

ry« (»Vogelhaus«) gezeigt. Sie versammelte

26 Kastenkonstruktionen, von denen die meisten

in jenem Jahr entstanden. Cornell hatte die

Schau als Gesamterlebnis für die Besucher kon-

zipiert und präsentierte die Arbeiten in einem

hell erleuchteten Raum auf verschiedenen Hö-

hen. In seinem Vorwort zu der die Schau beglei-

tenden Broschüre schrieb der amerikanische Ro-

mancier Donald Windham: »Bemerkenswert

sind Vögel wegen der großen Entfernungen, die

sie zurücklegen können, wegen […] ihres Wis-

sens um die Beziehungen zwischen fernen Or-

ten. Auch der Kern von Joseph Cornells Kunst

liegt in dieser Gabe, die Verbindung zwischen

einander scheinbar fernen Ideen zu erspüren.«

Cornell mochte alle Vögel, vor allem aber lieb-

te er Papageien, die durch ihre Fähigkeit, sprach-

liche Äußerungen nachzuahmen, den Menschen

sehr nahe sind. Historisch betrachtet wurden

exotische Vögel von Herrschern als ihr Ansehen

repräsentierende Haustiere gehalten oder fan-

den als geschätzte Trophäen von Reisen an das

Ende der Welt in den europäischen Wunderkam-

mern des 17. Jahrhunderts Platz. In dieser Arbeit

scheint der beeindruckende, farbenfrohe Vogel

über die abgenutzten, an Möglichkeiten reichen

Ladenreihen zu herrschen und unergründlich

über das Geheimnis ihrer Inhalte zu wachen.

54

habitat grOUP fOr a shOOting gallery

1943 Holzkasten mit Scharnieren, Glas (vom Künstler zerstört), Holz, Farbe, bedruckte Ausschnitte, ausgeschnittene Farblithografien, Stücke von Zeitungen, getrocknetes Pflanzenmaterial, Federn Iowa, Des Moines Art Center, erworben mit Unterstützung des Coffin Fine Arts Trust; Nathan Emory Coffin Collection of the Des Moines Art Center, 1975.27

In den 1930er-Jahren hatte Cornell in einem Tier-

geschäft eine Offenbarung: Die Begegnung mit

einer Präsentation tropischer Vögel in Käfigen

hinterließ bei ihm einen tiefen Eindruck. In die-

sem Fall sind reich detaillierte Farblithografien

von zwei Aras, einem Papagei und einem Kaka-

du in einer unruhigen Komposition verspritzter

Farbe und zerbrochenen Glases angeordnet, die

durch plötzliche kühne Gesten zustande gekom-

men zu sein scheint. Spielkärtchen mit Ziffern

werden zu Zielen, und die ausgeschnittenen fla-

chen Vögel erinnern an die von Cornell in sei-

ner Kindheit besuchten Schießbuden in den Ver-

gnügungsparks von Coney Island, wo es Wahr-

sager gab, die Papageien hielten. Das Werk ist

eine unmittelbare Antwort auf die verheerende

Gewalt des Zweiten Weltkriegs, die Cornell sehr

bedrückte. Die auf die Innenwände der Kon-

struktion geklebten französischen Ausschnitte,

von denen einer eine Reiterstatue auf einem

Platz zeigt, legen einen europäischen Zusam-

menhang nahe. Cornell, ein eifriger Amateurna-

turforscher und begeisterter Vogelbeobachter,

betrachtete fliegende Geschöpfe als positive Sym-

bole, als reine Geister, die nach Belieben weite

Strecken zurücklegen können. In diesem Fall

stehen die Vögel für menschliche Opfer, womit

die Arbeit zu einer treffenden Reflexion der Zer-

störung von Leben, Kultur und Freiheit durch

den Krieg wird.

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Untitled (Owl habitat)

Mitte bis Ende der 1940er-JahreHolzkastenkonstruktion mit blauem Glas, Farbdruckausschnitt, Rinde, Holz, pulverisiertes Pflanzenmaterial, bemalte FlechteSammlung Jasper Johns

Diese Arbeit gehört zu einer Serie von Habi-

taten, in denen Eulen, Spechte, Zaunkönige

und Spatzen, gelegentlich auch ein Kaninchen,

ein Schmetterling oder eine Spinne im Mittel-

punkt stehen. Im Unterschied zu jenen Wer-

ken, die mit der Sprache von Käfigen für als

Haustiere gehaltene Vögel und Tierhandlun-

gen spielen (Objekte 53 und 54), sind die Ha-

bitats als Nachschöpfungen natürlicher Um-

gebungen angelegt. In den 1930er-Jahren war

Cornell verschiedenen Brotberufen nachge-

gangen und hatte seine künstlerische Tätigkeit

auf die Stunden der Dämmerung beschränken

müssen. Die Nachteule war daher ein Ge-

schöpf, mit dem er sich identifizierte. In sei-

nen Tagebüchern erinnert sich Cornell an das

Vergnügen der Radtouren, die er unternahm,

um die für seine Kästen notwendigen organi-

schen Materialien zu sammeln. Obgleich Cor-

nells Habitats den Dioramen naturgeschicht-

licher Museen in gewissen Aspekten gleichen,

verdankt sich ihre ätherische Qualität maß-

geblich der großen Symbolkraft der Eule. Eu-

len gelten in verschiedenen Kulturen als Iko-

nen der Weisheit, des Scharfblicks, der Weit-

sicht und des Todes, als Botschafter zwischen

irdischen und übernatürlichen Welten oder,

wie Cornell einmal Freunden erklärte, als Sym-

bole des Glücks von Schauspielerinnen.

57

Object: les abeilles Ont attaqUé le bleU céleste Pâle

1940 Verglaster Holzkasten, Stich, Rheinkiesel, Kork, Farbe und PapierausschnittSammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Diese Arbeit ist einer der theaterhaftesten Käs-

ten Cornells: ein Miniaturdrama, das an die Ma-

rionettentheater seiner Kindheit erinnert. Man

sieht eine Gruppe von durch einen Wald het-

zenden Männern in französischen Kleidern des

17. Jahrhunderts. Manche sind wie Figuren in

Alexandre Dumas’ 1844 erschienenem Roman

»Die drei Musketiere« beritten. Aus dem Stahl-

stich ist eine Form ausgeschnitten, um einem te-

legrammartigen Strom von französischen Wor-

ten Platz einzuräumen, die von der sich hinter

einem Baum verbergenden Figur gesprochen

werden und auf die blaue Landschaft im Hin-

tergrund geklebt sind: »Die Bienen griffen das

blasse Himmelblau an.« Dargestellt werden die

den Baum umschwirrenden Bienen von glitzern-

den Rheinkieseln. Die Worte sind auf verschie-

denste Weise gedeutet worden, unter anderem

als verschlüsselter Hinweis auf den zur Entste-

hungszeit der Arbeit stattfindenden Einmarsch

deutscher Truppen in Frankreich. Cornell hör-

te beim Arbeiten immer Radio, und man kann

sich die Beklemmung vorstellen, die solche

Nachrichten über Gewalt und Zerstörung in fer-

nen Ländern auslösten. Das Wechselspiel von

Wort und Bild ist ein typisch europäischer Zug

von Cornells Arbeiten, den er mit Künstlern wie

Marcel Duchamp und René Magritte gemein-

sam hat.

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sOrrOws Of yOUng werther

Um 1966Collage mit fotomechanischer Reproduktion, Papier, Gouache und Tusche auf HolzfaserplatteWashington, D.C., Smithsonian Institution, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Geschenk von Joseph H. Hirshhorn, 1972

Vor dem Hintergrund einer Magazindoppelsei-

te sieht man das – einem nicht identifizierten

Gemälde entstammende – Bild eines Knaben,

der einen weißen Hund an der Leine hält. Der

hohe Blickpunkt – wir schauen auf eine nackt

im Wald liegende Frau hinunter – verleiht der

Darstellung eine voyeuristische Note. Die Klei-

der der Frau liegen im Wald verstreut. Auch sie

hat einen Hund zur Seite gestellt bekommen,

der sich am Stamm des Baums ganz links zu-

sammengerollt hat. Die Augen beider Figuren

sind direkt auf den Betrachter gerichtet, als ob

sie ihn aus getrennten, doch irgendwie geheim-

nisvoll miteinander verbundenen zeitlichen Per-

spektiven fixieren würden. Der blaue Rock des

Knaben weist ihn gemeinsam mit dem Titel der

Arbeit als Werther, den Helden des teils auto-

biografischen Romans, aus, dessen Erscheinen

im Jahr 1774 seinen 24-jährigen Autor, Johann

Wolfgang von Goethe, berühmt machte. Die tra-

gische Geschichte zum Scheitern verurteilter

Liebe wird in Form einer Reihe von Briefen der

leidenschaftlichen und äußerst empfindsamen

Titelfigur an seinen Freund Wilhelm erzählt.

Werther begeht schließlich Selbstmord und tut

dies mit einem blauen Rock bekleidet, der für

ihn etwas Besonderes darstellt, weil er ihn beim

Tanz mit der von ihm angebeteten Charlotte ge-

tragen hat.

59

hölderlin Object

1944–1946Bestehender Holzkasten, blaues Glas, marmoriertes Papier, Samt, Eichenblatt, Buch, FadenPrivatsammlung, Courtesy Pavel Zoubok Gallery

Ein kleiner Holzkasten öffnet sich wie ein Reli-

quienschrein, um den Blick auf seinen Inhalt

freizugeben: ein altes, sorgfältig mit Bindfaden

umwickeltes Buch unter einer blauen Glasschei-

be mit einem in den Deckel eingelassenen Ei-

chenblatt, einem traditionellen Symbol der

Macht, der Erhabenheit und der deutschen Na-

tion. Von blauem Samt und Streifen feinfühlig

eingesetzten marmorierten Papiers gerahmt, ver-

binden sich die beiden Gegenstände zu einer

symbolischen Hommage Cornells an den gro-

ßen deutschen Dichter der Romantik Friedrich

Hölderlin (1770–1843). Das blaue Glas – ein for-

males Mittel, dessen sich Cornell häufig bedien-

te – verleiht der Arbeit eine geheimnisvolle, jen-

seitige Qualität und vermittelt ein Gefühl des-

sen, was Hölderlin Sehnsucht nannte. Cornell

war ein großer Bewunderer der romantischen

Epoche und des Balletts, der Musik, der Litera-

tur, der wissenschaftlichen Forschung und der

Philosophie jener Zeit. Es war eine Ära, der er

»mehr Einheit« zuschrieb. Deutsche Autoren

wie Goethe, Novalis und Hölderlin zählten zu

seinen Lieblingsschriftstellern. Im Lauf seiner

künstlerischen Tätigkeit hat Cornell ihnen allen

mit individuellen Arbeiten Reverenz erwiesen.

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PaOlO and francesca

1943–1948Kastenkonstruktion mit Papierausschnitt, Samt, blaues Glas und RheinkieselThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Zwei verhüllte Figuren sitzen auf eine Garten-

bank gekauert im Mondlicht und lesen in einem

Buch. Es handelt sich um ein italienisches Paar

des 13. Jahrhunderts, um Paolo Malatesta und

Francesca da Rimini, die sich ineinander ver-

liebten, obwohl beide verheiratet waren (sie mit

seinem älteren Bruder, Gianciotto, der sie bei-

de tötete, als er ihre Beziehung entdeckte). Im

ersten Band der 1320 fertiggestellten Göttlichen

Komödie ihres Zeitgenossen Dante Alighieri be-

gegnen wir ihnen als Gefangenen eines ewigen

Wirbelwinds im zweiten Kreis der Hölle, der

den Wollüstigen und anderen tragischen Lieben-

den vorbehalten ist. Das Buch, das sie lesen, er-

zählt die Geschichte des Artusritters Lancelot

und der Königin Guinevere und deren ebenfalls

ehebrecherischer Liebe. Cornell stellt die Lie-

benden allerdings in einem Moment der Ruhe

entweder vor ihrer Entdeckung oder in einem

romantischen, blau getönten Jenseits dar. Man

hat vermutet, dass die beiden für die Eltern des

Künstlern stehen könnten, die durch den frühen

Tod von Cornells Vater 1917 auf tragische Weise

voneinander getrennt wurden, gerade als die

Oper »Francesca da Rimini« nach einem Text

Gabriele D’Annunzios an der Metropolitan Ope-

ra in New York zur Aufführung gelangte.

61

Untitled Object (mOna lisa)

Etwa 1940–1942Mit bemaltem durchsichtigem Glas verschlossene zylindrische Kartondose, die fotografische Reproduktionen, Pailletten, eine Haarnadel, Glasperlen und ein schwarzes Stück Papier enthältThe Collection of Marguerite and Robert Hoffman

Auf die Innenseite des Deckels von »Untitled

Object (Mona Lisa)« hat Cornell zwei ausge-

schnittene Details des so bewunderten und im-

mer wieder diskutierten Brustbilds einer Frau

von Leonardo da Vinci geklebt. Wenn die Ar-

beit auch zweifellos als Hinweis auf einen der

größten Künstler der Vergangenheit gelesen wer-

den kann, ist doch weitaus wahrscheinlicher,

dass sie als Hommage an Cornells Freund und

Zeitgenossen Marcel Duchamp gedacht war.

1919, mehr als zwanzig Jahre zuvor, hatte

Duchamp bekanntlich eine Reproduktion von

Leonardos Meisterwerk durch die respektlose

Hinzufügung eines Schnurr- und Spitzbarts

entweiht.

Cornell und Duchamp waren einander erstmals

1933 begegnet. Etwa um die Zeit, in der »Un-

titled Object (Mona Lisa)« fertiggestellt wurde,

bat Duchamp Cornell, ihm bei der Herstellung

seiner Boîtes-en-valises zur Hand zu gehen, ei-

ner Edition tragbarer Kästen, die Miniaturrepro-

duktionen seiner eigenen Werke enthielten. Et-

was mehr als zwanzig Jahre nach der Entste-

hung dieses Objekts, im Februar 1963, war

Cornell unter den mehr als eine Million Besu-

chern, welche die »Mona Lisa« während ihrer

dreieinhalbwöchigen Präsentation im Metropo-

litan Museum of Art in New York sahen.

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62Untitled (POrtrait Of leila in letters)

Späte 1960er-JahreCollage New York, Sammlung Timothy Baum

63mica magritte ii: time transfixed

Um 1965 CollageThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

64Untitled (Penny arcade, Pascal’s triangle)

Um 1965CollageSammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Jedes Werk dieser Gruppe später Collagen ver-

weist auf Cornells Interesse an Kunstgeschich-

te und seine Auseinandersetzung mit diesem Ge-

biet. Die erste Arbeit, »Untitled (Portrait of Lei-

la in Letters)«, verbindet Farbreproduktionen

zweier Gemälde des aus Deutschland gebürti-

gen altmeisterlichen Malers Hans Memling. Die

Frau, deren Gesicht einem die »Madonna mit

Kind« darstellenden Werk von 1487 entstammt,

starrt in eine Leere, die sowohl durch Cornells

Weglassen des Christuskinds als auch durch die

Anordnung zweier verschränkter L-Formen zu-

stande kommt, die er der zentralen Tafel von

Memlings 1484 geschaffenem Triptychon ent-

nommen hat; sie zeigt den heiligen Christopho-

rus, den Schutzpatron der Reisenden. Cornell

zitierte Zeitgenossen nicht weniger gern als his-

torische Quellen, wie die beiden dem belgischen

Surrealisten René Magritte gewidmeten Colla-

gen (Objekte 63 und 65) belegen. Für »Untitled

(After René Magritte, La clef de verre)«, 1959,

hat Cornell Magrittes rätselhaftes Bild eines auf

einem Gebirgskamm balancierenden Felsens mit

einem Rahmen versehen und es über dem Luft-

bild einer Landschaft angebracht, die eine Küs-

te zu sein scheint. In Cornells Komposition

»Mica Magritte II: Time Transfixed« begegnen

wir ebenfalls einer solchen fensterartigen Rah-

mung, wobei es sich in diesem Fall um ein Bild

des ikonischen Gemäldes »La Durée poi-

65Untitled (after rené magritte, la clef de verre, 1959)

Um 1965CollageSalem, Massachusetts, Peabody Essex Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation, 2005

66andrOmeda

1956 Collage Privatsammlung

gnardée« aus dem Jahr 1938 handelt. Die Colla-

ge gehört zu einer Reihe eng verwandter Wer-

ke, die Cornell seinem verstorbenen Bruder wid-

mete, der eine Zeit lang an das Wohnzimmer

des Hauses am Utopia Parkway gefesselt war,

wo er seine Sammlung von Modelleisenbahnen

aufbewahrte.

Die in der Nähe hängende Arbeit »Untitled (Pen-

ny Arcade, Pascal’s Triangle)« erinnert an das Werk

eines jüngeren Zeitgenossen, nämlich des ameri-

kanischen Künstlers Jasper Johns. Die Silhouette

eines springenden Pferdes beschwört die Schau-

kelpferde und Karusselle im Central Park herauf,

wobei die vertikale Anordnung der Herzen und

der Stern auf blauem Grund die Achse und die

konzentrischen Kreise die Drehbewegung andeu-

ten könnten.

Abgerundet wird die Werkgruppe von »Andro-

meda«, einer Arbeit, die auf wunderbare Weise

eine Landschaft aus dem Magazin »Arizona

Highways«, eine weibliche Figur (die englische

Schauspielerin Jackie Lane) und ein Detail von

Peter Paul Rubens’ Gemälde »Die vier Konti-

nente« in der Sammlung des Kunsthistorischen

Museums in Wien zusammenführt. In seiner In-

terpretation der Geschichte übertrug Cornell

den Part der Andromeda Jackie Lane, weil ihn

ihre Pose auf der Fotografie wahrscheinlich an

seine Lieblingsdarstellung des Sternbilds (siehe

Objekt 67) erinnerte.

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andrOmeda: grand hôtel de l’ObservatOire

1954Verglaster Holzkasten, bemaltes und mit Papier überzogenes Holz, Metallstange, Metallkette, Papiercollage aus FotokopienNew York, Solomon R. Guggenheim Museum, Partial gift, C. and B. Foundation, by exchange, 1980

Auf einem teils geweißten Ausschnitt links un-

ten im Kasten steht »Grand Hôtel de l’Univers«.

Unter Cornells Händen wird das Hotel zu einer

Metapher für Zeit und Raum, die durch den An-

dromeda-Mythos mit der Romantik der Sterne

verschmilzt. Cornell hat die Abbildung des Stern-

bilds, die ursprünglich 1690 in Johannes Heve-

lius’ Firmamentum Sobiescianum, sive Urano-

graphia erschien, wiederholt verwendet. Dieses

Werk zeigt die Himmelskugel wie von außen ge-

sehen, weshalb wir auch Andromedas Rücken

vor uns haben.

Von den in die wolkenartige Textur der inneren

Wand eingeritzten Linien wird ein kartografischer

Raster evoziert, auf dem die Figur der Androme-

da wie eine Akrobatin auf einem Hochseil balan-

ciert. Die frei herabhängende Kette verweist auf

ihre Befreiung sowie auf die Schwerkraft, die das

Universum zusammenhält und sicherstellt, dass

sich die Sternbilder nicht verschieben.

Cornell verfolgte die wissenschaftlichen Fort-

schritte seiner Zeit sehr genau. 1948 wurde mit

dem neuen Hale-Teleskop am Mount Palomar

das damals und für einige Zeit größte optische

Teleskop fertiggestellt; 1953 richteten es Astro-

nomen auf die Andromedagalaxie, das fernste

Objekt, das von der Erde aus mit bloßem Auge

sichtbar ist. Cornell wusste genau, dass das Licht

eines Sterns zu sehen in die Vergangenheit zu

schauen heißt.

68

Untitled (hOtel family, Parmi-gianinO, bel antea variant)

Um 1950Verglaster Holzkasten, Holzlatten, Farbe, fotografische Drucke, BuchseitenHouston, The Menil Collection

Cornell galten Bilder von Hotels als Inbegriff

der Romantik des Reisens. Sie erinnerten ihn

an hôtels particuliers, die verschwenderisch

ausgestatteten privaten französischen Villen

des 18. Jahrhunderts, und das kosmopolitische

Leben der durch die Lande reisenden Balleri-

nen des 19. Jahrhunderts. Cornells Hotels wer-

den manchmal von Vögeln, manchmal von

Tänzerinnen, manchmal von Figuren aus Wer-

ken Alter Meister bewohnt. Seine Begeiste-

rung für historische Topografie zeigt sich an

der Verwendung von Anzeigen für europäi-

sche Hotels, die er aus den von ihm in großer

Zahl gesammelten Reiseführern ausschnitt

oder kopierte. In diesem Fall konfrontiert uns

Cornell mit der gespenstischen Präsenz von

Parmigianinos »Antea« (um 1531/34; Neapel,

Museo di Capodimonte). Er hat das ursprüng-

liche Bild sorgfältig beschnitten, sich des kunst-

voll geflochtenen Haars, der Ohrringe und des

üppigen Pelzes der Dargestellten entledigt, um

ein zeitloses, anonymes Gesicht zu zeigen, das

– von waagrechten und senkrechten Latten

und deren sich verschiebenden Schatten ge-

rahmt – in einem gleichermaßen zeitlosen

Raum schwebt. In den 1950er-Jahren entwi-

ckelte Cornell Techniken, Gesso und Farbe in

Schichten übereinander aufzutragen, und buk

sogar Kästen im Ofen der Familie, um ihre

Struktur stärker hervortreten zu lassen.

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Untitled (mUltiPle cUbes)

1946–1948Verglaster Holzschrank mit Scharnieren und Riegel, Holz, weiße FarbeChicago, Robert H. Bergman

Mit dieser Arbeit wandte sich Cornell von seinen

früheren Kastenkonstruktionen ab. Die formale

Disziplin und das Spiel mit Wiederholung nehmen

die Skulptur des Minimalismus vorweg. Der Künst-

ler Sol LeWitt hat angemerkt, dass »Cornell sei-

ner Zeit voraus war, indem er einen solchen redu-

zierten Ansatz verfolgte. Damals hat das niemand

gemacht«. Cornell reagierte mit dieser Arbeit al-

lerdings auf einen Präzedenzfall, wenn auch auf

keinen im Bereich der Skulptur. Etwa zur Zeit der

Entstehung der Arbeit hielt er ein »starkes Mon-

drian-Gefühl« fest. Er beschreibt auch, wie er die

sich gleichenden Blöcke zu einem Turm überein-

anderstapelte, bevor er sie in dem Kasten platzier-

te, wobei er ihre Anordnung zu einer Art Ritual

machte. Obgleich Mondrians rein abstrakte Ge-

mälde nichts von Cornells Beschäftigung mit Ob-

jekten gemein haben, bedienten sich doch beide

Künstler der Methode, ihre Kompositionen durch

das Platzieren von Elementen und die Überprü-

fung der Ergebnisse Schritt für Schritt weiterzu-

entwickeln, wobei Mondrian mit Quadraten und

Rechtecken aus Papier und Klebeband arbeitete.

Cornells Arbeit spiegelt die visuellen Rhythmen

der Fassaden der Stadt New York wider und

lässt sich als Strukturstudie verstehen. Die kleins-

te Bewegung des Betrachters vor der Arbeit

bringt den extremen Gegensatz zwischen den

hellen weißen Strukturen und den dunklen

Schatten zur Wirkung.

70

ObservatOry: cOrOna bOrealis casement

1950Verglaster Holzkasten, Drahtgeflecht, Holzkomponenten, weiße, blaue und gelbe Farbe, zusätzliches Fach aus Holz an der Rückseite, zwei wendbare HolztafelnChicago, Robert H. Bergman

In seiner Serie von Observatorien entwickelt

Cornell die Bildsprache seiner Vogelhäuser

und Hotels weiter. In diesem Fall hängt ein

einsamer Metallring an einer Stange: Der Be-

wohner hat seinen Platz verlassen und ist weg-

geflogen, hinein in eine unendliche Weite,

während der Betrachter die Imagination ent-

wickeln soll, den vorgestellten Raum an sei-

ner Stelle zu bewohnen: Die architektoni-

schen Verhältnisse der Öffnung lassen an ein

Hotelbalkonfenster denken, während die ho-

rizontalen Stangen an eine Balustrade erin-

nern. Das hochformatige Stück Himmel

gleicht der Öffnung in der Kuppel eines mo-

dernen Observatoriums – ein Bezug, der in

der Form des Bogens darüber aufgenommen

wird. Drahtgeflecht und Gitterstrukturen an

den Wänden lassen dem Betrachter Bilder von

Flugaufnahmen der Blöcke Manhattans und

Wolkenkratzergliederungen in den Sinn kom-

men, auch wenn die Enge der geweißten Zel-

le und die kontemplative Stimmung etwas

Klösterliches ausstrahlen. An der Rückseite

des Kastens befindet sich ein Fach, in das zwei

wendbare Tafeln eingesetzt werden können,

die Blau, Gelb oder eine Himmelskarte des

Sternbilds der Corona Borealis zeigen und an

den von Reisenden erlebten Wechsel der Land-

schaft anzuknüpfen scheinen.

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71

blériOt #2

Um 1956Verglaster Holzkasten, Holzteile und MetallspiraleLeihgabe der Privatsammlung der Familie Buckingham

Dieser Kasten, einer der reduziertesten im Ge-

samtwerk Cornells, zollt dem großen französi-

schen Piloten, Erfinder und Ingenieur Louis Bléri-

ot (1872–1936) Tribut, der 1909 als Erster mit ei-

nem Motorflugzeug den Ärmelkanal überquerte.

Sein 37-minütiger Flug in einer zerbrechlichen,

von ihm selbst entworfenen Maschine aus Holz

und Leinwand brachte ihm den von der Daily

Mail ausgelobten Geldpreis von 1000 Pfund Ster-

ling ein. Die Arbeit veranschaulicht einen oft über-

sehenen Aspekt der künstlerischen Tätigkeit Cor-

nells: seine Fähigkeit zu einer verblüffenden Öko-

nomie der Konstruktion. Bewegt man den Kasten,

beginnt die gewundene Feder in seinem Zentrum

leicht zu zittern, was an das fragile Gleichgewicht

der zum Fliegen erforderlichen Kräfte erinnert.

Mit geringstem Aufwand gelingt es Cornell, uns

Geist und Errungenschaften Blériots vor Augen

zu stellen. Die Maserung des blau gebeizten Hol-

zes vermittelt uns eine Vorstellung davon, wie

sich die gekräuselte Oberfläche des Meers aus

der Luft ausgenommen haben mag. Cornell schuf

Mitte der 1950er-Jahre – gerade als sich der Wett-

lauf zwischen den Vereinigten Staaten und der

Sowjetunion, den ersten Menschen ins All zu be-

fördern, verschärfte – zwei Fassungen dieses

Werks. Obgleich Cornell nie mit einem Flugzeug

geflogen war, faszinierte ihn, wie zahlreiche sei-

ner Werke belegen, die Vorstellung des Fliegens

und Entdeckens.

72

Untitled (»dOve-cOte« american gOthic)

Etwa 1954–1956Verglaster Holzkasten, gebeizt; Farbe, Holzfächer, 24 HolzkugelnThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Dieses Werk gehört zu einer Serie rein weißer,

abstrakter Kästen, die Cornell als »Taubenschlä-

ge« bezeichnete. In diesem Fall ist in dreißig,

teils überwölbten Fächern, die in einem Raster

angeordnet sind, eine Sammlung von kleinen

Holzkugeln untergebracht, die für Tauben ste-

hen. Bewegt man den Kasten, rollen die Kugeln

in ihren Fächern hin und her. Cornell hat eine

umfangreiche Sammlung von Materialien – Fo-

tografien, Zeitschriftenbeiträgen, Postkarten und

anderen gedruckten Bildern – über die Geschich-

te von Taubenschlägen zusammengestellt, die

bis ins Mittelalter zurückreicht, in dem sie von

Rittern und Adeligen als Zeichen ihrer Stellung

und Macht gebaut wurden. Häufig äußerte er

Besuchern seines Ateliers gegenüber sein Bedau-

ern über den Verfall der Taubenhaltung in New

York: Durch italienische Einwanderer im frü-

hen 20. Jahrhundert in der Stadt heimisch ge-

macht, erlebte die Haltung von Tauben bald ei-

nen Niedergang. Wie die nüchterne Darstellung

des Taubenschlags erinnert auch die geometri-

sche Architektur dieses Kastens an die Gemäl-

de, die Piet Mondrian in seiner New Yorker Zeit

schuf, und sie bestätigt Cornells Einfluss auf die

Generation minimalistischer Künstler, die in

den Vereinigten Staaten bald berühmt werden

sollten.

Page 30: Joseph Cornell - press.khm.at...Sharp gemeinsam mit Sarah Lea von der Royal Academy in London. Joseph Cornell wurde am 24. Dezember 1903 in Nyack im Bundesstaat New York geboren. Er

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tOward the blUe PeninsUla: fOr emily dickinsOn

Um 1953Mit Glasscheiben versehener Holzkasten, Holzstange, Holzteile, Drahtgeflecht, Farbe, Stücke einer ZeitungThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Dieser poetische Kasten ist der amerikanischen

Dichterin Emily Dickinson (1830–1886) gewid-

met. Dickinson, die immer Weiß trug, war ein

stiller, zurückgezogener und zutiefst intellektu-

eller Mensch. Obgleich sie starb, ehe er geboren

wurde, sah Cornell in ihr eine ihm in gewisser

Weise verwandte Seele. Keiner der beiden hei-

ratete je, beide unternahmen keine weiten Rei-

sen (obgleich sie sich nach fernen Orten sehn-

ten), und beide lebten im Kreis ihrer Familie.

Cornell kannte Dickinsons Werk seit den 1920er-

Jahren, entdeckte es aber in einer Periode inten-

siver Recherchen wieder für sich, kurz bevor er

an diesem Kasten zu arbeiten begann. Cornell

entschloss sich, eine Stelle aus einem 1862 ent-

standenen Gedicht für den Titel seiner Arbeit

zu verwenden: »It might be easier / To fail –

with Land in Sight – / Than gain – My Blue Pen-

insula – / To perish – of Delight« (Mit Land in

Sicht zu scheitern mag leichter sein als Meine

Blaue Halbinsel zu erreichen und vor Entzücken

zu vergehen). Mit dem offenen Fenster, durch

das man einen strahlend blauen Himmel sieht,

bietet Cornell ihr einen Ausweg aus dem, was

er in seinem Tagebuch einfühlsam als „quälen-

de Zurückgezogenheit“ bezeichnet hat. Ähnlich

wie beim Porträt Paolos und Francescas (Ob-

jekt 60) versucht Cornell eine zutiefst schmerz-

volle Situation zu überwinden und einen Weg

der Heilung zu eröffnen.

74

gnir rednOw

1955, 1960er-Jahre16 mm-Film (Kodachrome), Farbe, stumm, 6 Min.Courtesy of the Estate of Stan Brakhage

75

cOrnell, 1965

Lawrence JordanCornell, 19651965‒197916 mm-Film mit Ton, ca. 9 Min.Lawrence Jordan

Gemeinsam betrachtet werfen die beiden Filme

Licht auf Cornells Alltag und Gewohnheiten.

Der erste Film, »Gnir Rednow«, wurde 1955 pro-

duziert. Cornell beauftragte den damals unbe-

kannten jungen Filmemacher Stan Brakhage,

die Third Avenue Elevated zu dokumentieren,

kurz bevor diese demontiert wurde. Es war eine

Strecke, die Cornell im Lauf der Jahre oft befah-

ren hatte. Die Hochbahnen New Yorks bieten

ungewöhnliche Perspektiven auf die Stadt: Fahr-

gäste können in die Straßen hinunter- oder di-

rekt in die verblüffend nahen Fenster der obe-

ren Stockwerke anliegender Gebäude hinein-

schauen. Brakhage traf Cornell, um das Projekt

zu besprechen, und erhielt dann per Post Fahr-

karten und Farbfilm. Er fotografierte und schnitt

den Film, der den Titel »The Wonder Ring« be-

kam, im Frühsommer 1955. Da das Ergebnis Cor-

nells Erwartungen nicht entsprach, fertigte die-

ser eine eigene Fassung an, für die er von Brak-

hage weggelassenes Material verwendete, und

drehte den Titel um: »Gnir Rednow«. Die zwei-

te Arbeit, »Cornell« (1965), wurde im Sommer

und Herbst des Jahres von Lawrence Jordan,

dem damaligen Assistenten des Künstlers, auf

vier Rollen 16 mm-Kodachrome-Film gedreht.

Der Film umfasst kurze Aufnahmen des Künst-

lers bei der Arbeit im Garten und im Kellerate-

lier am Utopia Parkway (die einzigen bekann-

ten Filmbilder Cornells).

Page 31: Joseph Cornell - press.khm.at...Sharp gemeinsam mit Sarah Lea von der Royal Academy in London. Joseph Cornell wurde am 24. Dezember 1903 in Nyack im Bundesstaat New York geboren. Er

Die im Kunsthistorischen Museum präsentier-

ten Werke Joseph Cornells treten in faszinie-

rende Dialoge mit den verschiedensten histo-

rischen Objekten, deren Bogen sich von Ge-

mälden der Renaissance bis zu altägyptischen

Grabbeigaben spannt. Am intensivsten ist der

Dialog mit der Kunstkammer des Museums und

deren Beständen an Mirabilia, Naturalia, Arti-

ficialia und Scientifica.

Cornell war nicht nur Künstler, sondern auch

einer der größten Sammler des 20. Jahrhun-

derts. Zur Herstellung seiner Werke griff er auf

die zahllosen kleinen Dinge zurück, auf die er

in Antiquariaten, auf Flohmärkten und in Bil-

ligläden stieß oder die er an den Stränden von

Long Island angeschwemmt fand: Murmeln,

Muscheln, Vogelnester, vergriffene Bücher und

jede Menge Ephemera aus Papier wie Briefmar-

ken, Landkarten, Stadtpläne, Reiseführer,

Schiff- und Eisenbahnfahrpläne. Andenken, Re-

likt und Muster in einem, scheinen Cornells

Werke imaginäre Entdeckungsreisen um die

Welt zu dokumentieren und dabei mit der Spra-

che von Museen zu spielen.

Über vierzig Jahre lang hat Cornell sein eigenes

privates Kuriositätenkabinett geschaffen, das uns

nicht weniger erstaunlich erscheint als die Kunst-

kammern der europäischen Könige, Kaiser und

Adeligen der Renaissance. Wie sie erfreute sich

Cornell an kleine Dingen – und an den Geschich-

CornEll unD DiE KunstKammEr

ten, die sie erzählen. Wie sie versuchte er die

Welt in einen Kasten zu bannen, um zu verste-

hen, wie sie funktioniert und welcher Platz dem

Menschen darin zukommt. Und wie sie ver-

schenkte er besondere Gegenstände an beson-

dere Menschen. Der einzige Unterschied lag im

materiellen Wert dieser Geschenke. Cornell war

es nicht um teure oder extravagante Dinge zu

tun: Seine Welt war eine Welt schlichter Schät-

ze, aus denen er die wunder- und kostbarsten

Schöpfungen zu machen verstand. Er war, wie

es einmal ein Freund formulierte, »der Benve-

nuto Cellini des Strandgutes«.

Aus diesem Grund wird das letzte Kapitel der

Ausstellung »Joseph Cornell: Fernweh« in der

Kunstkammer selbst aufgeschlagen, wo vorü-

bergehend eine kleine Gruppe von Objekten

Cornells gezeigt wird. Um die Affinität zu un-

terstreichen und weiter zu ergründen, können

Besucher einem speziellen Parcours durch die

Kunstkammer folgen, der sie diese mit den Au-

gen Cornells betrachten lässt. In jedem der Säle

ist ein historisches Objekt aus der Sammlung

des Museums zu sehen, das in Cornells Arbeit

einen besonderen Widerhall findet. Cornell hat

die Vereinigten Staaten nicht einmal verlassen

und daher auch Wien keinen Besuch abgestat-

tet: Hätte er das getan, wären das die Gegen-

stände gewesen, die ihm, so meinen wir, gefal-

len hätten.

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le caire

Um 1940Bestehende zylindrische Pappdose, Papiercollage, aufgewickelte Papierrollen, farbiger BaumwollfadenThe Collection of Marguerite and Robert Hoffman

Diese vier Objekte Cornells werden vom Rest der

Ausstellung getrennt im Herzen der bemerkens-

werten Kunstkammer des Kunsthistorischen Mu-

seums präsentiert. Die auf die unterschiedlichen

Arten von Werken verweisenden Arbeiten zeigen

Cornells wahren Geist: den Geist eines Samm-

lers, eines Naturhistorikers und eines Dichters,

der einfache, alltägliche Gegenstände in kleine

Schätze zu verwandeln verstand. Für die frühes-

te Arbeit (Objekt 78) hat Cornell ein kleines, kom-

merziell hergestelltes Pillendöschen verwendet

und es mit zwei winzigen Spiralobjekten bestückt:

einer gemusterten schillernden Muschel und ei-

ner Metallfeder. Unterhalb davon beschwört das

Bild eines vergrößerten Zellmusters in Form ei-

nes Drucks die den Dingen zugrunde liegende

Struktur, die Cornell stets faszinierte. Auch im

Fall von »Le Caire« (Objekt 77) hat sich Cornell

einer zylindrischen Dose bedient. Im Inneren fin-

den sich straff aufgewickelte Papierrollen, die an

altägyptische Papyri und Hieroglyphen erinnern.

Die seitlich außen an der Dose klebende Brief-

marke ist französisch und arabisch beschriftet. In

der Zeit der kolonialen Eroberung Afrikas durch

Europa im 19. Jahrhundert beschäftigte Ägypten

die Fantasie vieler Schriftsteller, Komponisten

und Künstler. Es ist dieses Ägypten, das Cornell

am meisten ansprach.

»Untitled (Museum)« veranschaulicht Cornells

erweitertes Interesse am Reisen, Sammeln und

76

Untitled (aviary with cOckatOO and cOrks)

Um 1948Holzkasten mit Scharnieren und Sperrvorrichtung, Glasscheiben, Farbe, Farblithografieausschnitt, Faden, Treibholz, Unterteilungen und Objekte aus Holz, Korken, Papierschächtelchen, Teile einer SpieldosePrivatsammlung

78

Untitled

1933Zylindrisches Kartondöschen mit Papiercollage, Muschel, Kugellager und MetallfedernNew York, Mark Kelman

80

Untitled (mUseUm)

Etwa 1940–1950Bestehender Holzkasten, Glasflaschen mit Wachssiegeln und verschiedenen Inhalten wie gefärbter Sand, Muscheln, Federn, Perlen, Glasstücke, Drucke von Sternbildern, Landkarten und ArchitekturzeichnungenThe Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman

Klassifizieren. 28 mit rotem Wachs versiegelte

Glasfläschchen sind in einem mit Scharnieren

ausgestatteten Kasten aus Holz angeordnet.

Dem Betrachter bietet sich ein Kuriositätenka-

binett en miniature mit verschiedensten Über-

raschungen von Sand über Federn und Mu-

scheln bis hin zu Teilen von Landkarten und

Architekturzeichnungen. Die sorgfältig gewähl-

ten Elemente – teils Muster, teils Relikte, teils

Andenken – evozieren sowohl reale als auch

imaginäre Welten. »Untitled (Aviary with Co-

ckatoo and Corks)«, die größte der Arbeiten,

gleicht einem historischen Automaten, der nur

darauf zu warten scheint, sich im nächsten Au-

genblick in Gang zu setzen. Das mittlere unte-

re Fach enthält Teile des Werks einer Spieldo-

se, das mit Glas abgeschirmt ist und mit einem

Schlüssel an der Rückseite der Konstruktion

aufgezogen werden kann. Nur verständlich,

dass einem hier eine Melodie in den Sinn

kommt, soll es doch Kakadus geben, die ganze

Arien nachsingen können. Cornell assoziierte

Sängerinnen mit Singvögeln und verband Ka-

kadus vor allem mit Giuditta Pasta. Das Exo-

tische, das Wissenschaftliche, das Natürliche

und das Künstliche – dies sind die vier Eckstei-

ne historischer Kunstkammern wie des Werks

von Joseph Cornell.

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Mo, 2. November, 19 Uhr*

Kuppelhalle, KHM

Containing Wonder: Joseph Cornell’s

Cabinets of Curiosity

Kirsten Hoving

In englischer Sprache

Do, 5. November, 19 Uhr*

Bassano-Saal, KHM

The Enchanting Life of Joseph Cornell:

An Illustrated Lecture

Deborah Solomon (Biographin von

Joseph Cornell)

In englischer Sprache

Mo, 16. November, 19 Uhr**

Kuppelhalle, KHM

Roberta Smith und Jerry Saltz im Gespräch

mit Jasper Sharp

Chefkunstkritikerin, The New York Times und

Chefkunstkritiker, New York Magazine

In englischer Sprache

Di, 15. Dezember, 19 Uhr***

Kuppelhalle

Orhan Pamuk im Gespräch mit Philipp Blom

Nobelpreisträger für Literatur 2006

In englischer Sprache

VortrÄgE unD gEsprÄChE

Di, 27. Oktober und 17. November

15.30 Uhr

Vortragsraum, KHM

Joseph Cornell: Überblick und Einblicke

Andreas Zimmermann

KunstKontEXt *

Di, 3. November

Do, 12. November

Di, 24. November

Do, 3. Dezember

jeweils 16 Uhr

mit Jasper Sharp

In englischer Sprache

KuratorEn- FÜhrungEn *

* Teilnahme frei mit gültigem Museumsticket, keine Anmeldung erforderlich** Teilnahme frei, Anmeldung unter [email protected]*** Teilnahme frei, Anmeldung unter [email protected]

Do, 19 Uhr

Sa/So 11 und 15 Uhr

(außer 24. und 31. Dezember)

Dauer: ca. 60 Min.

Teilnahme € 3

Treffpunkt: Vestibül

ÜBErBliCKs- FÜhrungEn

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6 – 12 Jahre

Da steckt die ganze Welt drinnen! –

Josephs wunderbares Sammelsurium

Sonntag 8. und 22. November, 6. und

20. Dezember, 3. Jänner 2016

Jeweils 14.00 bis 16.30

Eintritt für Kinder frei, für begleitende

Erwachsene ermäßigt

Materialkosten: 4 €

Anmeldung erbeten: +43 1 525 24 5202,

[email protected]

KinDErWorKshop

Zwei Abende mit Filmen von Joseph Cornell

Mi 11.11. 20.30 Uhr

Einführung: Naoko Kaltschmidt

Do 12.11., 20.30 Uhr

Einführung: Jasper Sharp gemeinsam mit

Alexander Horwath

Österreichisches Filmmuseum, Albertinaplatz

Tickets: Reservierung unter T +43 1 533 70 54

oder [email protected]

Kauf an der Abendkassa (ab 17.30 Uhr)

FilmE

Mit Unterstützung von:

T +43 1 525 24 - 6904

www.khm.at/unterstuetzen/freunde-des-khm

Dieses Booklet erscheint mit freundlicher Un-

terstützung des Vereins der Freunde des KHM

öFFnungszEitEn 20. Oktober 2015 bis 10. Jänner 2016

Di–So, 10 bis 18 Uhr

Do bis 21 Uhr

Wir verschicken die Karte innerhalb der EU

für Sie. Einwurf in der Ausstellung oder im

Shop!

grÜssE aus DEm Kunsthistori-sChEn musEum

Cover: Joseph Cornell, Untitled (Pinturicchio Boy), 1942–1952, Glenstone //Cover-Innenseite: Joseph Cornell, Habitat Group for a Shooting Gallery,

1943, Des Moines Art Center, Iowa // Beide: © The Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation, Bildrecht, Wien, 2015

Wünschen Sie eine private

Führung in der Sonderausstellung

oder in unseren Sammlungen?

T +43 1 525 24 - 5202

Mo–Fr, 9–16 Uhr

[email protected]

priVatE FÜhrungEn

ausstEllungs-Katalog

Sarah Lea, Sabine Haag and Jasper Sharp

(eds.), Joseph Cornell: Fernweh

ISBN 978-3-99020-096-4; deutsche

Übersetzung: ISBN 978-3-99020-106-0

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Dr. Sabine Haag, Generaldirektorin

Kunsthistorisches Museum Wien

Burgring 5, 1010 Wien

© KHM-Museumsverband

Jasper Sharp (KHM, Wien)

Sarah Lea (Royal Academy, London)

Jasper Sharp

Sarah Lea

Elisabeth Herrmann

Nina Fuchs

hErausgEBEr

KuratorEn

autorEn

lEKtorat graFiK

partnEr

mit untErstÜt-zung Von

sponsor

KoopErations-partnEr

The Joseph Cornell Leadership Circle

Contemporary PatronsKunsthistorisches Museum Wien