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JÜRGEN MITTELSTRASS Glanz und Elend der Geisteswissenschaften Die 60er und 70er Jahre waren die große Zeit der Sozialwis- senschaften, zumal der Soziologie und der Erziehungswissen- schaften. Werden die 80er und 90er Jahre die große Zeit der Geisteswissenschaften? Die Geisteswissenschaften sind heute in aller Munde, nachdem sie schon, im Zuge der Revolte wider den bürgerlichen Geist in den 60er Jahren und des poli- tisch verordneten Abbaus der Lehramtsstudiengänge seit Be- ginn der 80er Jahre, totgesagt schienen. Und sie sind nicht nur im Munde der Geisteswissenschaftler selbst, was ja weiter nicht verwunderlich wäre, sondern auch der Politiker, der Bil- dungs- und Ausbildungsexperten, der Wirtschaft. Keine Par- tei, kein Weiterbildungsprogramm, kein Unternehmerverband, die nicht den Geisteswissenschaften ihre Aufmerksamkeit schenken. Die Perspektiven sind überraschend. Es ist ja noch nicht lange her, daß man sie abschätzig als 'Diskussionswis- senschaften', also wohl als Plapperwissenschaften bezeichnet hatte, von liebenswürdiger Überflüssigkeit neben dem großen Bruder Technik und Naturwissenschaft. Mittlerweile werden sie an höchster Stelle für unverzichtbar gehalten. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rau machte sie mit dem Einfall der Gründung eines großen kultur- wissenschaftlichen Instituts, als wesentlicher Teil eines zu- künftigen Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen ge- dacht, zum Gegenstand seiner Regierungserklärung vom 10. Juni 1985 (ein Projekt, das auf langen Realisierungswegen heute allerdings erhebliche Schwindsuchtsymptome zeigt). Und in Deutsch-Südwest, in Baden-Württemberg hat mein

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JÜRGEN MITTELSTRASS

Glanz und Elend der Geisteswissenschaften

Die 60er und 70er Jahre waren die große Zeit der Sozialwis-senschaften, zumal der Soziologie und der Erziehungswissen-schaften. Werden die 80er und 90er Jahre die große Zeit derGeisteswissenschaften? Die Geisteswissenschaften sind heutein aller Munde, nachdem sie schon, im Zuge der Revoltewider den bürgerlichen Geist in den 60er Jahren und des poli-tisch verordneten Abbaus der Lehramtsstudiengänge seit Be-ginn der 80er Jahre, totgesagt schienen. Und sie sind nicht nurim Munde der Geisteswissenschaftler selbst, was ja weiternicht verwunderlich wäre, sondern auch der Politiker, der Bil-dungs- und Ausbildungsexperten, der Wirtschaft. Keine Par-tei, kein Weiterbildungsprogramm, kein Unternehmerverband,die nicht den Geisteswissenschaften ihre Aufmerksamkeitschenken. Die Perspektiven sind überraschend. Es ist ja nochnicht lange her, daß man sie abschätzig als 'Diskussionswis-senschaften', also wohl als Plapperwissenschaften bezeichnethatte, von liebenswürdiger Überflüssigkeit neben dem großenBruder Technik und Naturwissenschaft.

Mittlerweile werden sie an höchster Stelle für unverzichtbargehalten. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Raumachte sie mit dem Einfall der Gründung eines großen kultur-wissenschaftlichen Instituts, als wesentlicher Teil eines zu-künftigen Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen ge-dacht, zum Gegenstand seiner Regierungserklärung vom 10.Juni 1985 (ein Projekt, das auf langen Realisierungswegenheute allerdings erhebliche Schwindsuchtsymptome zeigt).Und in Deutsch-Südwest, in Baden-Württemberg hat mein

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Landesvater, der für die fatale Kennzeichnung der Geisteswis-senschaften als Diskussionswissenschaften das Urheberrechtfür sich in Anspruch nehmen darf, neben High Tech längstHigh Kult entdeckt. Seine Formel bei der Eröffnung der Jah-restagung 1986 der Westdeutschen Rektorenkonferenz:"Humboldt läßt grüßen - und wer hindert uns eigentlich daran,zurückzugrüßen?"1 Und seine Antwort: "Doch wohl nur wirselbst, wenn wir weiterhin einem Kulturverständnis anhängen,das zwischen Geist und Technik, Innen- und Außenwelt, artund science (...) wie mit des Messers Schneide unterschei-det."2 Dabei diagnostiziert Späth, auf dem Hintergrund einerdamit angedeuteten Integrationsthese, "bei vielen Naturwis-senschaftlern (...) ein eminentes Bedürfnis (...), über die philo-sophischen, ethischen oder gesellschaftswissenschaftlichenBezüge ihrer Forschungen mit qualifizierten Geisteswissen-schafflern zu diskutieren"3 ('Diskussion' ohne Hautgout), undstellt fest, daß es selbst in den Führungsetagen der Wirtschaftinzwischen Leute gibt, "die sich im Sprachgebrauch von Ethikund Philosophie fast ebenso sicher bewegen wie im Bereichvon Planung, Controlling und Marketing. Das sind nicht nurModeerscheinungen. Dahinter steckt ein gewandeltes Selbst-verständnis, eine neue Sicht des Lebenszusammenhanges vonWirtschaft, Umwelt und Gesellschaft, ein veränderter Kultur-begriff"4.

Wo also ist hier die vielbeschworene Krise der Geisteswissen-schaften? Gibt es sie am Ende nur in der unsicheren und vonSelbstmitleid erfüllten Selbstwahrnehmung der Geisteswissen-schaften? Soviel scheint jedenfalls gewiß, wenn man dem öf-

1 L.Späth, Grußwort, in: Bildung und Erziehung durch Wissenschaft.

2 L.Späth, Grußwort, in: Bildung und Erziehung durch Wissenschaft.

3 A.a.O., 34.

4 Ebd.

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fentlichen Lob der Geisteswissenschaften Glauben schenkendarf: es gibt allenfalls eine institutionelle Krise der Geistes-wissenschaften (Stichwort Lehramtsstudien), keine Bedeu-tungskrise.

1 Zwei Kultuen?

Vielleicht ist die Situation doch nicht so einfach. Über denGeisteswissenschaften liegt nämlich ein wissenschaftsideolo-gischer Fluch, den 1959 Charles Percy Snow, Physiker, Ro-mancier und hoher britischer Staatsbeamter, mit seiner Redevon den zwei Kulturen, der naturwissenschaftlichen und dergeisteswissenschaftlichen ('literarischen') Kultur, in die Weltgesetzt hat. Er tat dies eher nebenbei, in einer Art Sonntags-rede, und doch mit ungeheurer Wirkung, vor allem bei denGeisteswissenschaftlern. Diese Wirkung besagt denn auchvielleicht nicht so sehr etwas über den Wahrheitsgehalt derSnowschen Vorstellungen, als vielmehr etwas über die Nervo-sität und den Selbstzweifel, die die Geisteswissenschaften er-griffen haben. Worum geht es?

Nach Snow ist das Verhältnis der beiden Kulturen zueinanderdurch wechselseitige Ignoranz und, als Folge davon, durchwechselseitige Verarmung gekennzeichnet, wobei die Geistes-wissenschaften wesentlich schlechter wegkommen als die Na-turwissenschaften. Diese "haben die Zukunft im Blut"5, jeneoffenbar allein die Vergangenheit. Die naturwissenschaftlicheVernunft blickt nach vorne, die geisteswissenschaftliche Ver-nunft zurück. Das ist sicher zu einfach und zu einseitig, zumalsich in Snows Analyse die 'literarische' Kultur auch noch aufder Seite der 'Antiintellektuellen' wiederfindet; und doch hat

5 C. P. Snow, The Two Cultures and a Second Look. An Expanded Vervon

of the Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge 1964, 10(dt. Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelli-genz, Stuttgart 1967, 17).

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Snow irgendwie auch Recht. Die Geisteswissenschaften her-kömmlicher Art verhalten sich in ihren Denkgewohnheiten -häufig, sei hier mildernd hinzugefügt -, "als wäre die überlie-ferte Kultur die ganze 'Kultur', als gäbe es das Reich der Na-tur gar nicht. Als wäre die Erforschung seiner Ordnung wederum ihrer selbst willen noch ihrer Folgen wegen interessant.Als wäre das wissenschaftliche Gebäude der physikalischenWelt in seiner geistigen Tiefe, Komplexität und Gliederungnicht die schönste und wunderbarste Gemeinschaftsleistungdes menschlichen Geistes"6. Shakespeare gelesen zu haben, soSnows provozierendes Beispiel, ist Kultur, den zweitenHauptsatz der Thermodynamik zu kennen, offenbar nicht.7

Das Beispiel ist gut gewählt und doch ein wenig irreführend.Die Verhältnisse sind in der Tat nicht symmetrisch. Der zwei-te Hauptsatz der Thermodynamik läßt sich nicht mit Hamletvergleichen, und das Periodensystem der chemischen Elemen-te nicht mit Rilkes Vermessung der Seele. Nicht weil wir eshier mit zwei Welten zu tun haben, die sich nie zu begegnenscheinen, sondern weil sich die kulturelle Vernunft - Hegelhätte gesagt: weil sich der objektive und der absolute Geist -nicht als objektives Wissen, als Tatsache zur Geltung bringt.Ihr Medium ist der Diskurs, nicht das Lehrbuch. Andererseitsmacht das Beispiel sehr schön deutlich, daß in unserer ratio-nalen Kultur die Rationalitäten, hier die naturwissenschaftli-chen und die geisteswissenschaftlichen, auseinanderdriften.Wir leben in einer fragmentarisierten' partikularisierten Welt.Grenzen der Professionen' der Theorien, der Erfahrungen, derWahrnehmungen werden zu Grenzen der Welt eines jeden.Wissen auf einem Felde wird durch Unwissen auf anderenFeldern erkauft. Wir wissen immer mehr von immer weniger,

6 A.a.O., 14 (dt. 20 f.)

7 A.a.O., 15 (dt. 21).

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und mit unseren Erfahrungen und Wahrnehmungen ist esebenso. Das Meer der Unwissenheit wächst, die Kontinentedes Wissens werden für den einzelnen immer kleiner.

Außerdem, und auch soweit hat die Zwei-Kulturen-These, be-zogen auf das Verhältnis von Technik und Kultur, Recht,"scheinen kulturelle Prozesse anderen Imperativen zu folgenals die technisch-industrielle Entwicklung. Aus der Perspekti-ve der Industrie erscheint das, was im symbolischen Feld derKultur geschieht, als bloße Störung 'von außen', die nach denRegeln, die innerhalb des eigenen Systems gelten, verarbeitetund integriert werden müssen. Umgekehrt gilt für den kultu-rellen Bereich die Dynamik der Technik ebenfalls als Störung,auf die man in der eigenen Sprache reagieren muß, wobei einVerständnis von keiner der beiden Seiten garantiert ist"8. Undzutreffend ist sicher auch die folgende Feststellung Snows:"Unsere Gesellschaft (...) gibt nicht einmal mehr vor, eine ge-meinsame Kultur zu besitzen."9

Resignation vor einem Faktum, einer halbierten Kultur, derenTeile eigene Welten bilden, die objektive Welt des Naturwis-senschaftlers und die 'literarische' Welt des Geisteswissen-schaftlers? Oder Unfähigkeit, das Unvermögen, in einer ge-meinsamen Welt zu leben? Aus wissenschaftstheoretischenund aus wissenschaftspolitischen Gründen plädiere ich an die-ser Stelle für Unfähigkeit als Erklärungsprinzip sowie dafür,daß es sich bei der Rede von den zwei Kulturen schlicht umeinen Mythos handelt, den sich das wissenschaftliche Bewußt-sein selber schafft, um seine eigene Unfähigkeit besser zu ver-bergen. Es ist dies die Unfähigkeit der Wissenschaft, oderbesser des Wissenschaftlers, das eigene Tun als Ausdruck

8 R. P. Sieferle, Wege aus der Krise? Alte und neue Muster der Technik-

kritik, Frankfurt (verband der Chemischen Industrie e.V.) 1987, 21 ff.

9 A.a.O., 60 (dt. 63).

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einer ihrer Idee nach unteilbaren Rationalität zu begreifen.Und in diesem Punkte sind die Unfähigkeiten zwischen Natur-wissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern gut verteilt.Nicht nur die Geisteswissenschaftler tun sich schwer, die Na-turwissenschaften als Ausdruck einer gemessenen Kultur zubegreifen, auch die Naturwissenschaftler irren sich, wenn siedie Kultur der Geisteswissenschaften lediglich als gebildeteund forschende Erinnerung an vergangene Kulturen darzustel-len suchen. Nur was Köpfe nicht mehr zusammenhalten kön-nen, wird zur eigenen Welt, um die sich dann - eigentlich pa-radox genug in wissenschaftlichen Verhältnissen - ein Meervon Unwissenheit legt. Der Fluch, der seit Snows kesser The-se über den Geisteswissenschaften liegt und den Geisteswis-senschaftlern zwar nicht unruhige Nächte, aber ein unruhigesSelbstbewußtsein verschafft, macht auch vor den Naturwis-senschaften nicht halt.

2. Kompensationswissenschaften

Aparterweise ist es gerade die heute am meisten diskutierte,am meisten Aufregung (auf beiden Seiten) erzeugende Vor-stellung von der Rolle und der Funktion der Geisteswissen-schaften, die das Snowsche Mißverständnis bzw. den Mythosvon den zwei Kulturen weiterträgt und auch für Geisteswis-senschaftler akzeptabel zu machen scheint. Ich meine OdoMarquards Kompensationsmodell der Geisteswissenschaften.Nach Marquard, der darin der These seines Lehrers JoachimRitter über die Geschichtslosigkeit der modernen Welt10 folgt,kompensieren die Geisteswissenschaften Modernisierungs-schäden (eben die Geschichtslosigkeit der modernen Welt),die durch das Tempo natur-wissenschaftlicher und technischer

10 J. Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesell-

schaft (1963), in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt 1974,1980, 130.

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Innovationen entstehen: "Die Geisteswissenschaften helfenden Traditionen, damit die Menschen die Modernisierungenaushalten können: sie sind (...) nicht modernisierungsfeind-lich, sondern - als Kompensation der Modernisierungsschäden- gerade modernisierungsermöglichend."11 Die These 'je mo-derner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werdendie Geisteswissenschaften'12 macht diese Vorstellung für vieleendgültig schmackhaft, auch in der folgenden Formulierung:"Die experimentellen Naturwissenschaften sind 'challenge';die Geisteswissenschaften sind 'response'."13

So einfach ist das (scheint das zu sein). Die einen, die Natur-wissenschaften, haben das Sagen, die anderen, die Geisteswis-senschaften, haben das Nachsagen. Der Bube Naturwissen-schaften sticht die Dame Geisteswissenschaften. Die Kartenwerden neu gemischt, die Naturwissenschaften sind immervorne. Damit besteht aber auch, in wohltuender Entlastunggegenüber den Snowschen Vorwürfen, kein Grund zur Unru-he; die Geisteswissenschaften, ohnehin von der wissenschaft-lichen Front genommen, könnten eigentlich so bleiben, wiesie sind. Tatsächlich läuft, wie das Herbert Schnädelbach aus-gedrückt hat, die Verteidigung der kompensationstheoreti-schen Freunde der Geisteswissenschaften "auf den Versuchhinaus, ein bestimmtes, nämlich das traditionelle Selbstver-ständnis dieser Fächergruppe, das eine ziemlich deutsche undprovinzielle Angelegenheit ist, mit Hilfe des Kompensations-theorems normativ allgemein verbindlich zu machen"14. Zu-

11 O. Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, In:

ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986,105.

12 A.a.O., 101.

13 Ebd.

14 H. Schnädelbach, Kritik der Kompensation, Kursbuch 91 (März 1988),38.

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gleich verbindet sich mit diesem Versuch ein konservativesProgramm: innovativ ist nur die naturwissenschaftlich-techni-sche Welt, nicht die kulturelle, gemeint ist die geisteswissen-schaftliche Welt. Nur so vermag die kulturelle Welt zu 'kom-pensieren': indem sie selbst "auf die Erzeugung von Innovati-onsdruck verzichtet und konservativ wird"15.

Auch die 'Methode', derer sich die Geisteswissenschaftenbedienen sollen, ist schnell bei der Hand. Die Geisteswissen-schaften kompensieren Modernisierungsschäden, indem sieerzählen: Sensibilisierungsgeschichten, die einen lebenswelt-lichen 'Farbigkeitsbedarf', Bewahrungsgeschichten, die einenlebensweltlichen 'Vertrautheitsbedarf', und Orientierungs-geschichten, die einen lebensweltlichen 'Sinnbedarf' erfüllensollen.16 Neues muß ihnen dabei nicht einfallen17, weil dasgerade die ureigene Rolle derjenigen Wissenschaften ist,denen gegenüber sie ihre 'kompensierende' Rolle alsbeharrendes, bewahrendes, erinnerndes Bewußtsein spielen.Zur Dynamik der modernen Welt gehört, wenn man denkonservativen Reformern der Geisteswissenschaften Glaubenschenken darf, eine eigentümliche Statik der Werte. 'NichtsNeues unter der Sonne' könnte die tapfer-bescheidene Paroleder Geisteswissenschaften lauten, während ihre disziplinärenWettbewerber auf der anderen Kulturseite auf immer neueWeise das Neue besetzen.

Die Lage der Geisteswissenschaften ist damit keineswegs soattraktiv, wie dies die Kompensationsthese mit ihrem Moder-nisierungsbewahrungspathos zunächst erscheinen lassen mag.

15 H. Schnädelbach, a.a.O., 40.

16 O. Marquard, a.a.O., 105 f.

17 Vgl. W. Ch. Zimmerli, Einheit oder Vielfalt der Kulturen? Geistes- undNaturwissenschaften in einer technologischen Welt, Physikalische Blätter44 (1988), Nr. 3, 61.

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Mit ihrer Orientierungsrolle ist es nicht weit her, und mit ihrerSelbständigkeit auch nicht. Modernisierung ist die Kunst deranderen, nicht die eigene Kunst. Zugleich diffundiert das, wasdie Geisteswissenschaften leisten sollen, in die Bereiche desallgemeinen Kulturbetriebs: Die geisteswissenschaftliche Fa-kultät wird zum Konkurrenten oder guten Nachbarn des Thea-ters, des Feuilletons, der Belletristik; sie gerät, ihrer Funktionnach, in die Nähe von Courths-Mahler und "Reader's Digest".Der Artist wird wieder entdeckt oder der Virtuose; nur sinddie auch in einer philosophischen oder geisteswissenschaftli-chen Fakultät heute recht selten geworden. Die Geisteswissen-schaften drohen zu Entspannungswissenschaften zu werden,zu Teilen eines Kulturbetriebs, der keine wissenschaftlichenProbleme löst - was die Geisteswissenschaften schließlich tunsollten, wenn sie ihren Platz im System der Wissenschaftenbewahren wollen -, sondern von diesen gerade ablenkt, andereWirklichkeiten ins Auge faßt, unterhält, entlastet, eben gegen-über dem Innovationsdruck der erfolgreichen Natur- undTechnikwissenschaften, selbst auf die Ausübung eines solchenDruckes verzichtend, 'kompensiert'.

Mit anderen Worten: die Kompensationsthese - die Geistes-wissenschaften als Kompensationswissenschaften - führt nurnoch tiefer in die Verlegenheiten hinein, die der Mythos vonden zwei Kulturen den Geisteswissenschaften bereitet. Mit ihrwird gar nicht mehr versucht, diesen Mythos zu überwinden,die Geisteswissenschaften teilhaben zu lassen am Aufbaueiner zukunftsweisenden Rationalität. Sie sollen viel-mehr be-scheiden mit ihren Bewahrungs- und Erinnerungskompeten-zen die Lücken stopfen, welche diejenigen Rationalitäten, diedie Zukunft im Blut und die moderne Welt in der Hand haben,darunter nicht nur die naturwissenschaftlich-technischen, son-dern etwa auch die ökonomischen Rationalitäten, hinter sichzurücklassen. Die Geisteswissenschaften in der Hausgehilfin-oder Nachtwächterrolle? Wachend, wenn alles schläft, und

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wartend auf die Sonne (der positiven Wissenschaften), diedann ihrerseits den Nachtwächter schlafen schickt?

Es ist klar, daß dies nicht die Rolle der Geisteswissenschaftensein kann, wenn diejenigen Recht haben, die ihr eine systema-tische Funktion bei der Weiterentwicklung rationaler Kulturenzuschreiben. Wir leben in einer Kultur, deren historische undliterarische Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeiten sichernoch mancher Entwicklung, auch durch die Geisteswissen-schaften bedürfen, die jedoch in ihrer Rationalitätsstruktur(und damit sind keineswegs nur die naturwissenschaftlich-technischen und ökonomischen Strukturen gemeint) in ersterLinie auf die argumentative und konstruktive Kraft des Den-kens angewiesen ist. Von deren Rolle die Geisteswissenschaf-ten zugunsten allein bewahrender und erzählender Funktionenauszunehmen, wäre nicht nur für die Geisteswissenschaftenhöchst abträglich - sie fielen endgültig dem wissenschafts-ideologischen Fluch Snows zum Opfer -, sondern auch für un-sere Kultur selbst. Diese verlöre ein Organ, das nicht nurzeigt, in Geschichten zeigt, wie es sein könnte, sondern auchsagt, begründet sagt, wie es ist und wie es sein sollte. Um daszu leisten, müssen die Geisteswissenschaften nicht nur Sensi-bilisierungsgeschichten, Bewahrungsgeschichten und Orien-tierungsgeschichten erzählen können; sie müssen auch selbstdeuten, erklären, argumentieren und konstruieren können.Neben die gewiß berechtigte Aufgabe, im Bewußtsein zu hal-ten, zu vergegenwärtigen, was war, hat die Aufgabe zu treten,kritisch zu bedenken, was ist, und vorauszudenken, ins Augezu fassen, was sein wird und sein soll. Im Nachdenken undVorausdenken könnte die eigentliche Kraft der Geisteswissen-schaften liegen.

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3. Bildungswissenschaften?

Ein Kompensationstheoretiker würde auf eine derartige Zu-mutung vermutlich mit dem Hinweis reagieren, daß dieseKraft auch in der Bildungswirklichkeit der Geisteswissen-schaften gegeben sei, und diese entspreche, zumindest derIdee nach, den kompensationstheoretischen Vorstellungen.Zwischen einem aufklärerischen Hochmut, der besagt, daßnur das wissenschaftliche Bewußtsein wahrhaft gebildet seinkann, und einer fortschreitenden Remythisierung und Rebar-barisierung unserer Alltagsverhältnisse (science fiction undMicky Mouse) liegt das unbekannte Land der Bildung, in dasdie Geisteswissenschaften ihren Fuß setzen sollen. Die Gei-steswissenschaften also als Bildungswissenschaften?

Auch Bildung hat gegenwärtig wieder Konjunktur. Sie ist Ge-genstand von Akademieveranstaltungen, wissenschaftlichenKonferenzen und Politikerreden. Auf einmal ist der Bildungs-politiker wieder da - mit vollmundigen Vorstellungen überAllgemeinbildung und Ausbildung, die wieder Bildung ist.Selbst von der Wiederauferstehung des alten Deutschen Bil-dungsrates ist neuerdings die Rede. Ist Bildung in einer Welt,die ihre Ausbildungsgewohnheiten vornehmlich an Märktenorientiert, wirklich? Und ist sie lehrbar, etwa in Form der Gei-steswissenschaften? Ja und Nein. Ja, insofern Bildung immerim Medium von Lehren und Lernen, auch Selbstlehren undSelbstlernen, erfolgt; nein, insofern Bildung kein Lehrbuch-wissen ist, kein Kanon, den die Post ins Haus schickt, sondernim wesentlichen ein Können und darin eine Lebensform.Humboldt hat wohl noch immer Recht: der Gebildete ist der-jenige, der "soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng,als er nur kann, mit sich zu verbinden" sucht18. Bildung ist

18 W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstück), in:

ders., Gesammelte Schriften, I-XVII, Berlin 1903 - 1936, I, 283.

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das lebensformbezogene Medium, in dem sich die Identitätdes Individuums in einer rationalen Kultur bildet und dieserKultur in sich selbst Ausdruck verschafft.

Die Geisteswissenschaften, in denen sich ja - so unsere ideali-stische Erinnerung - der Geist mit sich selbst befaßt, also auchmit dem, was an ihm selbst Bildung ist, pochen auf das Ja. Siehaben in der Tat etwas mit Bildung zu tun, mit oder ohneKenntnis des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Ge-meint ist, daß sie, die nicht am Turm des positiven Wissensbauen, die sich Anwendung und Verwertung zumindest vor-derhand entziehen, gerade den Reichtum rationaler Kulturendokumentieren, der sich nicht in reinen Anwendungs- undProduktgrößen messen läßt. Man darf nicht vergessen, daßsich eine rationale Kultur, wie die unsere, gerade vielem Un-anwendbaren, Dingen mit Selbstzweckcharakter, rationalerNeugierde verdankt. Eben darauf berufen sich keineswegs nurdie Geisteswissenschaften, sondern etwa auch Kosmologieund Elementarteilchenphysik, deren Forschungsergebnisse imUnterschied zur anwendungsorientierten Grundlagenfor-schung wie Hochtemperatursupraleitung und Informatik keinepraktischen Anwendungen erwarten lassen. Das gleiche giltfür viele Teile der Mathematik und der Philosophie. Auch die-se haben die moderne Welt in ihrem Werden wesentlich ge-prägt und prägen sie noch heute. Sie abzuschaffen, würdenicht nur bedeuten, ein Stück erworbener rationaler Freiheitwieder aufzugeben, sondern auch die Welt des Wissens ärmerzu machen. Das gilt auch für die Geisteswissenschaften.

Und noch etwas ist wichtig (ob man das nun mit dem Begriffder Bildung in Verbindung bringt oder nicht): In den Geistes-wissenschaften unterziehen sich rationale Kulturen dem Pro-zeß einer Selbstvergewisserung. Gemeint ist ihre kulturelleForm, nicht die eine oder die andere im Sinne der Zwei-Kul-turen-Theorie oder der Kompensationstheorie, sondern die

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kulturelle Form, deren Teile auch die Naturwissenschaftensind. Kultur ist schließlich nichts, das als wonderland der Gei-steswissenschaften allein jenseits der Naturwissenschaft läge.Kultur ist vielmehr alles, worauf der arbeitende, denkende,verändernde Mensch seinen Fuß setzt. Sie ist die Welt be-wohnbar gemacht, verwandelt in die Welt des Menschen, dersich in Dingen wiederzuerkennen vermag, die er selbst ge-macht hat, denen er Objektivität verleiht und die seine Sub-jektivität atmen. Der Mensch ist ein kulturelles Wesen undseine Welt, die ganze Welt, ist eine kulturelle Welt.

Für die Geisteswissenschaften - wenn sich in ihnen rationaleKulturen dem Prozeß einer Selbstvergewisserung unterziehensollen - bedeutet dies, daß sie auch in der Lage sein müssen,nicht nur das, was sie selbst sind, sondern auch das, was sienicht sind, als Teil einer gemeinsamen rationalen Kultur zubegreifen. Sich auf dem Hintergrund des idealistischen Ge-gensatzes von Geist und Natur nur auf die Seite des Geistes zuschlagen, und dies am Ende auch nur unter historischen undphilologischen Methodenidealen, ist nicht genug und stürztdie Geisteswissenschaften nur noch tiefer in Verlegenheiten,die sich mit den beiden genannten Ersatztheorien auftun. Ge-meint ist mehr, auch wenn es die geisteswissenschaftlicheWirklichkeit sicher nur in wenigen Teilen betrifft: Die Gei-steswissenschaften sind der 'Ort', an dem sich moderne ratio-nale Kulturen ein Wissen von sich selbst verschaffen. Nichtim Sinne eines positiven Wissens, wie es die positiven Wis-senschaften, vor allem unter Anwendungs- und Verwertungs-perspektiven charakterisiert, sondern im Sinne eines 'gebilde-ten' Wissens.

Das aber ist mehr, als es der Begriff Bildungswissenschaftenzum Ausdruck bringen könnte. Zu nah liegt hier das Mißver-ständnis, es ginge doch nur um ein bloßes Sich-Auskennen inBildungsbeständen, um die Tradition von Bewährtem, die

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Vergegenwärtigung von Maßstäblichem, den Trost im Moder-nisierungsprozeß, kurzum: um die Kompensation von Moder-nisierungsschäden. Bildung hinter den Linien der modernenWelt, ohne Einfluß auf ihre Bewegung, wäre dann doch wie-der nur Bildungsarchäologie, ein Nachdenken ohne ein Vor-ausdenken. 'Gebildetes' Wissen und Können, wie es hier ge-meint ist, besagt hingegen eben dies: der eigenen Kultur, ge-rade auch der modernen, durch Modernisierungsdruck ge-kennzeichneten Kultur, durch sich selbst Ausdruck, tätigenAusdruck zu verschaffen. Bildung im traditionellen Sinne istnicht genug.

4. Orientierungswissenschaften?

Ein moderner Begriff, der klar genug erscheint, um ihn gegenden alten Begriff der Bildung auszutauschen, zugleich aberauch vage genug, um vielen, selbst dem verstocktesten Kon-servativen und dem eiferndsten Wertewandler, den Umgangmit ihm einfach zu machen, ist der Begriff der Orientierung.Mit ihm, so die suggestive Verwendung dieses Begriffs, wirdder Bug der Bildung in den Wind gedreht, Auskunft gegebenüber das Woher und das Wohin. Nicht in Form von Orientie-rungsgeschichten, die im Rahmen der Kompensationstheseeiner 'undurchschaubar und kalt gewordenen Welt' einen 'le-bensweltlichen Sinnbedarf' erfüllen, indem sie, Modernisie-rung kompensierend, zu Traditionen ermuntern, "mit denenman sich identifizieren kann"19, sondern in Form von Argu-menten, Entwürfen, Konstruktionen.

19 O. Marquard, a.a.O., 106.

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Sind die Geisteswissenschaften in diesem Sinne Orientie-rungswissenschaften?20

Um diese Frage zu beantworten, ist es angebracht, den Aus-druck Orientierungswissen, der hier eine Rolle spielt undmittlerweile in der öffentlichen Diskussion um die Defizite ra-tionaler, technischer Kulturen zur kleinen Münze geworden zusein scheint, kurz ein wenig genauer zu fassen. Vorausgesetztist eine Unterscheidung zwischen zwei Wissensformen: einemWissen, das die Verfügungsgewalt des Menschen über seineWelt vergrößert, und einem Wissen, das diesem verfügbarenWissen geeignete, gemeint ist immer: begründete, Orientie-rungen verschafft. Verfügungswissen ist ein positives Wissen,ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel, Orientie-rungswissen ist ein regulatives Wissen, ein Wissen um Zieleund Maximen. Verfügungswissen konstituiert in wesentlichenAspekten die moderne Welt, nämlich in Form von rationalen,technischen Kulturen; Orientierungswissen ist das, von demman sagt, daß es in dieser Welt zunehmend fehlt.

In der Tat löst ein Wissen nach Art des Verfügungswissensvielfältige Probleme, aber nicht alle Probleme. Es beantwortetFragen nach dem, was wir tun können, aber nicht Fragen nachdem, was wir tun sollen. Also muß zum positiven Wissen einhandlungsorientierendes Wissen, eben ein Orientierungswis-sen hinzutreten, das diese Aufgabe übernimmt. Ohne dieWahrnehmung dieser Aufgabe entstehen Orientierungsdefizi-te, wird das Können, das sich im Verfügungswissen zur Gel-tung bringt, orientierungslos. Also gehört auch beides, Verfü-gungswissen und Orientierungswissen, im Grunde zusammen.

20 Ich wiederhole im folgenden, wenn von einer Orientierungs- und Ethik-

kompetenz der Geisteswissenschaften die Rede ist, einige Argumente, dieich auf der Jahresversammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz am5. Mai 1986 in Heidelberg vorgetragen habe: Wissenschaft als Kultur,Heidelberger Jahrbücher 30 (1986), 64 ff.

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Die Rationalität, die moderne entwickelte Gesellschaftenbrauchen, maß nicht nur Probleme des Könnens, sondern auchProbleme des Sollens lösen. Ist das zweite die Aufgabe derGeisteswissenschaften?

Es ist gewiß auch eine Aufgabe der Geisteswissenschaften,wenn diese sich nicht als 'literarische' Wissenschaften (imSinne der Zwei-Kulturen-Theorie) oder als Kompensations-wissenschaften, und in diesem Sinne als Bildungswissenschaf-ten, verstehen. Wissenschaftliche Rationalitäten, zumal imRahmen positiver Wissenschaften, sind stets begrenzte Ratio-nalitäten. Nicht nur weil sie dem schon beklagten Partikulari-sierungsprozeß unterliegen, in dem vernünftige Zumutbarkei-ten (das Wissen der anderen betreffend) immer auch gewissenBequemlichkeiten weichen, die ein mageres Spezialistentummit sich führt, sondern auch in dem Sinne, daß die Reichweitewissenschaftlicher Rationalitäten, zumal diejenige positiverWissenschaften, tatsächlich begrenzt ist. Wo das übersehenwird, tritt erneut ein Mythos auf, der Mythos von der (ver-meintlich) vollständigen wissenschaftlichen Erkennbarkeit derWelt. Diesen Mythos schafft sich das wissenschaftliche Be-wußtsein aus zwei Gründen: (1) um seinen Anspruch auf All-zuständigkeit zu wahren und (2) um nicht auf die in einem tie-feren Sinne wissenschaftliche Unverständlichkeit des Lebenszu stoßen. Wir wissen eben z.B. nicht schon, was Leben ist,auch das individuelle, subjektive, wenn wir es in naturwissen-schaftlichen Kategorien erfassen, die sich auf molekulare, in-trazelluläre, organismische und ökologische Sachverhalte be-ziehen. Wer das dennoch glaubt, macht sich was vor. Also istdie Unterscheidung zwischen einem Verfügungswissen undeinem Orientierungswissen auch aus wissenschaftssystemati-schen Gründen angezeigt.

Trotzdem wäre es vorschnell und zu einfach, die Wissenschaftin verfügende und orientierende Wissenschaften zu zerlegen.

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Verfügungswissen und Orientierungswissen sind nämlichOrdnungsbegriffe, mit denen wir, perspektivisch, die Weltgliedern. Reines Verfügungswissen und reines Orientierungs-wissen gibt es gar nicht - wer verfügt, weiß auch warum, undwer sich orientiert, verfügt über seine Orientierungen. Oderanders ausgedrückt: Die Unterscheidung zwischen Verfü-gungswissen und Orientierungswissen vollzieht sich in unse-rem Kopf, wenn wir über die Dinge reden; als unsere Sicht derDinge, nicht als die Sicht der Dinge selbst. Denken ist in die-sem Sinne reicher, nämlich unterscheidungsreicher, als dieWirklichkeit, wie umgekehrt auch die Wirklichkeit reicher,nämlich - so paradox das auch klingt - wirklicher als das Den-ken ist.

Im übrigen würde die Zerlegung der Wissenschaften in verfü-gende und orientierende Wissenschaften sogenannte Orientie-rungswissenschaften nicht nur zu Sehern unter vermeintlichBlinden machen, sie wurde auch schnurstracks in Überforde-rungen führen. Zudem ist Orientierung nichts, das sich diszi-plinär aufteilen ließe, hier im Sinne einer Gleichsetzung vonGeisteswissenschaft mit Orientierungswissenschaft. Wer, somüßte man ja gleich fragen, orientiert, wenn die Geisteswis-senschaften etwa die Naturwissenschaften orientierten, inner-halb der Geisteswissenschaften etwa die Assyriologie? Oderist diese, unter Gesichtspunkten eines Orientierungswissens,von sich aus besser dran als die Physik? Man sieht, in welcheVerlegenheiten eine derartige Zerlegung orientierender undverfügender Kompetenzen führt.

Auch ist es so, daß wir gar keine besonderen Orientierungs-wissenschaften brauchen. Was wir brauchen, sind Wissen-schaften, die neben ihrer Rolle als Produktionsfaktor auchwieder eine Rolle als Orientierungsfaktor im Leben modernerKulturen spielen. Um das zu leisten, müssen sich alle Wissen-schaften - nicht nur Philosophie und Geschichte, sondern auch

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Physik und Ökonomie, Biologie und Mathematik - wieder alsintegraler Bestandteil einer rationalen Kultur begreifen. Waswir brauchen, ist ferner nicht nur ein Orientierungswissen,sondern auch ein Orientierungskönnen. Es wäre ein Mißver-ständnis, Antworten auf Fragen nach dem, was wir tun sollen,wohin es gehen soll, was uns in einer Welt auseinanderdrif-tender Rationalitäten Identität wieder greifbar, sinnlich wer-den läßt, nur in dem zu suchen, was als Wissen aufgeschrie-ben ist oder im Kopfe des Fachmanns, des Experten nunmehrfür Orientierungsfragen, steckt. Orientierung ist allemal etwasKonkretes, nichts Abstraktes, etwas, das man kann, das mantut, nicht etwas, das man weiß, wie man Shakespeares Biogra-phie oder das Periodensystem der chemischen Elemente weiß.Anders ausgedrückt: Nicht der, der viel weiß, ist der, der Ori-entierungsfragen beantwortet, sondern der, der lebensformbe-zogen für sich schon die geheimnisvolle Grenze zwischenWissen und Können überschritten hat. Das aber machte jaschon den (idealistischen) Begriff der Bildung aus. Bildung istselbst ein Moment der Orientierung und wie diese etwas Kon-kretes, Teil der Lebenswelt, nichts Abstraktes, Teil der be-grifflichen Welt.

5. Ethikwissenschaften

So viel zu der Vorstellung, die Geisteswissenschaften als Bil-dungswissenschaften oder als Orientierungswissenschaften zubegreifen. Es kommt noch eine weitere Vorstellung hinzu:Wenn heute Geisteswissenschaftler an den Tisch anderer Dis-ziplinen gebeten werden, dann häufig wegen ihrer vermeintli-chen Ethikkompetenz. Probleme des Sollens, von denen diemoderne Welt mehr als genug hat, werden als ethische Pro-bleme formuliert und diagnostiziert. Verantwortung ist dasZauberwort, das dabei alle Diskurse lenkt, den Diskurs derWissenschaft über die Zuschreibbarkeit wissenschaftsindu-zierter Folgen ebenso wie den Diskurs über Technik und Um-

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welt. Die erste Kultur ruft nach der zweiten Kultur (in derTerminologie der Zwei-Kulturen-Theorie), Modernisierungs-schäden rufen nach ethischer Kompensation (in der Termino-logie der Kompensationstheorie). Allerdings ist es auch hiermit dem Geschichtenerzählen nicht getan. Ethik ist kein Ge-schäft für Historiker, oder doch? Die Vorstellung, die Geistes-wissenschaften könnten als Ethikwissenschaften ihre gesell-schaftliche Bringschuld erfüllen, scheint von dieser Vorstel-lung nicht allzu weit entfernt zu sein.

Doch wieder stimmen die Gewichte nicht, und das nicht nurhinsichtlich der Hoffnungen des Kompensationstheoretikers.Die Geisteswissenschaften enthalten nämlich im strengen Sin-ne ebensowenig wie andere Wissenschaften eine Ethik, auchwenn ihre Gegenstände - historische, literarische, sprachliche,philosophische Gegenstände - häufig ethische Dimensionenhaben und der Blick des Geisteswissenschaftlers oft eine ethi-sche Optik hat. 'Ethisch' ist dabei nicht im Sinne einer ausge-arbeiteten ethischen Theorie verstanden - wie sie, wenn über-haupt, nur die Philosophie zu haben beansprucht -, sondern so,daß es in der geisteswissenschaftlichen Forschung fast immerum Gestalten des Lebens geht. Diese werfen einen ethischenSchatten, vor allem in Kulturen wie den modernen Industrie-kulturen, in denen in der eben verwendeten Terminologie Mo-mente eines Verfügungswissens über Momente eines Orientie-rungswissens hinauszuwachsen drohen.

Von einer Ethikkompetenz der Geisteswissenschaften kanndaher auch nur in einem sehr abgeleiteten, historisch vermit-telten Sinne die Rede sein. Eine Ausnahme bildet lediglichdie Philosophie, die sich ohnehin, wie noch deutlich werdenwird, einer Klassifikation als Geisteswissenschaft nicht soohne weiteres fügt. Ethik ist die Theorie faktischer, in der Ge-sellschaft wirklicher Moralen, und Ethik ist der Prinzipienge-nerator von Moralen überhaupt. Ob man dabei etwa an die uti-

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litaristischen Ethikkonzeptionen im Anschluß an David Humeoder an Immanuel Kants kategorischen Imperativ denkt, stetsist die Ethik auf der Prinzipienebene angesiedelt und stets istdie Ethik kurz. Im Sinne der Kantischen Ethik wäre sie z.B.eine Ein-Satz-Ethik, etwa in der Form: "Handle so,daß dieMaxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einerallgemeinen Gesetzgebung gelten könne.21 Ethik ist hierselbst ein formales Prinzip. Die Anwendung eines derartigenPrinzips auf besondere Probleme und Situationen, etwa imWissenschafts-, Technik- und Umweltbereich, aber wird zurLeistung individueller und gesellschaftlicher Subjektivität. Ihrkann die Ethik eine Entscheidung darüber, was im konkretenFalle zu tun ist und was nicht, nicht abnehmen.

Man sieht, wie schmal die Wege aus den Geisteswissenschaf-ten in den ethischen Diskurs sind. Sieht man von der Philoso-phie ab, die Ethik in dem genannten Sinne zu ihren Aufgabenzählt, dann haben die Geisteswissenschaften zwar häufig eineethische Optik, aber keine eigene Ethik, die zu heilen ver-möchte, was der wissenschaftliche, der technische und derökonomische Verstand an Problemwunden im Leben moder-ner Gesellschaften schlagen. Ebensowenig wie zu Kompensa-tionswissenschaften, Bildungswissenschaften und Orientie-rungswissenschaften taugen die Geisteswissenschaften zuEthikwissenschaften. Was bleibt? Stichwort Kulturwissen-schaften.

6. Kulturwissenschaften?

Die Geisteswissenschaften haben nicht nur Kultur, kulturellePhänomene, zum Gegenstand, sie sind auch selbst Kultur.Nicht als Teil eines 'Kulturbetriebs', wie die Kritik an der

21 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft A 54 (= Werke in sechs Bänden,

ed. W. Weischedel, Frankfurt, Darmstadt 1956 - 1964, IV, 140).

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Kompensationsthese deutlich machte, sondern in eben dem-selben Sinne, in dem auch alle anderen Wissenschaften, dieNaturwissenschaften eingeschlossen, Kultur sind - wie eben-falls schon deutlich wurde. Kultur muß hier in einem doppel-ten Sinne verstanden werden: als Inbegriff aller menschlichenArbeit und Lebensformen (davon war zuvor unter den Stich-worten 'kulturelles Wesen' und 'kulturelle Welt' die Rede) undals Teilsystem dieser allgemeinen Kultur, nämlich unterschie-den z.B. von den Bereichen Technik, Wirtschaft und Poli-tik.22 Daß wir dabei dann auch von technischer Kultur, wirt-schaftlicher Kultur und politischer Kultur reden, verdeutlichtnur diesen Unterschied: Diese Redeweisen markieren denÜbergang vom Begriff der Kultur im besonderen Sinne (zudem auch der genannte 'Kulturbetrieb' gehört) zum Begriff derKultur im allgemeinen, umfassenden Sinne, eben dem Inbe-griff aller menschlichen Arbeit und Lebensformen.

Während nun die Zwei-Kulturen-Theorie und die Kompensa-tionstheorie im wesentlichen mit dem Begriff der Kultur imbesonderen Sinne operieren, indem sie die geisteswissen-schaftliche Kultur als Komplement oder als Kompensationohne sie ablaufender Modernisierungsprozesse und der diesebetreibenden Wissenschaften ansehen, soll hier mit dem Be-griff der Geisteswissenschaften der allgemeine Begriff derKultur verbunden werden. Die Geisteswissenschaften, so lau-tet der Vorschlag, beziehen sich forschend, analysierend, be-schreibend nicht nur auf ein kulturelles Teilsystem, sie ver-mitteln auch nicht nur, etwa in Form sogenannter 'Akzeptanz-wissenschaften', affirmativ (und 'kompensierend') wissen-schaftlich-technische Innovationsprozesse in einem gesell-schaftlichen Feld, in dem zudem ideologische und aufgeklärteVerhältnisse eng beieinander liegen. Ihre Optik geht vielmehr

22 Vgl. H. Schnädelbach, a.a.O., 41.

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auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff der mensch-lichen Arbeit und Lebensformen, naturwissenschaftliche undandere Entwicklungen eingeschlossen.

Das gilt allerdings nicht für alle Geisteswissenschaften in glei-chem Maße, wie es überhaupt die Geisteswissenschaften garnicht gibt. Ist etwa die Psychologie eine Geisteswissenschaft,oder eine Naturwissenschaft, oder eine Sozialwissenschaft?Wohin gehört die Mathematik, die gewiß keine Naturwissen-schaft ist? Sie könnte, weil sie sich mit reinen Konstruktionendes Geistes befaßt, wahrhaft als Geisteswissenschaft geltenund tritt gleichwohl im Wissenschaftssystem nirgendwo alsGeisteswissenschaft auf. Was ist mit der Philosophie, zumalin ihren modernen Formen als Logik und als Wissenschafts-theorie (vor allem der Naturwissenschaften)? Ist Philosophienicht gerade diejenige Wissenschaftsform, die die Idee derEinheit wissenschaftlicher Rationalitäten wachhält, dies zuihren eigentlichen Aufgaben nimmt, auch wenn ihre diszipli-näre Wirklichkeit oft ganz anders aussieht? Mit anderen Wor-ten: Die Rede von den Geisteswissenschaften täuscht eineOrdnung vor, die es eigentlich schon längst nicht mehr gibt.Das Wissenschaftssystem ist dynamisch und offen; es ist gera-de an den Rändern produktiv (Beispiele: Ökologie, Soziobio-logie, Biochemie, Biophysik, Anthropologie), während einBestehen auf alten disziplinären Grenzen eher fortschrittshem-mend, ein falscher Konservativismus ist. Auch in diesemPunkte, so wird deutlich, stehen die Zwei-Kulturen-Theorieund die Kompensationstheorie, die noch mit der Vorstellungeines überkommenen Kanons der Disziplinen arbeiten, auf derfalschen Seite.

Darüber hinaus werden die Aufgaben einzelner geisteswissen-schaftlicher Disziplinen unterschiedlich ausfallen, wenn es umihre Rolle im Modernisierungsprozeß geht. Nicht jede Diszi-plin steht hier im Wort, wenn etwa die Kooperation mit den

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Naturwissenschaften gefragt ist. Hier ist z.B. die Philosophieaufgerufen, ihren Beitrag als Wissenschaftstheorie, gemeintsind Grundlagenanalysen und Grundlagenkonstruktionen, zuleisten, nicht die Anglistik oder die Assyriologie. Und wiederist es dabei die Philosophie, die sich gegen ihre übliche Ein-ordnung als Geisteswissenschaft sperrt, zumal wenn mit demBegriff der Geisteswissenschaft von vornherein historischeund philologische Methodenideale verbunden sein sollten.Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung sind, trotzder tiefen historischen Neigungen, die die meisten Philoso-phen befallen haben, nicht identisch. Philosophie ist ihrer Ideenach weit eher der Ort, an dem sich die Wissenschaften einwissenschaftliches Bewußtsein von sich selbst bilden; sie istGrundlagenreflexion, Prinzipienreflexion, Problemlösungspo-tential im Problemfeld Wissenschaft (und nicht nur dort),Wissenschaftskritik. Das, noch einmal, ist die Assyriologienicht, und wie sollte sie es auch sein? Deshalb ist aber auchVorsicht geboten. Wer die Geisteswissenschaften vor ihrerVerzwergung als Kompensationswissenschaften bewahrenwill, darf den Mund nicht zu voll nehmen. Er muß unterschei-den; nicht alle Geisteswissenschaften leisten dasselbe. UndÜberforderung ist nicht weniger lebensgefährlich als Unterfor-derung.

Es kommt noch etwas hinzu. Die Unterscheidung zwischenNatur- und Geisteswissenschaften - mit unterschiedlichen Ge-genständen, Methoden, Theorien und Erkenntnisinteressen -ist das Resultat einer idealistischen Systematisierung (Polari-tät von Natur und Geist), die sich bereits im 19. Jahrhundertmit der Entstehung der Sozial- und Technikwissenschaftenund der Akademisierung der Geisteswissenschaften unter hi-storischen und philologischen Methodenidealen als obsolet er-weist. Was Hegel vielleicht noch zusammenhalten konnte,wird schon früh, als der Atem Hegels über den Gefilden derDisziplinen schwach zu werden beginnt, zur blutleeren Klassi-

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fikation. Dabei haben die Geisteswissenschaften auch nocheine Terminologie ausgebildet, die es beiden Seiten, der na-turwissenschaftlichen wie der geisteswissenschaftlichen, rechtbequem macht. Ich meine die üblichen Unterscheidungenzwischen nomothetischen (gesetzbildenden) und idiographi-schen (das Individuelle beschreibenden) Methodenidealen, dievor allem der Neukantianismus ausgearbeitet hat, oder dieheysche Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen,neuerdings, im Rahmen der Kompensationsthese, auch alsUnterscheidung zwischen Erklären und Erzählen (Marquard,Lübbe) populär gemacht.

In beiden Fällen wird unterstellt, die Naturwissenschaften hät-ten es immer mit dem Allgemeinen, dem Unveränderlichen,dem Gesetzmäßigen zu tun, die Geisteswissenschaften immermit dem Besonderen, dem Veränderlichen und Kontingenten,dem Individuellen. Beides aber ist falsch. Auch die Geistes-wissenschaften kennen das Allgemeine - spätestens seit Ari-stoteles, was offenbar in Vergessenheit geraten ist - und dieNaturwissenschaften das Individuelle, wenden sich ihm, z.B.im Übergang vom Begriff des Determinismus zum Begriff desKontingenten23, immer mehr zu. Dazu Renè Thom, der Be-gründer der modernen Chaostheorie: "Die Auswahl derjenigenPhänomene, die man als wissenschaftlich interessant betrach-tet, (ist) ohne Zweifel weithin willkürlich. Die gegenwärtigePhysik konstruiert riesige Apparate, um Zustände zu veran-schaulichen, deren Lebensdauer nicht mehr als 10-23 Sekun-den beträgt. Es ist durchaus gerechtfertigt, wenn man unterEinsatz aller technisch verfügbaren Mittel eine Bestandsauf-nahme sämtlicher experimentell zugänglichen Zustände vor-nehmen möchte. Dennoch ist die folgende Fragestellung legi-tim: Eine Menge vertrauter Erscheinungen (so vertraut, daß

23 Vgl. E. Scheibe, Gibt es eine Annäherung der Naturwissenschaften an die

Geisteswissenschaften?, Universitas 42 (1987), Nr. 1, 10 ff.

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sie gar nicht mehr beachtet werden) erweist sich in der Theo-rie als schwierig; z.B. die Spalten einer alten Mauer, die Formeiner Wolke, das Trudeln eines abgestorbenen Blattes, dieSchaumkrone auf einem Glas Bier.... Wer weiß, ob eine etwasgründlichere mathematische Reflexion über derartige kleineErscheinungen sich letztlich nicht als vorteilhafter für dieWissenschaften erweisen würde?"24 Statt sich also mit längstobsoleten Unterscheidungen herumzuquälen, sollte man nachvorne denken, nicht zurück, nicht dahin, wo die Wissenschaf-ten einmal waren, sondern dahin, wohin sie gehen.

Davon ist in den Geisteswissenschaften allerdings noch immerwenig zu spüren. Sie sind im wesentlichen mit sich selbst be-schäftigt. Zu ihren, zum Teil hausgemachten, Problemen, diesie in Atem halten, während sie sich nach außen, etwa gegen-über den Naturwissenschaften, durch die Zwei-Kulturen-Theorie und durch die Kompensationstheorie abgeschirmtwähnen, zählen etwa die folgenden25:

(1) Probleme zunehmender Isolation. Was sich im großenzwischen Natur- und Geisteswissenschaften, aber auch zwi-schen Sozial- und Geisteswissenschaften an gegenseitiger Ent-fremdung eingestellt hat, wiederholt sich im kleinen zwischenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Heute macht sichdie Literaturwissenschaft ihre Philosophie (weitgehend)selbst, und die Sprachwissenschaft (als Linguistik) ihre Litera-tur. Die geisteswissenschaftlichen Disziplinen untereinanderhaben sich, trotz aller üblichen Interdisziplinaritätsrhetorik,immer weniger zu sagen.

24 R. Thom, Stabilité structurelle et morphogenèse, Paris 1972, 26.

25 Zum Folgenden ausführlicher: J. Mittelstraß, Geistes- und Sozialwissen-schaften im System der Wissenschaft, Mitteilungen der TU Braunschweig23 (1988), Heft 2, 23.

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(2) Hinzu treten Tendenzen intradisziplinärer Isolation. DieLinguistik grenzt sich gegenüber den Philologien ab, die em-pirische Erziehungswissenschaft gegenüber der Pädagogik,die allgemeine Literaturwissenschaft gegenüber der Literatur-geschichte. Eine ursprünglich gemeinsame Sprache zwischendiesen Disziplinen wird immer blasser. Babylon ist in denGeisteswissenschaften auf einmal überall.

(3) Geisteswissenschaftliche Disziplinen werden zunehmendvon (nicht immer hinreichend gegen Moden isolierten) Para-digmenwechseln oder (irritierender noch) von Paradigmen-gleichzeitigkelt heimgesucht. In der Geschichte sind solcheParadigmen z.B. Sozialforschung und Narrativität, in der Phi-losophie z.B. Hermeneutik und Wissenschaftstheorie. Auchhier werden die gemeinsamen Vorstellungen blaß. Schulenwetteifern um das disziplinäre Definitionsmonopol.

(4) Mit dem Umstand, daß die Geisteswissenschaften nichtnur Kultur erforschen, sondern auch selbst Kultur sind, kom-men diese immer schlechter zurande. Die geschichtlichenMaße werden zu groß, das Resultat sind Depotenzierungsphä-nomene. Wer ständig mit Riesen (unseres geistigen Kultur-werdens) umzugehen hat, wird entweder selbst einer oder einZwerg. Neben ein durch ein außerordentliches Wachstum inden vergangenen Jahrzehnten drohendes Saurierschicksal tritteine Zwergenmisere. Der 'normale' Geisteswissenschaftlerstellt heute nur noch eine schwache Erinnerung an ein Wis-senschaftlerideal dar, wie es im 18. Jahrhundert etwa der 'phi-losophe' eindrucksvoll vertrat26, und wie es in Hegels Bestim-mung zum Ausdruck kommt, wonach "Geist, der sich (...) alsGeist weiß, (...) die Wissen-schaft" ist. "Sie ist seine Wirk-

26 Vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der

neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970,97ff.

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lichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemen-te erbaut"27.

Die Stelle großer Reiche haben mittlerweile Spezialistenin-sein eingenommen. Und das ist heute die Wirklichkeit nichtnur der Geisteswissenschaften. Die Geisteswissenschaften ha-ben ihre innen hier zugeschriebene Rolle als Kulturwissen-schaften, die auf die ganze Kultur gehen, nicht nur auf die, diesie selbst darstellen, (bisher) nicht angenommen.

7. Tröstung

Es geht also, noch einmal, um die kulturelle Form der Welt.Auf sie hätten sich die Geisteswissenschaften nicht nur be-schreibend und erzählend, sondern deutend, erklärend, argu-mentierend und konstruierend zu beziehen. Sie würden zu-gleich der Ort, an dem sich die Welt ein Wissen von sichselbst verschafft. Dieses Wissen wäre nicht so sehr ein positi-ves Wissen, ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel,wie es ein Verfügungswissen charakterisiert, sondern ein re-gulatives Wissen in Erfahrungs- und Maximenform. Die Er-fahrungsform des Wissens bildete den Gegenstand der Gei-steswissenschaften im allgemeinen, die Maximenform desWissens, worunter auch hier Grundlagen und Prinzipien ver-standen werden sollen, den Gegenstand der Philosophie.

Dabei ist mit Erfahrung nicht nur die Wirklichkeit eines erleb-baren Entwicklungsprozesses gemeint, sondern auch die histo-rische Erfahrung. Diese gehört zur Stabilisierung und Fortbil-dung moderner Kulturen ebenso wie ein wissenschaftlich-technisches Können. Ohne die historische Erfahrung und die

27 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie des Geistes, in: ders., Werke in zwanzig

Bänden, Redaktion E. Moldenhauer/ K. M. Michel, Frankfurt 1969 -1979,III, 29.

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permanente Aufgabe ihrer Vergewisserung und ihres Begrei-fens würden diese Kulturen orientierungslos.

Soweit hat auch die Kompensationsthese recht, zumal wennman sie in den Formulierungen Ritters, als Überwindung der'realen Geschichtslosigkeit' der modernen Gesellschaft28,liest. Nur darf das eben nicht so verstanden werden, daß sichdie historische Erfahrung aus der Dynamik des laufenden Mo-dernisierungsprozesses ausklinkt bzw. diesen nur noch 'kom-pensiert'. Die kulturelle Form der Welt ist keine Kompensati-ons-, sondern eine Entwicklungsaufgabe. Zu ihrer Bewälti-gung bedarf es dann durchaus auch des Geisteswissenschaft-lers, der den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik kenntund mit einem Rechner umzugehen vermag29.

Das aber bedeutet auch, daß es mit einer einfachen Renaissan-ce der Geisteswissenschaften, von der heute viele zufriedenreden, nicht getan ist. Renaissancen ist immer zu mißtrauen.Sie sind schwach im Neuen und stark im Alten. Fast immer istEnttäuschung die Folge; Enttäuschung darüber, daß die Erin-nerung, auch die institutionalisierte und nach vorne gerichteteErinnerung, die Stelle des Neuen nicht zu besetzen, nicht aus-zumessen vermag. Die Antworten, die wir brauchen, währendwir den Schritt vom Heute ins Morgen tun, können nicht dievon gestern sein. Denn keine Situation ist wie die andere,weshalb auch keine Antwort wie die andere sein kann. Mit an-deren Worten: Wenn sich die Geisteswissenschaften Aufga-ben zuschreiben lassen, die über bloße Kompensation hinaus-gehen, dann müssen sie auch fähig sein, sie zu lösen. Dann

28 J. Ritter, a.a.O., 130.

29 Vgl. W. Ch. Zimmerli, Die "neuen" Technologien und die Aufgaben vonGeisteswissenschaften und Philosophie, in: Neue Technologien und dieHerausforderung an die Geisteswissenschaften. Referate und Dis-kussionen eines Kolloquiums in der Villa Vigoni vom 16./17. Juni 1986,Bonn 1987 (Schriftenreihe Studien zu Bildung und Wissenschaft 34), 110.

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müssen sich die Geisteswissenschaften etwas Neues einfallenlassen, müssen sie wie die Naturwissenschaften die Zukunftim Blut haben. Ist da nur Vergangenheit zu finden, wird esalsbald schlecht um sie bestellt sein. Auch Renaissancen ma-chen nicht unsterblich, im Gegenteil. Sie kommen und gehen;am Ende steht immer das 'April April' der neuen Erfolgrei-chen. Und von diesen halten einige bestimmt länger durch alsdie Geisteswissenschaften - z.B. die Natur- und Technikwis-senschaften.

Im übrigen ist es eine Lust, Geisteswissenschaftler zu sein,aber auch eine Last. Der alte Kneipp hätte seine helle Freudegehabt: Lob und Tadel lösen einander beständig ab und wer-den allmählich zur zweiten Bewußtseinsnatur des Geisteswis-senschaftlers. Mal ist er das fünfte Rad am Wagen, mal soll ersteuern. Wer hält diese Wechselbäder auf Dauer durch? Nun,kein anderer als der Geisteswissenschaftler.