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Verderbtheit der JugendDie angebliche Verderbtheit der Jugend war zu allen Zeiten ein

Tummelplatz für Kulturpessimisten. Das beginnt bei Sokrates („Die jungen Leute widersprechen ihren Eltern und tyrannisieren ihre Lehrer“), ähnlich bei Aristoteles („Wenn ich die junge Generation anschaue, verzweifle ich an der Zukunft der Zivilisation“).

Die Klagen setzen sich fort beim Kirchenvater Augustin, der im 4.Jh.seinen Wohnort wechselte, weil er sich von der Jugend im alten Rom bedroht fühlte, und werden im 13.Jh. vom Mönch Peter wiederholt: „Die jungen Leute von heute haben keine Ehrfurcht vor ihren Eltern oder dem Alter. Sie sind ungeduldig und unbeherrscht.“

Bei Shakespeare lesen wir im Wintermärchen: „Ich wollte, es gebe gar kein Alter zwischen zehn und dreiund-zwanzig, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit; denn dazwischen ist nichts als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen, balgen.“

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Jugendgewalt im frühen 20.Jh.Zwischen 1900 und 1912 wurde Europa von einer Welle von Jugendgewalt heimgesucht, deren Auswüchse brutaler als im 21.Jahrhundert waren. In Frankreich war die Polizei der Situation nicht mehr gewachsen, die Armee musste eingreifen und Häuser, in denen sich die sog. Apachen verschanzt hatten, mit samt den Besetzern in die Luft sprengen.Die Ereignisse lösten eine Medienkampagne aus, in der einmal mehr der Untergang des Abendlandes beschworen wurde. Dennoch war die gesamte Jugendkriminalität nicht stärker angestiegen, als es der damals rasanten Bevölke-rungszunahme entsprach.Lit. Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent, München 2011, S.434 ff.

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Blick vom 4.12.2006

«Unsere Jungen: Sie prügeln, sie demolieren – und vergewaltigen sogar. Jeder zweite Er-wachsene hat bereits Angst vor ihnen. Noch nie schlugen die Jungen so häufig zu, und so brutal. In der Schweiz ist Jugendgewalt Alltag.»

«Eine neue Angst geht um: die Angst vor den Kin-dern. Die Wissenschaft hat bereits einen Namen für die Angst vor den Kindern: Pädophobie.»

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Medienthema „Jugendgewalt“Die Jugendkultur, das Verhalten der Jugend und insbeson-

dere die Jugendgewalt sind bis heute beliebte Themen, um sich über den Niedergang der Zivilisation Sorgen zu machen. Weil die Medienkonsumenten auf diese The-men ansprechen, werden die Medien nicht müde, ihnen neue Nahrung zu liefern. Jugendkriminalität und Jugend-gewalt gehörten im vergangenen Jahrzehnt zu den beliebtesten Medienthemen.

Dass laut der Polizeilichen Kriminalstatistik die Jugend-kriminalität von 2010 bis 2014 um 40% zurückgegangen ist und auch die von Jugendlichen begangenen Gewalt-delikte um 31% abgenommen haben, findet dagegen kaum Erwähnung.

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Heilmittel RepressionDelikte wie die von 3 Zürcher Jugendlichen 2009 in Mün-

chen verübten Gewaltexzesse empören verständlicher Weise die Öffentlichkeit und mobilisieren die Politiker.

Allerdings erschöpfen sich deren Rezepte, das zeigte im gleichen Jahr die Sondersession des Nationalrats, meist in Vorschlägen zur Verschärfung des Strafrechts und im Ruf nach mehr Polizei, kaum auf erzieherische, thera-peutische oder präventive Ansätze.

Auch in Meinungsumfragen spricht sich eine Mehrheit der Befragten für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts oder für den Durchgriff aufs Erwachsenenstrafrecht aus.

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Kriminalitätsfurcht nimmt zuMedienberichte über Jugendgewalt werden als umso be-

drohlicher wahrgenommen, weil in der Schweiz wie in andern europäischen Ländern die Kriminalitätsfurcht und die reale Entwicklung der Kriminalität immer weiter auseinander driften. Während die Kriminalitätszahlen relativ konstant sind, in den meisten Ländern sogar rückläufig, steigt die Kriminalitätsfurcht ständig an.

So schätzten in einer von Pfeiffer in Niedersachsen durch-geführten Untersuchung die Befragten eine Verviel-fachung der Häufigkeit von Mord, Autodiebstahl und Sexualmorden in den letzten 10 Jahren, während sich diese drei Delikte in Wirklichkeit deutlich rückläufig entwickelt hatten.

Auffallend war, dass die Fernseh-Konsumenten von Privat-sendern, in denen mehr Verbrechen gezeigt werden, die Zahlen noch höher falsch einschätzten als die Kunden der öffentlich-rechtlichen Medien.

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Kriminalitätswahrnehmung von Mediennutzern (Christian Pfeiffer)

Entwicklung in 10 Jahren laut Polizeistatistik

Schätzung der Nutzer von öff.-rechtl. Medien

Schätzung der Nutzer von Privatsendern

Mord - 40.8 % + 141.2 % + 170.2 %

Autodiebstahl - 70.5 % + 411.0 % + 469.4 %

Sexualmord - 37.5 % + 502.1 % + 1026.9 %

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Strafrecht als RettungsankerDie übersteigerte Wahrnehmung der Kriminalität dürfte Fol-ge einer

verbreiteten Verunsicherung sein, die mit dem schnellen kulturellen Wandel, mit generellen Bedrohun-gen wie Globalisierung, Klimaentwicklung oder Kern-kraftrisiken sowie mit persönlichen Ängsten um Arbeits-platz, Karriere und Alterssicherung zusammen hängt.

Stellvertretend für diese diffusen und wenig beeinfluss-baren Gefahren finden kollektive Ängste in Straftaten eine konkrete, identifizierbare Nahrung. Viele Leute sehnen sich nach einer Welt zurück, in der die Men-schen noch anständig waren und Straftäter anderswo lebten (obwohl es diese heile Welt nie wirklich gab).

Das Strafrecht wird in der Folge zum Rettungsanker. Es soll den drohenden Verlust an Identität und Geborgen-heit verhindern. Damit droht es zu einem symbolischen Strafrecht zu verkommen, das nicht auf reale Gefahren, sondern zur Beruhigung der Verbrechensfurcht mit Machtdemonstrationen reagiert.

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Rationale Analyse

Ängste und irrationale Reaktionen sind schlechte Ratgeber, wenn es darum geht, sich mit einer realen Bedrohung auseinander zu setzen. Wir sollten eine möglichst rationale Analyse zu-grunde legen.

Es liegt mir fern, Gewaltphänomene verharmlosen zu wollen. Ich bin im Gegenteil überzeugt davon, dass die Grenzziehung gegen Gewalt eine ausserordentlich wichtige kriminalpolitische und erzieherische Aufgabe darstellt.

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„Jugendgewalt“Laut einer Zürcher Untersuchung (Viviane Freihofer) wer-den

zwischen 21 und 25% aller Jugendlichen mind.1x als Delinquenten registriert, die weitaus meisten nur mit Bagatelldelikten. Mehrfachtäter (>5 Registrierungen) machen 3%, Intensivtäter mit schweren Gewaltdelikten 0.2% aller Jugendlichen zwischen 10 und 18 J. aus.

Der Begriff „Jugendgewalt“ ist eigentlich fragwürdig, denn er erweckt den Eindruck, die Jugend sei als solche potenziell gewalttätig. Weil er in der öffentlichen Dis-kussion geläufig ist, werde ich ihn dennoch verwenden.

Deshalb werde ich zunächst auf die spezielle Thematik der Jugendgewalt eingehen, ehe ich die Jugendkriminalität in ihrer Gesamtheit behandle.

Wenn wir so vorgehen, müssen wir uns zuerst einmal fra-gen, wie der bis 2007 beobachtete Anstieg der regi-strierten Gewaltdelikte überhaupt zu interpretieren ist.

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1.Jugendgewalt Reale Zunahme ist umstritten

Während die meisten andern durch Jugendliche begangenen Delikte sich schon vorher rückläufig entwickelten, haben Gewaltdelikte in den offiziellen Statistiken bis 2007 deutlich zugenommen und erst seither abgenommen.

Ob die in der Statistik feststellbaren Zunahmen als Symptom dafür gelten konnten, dass Jugendliche tatsächlich häufiger Gewalt an-wendeten, blieb allerdings umstritten. Selbst eine von Altbundesrat Blocher eingesetzte Arbeitsgruppe zur Jugendgewalt hielt in ihrem Bericht fest: „In der Fachwelt besteht deshalb nach wie vor keine Einigkeit darüber, ob bzw. in welchem Ausmass die Jugendgewalt in den vergangenen Jahren tatsächlich zugenommen hat.“ Diesen Befund bestätigte auch der umfassende Bericht des EJPD 2008.

Die beiden Schweizer Kriminologen, die zu der Problematik am mei-sten geforscht haben, vertreten extrem gegensätzliche Positionen: Während Manuel Eisner eine echte Zunahme bestreitet, vertritt Martin Killias die gegenteilige Auffassung. Allerdings räumt selbst Killias angesichts der neusten Zahlen ein, dass sich eine Trend-wende anbahne.

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Ungenügende MessinstrumenteDass die Frage nicht eindeutig entschieden werden kann, ist darauf

zurück zu führen, dass die statistischen Instrumente ungenügend sind. Vor allem fehlt es an regelmässig wiederholten Dunkelfeld-untersuchungen, die gültige Aussagen zu Verläufen ermöglichen könnten. Es ist deshalb nicht auszuschliessen, und das ist das Argument der Fachleute, die eine echte Zunahme bestreiten, dass die damalige statistische Zunahme auf eine erhöhte Sensibilisierung der Gesellschaft gegenüber Gewalt zurückzuführen sein könnte.

Nach dieser Auffassung sei die Schwelle, von wo an eine Auseinander-setzung als Gewalt definiert wird, tiefer als noch vor einigen Jahren, es werde schneller angezeigt, und auch die Kontrollinstanzen seien sensibler geworden, sie seien früher bereit einzuschreiten und neigten weniger dazu, Anzeigen abzuwimmeln. Obwohl die reale Gewaltanwendung nicht häufiger gewesen sei als früher, so das Argument der Kritiker, werde gleichartiges Jugendverhalten häufiger als Gewalt wahrgenommen und deshalb öfters polizeilich registriert.

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Eigene EinschätzungNach meiner Einschätzung genügt der Sensibilisierungs-effekt

allein nicht, um die ganze, vor allem in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts eingetretene Zunahme der registrierten Gewaltdelikte erklären zu können. Vielmehr deuten die Dunkelfelduntersuchungen, sowohl in Form von Täter- wie von Opferbefragungen, die Statistiken der Spitäler und Notfallstationen, die SUVA-Statistiken und die Beobachtungen von Pädagogen und Strafrechts-praktikern darauf hin, dass ein kleiner Teil der Jugend-lichen damals im Alltag häufiger als zuvor Gewalt an-drohten und intensivere Gewaltformen anwendeten.

Seit 2008 ist ein kontinuierlicher Rückgang eingetreten, doch bewegen sich die Zahlen immer noch auf einem relativ hohen Niveau.

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Art der GewaltDie Gewaltbereitschaft äussert sich in Drohungen, Impo-nier-

Gehabe, Schlägereien, Hooligan- und ähnlichem Gruppenverhalten, Gewaltanwendungen gegenüber Schwächern und gewaltsamen Formen von Sexualität. Sie richtet sich primär gegen andere Jugendliche.

Zugenommen haben insbesondere gezielte Quälereien in Form von Mobbing, Bullying und Stalking[1].

Die Gewaltzunahme hat bei den ganz schweren Gewalt-delikten allerdings nicht durchgeschlagen. Insbesondere bei den vorsätzlichen Tötungsdelikten und bei schweren Körperverletzungen hat sich kein entsprechender Anstieg feststellen lassen.

[1] Mobbing: Schikanieren von Aussenseitern durch Mehr-heit; Bullying: Aggressives Tyrannisieren von Schwä-chern; Stalking: Systematisches Verfolgen u. Belästigen

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VergleichsuntersuchungenTrotz den hohen Zahlen im Bereich Körperver-

letzung und Drohung werden solche Delikte, wie die Vergleichsuntersuchung von Backmann[2] gezeigt hat, in der Schweiz deutlich seltener als in Deutschland begangen.

Unbestritten ist schliesslich, dass der Gewaltpegel in allen Ländern nach wie vor weit unter dem des 19. Jhs. oder noch früherer Zeiten liegt.

[2] Backmann, Ben: Delinquenz und Viktimisierung Jugendlicher in der Schweiz, MSchrKrim 2005, S.46 ff.

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Drei mögliche Einflussfaktoren

Nachfolgend sollen drei Faktoren untersucht werden, die in der Diskussion häufig in einen Zusammenhang mit der „Jugend-gewalt“ gebracht werden:

1. Migration2. Gewaltkonsum in Medien3. Veränderte Lebensverhältnisse

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1. Welche Rolle spielt die Migration?

Jugendliche aus immigrierten Familien sind unter den sta-tistisch registrierten Gewalttätern deutlich übervertreten. Der Grund liegt nicht darin, dass Angehörige bestimmter Länder generell krimineller oder gewaltbereiter wären (vgl. die von Killias & Co. in Bosnien durchgeführte Paralleluntersuchung).

Vielmehr spielen andere Faktoren eine Rolle, die 1. mit der Lebenssituation in den Herkunftsländern, 2. mit der familiären Einbindung und 3. mit der Integration in der Schweiz zusammen hängen. Auf diese drei Aspekte werde ich näher eingehen:

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Importierte EinstellungenPersönliche Gewalterfahrung: Viele Migrations-Jugendliche

waren als Kinder selbst von Gewalt betroffen. Ihre Familien stammen aus Ländern, in denen sog.Macho-

Normen (gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen) vor allem in ländlichen Gebieten und in den Unter-schichten noch stark verankert sind. Viele lebten, bevor sie emigrierten, zu Hause in prekären Verhältnissen oder kamen aus Gebieten, wo die staatliche Ordnung zusammengebrochen war.

Macho-Normen halten sich dort, wo die Männer zu wenig Chancen zur Entfaltung haben. Wenn Männer erfolg-versprechende berufliche Tätigkeiten ausüben und Aufstiegsmöglichkeiten wahrnehmen können, verlieren Macho-Normen an Bedeutung. Das gilt in der Schweiz genauso wie in den Herkunftsländern.

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Fehlende familiäre Unterstützung

Migration stürzt Kinder und Jugendliche in eine Krise. Das trifft selbst für Schweizer Jugendliche zu, die mit ihren Eltern emigrieren oder remigrieren. In einer solchen Situation sind die Kinder stark auf die Unterstützung durch die Eltern oder durch andere Bezugspersonen angewiesen. Wird ihnen diese zuteil, können sie die Krise meistern und aus dieser Erfahrung sogar an Stärke gewinnen. Fehlt die Unterstützung, führt dies oft zu Fehlentwicklungen oder Integrationsstörungen.

Bei immigrierten Jugendlichen bleibt die Unterstützung häufig aus. Die Eltern sind in der Schweiz nicht integriert, sie sprechen die Sprache nicht, leben in prekären Verhältnissen und sind selbst überfordert. Die Jugendlichen sind auf sich gestellt, sie greifen auf Verhaltensmuster zurück, die ihnen vertraut sind.

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Situation in der SchweizViele Einwanderer aus armen Ländern leben bei uns in

Verhältnissen, die von Armut, sozialer Randlage, fehlen-den Perspektiven sowie Brüchigkeit der familiären und sozialen Netzwerke gekennzeichnet sind.

Sie erreichen keine oder weniger hohe Bildungsabschlüs-se, sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betrof-fen und leben in städtischen Krisengebieten.

Das sind Lebenslagen, die auch dann, wenn sie auf Schweizer zutreffen, Kriminalität und andere abwei-chende Verhaltensformen wahrscheinlicher machen.

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Kriminalität von Migranten 1895Im Jahre 1895 veröffentlichte der Jurist Albert Meyer (er

wurde später Bundesrat) eine methodisch herausragen-de Arbeit über die Kriminalität von Migranten im Kanton Zürich. Er wies nach, dass die Zugewanderten, die damals 26% der Bevölkerung ausmachten, bei der Ge-waltkriminalität mit 51% vertreten waren.

Nur waren diese Zugewanderten nicht Ausländer, sondern Bürger anderer Kantone, vor allem aus der Ost- und Innerschweiz, die im Rahmen der schweizerischen Binnen-Migration vom Land in die Grossstadt gezogen waren und dort als verelendete Arbeiter in diskriminier-ten Quartieren und benachteiligten Verhältnissen lebten.

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2. Welche Rolle spielt der Konsum von Gewaltmedien?

Lange Zeit herrschte eine grosse Unsicherheit in der Frage, wie der Einfluss von Gewaltdarstellungen in den verschiedenartigen Medien einzuschätzen sei. Untersuchungen, die von Medienunternehmen in Auftrag gegeben wurden, bestätigten die Nullhypothese oder gar einen Aggressionsabbau. Umgekehrt bejahten die von Pädagogen oder Psychologen durchgeführten Forschungen regelmässig eine gewaltverstärkende Wirkung.

Eine derart kontroverse Beurteilung entspricht dem aktuellen For-schungsstand nicht mehr. So schreibt das deutsche Bundesmini-sterium für Familie in seinem umfassenden Bericht „Medien und Gewalt“: „Versucht man trotz der erwähnten vielfältigen Probleme eine Bilanz zu ziehen, so ist zunächst festzustellen, dass die Annahme einer generellen Ungefährlichkeit von Mediengewalt fast nicht mehr vertreten wird.“

Der Gehirnforscher Manfred Spitzer nimmt an, dass ein übermässiger Gewaltkonsum in den Medien nicht nur die Gewaltbereitschaft er-höht, sondern zudem die Schulleistungen senkt.

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Unterschiedliche WirkungDie Auswirkungen des Konsums von Mediengewalt sind

abhängig von inhaltlichen Aspekten der Darstellung, von der konsumierenden Person und von ihrer sozialen Situation.

Die Wirkung bleibt bei stabilen Zuschauern gering, doch erhöhen sich die Risiken bei Problemgruppen, bei denen belastende Merkmale vorliegen.

Verstärkt wird der negative Einfluss von Mediengewalt, wenn der Gewaltkonsum von Jugendlichen mit folgen-den Faktoren zusammentrifft: Eigene Gewalterfahrung in der Familie, soziale Benachteiligung der Familie, niedri-ges Bildungsniveau, schlechte oder fehlende Zukunfts-perspektiven.

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Ergebnisse der Wirkungsforschung

Kein Medienangebot verursacht im kausalen Sinn Gewalt, aber bei Personen mit einer entsprechenden Disposition können Gewaltdarstellungen zu einer Erhöhung der Gewaltbereitschaft führen.

Mediendarstellungen können in eine aggressive Stimmung versetzen (Stimulierung), Modell sein für aggressive Verhaltensmuster (Imitation) und zu einer Abstumpfung gegen Gewalt beitragen (Habitualisierung). Je mehr die Mediendarstellungen Gewalt als erfolgreiches Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen zeigen, desto eher können sie gewaltsame Konfliktstrategien begünstigen (Anomie).

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Neue MedienEine wichtige Rolle spielt der Konsum von Gewalt in den

neuen Medien, vor allem im Internet und in den Com-puterspielen. Entscheidend sind die dort die Häufigkeit, die Intensität und die Selbstverständlichkeit der Gewalt-darstellungen. Gewalt wird als Erfolg versprechendes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen gezeigt, die Täter erscheinen als positive Identifikationsfiguren, die Opfer sind Verlierer, ihr Leiden wird ausgeblendet.

Durch den ständigen und unverarbeiteten Konsum solcher Inhalte kann die Hemmschwelle für die Anwendung von Gewalt herabgesetzt werden. Besonders gefährdet sind männliche Jugendliche, die im Übermass und ohne Ver-arbeitungs-Möglichkeit Gewaltdarstellungen konsumie-ren, weil sie im eigenen Zimmer einen unkontrollierten Zugang zu Medien haben.

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3. Welche Rolle spielen veränderte Lebensbedingungen?

Die Integration in die Erwachsenenwelt dauert heute wegen der gesteigerten Anforderungen länger.

Gleichzeitig sind soziale Kontrollen abgebaut worden. Nach einem Fehlverhalten findet oft keine Reaktion statt. Eltern wissen laut Untersuchungen weniger oft als frü-her, wo und mit wem ihre Kinder unterwegs sind, und setzen seltener eine verbindliche Heimkehrzeit durch.

Junge Menschen sind mobiler, sie verfügen rund um die Uhr über grössere Aktionsräume in der Freizeit, woraus sich erweiterte Tatgelegenheiten ergeben (24-Stunden-Gesellschaft). In den Jugend-Freiräumen sind Rausch- und Suchtmittel leicht zugänglich.

Zugenommen hat die Bedeutung von Peer-Gruppen. Die Sozialisation unter Jugendlichen kann sich positiv aus-wirken, doch schliessen sich gerade gefährdete Jugend-liche oft einer Gruppe an, die ihre destruktiven Tenden-zen verstärkt.

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WertdefiziteDie sozialen Normensysteme Religion, Moral und Recht sowie

die sie vermittelnden Instanzen Erziehung, Fa-milie, Schule, Kirche und Medien haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Das Problem liegt nicht im kulturellen Wandel als solchem, sondern in dessen Geschwindigkeit.

Mit dieser Entwicklung haben sich neue Lebensformen, Konsumhaltungen und Freizeitgewohnheiten durch-gesetzt sowie grundlegende Veränderungen in der Familie und in der Erziehung vollzogen.

Ungenügend integrierte Jugendliche verlieren als Folge der durch den raschen Wandel verursachten Verun-sicherung häufig die ethische Orientierung. Viele leiden an Wertdefiziten, die sich z.B. in respektlosem Verhalten gegenüber Schwächern oder in einer Unfähigkeit zu empathischem Empfinden äussern.

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Übersteigerte ErwartungenIm Wohlfahrts-Staat sind die individuellen Ansprüche und die

Hoffnungen bezüglich ihrer Erfüllung gestiegen. He-donistische Erwartungen bewirken eine Kluft zwischen der ersehnten und der tatsächlichen Bedürfniserfüllung.

Diese Diskrepanz verursacht Frustration, Status-Unsicher-heit und Entwurzelung. Soziologisch wird sie als Des-integration beschrieben.

Vor diesem Hintergrund spielt auch ein physiologisch begründetes Persönlichkeitsmerkmal eine zunehmende Rolle, das Marwin Zuckerman Sensation Seeking nennt.

Sensation Seekers sind Menschen mit einem bis zu 70% genetisch bedingten niedrigeren Erregungsniveau, die ständig aufregende Reize brauchen, um einen als ange-nehm erlebten Pegel der Reizstimulierung halten zu können. Sensation Seeking gab es auch früher, doch waren dem Erlebnishunger durch Erziehung, Kultur und soziale Kontrollen wesentlich engere Grenzen gesetzt.

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Ergebnis für alle drei FaktorenBei allen drei Faktoren zeigt sich das Gleiche: Es sind nicht die

Migration, die Medienwirkung oder die veränderten Lebensbedingungen als solche, die Gewalt auslösen. Aber im Zusammenhang mit andern Risikofaktoren können alle drei eine verstärkende Wirkung entfalten.

Diese primären Risikofaktoren sind: Soziale Randständig-keit, niedriges Bildungsniveau, eigene Gewalterfahrung, Wertdefizite, fehlende Förderung und Überwachung durch die Eltern, delinquente Freunde, beziehungs-mässige Diskontinuität, ungenügende Integration.

An diesen Sachverhalten muss die Prävention ansetzen, wenn der Gewaltanwendung von Jugendlichen vorge-beugt werden soll. Die Tatsache, dass die statistischen Werte sich in letzter Zeit rückläufig entwickelt haben, kann darauf hinweisen, dass die in den letzten Jahren verstärkte Prävention tatsächlich zu wirken beginnt.

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Jugendkriminalität insgesamt

Nach den Gewaltdelikten zur gesamten Jugendkriminalität:In statistischer Hinsicht ist die Polizeiliche Kriminalstatistik der

Ausgangspunkt. Darin wird bei den einzelnen De-liktsgruppen ausgewiesen, wie viele der ermittelten Täter minderjährig waren. Im Jahr 2014 betrug der Anteil Min-derjähriger an der Gesamtkriminalität 11.5%, nachdem er von 2002 bis 08 zwischen 18 und 23% geschwankt hatte. Allerdings sagen diese Zahlen nicht allzu viel aus, weil die einzelnen Tatbestände in ihrer Häufigkeit stark von einander abweichen und die Gesamtzahlen stark vom häufigsten Delikt, dem Diebstahl, beeinflusst sind.

Die Anteile der Minderjährigen an einzelnen Deliktsgruppen lassen sich aus der PKS herauslesen.

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DeliktsverteilungInsgesamt verläuft die Entwicklung der registrierten Krimi-nalität in der

Schweiz relativ konstant. Es gibt wellen-förmige Schwankungen, doch verlaufen diese innerhalb der gleichen Bandbreite.

Statistisch ist die polizeilich registrierte Jugendkriminalität vor allem Diebstahlskriminalität (Ladendiebstahl, Fahrzeugentwendung), gefolgt von Drogenkonsum und leichteren Gewaltdelikten (Körperverletzung, Raub, Drohung; Nötigung etc.). Sehr häufig sind auch die in dieser Statistik nicht erfassten Strassenverkehrs-Delikte.

Schwere Gewaltdelikte wie Tötungen, Vergewaltigungen oder Geiselnahmen werden von Jugendlichen sehr sel-ten begangen. Im Verhältnis zu den erwachsenen Tätern weisen Brandstiftung, Erpressung, Raub und Fahrzeug-entwendung überdurchschnittliche Anteile auf, Diebstahl kommt etwa gleich häufig wie bei den Erwachsenen vor. Alle andern Delikte werden von Jugendlichen seltener verübt, als es dem Durchschnitt entspricht.

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Rückläufige JugendkriminalitätIm Vergleich zum Vorjahr ist die Gesamtzahl der ermittel-

ten Minderjährigen im Jahr 2014 erneut um 1.2 % gesunken, seit 2010 sogar um 40%. Der Rückgang trifft auf alle Deliktsgruppen zu, insbesondere auch auf die Gewaltdelikte.

Diese Entwicklung hat sich in andern europäischen Län-dern, beispielsweise in Deutschland und Schweden, schon etwas früher abgezeichnet [1].

Der Rückgang wird teils auf die Bevölkerungsentwicklung (geburtenschwache Jahrgänge und veränderte Migra-tion), teils auf die in den letzten Jahren intensivierte Prävention zurückgeführt.

[1] Dirk Baier, Jugendkriminalität in Deutschland, Hannover 2010, S.15

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DunkelfelduntersuchungenDie in der Polizeistatistik registrierten Zahlen erfassen nur einen

kleinen Ausschnitt aller begangenen Straftaten. Ganz besonders trifft das bei den Jugendlichen zu, weil die weitaus meisten Straftaten gar nicht entdeckt oder nicht angezeigt oder nicht aufgeklärt werden.

Die Dunkelfelduntersuchungen zeigen weltweit, dass die meisten Jugendlichen, vor allem fast alle männlichen, irgendwann Delikte begehen. Allerdings handelt es sich bei diesen breit gestreuten Verstössen überwiegend um leichte Delikte wie Schwarzfahren, Entwendungen, Sachbeschädigungen, Schlägereien, Cannabiskonsum oder Strassenverkehrsdelikte.

Die grosse Mehrzahl dieser Delikte wird ohne Einschaltung strafrechtlicher Instanzen „bewältigt“. Selbst wenn keine Reaktion oder bloss eine durch das erzieherische Um-feld erfolgt, werden die Täter nicht rückfällig, Spontan-bewährung ist statistisch die Regel.

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Delikte sind normalIm statistischen Sinn ist es normal, dass Jugendliche, vor

allem männliche Jugendliche, leichtere Delikte begehen. Die wenigen männlichen Jugendlichen, die nie ein Delikt

verüben, sind nach verschiedenen Untersuchungen eher Problemjugendliche: Sie fallen durch Nervosität und Rückzugverhalten auf und haben keine oder wenig Freunde.

Völlige Delikts-Abstinenz ist nach Moffitt deshalb kein Zeichen einer optimalen Adoleszenz-Entwicklung[1].

[1] Moffitt in Thornberry, Development Theories of Crime and Delinquency, S.34

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Leichte Delikte sind ubiquitär verteiltLeichte Delikte sind somit ubiquitär und nicht schichtspe-zifisch

verteilt, in diesem Bereich ist es normal, dass Jugendliche Delikte begehen. Die Mädchen verüben bei steigender Tendenz etwas weniger Delikte, allerdings deutlich mehr, als es ihrem Anteil in der polizeilich re-gistrierten Kriminalität entspricht.

Die Häufigkeit, mit der einzelne Verstösse von den Befrag-ten in einer schweizerischen Befragung von jugendlichen Tätern angegeben werden, ergibt sich aus der Jugend-delinquenzstudie 1994 von Killias/Villetaz/Rabasa sowie aus regionalen Studien, die an verschiedenen Orten (vor allem in der Region Zürich) durchgeführt wurden.

Jugendliche in der Westschweiz geben in Untersuchungen zu selbstberichteter Delinquenz mehr Delikte an. Die Unterschiede lassen sich nicht bloss mit einer grösseren Offenheit erklären, sondern beruhen auf einer Kumulie-rung von Risikofaktoren (Mühlethaler in Crimiscope 45/2012,S.3ff.).

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Mehrfach- und Intensivtäter MITWährend leichte Delikte ubiquitär verteilt sind, zeigt sich bei

den ernsthafteren Straftaten ein anderes Bild. Mittelschwere Delikte, wie Körperverletzung, Drohung,

Nötigung, grössere Diebstähle, werden zwar häufig begangen, sie verteilen sich aber nicht mehr gleich-mässig auf alle oder viele Jugendliche.

Erst recht gilt die einseitige Verteilung für die seltenen schweren Delikte. Bei allen ernsthafteren Delikten zeigt sich seit Jahren weltweit, dass eine kleine Gruppe von sog. Mehrfach- und Intensivtätern (MIT) für eine grosse Zahl dieser Straftaten verantwortlich zeichnet.

Die kantonalen Polizeidienste schätzen, dass es in der ganzen Schweiz ca.500 Mehrfach- und Intensivtäter gibt.

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Mehrfach- bzw. Intensivtäter im Kt.ZHLaut einer Untersuchung von Freihofer begingen zwischen 3.8 und 4.5% von allen zwischen 2000 und 2010 registrierten Delinquenten aus den drei Geburtsjahrgängen 1990-92 zwischen 64 und 69% aller Straftaten. Ein einzelner Täter war sogar für nahezu 2% aller Delikte verantwort-lich (er hat inzwischen den Oberstufenabschluss geschafft, eine Lehre absolviert und den Ausstieg aus der kriminellen Karriere vollzogen).Zwischen den Mehrfachtätern (5 registrierte Delikte beliebiger Schwere innert 6 Monaten) und den weitaus problematischeren Intensivtätern (fünf schwere Taten) zeigten sich in dieser Untersuchung erhebliche Unterschiede, die differenzierte Interventionen rechtfertigen.Deshalb erscheint es nicht sinnvoll, die beiden Gruppen in einen Topf zu werfen (wie es in der Literatur oft geschieht).Lit. Viviane Freihofer: Intensivtäter im Vergleich mit Mehrfach- und Bagatell-tätern, SZK 2/14, S.10-24

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GrossuntersuchungenUntersuchungen, die ganze Jahrgänge im Längsschnitt erfasst haben,

liegen aus verschiedenen Ländern vor (Kohortenforschung). In der Cambridge-Studie von West und Farrington wurden Jugendliche über 40 Jahre hinweg untersucht. Dabei zeigte sich, dass 6-10 Prozent eines Jahrgangs 50-65 Prozent der polizeilich erfassten schweren Delikte begingen. Eine neuere Langzeitunter-suchung ist die Pittsburgh-Studie von Loeber u.a.

In Deutschland haben Boers u.a. die Duisburger Verlaufsstudie erarbeitet. Dabei zeigte sich, dass der Höhepunkt der Jugendkriminalität bereits zwischen 14 und 15 Jahren erreicht wird, während er in der registrier-ten Kriminalität erst mit 16 Jahren eintritt.

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat eine Untersuchung durchgeführt, in der 45'000 Jugend-liche der 9.Klasse in der ganzen Bundesrepublik über ihre Täter- und Opfererfahrungen befragt wurden. Der langfristige Vergleich ergab einen Rückgang der Gewalt-delikte bereits von 1998 an.

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RekrutenbefragungIn der Schweiz wurde die Rekrutenbefragung zu Gewalt und

Viktimisierung durchgeführt[1]: Im Jahre 1997 wurden alle 21'347 Rekruten und 1'160 gleichaltrige

Nichtrekruten zu ihren Erfahrungen als Täter und Opfer befragt. Damit konnten 70 % der Männer eines ganzen Jahrgangs erfasst werden.

Leichte Delikte waren mit einem Durchschnitt von 7,3 pro Person und Jahr breit gestreut, doch ging die Hälfte aller begangenen Straftaten auf das Konto von 8% der Re-kruten. Diese Kerngruppe von Intensivtätern war ins-besondere für 70% aller Gewaltdelikte und 80% aller sexuellen Übergriffe verantwortlich.

Innerhalb dieser erheblich belasteten Gruppe wurde zudem ein harter Kern von 341 stark zu Gewalt neigenden Männern gefunden, die besonders schwere Delikte gehäuft begangen hatten.

[1] Henriette Haas 2001

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Kriminelle KarrierenEin besonderes Interesse gilt in der internationalen

Forschung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Entwicklung zu einer kriminellen Karriere einsetzt.

Die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Verlaufs verstärkt sich, wenn Jugendliche selbst Gewalt erlebt haben, gehäufte familiäre und soziale Defizite oder psycho-pathologische Störungen aufweisen, wenn sie in delin-quenten Peer-Gruppen verkehren, wenn sie in des-integrierten Wohngegenden aufwachsen, und wenn sie sehr früh, besonders intensiv oder in verschiedenen Deliktskategorien delinquieren.

Bei weiblichen Jugendlichen ist die Wahrscheinlichkeit einer kriminellen Karriere selbst bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen deutlich geringer.

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Ausstieg aus kriminellen KarrierenDie Desistance-Forschung untersucht, was dazu beiträgt, dass

Intensivtäter aus der Kriminalität herausfinden. Sie ist im Gegensatz zu den Rückfalluntersuchungen nicht vergangenheits-, sondern zukunftsbezogen. Damit liefert sie der Kriminalprävention, und insbesondere dem Straf- und Massnahmenvollzug Hinweise, wie der Ausstieg aus der Kriminalität unterstützt werden kann.

Untersuchungen über den Abbruch von delinquenten Karrieren machen deutlich, dass die Distanzierung nach dem Modell des „Abgewöhnens“, d.h. verbunden mit Rückschlägen, vor sich geht. Das ist ein ähnlicher Ver-lauf, wie ihn auch andere Menschen erleben, wenn sie feste Gewohnheiten verändern wollen, etwa Rauchen, Freizeitaktivitäten oder Essgewohnheiten. Rückfälle sind deshalb längst nicht immer negativ zu bewerten, sie kön-nen auch Symptom einer Veränderungsdynamik sein.

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Tübinger Desistance-StudieIn ihrer Untersuchung haben Stelly/Thomas 56 Mehrfachtäter erfasst,

die durchschnittlich 22,5 Monate Jugendstrafe verbüsst hatten. Die Probanden wurden im Verlauf von 6 Jahren dreimal befragt. Die Mehrzahl von ihnen wurde als erfolgreiche „Abbrecher“ eingestuft.

Zum Ausstieg hatten beigetragen eine durch den Reifungsprozess ermöglichte kognitive Neuorientierung, die Änderung des Selbst-bildes, die Integration durch Arbeit und Partnerschaft sowie der Wegfall von problematischen Familienkonstellationen und von Drogenabhängigkeiten.

Die Autoren halten als Ergebnis fest, „dass bei den meisten Mehrfach-tätern eine Reintegration möglich und wahrscheinlich ist“. Deshalb sollten Interventionen darauf ausgerichtet sein, die Chancen der Jugendlichen auf soziale Teilhabe zu verbessern. Wichtig seien Angebote zur Bildung und zur beruflichen Qualifizierung, therapeu-tische Interventionen (Drogenentzug, Verhaltenstherapie), soziale Trainingsprogramme und Hilfen zur Alltagsbewältigung (z.B. Wohn-raumvermittlung, Schuldensanierung).

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Lebenslauf-UntersuchungenIn den Zusammenhang der Desitance-Forschung gehören auch die

Lebenslauf-Untersuchungen, die aus dem Rückblick Schlüsse auf die Prognose zulassen. Ausgangspunkt für die berühmteste derartige Untersuchung waren die Forschungen, die das Ehepaar Sheldon und Eleanor Glueck in den 40er-Jahren des 20.Jhs. durch-geführt hatte („Unraveling Juvenile Delinquency“): Damals wurden 500 schwerst delinquente Jugendliche auf Herz und Nieren geprüft.

Laub/Sampson haben die gleichen Personen, die unterdessen über 70 Jahre alt waren, nachuntersucht und festgestellt, dass ein kleinerer Teil kriminell geblieben war, ein grösserer Teil aus der Kriminalität ganz herausgefunden hatte, und ein Teil sog. Zick-zack-Karrieren erlebt hatte.

Mit den Kenntnissen, die seinerzeit verfügbar waren, hätte sich die weitere Entwicklung nicht voraus sagen lassen, weil diese nicht von vergangenheitsbezogenen Faktoren abhing, sondern vom weitern Verlauf, vor allem von der sozialen Integration und der Motivation der Betroffenen. Als hilfreich für einen Ausstieg erwiesen sich eine Lebenspartnerschaft, eine befriedigende Arbeit und der Militärdienst.

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Folgerungen aus den Langzeituntersuchungen

Laub/Sampson haben aus den Ergebnissen der erwähnten Untersuchung (Shared Beginnings – Divergent Lives) eine „age-graded theory of social control“ abgeleitet, wonach es für jeden Lebensabschnitt auf die Qualität der Bindungen zu den jeweils wichtigen Institutionen der informellen sozialen Kontrolle ankommt.

Die Ergebnisse der Altersverlaufs-Forschung haben dazu geführt, dass die frühere Annahme, delinquente Karrieren verliefen kontinuierlich (Kontinuitätsthese), heute nicht mehr vertreten wird, weil jederzeit ein Abbruch eintreten kann, vor allem wenn neue Bindungen eingegangen werden, z.B. im Zusammenhang mit Arbeit, Partnerschaft oder Elternschaft (Abbruchthese).

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Harte Sanktionen wirken nicht

Insgesamt liefern zahlreiche „Studien einen sta-bilen empirischen Beleg für die These, dass formelle Sanktionierungen negative Wirkungen auf die soziale Integration der von ihnen be-troffenen Personengruppen ausüben“, Dollinger/Schabdach S.137.

„Frühzeitige und einschneidende Eingriffe sind nicht besonders wirkungsvoll, sondern be-sonders gefährlich, ... Milde zahlt sich aus“, Heinz in ZJJ 2008, S.67.

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Keine hoffnungslosen FälleDie Desistance-Forschung weist darauf hin, dass es keine

hoffnungslosen Fälle gibt. Auch Jugendliche, die massiv delinquieren, können später aus der Kriminalität heraus-finden. Wie die Lebenslauf-Untersuchungen zeigen, stehen keine Kriterien zur Verfügung, die eine negative Langzeitprognose mit genügender Sicherheit zulassen.

Damit hat sich die in den USA genährte Hoffnung zerschla-gen, unbeeinflussbare Jugendkriminelle im Sinne der selective incapacitation ein für alle Mal zu neutralisieren.

Vielmehr rechtfertigt es sich, auch schwer kriminellen Jugendlichen eine Chance zu geben und alles zu unter-nehmen, was zu ihrer sozialen Integration beitragen kann. Dabei sollten im Sinne des „Empowerments“ vor allem ihre Ressourcen angesprochen und ihre Eigen-motivation gestärkt werden.

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Kriminalpolitische KonsequenzenDie zuvor dargestellten Ergebnisse lassen kriminalpolitisch

folgenden Schluss zu: Wenn ein Grossteil der schweren Delikte durch eine Kerngruppe von Intensivtätern be-gangen werden, rechtfertigt es sich, die zur Verfügung stehenden Mittel und die personellen Ressourcen vor allem auf diese Gruppe zu konzentrieren.

Dies umso mehr, wenn wir wissen, dass bei den andern Tätern in den meisten Fällen selbst dann eine Spontan-bewährung eintritt, wenn keine staatliche Reaktion erfolgt.

Das Bedürfnis nach einer staatlichen Sanktion ergibt sich in diesen leichtern Fällen hauptsächlich aus der positiven Generalprävention: Der Staat muss im Interesse der Signalwirkung zeigen, dass auf Gesetzesverstösse re-agiert wird. Doch kann diese Reaktion auch einen eher symbolischen Charakter haben.

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Symptomatische DelinquenzEtwas Anderes gilt für die symptomatische Delinquenz: Diese äussert

sich oft in Mehrfachauffälligkeit und kann in eine kriminelle Karriere einmünden.

Zu Grunde liegen meist defizitäre oder gestörte familiäre Beziehungen, unbewältigte Migrations-Problematiken, psychische Fehlentwicklungen oder psychiatrische Auffälligkeiten. Die Verhaltensprobleme gehen oft einher mit Schwierigkeiten im Leistungsbereich, verminderter Selbstkontrolle, eingeschränkter Kompetenz zur Lebens-planung, und mit Aggressivität und Macho-Gehabe.

Die Delinquenz hat hier Symptomcharakter, sie ist Folge der tiefer liegenden Probleme. Sie verschwindet nicht von selbst, sondern droht in eine kriminelle Karriere einzumünden. Deshalb muss eine Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Problemen stattfinden.

Dies kann am ehesten im Rahmen von erzieherischen oder therapeutischen Massnahmen geschehen.

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VerurteiltenstatistikEine weitere statistische Quelle ist die Verurteiltenstatistik.

Allerdings sagt sie wenig über die Kriminalität aus, mehr über die Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane und der richterlichen Instanzen. Sie gibt Auskunft darüber, wie oft, aus welchen Gründen und mit welchen Ergebnissen Strafverfahren durchgeführt und abgeschlossen werden, welche Merkmale die Betroffenen aufweisen und welche Sanktionen wie oft angeordnet werden.

Die Verurteiltenstatistik wird ebenfalls vom Bundesamt für Statistik geführt. Sie wird für den Jugendstrafbereich jeweils getrennt veröffentlicht, in der aktuellen Form allerdings erst seit 1999, so dass die Zahlen erst seit jenem Jahr vergleichbar sind.

www.bfs.admin.ch

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Was tun gegen Jugendkriminalität?

Für einen Grossteil der Politiker und der Medien scheinen die Rezepte selbstverständlich, mit denen der Jugend-kriminalität und insbesondere der Jugendgewalt begeg-net werden soll: Anwendung von Erwachsenenstraf-recht, Freiheitsstrafen schon für Kinder, höhere und generell unbedingte Strafen, Verwahrungen bereits für Jugendliche, geschlossene Unterbringungen und mili-tärische Umerziehungslager sind einige der in den eid-genössischen Räten formulierten Vorschläge.

Fast alle dort eingebrachten Vorstösse zielen auf eine Verschärfung des Jugendstrafrechts und auf eine verstärkte Repression ab.

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KriminalpräventionIn der Pädagogik und in der Kriminologie herrscht dagegen die

Auffassung vor, dass eine generelle Verschärfung des Strafrechts kaum ein taugliches Mittel sei.

„Ein hartes Durchgreifen hat bei Jugendlichen eher kontraproduktive Wirkung“, Baier, Jugendkriminalität in Deutschland, S.39.

„Prinzipiell gilt. dass mit der „Härte“ einer Sanktion Rück-fallwahscheinlichkeiten steigen“, Dollinger/Schabdach Jugendkriminalität, S.11.

Von pädagogischer und kriminologischer Seite wird die Jugendgewalt vor allem als gesellschaftliche Heraus-forderung angesehen. Viel wichtiger und erfolgver-sprechender sei es deshalb, sich mit den zugrunde liegenden Problemen auseinanderzusetzen. Zu diesem Zweck müsse vor allem die Kriminalprävention verstärkt werden.

Prof.Peter Aebersold
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Ebenen der PräventionÜblicher Weise wird unterschieden zwischen den Ebenen

universelle (primäre) Prävention, die sich an alle Per-sonen einer Zielgruppe richtet, selektive (sekundäre) Prävention, die sich an Teilgruppen wendet, bei denen eine erhöhte Gefährdung besteht, und indizierte (tertiäre) Prävention, die Personen anspricht, bei denen bereits ein problematisches Verhalten festzustellen ist.

Zwischen indizierter Prävention und Intervention, die auf Gewalt reagiert, besteht ein fliessender Übergang.

Auf den Ebenen der universellen und der selektiven Prä-vention sind die meisten Ansätze nicht gewalt- oder kriminalitätsspezifisch, zum Teil finden gleiche Vor-beugungsmassnahmen in der Gesundheits- oder Sucht-prävention Anwendung. Das hängt damit zusammen, dass auch die Ursachenfaktoren nicht spezifisch sind.

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Bereiche der PräventionKriminalprävention ist in verschiedenen Bereichen ange-

siedelt und sollte möglichst koordiniert erfolgen. Es gibt Ansätze für Kinder/Jugendliche, für Familien, für

Kindergarten/Schule, für den Freizeitbereich, für Gemeinde/Quartier und für die polizeiliche Prävention.

Generell gilt: Gute Prävention sollte aus einem Gesamt-konzept abgeleitet und gesteuert sein. Die in der Prä-vention tätigen Institutionen sollten sich vernetzen, professionsübergreifende Gremien und gemeinsame Fortbildungen sollten Standard sein.

Als übergeordnetes Ziel gilt, in der Öffentlichkeit und in allen Institutionen eine Kultur des Hinschauens und der Konfrontation mit Normübertretungen durchzusetzen.

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Evidenzbasierte PräventionNeu ist das Verständnis von evidenzbasierter Prävention:

Darunter wird eine Prävention verstanden, die an Risiko- und Schutzfaktoren anknüpft und dazu Teilziele formu-liert, deren Erreichen wissenschaftlich mit Vergleichs-gruppen überprüft wird.

Risikofaktoren sind Merkmale, die als „Ursachen“ vermutet werden und damit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Anwendung von Kriminalität und insbesondere von Gewalt bewirken.

Schutzfaktoren sind Einflussgrössen, welche die negativen Auswirkungen von belastenden Faktoren mildern oder aufheben.

Die Risiko- und Schutzfaktoren sind aus den Forschungen abgeleitet, die sich mit Kriminalitätsursachen befassen.

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Risiko- und Schutzfaktoren

Beispiele für Risikofaktoren sind früh auffälliges dissoziales Verhalten, geringe soziale Kom-petenzen, Impulsivität, sozio-ökonomische Benachteiligung, inkonsistenter Erziehungsstil, Elterngewalt, Schulversagen, Schwänzen, delinquente Freunde, Macho-Normen.

Umgekehrt sind Schutzfaktoren beispielsweise soziale Kompetenz, klares Zeitmanagement, stabile Beziehungen, schulische Erfolgs-erlebnisse, realistische längerfristige Ziele.

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Kontrollierte ProgrammeAusgerichtet auf bestimmte Risiko- oder Schutzfaktoren

werden mit Präventionsprogrammen Verbesserungen angestrebt und die Wirkung wissenschaftlich ausgewer-tet. Die Programme werden mit zufällig ausgelesenen Gruppen durchgeführt (randomized controlled experi-ments) und mit Gruppen verglichen, die nicht beeinflusst wurden.

Ein Präventionsprogramm gilt als wirksam, wenn in 50 kontrollierten Experimenten der angestrebte Einfluss auf die ins Visier genommenen Risiko- oder Schutzfaktoren nachgewiesen werden kann. In diesem Sinn gibt es verschiedene Programme, deren Wirksamkeit bereits in mehreren Ländern bestätigt wurde. Solche Programme sind ad hoc entwickelten Massnahmen vorzuziehen.

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Nachhaltige WirkungPrävention wirkt nicht kurzfristig. Darum hat sie es in der

Praxis schwer, sich zu behaupten. Exekutiv-Behörden denken in Wahlperioden, an deren

Ende sie Erfolge ausweisen müssen, damit sie wieder gewählt werden. Deshalb neigen sie oft zu schnellen Lösungen, wie sie repressive Ansätze eher versprechen, auch wenn es sich oft nur um Scheinlösungen handelt.

Prävention dagegen muss über Jahre kontinuierlich betrie-ben werden. Wenn das gelingt, sind die Wirkungen dafür nachhaltiger. Projekte gelten als wirksam, wenn sie Ver-besserungen um 15-25 Prozentpunkte (nicht %) bringen.

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Familienprogramme

Weil Jugendgewalt häufig mit Entwicklungsstörungen zusammenhängt und sich fast immer bereits in Früh-symptomen äussert, ist es sinnvoll, die Prävention so früh als möglich einsetzen zu lassen. Wir sprechen von Frühprävention, die schon vor der Geburt und danach mit Elternprogrammen anfangen kann.

Diese Programme suchen die Erziehungskompetenzen der Eltern zu verbessern und wirksame Strategien im Um-gang mit Problemkindern zu vermitteln. Schon vor dem Kindergartenalter können auch Kinderprogramme ein-gesetzt werden, welche die soziale, sozialkognitive und emotionale Kompetenz der Kinder fördern sollen.

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SchulprogrammeDa Familienprogramme freiwillig sind, erreichen sie oft die

eigentlichen Problemfamilien nicht. Deshalb ist im Kin-dergarten und in der Schule die Chance besser, mit gleichartigen Programmen alle Schulkinder und wesent-lich mehr Familien anzusprechen.

Daneben gibt es auch Programme, die eine Fokussierung auf Gewaltprobleme in der Schulorganisation und eine Verbesserung des Schulklimas anstreben (vor allem das Programm von Olweus). Ein wichtiges Instrument der schulischen Prävention ist zudem die Schulsozialarbeit.

Für alle Schulprogramme gilt, dass eine blosse Aufklärung oder Informationsvermittlung nicht genügt. Vielmehr müssen spezifische Kompetenzen vermittelt und positive Verhaltensweisen eingeübt werden.

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Teen courtsAus den USA stammen Schülergerichte. Sie kommen für uns nicht in

Frage, weil Schüler in einem Gerichtsverfahren ein Urteil sprechen.Das Diversionsmodell wurde in Deutschland zu einem kriminalpädago-

gischen Schülerverfahren weiter entwickelt und zuerst in Bayern, dann auch in andern Bundesländern mit Erfolg angewendet.

Ein Gremium von 3 dafür ausgebildeten Schülern führt mit einem delinquenten Kollegen ein ausführliches Gespräch über die Tat und ihre Hintergründe und vereinbart mit ihm gemeinsam eine Aus-gleichsleistung. Wird das Verfahren erfolgreich abgeschlossen, sieht die Staatsanwaltschaft in der Regel von der Strafverfolgung ab.

Die Ziele beziehen sich sowohl auf den «Sünder» (Verhaltensänderung und Akzeptanz dank Peer-Effekt) als auch auf die andern Schüler (Sensibilisierung für Normen und Prävention).

ZJJ 2/2013, S.160 ff.; Masterarbeit Rebecca Sigg LU

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Mentorenprogramme:In der Schweiz erst im Anlaufen (Pro Juventute) sind Men-

torenprogramme, obwohl sie sich in Deutschland, in den USA und in andern Ländern als ausserordentlich wirk-sam erwiesen haben.

Gefährdeten Kindern, vor allem aus Migranten-Familien, wird eine ehrenamtliche Hilfskraft zur Seite gestellt, die mit ihnen liest, Aufgaben löst, Schulprobleme bespricht, in unsere Kultur einführt, aber auch Ansprechpartner für persönliche Probleme ist.

Hannover verfügt über 1500 Mentoren und hat damit in der gleichen Zeit eine Halbierung der Jugendkriminalität erreicht, in der sich diese in München (das keine solche Begleitungen praktiziert) verdoppelt hat.

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FreizeitprogrammeUnstrukturierte Freizeitgestaltung, der Kontakt mit gewalt-bereiten

Kollegen und deviante Aktivitäten in Peer-gruppen stellen wesentliche Risikofaktoren dar.

Laut der von Lösel u.a. durchgeführten Erlangen-Nürnberg Präventionsstudie[1] sind reine Sportprogramme als sekundäre Prävention zu unspezifisch. Doch machen sie Sinn in Kombination mit pädagogischen Ansätzen.

Gestützt auf die gleiche Studie sind offene Jugendzentren sogar kontraindiziert, da in solchen Zentren vor allem Jugendliche zusammenkommen, die bereits gefährdet sind. Sie finden dort negative Vorbilder und verstärken sich wechselseitig in ihren Verhaltensproblemen.

Anzustreben sind gut strukturierte Freizeitangebote, in denen eine Durchmischung stattfindet.

[1] Bundesministerium für Familie: Soziale Kompetenz für Kinder und Familien, Berlin 2004,

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Gemeinde- und QuartierpräventionStrategien zur Förderung eines integrierten Gemeinde- oder

Quartierlebens wurden zunächst in den USA unter dem Titel „Community that cares“ (CTC) entwickelt.

Vertreter von Schulen, Stadtverwaltungen, Jugendhilfe-einrichtungen, Polizei, Elternverbänden, Wirtschaft, Verkehrsbetrieben, Migrantenorganisationen etc. treffen sich zu Konferenzen und diskutieren die lokalen Krimi-nalitätsprobleme.

Es werden Ausschüsse gebildet, die konkrete Massnah-men zu einzelnen Problemen erarbeiten und durchfüh-ren oder veranlassen. Solche Massnahmen können sein: Hausbesuche für neu eingewanderte Familien, Förder-programme für Kinder, schulbezogene Programme, Fort-bildungsangebote für Lehrkräfte, Elterntrainings, Medien-kampagnen und polizeiliche Präventionsmassnahmen.

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Präventionsräte

In Deutschland haben sich im Sinne von CTC in allen Städten gemischte Arbeitskreise zur kommunalen Kriminalprävention gebildet. Heute werden sie meistens „Präventionsräte“ genannt und von den Kommunen gefördert.

In England heissen solche Arbeitskreise „Local Crime Prevention Committees“, in Frankreich „Diagnostics locaux de sécurité“, in Italien „Città secure“.

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Polizeilich-situative Prävention

Polizeiliche Massnahmen zielen darauf ab, Tatgelegenheiten mit Überwachungs- oder baulichen Massnahmen zu reduzieren, das Entdeckungs- und Aufklärungsrisiko zu erhöhen, informelle Sozialkontrolle zu aktivieren und durch Polizeipräsenz beruhigend zu wirken.

Mit Vorbeugungskampagnen und Beratungs-diensten wird über persönliche Schutzmass-nahmen, vorbeugendes Verhalten sowie über technische und bauliche Vorkehren informiert.

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Zero tolerance?Die New Yorker Polizei hat die zero tolerance-Strategie

entwickelt und preist sie als grossen Erfolg an. Dabei wird bereits gegen kleine Verstösse, Vandalismus und Verwahrlosung im öffentlichen Raum hart vorgegangen, weil das, abgeleitet aus der broken windows-These[1], auch gegen schwerere Kriminalität vorbeugend wirke.

Ob der in New York festgestellte Rückgang der Kriminalität tatsächlich auf diese Strategie zurückzuführen ist, bleibt ungeklärt, weil in der gleichen Zeit auch andere amerika-nische Grossstädte einen Rückgang verzeichneten, die keine solche Strategie einsetzten.

Dennoch ist es präventiv sinnvoll, allen Anzeichen äusserer Verwahrlosung vorzubeugen und auf Verstösse schnell und konsequent zu reagieren.

[1] Wilson/Kelling: Zerbrochene Fenster, in KrimJ 28/1996, S.121 ff.

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Situation in der Schweiz

Es gibt in der Schweiz zahlreiche gute Ansätze zur Gewaltprävention. Aber die meisten beruhen nicht auf einem Gesamtkonzept, die einzelnen Massnahmen sind punktuell, zu wenig koordi-niert, kaum vernetzt, zu wenig nachhaltig.

Oft sind es verschiedene kantonale oder kommu-nale Stellen, die neben einander Präventions-aufgaben wahrnehmen. Die Wirkungen und die Zielerreichung werden oft nicht evaluiert.

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Schulprävention in der SchweizIn den Schulen werden oft einzelne Veranstal-

tungen durchgeführt, z.B. in Aktionswochen, die durch externe Fachleute geleitet werden. Solche Angebote sind wenig wirksam, Prävention muss in den Schulbetrieb integriert sein. Lehrkräfte müssen Prävention als Daueraufgabe wahrneh-men und im Alltag Verantwortung dafür tragen.

Ein Teil der Lehrkräfte tut sich damit schwer, weil sie dem Erziehungsauftrag der Schule skeptisch gegenüber stehen und sich primär dem Bil-dungsauftrag verpflichtet fühlen.

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Quartier- und GemeindearbeitIn der Quartier- und Gemeindearbeit sollten mehr

Anstrengungen unternommen werden. Arbeits-kreise zur Gewaltprävention haben sich noch nicht eingebürgert.

Vor allem gilt es, die Integration von Migranten-Familien zu unterstützen. Die Durchmischung in den Quartieren und Schulen sollte gefördert werden. Wichtig sind Ganztages-Betreuungs-angebote vom Kindergarten bis zum Ende der Schulzeit. Mentorenprogramme sollten vermehrt gefördert und ausgeweitet werden.

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Mehr Vernetzung erforderlichLeider sind in der Schweiz soziale und psychologische

Projekte einerseits und die polizeiliche Präventionsarbeit andererseits zu wenig verknüpft. Wenn soziale oder psychologische Projekte über ihre Tätigkeit berichten, kommt polizeiliche Prävention überhaupt nicht ins Blickfeld, und umgekehrt geschieht genau das Gleiche.

Im Interesse einer verbesserten Steuerung und Vernetzung wäre zudem eine nationale Strategie nötig. Der Bund hat auf diesem Gebiet bisher keine ausdrückliche Kompe-tenz. Was die Kantone vorsehen, ist unterschiedlich und oft selbst innerhalb des Kantons wenig koordiniert.

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Einheitliche StrategieEine von Waller und Welsh durchgeführte Vergleichs-

untersuchung hat herausgearbeitet, dass Länder wie Schweden oder Kanada, die eine einheitliche Strategie verfolgen und in diesem Zusammenhang eine nationale Agentur eingesetzt haben, deutlich bessere Erfolge erzielen.

Das von der Bevölkerungszahl vergleichbare Schweden kennt z.B. einen nationalen Rat für Kriminalprävention und eine Agentur mit 60 Vollzeit-Mitarbeitenden. Diese kann Empfehlungen verbreiten, regionale Projekte anstossen, fördern und vernetzen sowie Evaluationen durchführen oder unterstützen.