Jugendliche und Cannabis – wir sprechen darüber · so wie es schon bei Komatrinken und...

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Zweite Frankfurter Fachtagung zu Cannabis 5. Oktober 2015 Dokumentation Jugendliche und Cannabis – wir sprechen darüber: Miteinander, sachlich, kontrovers, offen

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Zweite Frankfurter Fachtagung zu Cannabis 5. Oktober 2015 Dokumentation

Jugendliche und Cannabis – wir sprechen darüber: Miteinander, sachlich, kontrovers, offen

Jugendliche und Cannabis –wir sprechen darüber: Miteinander, sachlich, kontrovers, offen

Zweite Frankfurter Fachtagung zu Cannabis 5. Oktober 2015SAALBAU Gallus, Frankfurt am Main

Veranstalter: Stadt Frankfurt am Main Dezernat für Umwelt und Gesundheit Drogenreferat der Stadt Frankfurt am Main

 

4 Inhalt | Fachtagung Cannabis 2015

Begrüßung und Einleitung Rosemarie Heilig Gesundheitsdezernentin der Stadt Frankfurt am Main 6

Twitter, Tweets und Sketchnotes Frankfurter Schülerinnen und Schüler 8

Vorträge Wie ticken Jugendliche heute? Ihre Lebenswelten – aus Sicht der JugendforschungDr. Marc Calmbach, Direktor der Abteilung Sozialforschung am SINUS-Institut 10

Alle nehmen das? Jugendlicher Cannabiskonsum, Verbreitung, Motive und Rahmenbedingungen – Erkenntnisse der Sozialwissenschaft und Psychologie Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), Leiter des nationalen Knotenpunktes der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) 19

Jugendlicher Cannabiskonsum – Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie …? Analysen und Einschätzungen aus der Medizin Dr. Klaus Behrendt, Suchtmedizinischer Chefarzt i.R., ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) 30

Hans-Günter Meyer-Thompson, ehemaliges Vorstandsmitglied DGS, Arzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen, Asklepios Hamburg, Klinik Nord-Ochsenzoll

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Aus den Fehlern lernen: Jugendschutz und Prävention sind möglich – Erfahrungen und Ansätze der Drogen- und SuchthilfeDr. Raphael Gaßmann, Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) 45

Gruppendialog – World Café Tischthemen 1: Risiko und Schutz – Prävention: die Lösung für alles? 49

Tischthemen 2: Hintergründe, Motive und Verläufe – Kiffen oder Nicht-Kiffen, gehört der Joint zum „Erwachsenwerden“? 51

Tischthemen 3: Zum Auf und Ab des Erwachsenwerdens – wie ticken Jugendliche heute? 53

Tischthemen 4: Risiken und Nebenwirkungen – macht Kiffen „dumm“ und „verrückt“? 54

INHALT

Fachtagung Cannabis 2015 | Inhalt 5

Tischthemen 5: Risiken und Nebenwirkungen – wo hört der Spaß beim Kiffen auf? Was rät der Arzt? 56

Tischthemen 6: Sinn und Unsinn – kann Jugendschutz bei Cannabis gelingen? 57

Tischthemen 7: Last Exit – lässt sich Cannabisabhängigkeit stationär behandeln? 59

Tischthemen 8: Verbot und Strafe – wie gehen Polizei und Staatsanwaltschaft mit GrenzverletzerInnen um 61

Tischthemen 9: Regulierung und Freigabe – beeinflusst die Debatte Jugendliche? 63

Tischthemen 10: Frühintervention und Beratung – was können ambulante Hilfen leisten? 65

Tischthemen 11: Kiffen in der Familie – schweigen, reden, Grenzen setzen: was hilft? 67

Tischthemen 12: Kiffen in der Schule – was kann und muss die Schule tun? 69

Tischthemen 13: Erfahrungen und Einschätzungen – was sagen Jugendliche selbst zu Cannabis? 70

Tischthemen 14: Niedrigschwelligen Hilfen – sind sie überhaupt notwendig und was können sie bewirken? 72

Tischthemen 15: Kiffen im Jugendhaus – hin- oder wegschauen: Was ist an Hilfen möglich und nötig? 74

Tischthemen 16: Cannabis und Politik – darf sich etwas ändern? 76

Moderierte Schlussdebatte und Resümee 78

Stimmen aus dem Publikum 86

Schlusswort Rosemarie Heilig, Gesundheitsdezernentin der Stadt Frankfurt am Main 88

Nachtreffen und Bilanz 92

6 Begrüßung | Fachtagung Cannabis 2015

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich willkommen zur Fachtagung „Ju-gendliche und Cannabis“. „Immer mehr Ju-gendliche kiffen“, alarmierten unlängst die Medien, nachdem die Bundeszentrale für ge-sundheitliche Aufklärung ihre Drogenaffini-

tätsstudie vorgelegt hat. Als Ursache wurde die Debatte um die Legalisie-rung genannt. „Cannabis“ werde verharmlost, ein falsches Signal für Ju-gendliche gegeben – so hieß es. Und die Lösung laute: mehr Präventions-angebote.

So einfach, wie die Schlagzeilen es suggerie-ren, können wir es uns aber weder in der Politik noch in der Fachwelt ma-

chen. Wer die Studie genauer anschaut und die Zahlen seit Anfang der 90er Jahre ver-gleicht der sieht schnell: die Ursachen sind mannigfaltig.

Rosemarie Heilig, Gesundheitsdezernentin der Stadt Frankfurt am Main

BEGRÜSSUNG

Die Losung „mehr Prävention“ allein hilft uns nicht weiter, sie sagt nichts über das „Wie“ und „für wen“ aus. Wir müssen uns also die Mühe machen, Motive und Formen des Kon-sums bei Jugendlichen genauer anzuschau-en und zu unterscheiden. Die simple Formel

„Jugendliche kiffen, weil ….“ gibt es ebenso wenig wie es „die Jugendlichen“ gibt.

Laut der Frankfurter MoSyD Studie 2014 haben 41 Prozent der 15- bis 18-Jährigen schon einmal Erfahrungen mit Cannabis ge-macht, 21 Prozent haben auch im vergange-nen Monat Cannabis konsumiert und 12 Pro-zent konsumieren es regelmäßig.

Dass Jugendliche neugierig sind und vie-les ausprobieren, ist schlicht alterstypisch und gehört zum Erwachsenwerden dazu. Der Mut zum Risiko, das bewusste Grenzen über-schreiten, Verbotenes tun – all das ist für sie eher positiv besetzt, bedeutet Spaß, Aben-teuer, Freiheit.

Prävention, die nur vor Gesundheits- und Suchtgefahren warnt und auf Sanktionen hinweist, geht an Jugendlichen vorbei und bleibt so wirkungslos wie reine Verbote es sind.

Was heißt das für die Politik und die Fach-welt? Erst wenn wir Jugendliche und ihre Ver-haltensmuster ernst nehmen, dann nehmen sie auch uns ernst. Andernfalls treten wir auf der Stelle und lassen uns mit jeder neuen Studie von neuen Schlagzeilen alarmieren, so wie es schon bei Komatrinken und Alko-pops, Ecstasy oder Legal Highs der Fall war.

Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel die-ser Veranstaltung, differenziert und offen auf das Thema „Jugendliche und Cannabis“ zu schauen.

Dazu gehört, zwischen Probieren, Experi-mentieren sowie Missbrauch zu unterschei-den.

Dazu gehört, genau zu trennen, welche Ju-gendliche Hilfe brauchen und welche Ju-gendliche keine Hilfe brauchen.

Dazu gehört auch, anzuerkennen, dass Ju-gendliche aus ihren Rauscherfahrungen ler-nen und verantwortungsvoll die eigenen Grenzen im Blick behalten können.

„Wenn wir über Prävention und Jugendliche reden, dann müssen wir uns mit den Lebenswelten der Jugendlichen auseinandersetzen.“

Es gibt entsprechend eine Vielzahl an Fra-gen, über die wir heute diskutieren wollen. Vor allem aber über die Frage, wie Jugend-schutz bei Cannabis gelingen kann und wel-che politischen Rahmenbedingungen wir dafür brauchen? Denn mit der bisherigen Praxis im Umgang mit Cannabis können wir nicht zufrieden sein, sie ist nicht zielführend.

Wenn wir über Jugendliche und Cannabis reden – und über Prävention und Jugend-schutz – dann müssen wir uns mit den Le-benswelten von Jugendlichen auseinander-setzen. Wir müssen begreifen, wie Jugendliche„ticken“, und welche Rolle Cann-abis im Einzelnen für sie spielt.

Ich freue mich deshalb umso mehr, dass wir hier und heute nicht nur über Jugendli-che, sondern auch mit Jugendlichen reden. Schülerinnen und Schüler der Frankfurter Bettinaschule, Paul-Ehrlich-Schule und des Heinrich-von-Gagern-Gymnasium sowie Mit-glieder der StadtschülerInnenrat begrüße ich hiermit herzlich und bin gespannt auf Ihre Beiträge.

Diese Fachtagung ist ein wirkliches Ge-meinschaftswerk, an denen lokale wie bun-desweite Expertise beteiligt ist. Viele Diskus-sionen, die heute Thema sein werden, haben bereits im Vorfeld unter den Expertinnen und Experten stattgefunden.

Diese alle zusammenzubringen, war eine besondere Herausforderung, die das Drogen-referat – allen voran die Leiterin Frau Ernst und

Fachtagung Cannabis 2015 | Begrüßung 7

ihre Stellvertreterin Frau Lind-Krämer sowie ihre Kolleginnen und Kollegen - wie auch beim letzten Mal hervorragend bewältigt hat.

Professionell unterstützt wurden sie dabei erneut von einem Fachbeirat. Diesem gehör-te im Einzelnen an: Herr Bechtel von der Staatsanwaltschaft Frankfurt, Herr Prof. Dr. Stöver von der Frankfurt University of Ap-plied Sciences, Herr Gottschalk von Basis e.V., Frau Sturm vom Verein Arbeits- und Erzie-hungshilfe e. V., Herr Hallstein und Herr Ka-letsch vom Polizeipräsidium Frankfurt am Main, Herr Klee von der AIDS-Hilfe Frankfurt e.V., Herr Paul von der Klinik für Abhängig-keitserkrankungen im Bürgerhospital, Herr Böhl von Jugendberatung und Jugendhilfe e.V., Herr Dr. Götz vom Gesundheitsamt und Frau Becker von der Integrativen Drogenhilfe e.V.. Ihnen wie allen anderen Beteiligten dan-ke ich aufs herzlichste!

Ferner begrüße ich die Vertreterinnen und Vertreter der Fraktionen aus dem Frankfurter Stadtparlament.

Ich freue mich auf die heutige Veranstal-tung und hoffe, dass wir für und mit Jugend-lichen offen und kritisch mit dem Thema Cannabis umgehen werden. Ich wünsche uns und der Veranstaltung, dass wir nicht nur verschiedene Positionen austauschen, son-dern auch ein echtes Verständnis für andere Perspektiven entwickeln.

Herzlichen Dank!

8 Twitter und Sketchnotes | Fachtagung Cannabis 2015

   

 

 

 

Twitter,  Tweets  und  Sketchnotes:  32  Schülerinnen  und  Schüler  aus  vier  Frankfurter  Schulen  haben  sich  aktiv  an  der  Fachtagung  beteiligt.  Sie  haben  aber  nicht  nur  über  die  Vorträge  und  Diskussionen  getwittert  und  gepostet,  sondern  sich  als  Experten  in  Sachen  Jugend  auch  in  die  Diskussionen  eingebracht  und  den  Erwachsenen  im  Saal  deutlich  gemacht,  was  sie  vor  allem  erwarten:  sachliche  Informationen  und  Aufklärung  jenseits  aller  Ideologien.  Mehr  unter  Twitter:@CannTalk_FFM  

 

 

 

TWITTER & SKETCHNOTES

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 9

VORTRÄGE

Dr. Marc CalmbachDr. Tim Pfeiffer-GerschelDr. Klaus BehrendtHans-Günter Meyer-ThompsonDr. Raphael Gaßmann

10 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

was Jugendliche bewegt, um sie auch bewe-gen zu können. Auch deswegen stehe ich heute hier: um zu zeigen, wie Jugendliche zielgruppengerecht angesprochen werden können.

Bevor wir zu den Forschungsergebnissen kommen, möchte ich ein paar allgemeine As-pekte zu den Rahmenbedingungen des Auf-wachsens heute darlegen. Anschließend werde ich kurz auf jugendtypische Entwick-lungsaufgaben eingehen, dann ein Panora-ma an jugendlichen Lebenswelten betrach-ten, einige Thesen zur Drogenaffinität in verschiedenen Jugendlichen-Gruppierun-gen präsentieren und der Frage nachgehen, wie man in den verschiedenen Gruppen Kommunikation zur gesundheitlichen Auf-klärung gestalten kann.

LEBEN AUF NUMMER UNSICHER Zunächst zu den Rahmenbedingungen des Aufwachsens heute: Die deutsche Gesell-schaft wird älter und schrumpft. Jugendli-chen selbst ist das gar nicht so bewusst. Sie denken an ihre Berufsorientierung, an die nächsten Übergänge, und dass sie hoffent-lich irgendwo einen Job oder eine Ausbil-dungsstelle finden. Dass Jugend zum raren Gut wird und Jugendliche sagen, „ja, die Wirt-schaft wartet nur auf uns“ – das ist uns bis-lang nicht begegnet. Jugendliche treiben noch immer die typischen Ängste und Sor-gen um.

Ganz wichtig ist dabei die Prekarisierung von Beschäftigung. Jeder zweite Arbeitsver-trag wird heute befristet abgeschlossen und vor allem die junge Generation ist davon be-troffen. Dies trifft nicht nur die formal weni-ger Gebildeten, auch die höher Gebildeten

Ich bin zwar kein ausgewiesener Experte im Bereich Marihuana oder Cannabis, kann

aber – so hoffe ich – einen guten Einblick in die Vielfalt der Lebenswelten der jungen Leu-te heute geben. Die meisten Jugendstudien unterscheiden nach formalem Bildungsgrad, nach Geschlecht, nach sozialem Hintergrund des Elternhauses. Wir argumentieren dage-gen, dass gerade mit Blick auf Jugendliche die Fokussierung auf demographische Hin-tergründe alleine nicht ausreicht, wenn man entsprechende Programme oder Kommuni-kationswege entwickeln möchte, sondern man besonders auch die Werthaltungen und Lebensstile der Jugendlichen berücksichti-gen muss. Man muss umfänglich verstehen,

Dr. Marc Calmbach

Wie ticken Jugendliche heute? Ihre Lebenswelten – aus Sicht

der Jugendforschung

Dr. Marc Calmbach, Direktor der Abteilung Sozialforschung am SINUS-Institut

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 11

spricht man von „Bastel-Existenzen“, von „Patchwork-Identität“ und von „Selbstsoziali-sation“. Das heißt, Jugendliche müssen die Vergesellschaftung heute in hohem Maße in Eigenregie erledigen. Die klassischen Soziali-sations-Agenturen wie Schule, Elternhaus, Familie, Verbände, Gewerkschaften, haben massiv an Bedeutung verloren. Flankierend dazu und teilweise auch ersetzend haben Medien und vor allem der Freundeskreis bei der Vergesellschaftung enorm an Bedeutung gewonnen. Man wird heute fast schon bom-bardiert mit Identitätsversatzstücken, aus de-nen man Identität basteln kann. Man denke nur an Casting-Shows, an Fernsehstars, an die Entertainment-Branche. All diese Figuren liefern die Rohstoffe, aus denen Jugendliche heute Identität basteln.

BERUFSENTSCHEIDUNG ÜBER PEERS UND MEDIENWas ist Jugendlichen wichtig im Leben? Laut einer Allensbach-Umfrage antworten 69 Pro-zent: „gute Freunde zu haben“, 64 Prozent sa-gen „Gesundheit“ und 62 Prozent „ein Job, der mir Spaß macht“. Die Familie rangiert zwar noch relativ weit oben, steht aber nicht an erster Stelle bei den Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren. Dies illustriert die große Bedeutungszuschreibung an den eigenen Freundeskreis. Verfolgt man solche Statisti-ken ein paar Jahrzehnte zurück, sah das noch

münden heute letztlich in ein Leben auf Nummer unsicher. Wenn ich nicht weiß, ob ich einen festen Job bekomme oder nicht weiß, wie lange der Zeitvertrag läuft, wann ich vielleicht wieder umziehen muss, hat das unweigerlich auch Konsequenzen für das Pri-vatleben.

Flexibilität wird immer wichtiger. Die Ju-gendlichen spüren, sie müssen immer früher den richtigen Weg einschlagen, aber gleich-zeitig auch offen sein für die Wendungen, die das Leben so mit sich bringt. Selbst für die sehr freigeistigen und unkonventionellen Ju-gendlichen spielen Kategorien wie Versiche-rungen, Absicherung eine wichtige Rolle, weil das Leben immer unsicherer wird. Prekä-re Beschäftigungsverhältnisse beeinflussen das Private dahingehend, dass man sich na-türlich fragt, wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt gekommen, um eine Familie zu planen? Man ist verunsichert, wie lange man bei einer Firma bleiben kann, was lebenslan-ges Lernen bedeutet, ob man aus Jobgrün-den irgendwann umziehen muss usw.. Das setzt unter Druck – da werden Familien-planungsprozesse schnell auf die lange Bank geschoben.

Die Idee von „Otto Normalverbraucher“ gibt’s heute nicht mehr. Die klassische Identi-tätsarbeit ist brüchig, extrem fluide. Identität ist nichts Eindeutiges, sondern etwas, an dem man ständig arbeiten muss. In der Soziologie

… und finden Zustimmung – etwa zum Wandel des Generationen-Verhält-nisses und der Schwierigkeit, sich abzugrenzen

Dr. Marc Calmbachs Thesen zu jugendlichen Lebenswelten ziehen das Publikum in ihren Bann …

12 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

mir ihren Rock ausleiht“. Die kulturellen Frei-räume sind in gewisser Weise weggebrochen, indem die Pop-Kultur erwachsen geworden ist.

Eine These von mir war lange, dass die sozialen Netzwerke zu den letzten, wirklich elternfreien Räumen gehörten. In einer SINUS-Studie haben wir Jugendliche gefragt, ob sie Freundschaftsanfragen von ihren Eltern in sozialen Netzwerken akzeptieren würden. 80 Prozent der 14- bis 18-Jährigen sagten „nein, wollen wir nicht“. Satirisch kann man das bereits als Spruch auf Baumwoll-taschen lesen – als Drohung: „Ich adde Deine Mutter“.

VON KOMPETENZEN UND KULTURELLEM KAPITAL Allmählich kommen wir zu dem, was wir am SINUS-Institut vor allem betreiben. Wir versu-chen wertneutral und an den Ressourcen ori-entiert, die Kompetenzen junger Menschen zu beschreiben. Wir schauen eben nicht nur mit der „bildungsbürgerlichen Brille“, ob ein Duden und schöne Schulbücher in den Ju-gendzimmern rumstehen, ob Jugendliche viel Sport treiben und im Verein engagiert sind. Wir schauen auch danach, ob jemand viele Computerspiele besitzt, Comics sam-melt oder unglaublich viele Serien oder Mu-sik auf seinem Rechner gespeichert hat. Wir suchen also nicht nur nach dem klassisch-bil-dungsbürgerlichem kulturellen Kapital, son-dern auch nach dem popkulturellem. Dazu zählt auch ihr Investment in Körperkult. Wenn beispielsweise ein Hauptschüler Montag früh solariumgebräunt, mit zurückgelegtem Haar und tip top gekleidet zur Schule geht, ist das etwas, das wir ernst nehmen, weil Jugendli-che darüber ihre Position in der Peer-Group verhandeln. Neben Skateboardtricks, DJ-Skills, Sportgeschichten interessiert und na-türlich auch Jugendsprache, um entspre-chende Kommunikationswege ausloten zu können.

ENTWICKLUNGSAUFGABEN VON JUGENDLICHEN In einem relativ kurzen Zeitfenster müssen Jugendliche viele Entwicklungsaufgaben

ganz anders aus. Der Freundeskreis war zwar immer auch wichtig, aber er rangierte nicht ganz oben auf der Skala.

Das wird leicht nachvollziehbar, wenn wir nur an den beruflichen Übergang denken. Viele der heute attraktiven Jobs gab es noch gar nicht, als die Eltern sich beruflich orientie-ren mussten. Ein Vater hat vielleicht Druck-vorlagenhersteller gelernt oder Drucker. Ir-gendwann hieß das dann Grafiker, später Kommunikationsdesigner. Berufsbilder sind im Wandel, sodass Eltern sagen, ich möchte meine Kinder unterstützen und sie auf den richtigen Weg bringen, aber eine wirkliche Ahnung habe ich nicht, was gerade „heiße“ Berufe sind, die man ergreifen sollte. Da kom-men dann die Freunde ins Spiel und Ge-schwister. Berufsentscheidung läuft heute stark über Peer-to-Peer und nicht nur über die Eltern.

Bleiben wir bei den Eltern. Die Abgrenzung von ihnen ist schwieriger geworden. In der Ju-gend- und Subkulturtheorie hieß es lange, die Jugend begehrt per se gegen die Erwach-senen-Generation auf. Das mag 1968 ge-stimmt haben, teilweise auch noch in den 80er Jahren, aber längst kann man das Gene-rationen-Verhältnis als relativ entspannt be-zeichnen. Nun könnte man meinen, „ist doch alles gut!“ Allerdings wird es für die jungen Leute immer schwieriger, sich von den Er-wachsenen abzugrenzen. Ich selbst bin 1974 geboren, meine Mutter hörte Heino und die

Flippers. Wenn ich mit einer Nirva-na-Schallplatte nach Hause kam, war das eindeutig etwas an-deres. Heute gehen auch Mütter mit den Töchtern zu Justin Timberlake. Das mag „fahrtechnisch“ prak-tisch sein, aber Ju-gendliche sagen teil-weise auch, „ich will eigentlich gar nicht, dass meine Eltern dieselbe Musik hören oder meine Mutter Infos twittern …

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 13

her versucht, diese Einteilung auch für junge Leute zu entwickeln. Man muss sich nur ein-mal Bilder von Jugendlichen vor Augen hal-ten. Sie können gleich alt sein, aber derart unterschiedlich ticken und in unterschiedli-chen Verhältnissen leben, dass es schwer vor-stellbar ist, dass sie auf dieselben Partys ge-hen könnten, dieselbe Musik gut finden oder irgendwo dieselben Flyer aufsammeln. Wir haben versucht, unterschiedliche Jugendli-che zu homogenen Gruppen zusammenzu-fassen. Bei der Gruppierung sind wir vor allem nach der Wertorientierung von Ju-gendlichen vorgegangen, nicht nur nach Ge-schlecht oder sozialem Hintergrund. Ein Bei-spiel, warum dies sinnvoll ist: Stellen Sie sich zwei Männer vor, beide 1954 geboren, in Norddeutschland aufgewachsen, leben heu-te in deutschen Großstädten, haben Kinder, sind diplomiert, beruflich erfolgreich und ha-ben relativ viel Kohle auf dem Konto. Man könnte vermuten, dass die beiden einiger-maßen „ähnlich drauf“ sind. Das ist aber nicht der Fall. Denn: Jürgen Trittin und Dieter Boh-len teilen die eben genannten demographi-schen Merkmale, sind aber von ihrer Werte-haltung völlig unterschiedlich „drauf“. Auch der Prince of Wales, Charles, und der Prince of Darkness, Ozzy Osbourne, sind solche demo-graphischen Zwillinge. Aber sie erziehen ihre Kinder unterschiedlich, statten ihre Wohnung unterschiedlich aus. Oder mein „Lieblingspär-chen“: Angela Merkel und Hella von Sinnen, gleichfalls demografische Zwillinge, aber in ganz unterschiedlichen Milieus Zuhause. Ähnlich vielfältig sind jugendliche Lebens-welten. Wir haben versucht, sie modellhaft zu verdichten und abzubilden in einem Koordi-natensystem mit dem angestrebten forma-len Bildungsgrad in der vertikalen Achse und einer „Werteachse“ in der Horizontalen, die von traditionell über modern bis hin zu post-modern reicht.

Darin haben wir verschiedene Gruppen dargestellt. Ich kann aus Zeitgründen nun nicht alle Lebenswelten hier im Detail vor-stellen, möchte aber ein paar Gruppen kurz skizzieren, um die Heterogenität der Jugend zu verdeutlichen. So gibt es zum Beispiel eine gymnasiale Gruppe mit sozial-ökologi-

meistern. Zum einen natürlich der Aufbau ei-nes Freundeskreises, die Akzeptanz der eige-nen körperlichen Erscheinung, die Aufnahme intimer Beziehungen zu einem Partner oder einer Partnerin, Unabhängigkeit von den El-tern. Sie entwickeln Zukunftsperspektiven, müssen herausfinden, was sie werden wollen und was sie diesbezüglich tun müssen, sie entwickeln Vorstellungen über Ehepartner und Familie, ein Selbstbild, wer sie sind und was sie tun können, eine eigene Weltan-schauung und geschlechterbezogene Rol-lenbilder. Und das sind nur einige der Dinge, die Jugendliche auf dem Weg zum Erwachse-nenleben leisten müssen.

Nur ein Beispiel zu den Rollenbildern: Im SINUS-Institut haben wir von Jugendlichen eine Collage basteln lassen zur Frage „wie sol-len Mädchen heute sein?“ Aus allen mögli-chen Zeitschriften haben die jungen Leute eine ganze Latte an Anforderungsprofilen zusammengestellt: Mädchen sollen kochen können, sich gesund ernähren, sollen roman-tisch sein, schön, humorvoll. Sie sollen famili-enorientiert sein, gleichzeitig geheimnisvoll, sie sollen Taschen mögen und kinderlieb sein. Das ist also eine Allround-Anforderung. Das auch nur annähernd einzulösen und die richtigen Vorbilder dafür zu finden, ist un-glaublich schwierig und erzeugt natürlich sehr viel Druck. Junge Männer machen es sich ein wenig einfacher und hängen stärker an tradierten Rollenvorstellungen. Dafür ha-ben sie aber häufiger das Problem, dass die Mädchen sie dafür kritisieren: „Ich habe kei-nen Bock mehr, dass du nach Motoröl stinkst, nur an Autos rumbastelst und zum Fußball gehst. Ich möchte einen Mann, der auch wei-che Seiten hat und dazu steht.“

EINTEILUNG NACH GLEICHGESINNTENSeit mehr als 30 Jahren betreibt das SINUS-In-stitut eine Gesellschaftseinteilung nach sozi-alen Milieus. Das sind, knapp definiert, Grup-pen von Gleichgesinnten. Da gibt es zum Beispiel hedonistische Typen, sozial-ökologi-sche Typen, liberal-intellektuelle Typen. Man braucht keine sonderlich scharfe alltagsem-pirische Lupe, um festzustellen, dass es auch „die“ Jugendlichen nicht gibt. Wir haben da-

14 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

Ende der Bildungsleiter. Sie stammen in der Regel aus sozial geordneten Verhältnissen und sind erfolgsorientiert, lifestyleorientiert, immer auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen.

HYPOTHESEN ZUR MILIEUSPEZIFISCHEN DROGENAFFINITÄTNun stellt sich die Frage, ob sich daraus ablei-ten lässt, in welchen Lebenswelten womög-lich eine größere Affinität zu Drogen besteht als in anderen? Dazu muss man auch nach Gründen für Marihuana-Konsum fragen. Ein Grund ist zum Beispiel Experimentierfreudig-

schem Lebensentwurf“. Diesen Jugendlichen geht es um Nachhaltigkeit, Gemeinwohlori-entierung, sie haben eine sozialkritische Grundhaltung und eine Offenheit für alterna-tive Lebensentwürfe. Eine andere ist die adaptiv-pragmatische Gruppe. Sie verkör-pert die junge gesellschaftliche Mitte mit hoher Leistungs- und Familienorientierung, einer hohen Anpassungsbereitschaft und sehr ausgeprägtem Lebenspragmatismus. Das ist die größte jugendliche Gruppe. Ge-nerell kann man sagen, dass man Ideologie in der jungen Generation fast schon mit der Lupe suchen muss. Es ist eine sehr pragmati-sche Generation.

Dann gibt es eine Gruppe von Jugendli-chen in sehr prekären Lebensverhältnissen. Sie bemühen sich um Orientierung und Teil-habe, haben aber äußerst schwierige Start-voraussetzungen. Sie wachsen oft in sozialen Brennpunkten auf, zeigen aber eine „Durch-beißer-Mentalität“ nach dem Motto, ich möchte es mal zu etwas bringen, möchte es mal besser haben als meine Eltern und mei-nen Kindern ein schönes Leben ermöglichen. Dann gibt es die „Expeditiven“ am anderen

Viel Input am Vormittag für die Thementische des Worldcafés am Nachmittag

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 15

stimmen, dass es zum Leben gehöre, Drogen auszuprobieren.

Anders sieht es bei „Konservativ-Bürgerli-chen“ aus mit nur 7 Prozent Zustimmung: Sie sind familienorientiert, heimatorientiert, ha-ben ein hohes Traditionsbewusstsein und eine sehr ausgeprägte Verantwortungsethik. Diese Gruppe stellt die Erwachsenenwelt nicht in Frage, sondern sagt, sie ist, wie sie ist, und das ist in Ordnung. Wir müssen als Ju-gendliche unseren Platz in der Gesellschaft finden. Es sind keine „Risk-Taker“, sondern im Gegenteil Leute, die Risiken vermeiden wol-len. Warum vermuten wir bei dieser Gruppe eine hohe Resilienz? Es ist zum einen der Wunsch, an einer bewährten Ordnung fest-zuhalten. Sie betonen Selbstdisziplin viel stärker als Selbstentfaltung. Sie nennen sich selbst „relativ vernünftig für ihr Alter“ und wünschen sich eine „Normalbiographie“.

HÖHERE DROGENAFFINITÄT IN HEDONISTISCHEN LEBENSWELTENBetrachten wir nun die „Materialistischen He-donisten“. Sie sind familienorientiert, haben eine hohe Freizeitorientierung und sehr aus-geprägte markenbewusste Konsumwünsche. Es ist eine Gruppe, die sich an Marken und Konsumstandards orientiert, weil sie in ande-ren Feldern die Teilhabe in der Mitte der Ge-sellschaft schwieriger sicherstellen können. Vor allem die Schule ist eher ein Ort des Scheiterns. Man kauft sich also die neuesten Nike-Turnschuhe, Käppis von Dolce&Gabba-na oder teure Taschen von Michael Kors, um zu signalisieren, das ist zwar teurer, aber das, was die Mitte oder der gehobene Teil der Ge-sellschaft eben konsumiert. In dieser Gruppe gehen wir von einer eher niedrigen Resilienz gegenüber Marihuana aus – auch wegen der sehr starken Orientierung an medialen Leit-bildern, die Marihuana-Konsum teilweise propagieren. Vor allem bei den Helden aus der Hip Hop-Szene, ist dies sehr verbreitet. Schaut man in die Jugendzimmer von „mate-rialistischen Hedonisten“ findet man Poster an den Wänden mit Marihuana-Blättchen drauf oder Texte, die aufgeschrieben werden, weil man sie cool findet. Es gibt einen sehr deutlichen Wunsch nach Anerkennung in

keit, also das Ausprobieren von alternativen Einstellungen und Werten. Andere Gründe sind die Flucht in künstlich geschaffene bes-sere Erlebniswelten, nach innen gerichtete, rückzugsorientierte Problemverarbeitungs-prozesse oder die Abkehr von den Anforde-rungen und Erwartungen von den Erwachse-nengenerationen. Grund können auch Familienkonflikte mit schweren Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen sein und natürlich Peer-Pressure, der Grup-pendruck – um nur einige zu nennen.

Auf der anderen Seite steht die Frage, was sind Resilienz-Aspekte in Bezug auf Marihua-na? Dies sind im Umkehrschluss Problemlö-sefähigkeiten, eine hohe Selbstwirksamkeits-überzeugung, ein positives Selbstkonzept, Fähigkeit zur Selbstregulation, internale Kon-trollüberzeugung, die hohe Sozialkompe-tenz, ein aktives und flexibles Bewältigungs-verhalten, ein sicheres Bindungsverhalten, optimistische Lebenseinstellung und auch eine Hinwendung zu eigenen Talenten, Inter-essen und Hobbys.

Wenn wir uns nun die Lebenswelten ge-nauer ansehen, wo das Eine oder das Andere zutrifft, können wir erste Thesen formulieren, welche Gruppen womöglich anfälliger sind als andere. Wir haben im Rahmen einer Re-präsentativbefragung Jugendlichen die Fra-ge gestellt, ob es zum Leben dazugehört, auch Drogen auszuprobieren. Zumindest in der Tendenz stimmten 27 Prozent aller be-fragten Jugendlichen zu. In der Gruppe der konservativ-bürgerlichen Jugendlichen wa-ren es allerdings nur 7 Prozent, bei den „Mate-rialistischen Hedonisten“ hingegen 64 Pro-zent. 38 Prozent stimmten aus der Gruppe der „Experimentalistischen Hedonisten“ zu und 32 Prozent bei den „Expeditiven“.

Interessant ist, dass die Gruppen mit über-durchschnittlich hoher Zustimmung auch diejenigen sind, die überdurchschnittlich häufig sagen, es bringt wenig, sich Ziele für sein Leben zu setzen, weil heute alles so unsi-cher ist. In den bildungsfernen Gruppen sa-gen dies weit mehr als die Hälfte, bei den „Ex-perimentalistischen Hedonisten“ 41 Prozent. Dieser für Jugend typische Hedonismus scheint auch eine Rolle zu spielen, um zuzu-

16 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

Wunsch, das Leben in vollen Zügen zu genie-ßen, Selbstentfaltung, Grenzen auszutesten, kreative Gestaltungsmöglichkeiten, Fantasie, Provokation, die Abkehr von Routinen, mit den eigenen Werthaltungen bewusst anzu- ecken. Man möchte aus der Masse hervorste-chen und hat deshalb eine hohe Affinität zu allem Subkulturellen, zur Konzert- und Festi-valkultur. Eine Collage, die Jugendliche die-ser Gruppe für uns zum Thema „Das gibt dem Leben Sinn“ gestaltet haben, fällt ganz an-ders als die in anderen Gruppen aus. Thema-tisiert wird Shopping-Sucht, das Chaos der Großstädte, totaler Neuanfang, Flucht aus dem Leben, das perfekte Fest, Party, Aben-teuer, die bildenden Künste. Also Begriffe, die mit „Escape“ zu tun haben. Vor dem Hinter-grund einer solchen Collage kann man den quantitativen Befund der Umfrage schon ein bisschen besser interpretieren, warum dies eine Gruppe mit der höchsten Zustimmung ist, dass es zum Leben auch gehört, Drogen auszuprobieren.

KOMMUNIKATION NACH DEN DREI „T`s“Wenn man nun weiß, wie unterschiedlich Ju-gendliche ticken, wie verschieden ihre Le-benswelten sind, welche ästhetischen Präfe-renzen sie haben und mit welcher Bildsprache man sie womöglich erreicht, dann kann man auch versuchen, die gesundheitlichen Auf-klärungsangebote danach auszurichten. Als Dreiklang empfehlen wir immer – wenn man überhaupt keine Ahnung hat, wie man Ju-gendliche ansprechen soll –, nach den drei „T´s“ zu schauen:

1. Themen – also welche thematischen Einflugschneisen gibt es?

2. Touch Points – also wo trifft man die Jugendlichen an, was sind zum Beispiel typische Medien und Vergemeinschaf-tungsorte für sie?

3. Tonalität – welche Sprache ist besonders passend?

Zu den Touch Points: Bei den „Experimentalis-tischen Hedonisten“ ist es nicht das Multiplex

den Peer-Groups, die häufig sehr hierarchisch strukturiert sind. Das bedeutet, um dazuzu- gehören, muss man ständig die eigene Posi-tion reproduzieren: Man muss krass sein, be-sonders cool bei den Jungs und besonders sexy bei den Mädchen. Man lehnt Kontrollen und Autoritätswerte ab. Mir hat ein Jugendli-cher, der dieser Gruppe zuzuordnen ist, ein-mal gesagt: „Wir werden oft behandelt wie beschädigte Personen, so als stimmt mit uns was nicht. Alle schauen immer nur, was wir nicht können, aber nicht darauf, dass wir an-dere Sachen womöglich besonders gut kön-nen.“ Ein anderer erzählte, dass er am Sony Center in Berlin mit Freunden vor einer Spie-gelwand getanzt hat, um sich auf den Film „Dance Academy“ einzustimmen, den sie gleich sehen wollten. Dafür hätten sie nur ab-fällige und empörte Blicke geerntet. Er mein-te, die Leute hätten auch sagen können, su-per, dass die Jugendlichen tanzen und keine Drogen nehmen. Dies könne man doch auch wertschätzen. Das ist ein interessantes Bild. Andererseits verteidigen diese Jugendlichen ihr Recht auf exzessives Feiern als Teil eines freiheitlichen Lebensstils. Sie sagen, wenn man in Deutschland ab 16 Jahren Alkohol trinken darf, dann machen wir das auch. Und sie pochen auch immer darauf, dass das in Ordnung ist.

FEEL FREE UND ABKEHR VON ROUTINEN Nun zu der Gruppe, die wir „Experimentalisti-sche Hedonisten“ nennen. Das sind spaß- und szeneorientierte Nonkonformisten mit Fokus auf ein Leben im „Hier und Jetzt“. Schauen wir in ein typisches Jugendzimmer, hat das nichts mehr mit der Konservativ-bür-gerlichen Lebenswelt zu tun. Man sieht auch in den Wohnungseinrichtungen ihren Wunsch, das Innerste nach außen zu kehren. Hier heißt es „feel free“, „Neongrün statt Braun“ und das geschredderte Skateboard hängt als Kunstwerk an der Wand. Flexibilität, Mobilität sind ganz wichtige Werte – und der Drang, in einer Großstadt zu leben. Als sub-versive Gallionsfiguren stehen Bob Marley, Kurt Cobain, Slipknot, die Hip Hop-Stars der ersten Stunde. Und was spricht bei dieser Gruppe für eine niedrige Resilienz? Der

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professionell machen, dann zeigt sich häufig, dass die Vorstellungen von erwachsenen De-signern anders ausfallen als die ästhetischen Wünsche der Jugendlichen. Das muss einem selbst nicht gefallen, aber darauf kommt es auch nicht an. Es kommt darauf an, Jugendli-che als Experten ihrer eigenen Lebenswelt ernst zu nehmen und darauf zu hören, wenn sie sagen: „Na ja, rocken-rollen würden wir nicht sagen bei uns an der Schule.“ Oder ein anderes Beispiel: Es gibt Plakate, die eine Sze-ne mit Zelten und VW-Wägen zeigen. Dazu sagen die bildungsfernen Jugendlichen: „Ich lege mich doch nicht ein Wochenende lang mit meinen geilen Klamotten in den Dreck. Das passt nicht zu mir, das sind eher andere Jugendlichen, die dort hingehen.“

FRAGEN UND DISKUSSION Bernd Werse, Centre for Drug Research, Uni Frankfurt: Ich habe eine Anmerkung und eine Frage. Die Anmerkung bezieht sich auf die Moti-ve, die Sie für Cannabiskonsum genannt haben. Die sind bis auf das Erste, nur defizitär beschrie-ben. Wir stellen fest, dass die meisten Jugendli-chen, die Cannabis ausprobieren, dies nicht zur Problembewältigung tun. Dies nur zur Anmer-kung. Nun eine Frage zu den Geschlechterrollen: Sie hatten gesagt, es werde heutzutage mehr verlangt von einem Jungen als nur männlich zu sein oder umgekehrt. Mein Eindruck ist eher, dass es in der letzten Zeit eher in die andere Rich-tung ging - auch unterstützt durch die Industrie. Sprich, dass die männlichen und weiblichen Ge-schlechterrollen wieder sehr viel stärker hervor-gehoben werden. Dass es auch sehr viel mehr genderfizierte Mädchen- und Jungenklamotten schon im Kindesalter gibt und bei den Jugend-lichen erst Recht. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Dr. Marc Calmbach: Wie eingangs erwähnt, bin ich kein Experte in Bezug auf jugendli-chen Cannabiskonsum. Deswegen verzei-hen Sie, wenn ich die Motive eher defizitär beschrieben habe. Es sind jedenfalls Aspek-te, die mir in der Fachliteratur in der Vorbe-reitung begegnet sind. Mit Blick auf die Ge-schlechterrollen ist es empirischer Fakt, dass es einen Wunsch gibt nach Gleichstellung,

Kinozentrum oder die Großraumdiskothek, sondern eher das alternative Jugendzentrum, der Flohmarkt, der Eine-Welt-Laden und ande-re „alternativen“ Orte. Wie spricht man Ju-gendliche nun an? Alle kennen sicher die Pla-kate der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Thema AIDS-Prävention. Auf einem Plakat heißt es zum Beispiel, „rocken-rol-len völlig o.k., aber kein Aids riskieren“. Von der Sprache her klingt das erst mal subkulturell, sehr studentisch. Zu sehen ist eine Matratze, die am Boden liegt, daneben Flohmarktkopf-hörer, Vintage-Turnschuhe, eine Gitarre steht in der Ecke. Das Bild symbolisiert ein studenti-sches Setting, suggeriert Flexibilität, Mobilität: Ich kann morgen meine Wohnung wieder an-ders einrichten, kann schnell umziehen.

Schauen wir zu einer anderen Gruppe mit einer hohen Affinität: die „Materialistischen Hedonisten“. Also eher bildungsfernere Ju-gendliche, deren Treffpunkte eher in Erleb-nis-Shopping-Centern zu finden sind und bei denen eher weniger kognitiver Transfer not-wendig ist. „Rangehen, statt AIDS riskieren“, lautet der Slogan zum Quicky auf der Toilette. Auch dieses Plakat erhebt keinen morali-schen Zeigefinger, was wichtig ist, sondern versucht, eine lebensweltlich relevante Situa-tion aufzugreifen, von der Jugendliche sagen können, „ja, das könnte mir passieren, ich kenne die Situation“ und deshalb eher hin-schauen.

Wenn man solche Plakate nun vor den Ziel-gruppen testet, was wir im Sinus-Institut auch

Gespanntes Zuhören …

18 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

nach sehr modernen Rollenbildern, aber de facto – vor allem dann, wenn es Richtung Familie und Vereinbarkeit geht – wieder eine Re-Traditionalisierung der Geschlecht-errollen auftritt. Aber die Vorstellung an sich, wie soll ich als Junge sein und wie soll ich als Mädchen sein, ist bei Mädchen mo-derner als bei den Jungen. Bei ihnen werden die klassischen Rollen eher noch reprodu-ziert und tradiert.

Hermann Schlömer, Institut für interdiszip-linäre Sucht- und Drogenforschung in Hamburg: Ich hatte ein bisschen Unbehagen bei Ihrer Verwendung des Begriffs niedrige oder hohe Resilienz. Eigentlich kenne ich das als Be-griff für die Fähigkeit von Menschen, mit schwierigen Belastungen umzugehen. Man sollte vielleicht eher sagen, bestimmte Jugend-liche, soziale Milieus haben vielleicht eine hö-here Affinität zum Konsum. Ich glaube nicht, dass das unbedingt immer etwas mit Resilienz zu tun hat. Das schließt auch ein bisschen an die Bemerkung vom Kollegen Bernd Werse an, dass die Motive nicht immer so defizitär sind.

Dr. Marc Calmbach: Ich meinte damit auch die psychische Widerstandsfähigkeit. Ich denke, man kann sich jetzt über die Termino-logie streiten. Ich fand die Aspekte relativ klar.

Christiane Schubring, Stadtverordnete: Sind denn die Geschlechter gleich verteilt, innerhalb der verschiedenen Gruppen von Jugendlichen, die Sie beschrieben haben?

Hermann Schlömer bei der Diskussion

Und zwischen den Vorträgen wird eifrig getwittert: Dezernentin Rosemarie Heilig (unten) und vom Team des Drogenreferats Dr. Cornelia Morgenstern und Philipp Kohl

Dr. Marc Calmbach: Es gibt leichte Verschie-bungen. Bei den „Sozialökologischen“ gibt es etwas mehr Mädchen, da haben wir einen Mädchenanteil von 60 Prozent. Bei den „Ma-terialistischen Hedonisten“, auch bedingt durch den formalen Bildungsgrad, haben wir etwas mehr Jungen als Mädchen. Bei den an-deren Gruppen sind die Geschlechter relativ gleich verteilt. Man muss aber dazu sagen, das ist ein Modell. Das ist nicht die „reale Landschaft“, sondern der Versuch, eine Land-karte der Landschaft zu zeichnen. Der Mo-dellcharakter ist hier wichtig. das ist ein Mo-dell. Das ist nicht die „reale Landschaft“, sondern der Versuch, eine Landkarte der Landschaft zu zeichnen. Der Modellcharakter ist hier wichtig.

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 19

M it den beiden Bildern unten kann man im Moment jede Woche eine Veranstal-

tung zu Cannabis besuchen. Gleichzeitig ver-anschaulichen sie wunderbar, dass diese De-batte, die wir führen, nicht neu ist. Die etwas Älteren unter Ihnen werden das Titelbild der Zeitschrift „Der Spiegel“ vielleicht kennen. Es ist von 2004, also schon gut zehn Jahre alt. Damals geisterte bereits eine große Diskussi-on über die „Seuche Cannabis“ und über hohe Prävalenzraten durchs Land. Die Ver-breitung des Konsums war relativ hoch, und das ganz ohne die Debatte um Entkriminali-sierung und Legalisierung, die wir im Mo-ment führen. Vor dem Hintergrund kann man sich die Frage stellen, ob Aussagen, diese De-batte führe zu einem höheren Konsum, Sinn machen oder nicht.

Das linke Foto stammt aus den USA. Auf dem einen Bändchen an der Cannabispflanze steht „Retail“ und auf dem anderen „Medical“.

Alle nehmen das? Jugendlicher Cannabiskonsum, Motive und

Rahmenbedingungen – Erkentnisse der Sozialwissenschaften

und Pysochologie

Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), Leiter des nationalen Knotenpunktes der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA)

Das sind Markierungen an Pflanzen, die pro-fessionell gezüchtet werden. Die einen ge-hen in den Verkauf für den Freizeitkonsum, die anderen sind für den medizinischen Ge-brauch bestimmt, also für die Behandlung von zum Beispiel Schmerzpatienten. Die Auf-nahme stammt aus einem amerikanischen Bundesstaat – Washington, Oregon oder Co-lorado – um zu veranschaulichen, dass sich die Diskussionen in anderen Ländern mittler-weile auf einem ganz anderen Niveau bewe-gen: Es geht um pragmatische Lösungen und einen pragmatischen Umgang.

ZU RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN VERSCHIEDENER SUBSTANZEN Unter anderem zur Risikoeinschätzung von Cannabis – haben britische Forscher vor Jah-ren Ergebnisse vorgelegt und auch aktuali-siert, die das folgende Schaubild zeigt (s. nächste Seite). Grüne Balken bedeuten,

dass diese Substanzen inter-nationaler Kontrolle unterlie-gen, helle Balken unterliegen keiner Kontrolle. Cannabis liegt laut Experteneinschät-zung im Mittelfeld der Ge-fährlichkeit, unterliegt aber der internationalen Kontrolle der Vereinten Nationen und, heruntergebrochen auf Deutschland, dem Betäu-bungsmittelgesetz. Demge-genüber unterstehen Sub-stanzen wie Barbiturate,

20 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

die der Liberalisierung Vorschub leistet, schreibt auf ihrer eigenen Webseite, dass der gelegentliche Konsum von Cannabis keine gravierenden negativen Auswirkungen für Jugendliche hat. Dies natürlich unter der Prä-misse – das betone ich ausdrücklich – dass das nichts mit regelmäßigem, intensivem, täglichen, hochfrequentem Konsum hat.

Intensiver Cannabiskonsum im Jugend-alter – das hat auch Herr Calmbach vorhin in seinem Vortrag gesagt – kann unter anderem die Auseinandersetzung mit Entwicklungs-

Alkohol oder auch unser „Freund“ der Tabak keiner internationalen Kontrolle, obwohl sie von den Experten – und ich denke, darüber gibt es keine Diskussionen mehr – hinsicht-lich ihrer gesundheitlichen Risiken und Aus-wirkungen auf die Gesellschaft ganz anders einzuordnen wären.

Die britischen Wissenschaftler sehen Can-nabis mit seinem Gefahrenpotenzial deutlich unterhalb des Tabaks, Alkohols, Kokains, Amphetaminen – jenen alten Vertrauten aus der Drogenszene. Diese Einschätzungen ste-hen zumindest in einem gewissen Span-nungsfeld – ich formuliere es ganz neutral – zu der Einschätzung, die vor 50 Jahren bei der Unterzeichnung der UN-Konventionen vorgenommen wurde. Es gibt hier einen ek-latanten Widerspruch zwischen Experten-meinung und dem politischen, beziehungs-weise gesetzgeberischen Umgang mit den verschiedenen Substanzen, der zumindest große Fragezeichen hervorruft.

Selbst die Bundeszentrale für gesundheit-liche Aufklärung, sicherlich bar der Vermu-tung, dass es sich um eine Institution handelt,

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 21

des Zusammenhangs von intensivem Canna-biskonsum und möglichen Folgen für kör-perliche und psychische Gesundheit zu klä-ren. Das heißt, de facto sind viele dieser Diskussionen nach wie vor von Annahmen, Vermutungen und eingängigen Erklärungs-modellen geprägt. In dieser Publikation wird noch einmal deutlich gemacht, dass wir uns in vielen Debatten immer noch auf ziemlich dünnem Eis bewegen.

Relativ gut durch Studien mit eindeutiger Evidenz ist dagegen belegt, dass familiäre Einflüsse eine Rolle spielen. Insbesondere wenn es sich um Kinder und Jugendliche aus substanzbelasteten Familien handelt. Das heißt aus Familien, in denen es bereits Subs-tanzmissbrauch oder Abhängigkeit gibt. Auch der Einfluss der Peer-Groups spielt eine Rolle, was ja nicht neu ist. Das war auch in den siebziger Jahren nicht anders: Jugendli-che tun, was ihre Freunde machen. Ein ganz klarer Risikofaktor ist das Rauchen. Je früher jemand damit anfängt, desto größer ist das Risiko unter anderem später auch einmal Cannabis zu konsumieren. Tabak ist also si-cherlich die Substanz, bei der wir ansetzen müssen. Dazu eine provozierende Hypothe-se: Wir sehen, dass das Experimentieren mit Cannabis und die aktive Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe durchaus mit positiver sozialer Anpassung korreliert. Das heißt, wenn ich Cannabis probiere und feststelle, das ist nichts für mich, das hilft mir nicht, dann ist das unter Umständen hilfreich. Was nicht bedeutet, dass die Funktionalität, mit Cannabis Probleme lösen zu wollen, nicht als hochproblematisch anzusehen ist.

Die Differenzierung ist wichtig: Intensiver Gebrauch ist etwas völlig anderes als der ex-perimentelle Gebrauch. Der intensive Ge-brauch, das kann man als belegt betrachten, führt zwar nicht zwangsläufig, aber tatsäch-lich mit hoher Wahrscheinlichkeit später zu anderen Problemen, die meistens wiederum mit einer ganzen Reihe weiterer Probleme einhergehen, die nicht ursächlich auf den Konsum von Cannabis zurückgehen. Wieder stellt sich das Henne-Ei-Problem: Wann macht wer was und warum? Und noch ein-mal: Wir reden nicht vom experimentellen,

aufgaben behindern oder sogar verhindern. Kurz gesagt: Es wird möglicherweise schwie-riger, sich zugedröhnt aktiv mit Problemen und Schwierigkeiten auseinanderzusetzen.

Wissenschaftler werfen ja gerne mit Fach-begriffen um sich: Wir reden von problemati-schem Substanzkonsum und von Problemen, die aufgrund des Substanzkonsums entste-hen. Und wir reden von cannabisbezogenen Problemen. De facto gibt es aber überhaupt keinen Konsens darüber, was spezifische can-nabisbezogene Probleme im Interaktionsver-halten sind oder negative Konsequenzen, die spezifisch für den Cannabiskonsum jenseits der gesundheitlichen Konsequenzen bei in-tensivem Konsum sein mögen. Ich spreche jetzt nicht vom körpereigenen Cannabinoid-system, die Schädigung desselben und die nachhaltigen Folgen davon. Das sind die bio-logischen Aspekte. Aber bezogen auf Inter-aktion ist das nicht eindeutig geklärt. Was war zuerst da: die Henne oder das Ei – ist der intensive Cannabiskonsum Folge oder Ursa-che einer Problemlast? Diese Frage ist keines-wegs so eindeutig geklärt.

Im Deutschen Ärzteblatt ist im April 2015 ein Artikel zu den Risiken bei nichtmedizini-schem Gebrauch von Cannabis erschienen, der ganz gut zusammenfasst, was man bisher weiß und vor allem: was man nicht weiß. Da-rin wird auch deutlich gemacht, dass wir wei-tere Forschung brauchen, um die Kausalität

Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel

22 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

natürlich darum, Identität und Beziehungen mit Gleichgesinnten herzustellen.

Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, dass Can-nabiskonsum heute nicht mehr zwangsläufig einem Drogenmilieu zuzuordnen ist. Sie müssen nicht in einem Drogenmilieu verkeh-ren, wenn sie Cannabis konsumieren. Und tat-sächlich haben Jugendliche heutzutage durchaus eine differenzierte Wahrnehmung des Gefährdungspotenzials von Cannabis im Vergleich zu Alkohol und Tabak, und sie legen auch ganz klar die Finger auf die Wunde, wenn sie sagen: „Liebe Leute, ihr erzählt uns immer Alkohol und Tabak sind die großen bösen Evils der Gesellschaft. Was ist mit Cannabis? Es ist doch eigentlich – in Anfüh-rungsstrichen – eine durchaus reflektierte Entscheidung von uns, lieber die Substanz zu wählen, die weniger mit Gesundheitsrisiken verbunden ist.“

Die Differenzierung in der Diskussion ist extrem schwierig: Wie will man auch einfach kommunizieren, dass Cannabiskonsum in in-tensivem Maße in einer bestimmten Le-bensphase durchaus gefährlich ist, der gele-gentliche Konsum für den Erwachsenen aber relativ harmlos ist?

Natürlich habe ich auch Zahlen, Daten, Fakten mitgebracht. Aber ich versuche die-sen statistischen Teil zu begrenzen. Das Schaubild zeigt vier Jahre alte Daten der Dro-

gelegentlichen Konsum. Diese negativen Fol-gen, die so klar identifiziert sind, gehen ein-her mit intensivem, hochfrequentem Kon-sum, insbesondere in der Jugend.

De facto reichen diese Variablen zwischen dem Konsum im Freundeskreis aber nur in Kombination mit der Verfügbarkeit. Das heißt, wie schnell komme ich an die Substanzen ran. Es ist immer leicht, im Nachhinein zu sagen, wer konsumiert, hatte eine schwierige Kind-heit, völlig logisch. Die hohe Kunst aber wür-de darin bestehen, vorher zu wissen, wer an-fällig ist, zu konsumieren. Um dies zu beantworten, scheinen die drei Variablen „Verfügbarkeit“, „konsumierende Freunde“ und „der eigene Konsum“ tatsächlich in einer Reihung zu stehen, bei der die wahrgenom-mene Verfügbarkeit, wie „normal“ ist es, zu kiffen, ein erheblicher Faktor ist. Möglicher-weise – das sehen wir an den Zahlen – ist die Verbreitung des intensiven Konsums unter Jugendlichen gar nicht so groß wie es wahr-genommen wird. Wir reden immer davon, eine ganze Generation kifft. Das entspricht aber offensichtlich nicht der Realität.

FREQUENZ UND STÄRKEZum Thema Frequenz und Stärke gibt es eine relativ neue Umfrage unter 132.000 Konsu-menten, nicht selektiert. Danach wird das hochpotente Cannabis tatsächlich auch asso-ziiert mit dem besten Kick. Es hat also ein hohes positives Image. Auf die Rolle des Images einer Substanz, also ihrer Wir-kung, die Konsumenten erwar-ten, ist schon vor 10, 15 Jahren hingewiesen worden. Die gan-zen Debatten werden unter an-derem auch dadurch geprägt, welches Image, welche Erwar-tungen an Folgen und Risiken der Konsum einer Substanz in der Population hat.

FUNKTION DES KONSUMSDie Funktion des Cannabiskon-sums hat mein Vorredner, Herr Calmbach, in extenso schon dar-gelegt. In der Jugend geht es

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 23

tersgruppen von 18 bis 24 Jahren, die relativ identisch sind mit denen der BZgA. Deutlich zu sehen die Beulen und Kurven, Anstiege und Abfälle – ein Schelm, der mir erklären will, dass diese Verbreitungen systematisch einhergehen mit einer rationalen Diskussion über die Substanz und ihren Umgang damit. Es muss also offensichtlich andere Effekte ge-ben, die diese Prävalenz beeinflussen, denn sonst wären diese Höhepunkte in den 90er Jahren nicht erklärbar – ebenso wenig der Rückgang, den wir in den letzten Jahren be-obachtet haben.

Wenn wir den Blick über Hessen und Deutschland hinaus zu anderen Länder wen-den, sehen wir durchaus unterschiedliche Tendenzen. Auch in anderen Ländern Euro-pas gibt es Anstiege. Während Großbritanni-en, Spanien, auch Deutschland zum Beispiel bis vor ein, zwei Jahren, relativ stagnierende bis sinkende Verbreitungszahlen unter Er-wachsenen und jungen Erwachsenen ver-zeichnet haben, sehen wir etwa in Dänemark, Finnland, insbesondere in den nordischen Ländern, ebenso in Frankreich oder Bulga-rien durchaus erhebliche Anstiege. Diese Grafik (s. andere Seite oben) sollten Sie im Kopf behalten, denn später gehe ich noch auf den Zusammenhang mit dem jeweiligen recht lichen Umgang in den Ländern ein. Das ist ja die spannende Frage: Wie können wir

genaffinitätsstudie, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erho-ben hat. Zum Vergleich habe ich aber auch die neuen Zahlen dabei. Daneben auch ESA, das ist die Befragung unter den Erwachse-nen. Wir reden heute zwar über Jugendliche, dennoch möchte ich auch auf das Konsum-verhalten von Erwachsenen eingehen.

Innerhalb des vergangenen Jahres hat un-ter den 18- bis 64-Jährigen etwa eine Person von 20 Erwachsenen Cannabis konsumiert. Diese Quote ist relativ stabil über die Jahre hinweg. Jeder vierte Erwachsene hat im Schnitt irgendwann einmal Cannabis pro-biert und wieder die Finger davon gelassen. Das ist Durchgangsniveau – ein sogenannter experimenteller Konsum.

Die BZgA kommt vor vier Jahren noch zu einer ähnlichen Verbreitung unter 12- bis 17-Jährigen: jeder 20ste hat im vergangenen Jahr einmal Cannabis konsumiert. Zwischen 18 und 25 Jahren waren es knapp 14 Prozent. Dies ist die Phase, in der die Verbreitung in der Regel am höchsten ist – nicht mit elf oder zwölf. Aber denken Sie daran, die Erwachse-nen später berichten mehrheitlich, „ja, habe ich mal konsumiert, dann aber auch wieder nicht mehr.“ Das bestätigt das Schaubild bei den Erwachsenen. Das sind die Trends über 30 Jahre hinweg bis 2012. Die blauen Linien auf dem Schaubild zeigen die jüngsten Al-

24 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

mit Zahlen und Statistiken, um die Aufre-gung in dieser Form teilen zu können. Viel-leicht bin ich auch zu wenig Politiker und zu sehr Rationalist. Was Sie auf dem Schaubild sehen, sind die Trends in Originalauszügen aus der BZgA-Publikation. Die Linie unten zeigt die Prävalenzen bei Jugendlichen zwi-schen 12 und 17 Jahren, die blaue Linie bei 18- bis 25-Jährigen. Und ja, wir sehen An-stiege in der Lebenszeitprävalenz. Und ja, diese Anstiege sind im Trend gemessen an den vergangen Jahren eher als relativ stabil zu sehen – auch wenn es statistische Unter-schiede geben mag. Und es ist keineswegs klar, ob die Kurven in den nächsten Jahren nach unten oder nach oben gehen. Ein je-der, der basierend auf einer Erhebung von 2014 argumentiert, diese Anstiege seien Folge einer Diskussion im Jahr 2015, wird es schwer haben.

Noch einmal zusammenfassend das Jahr 2014: Jeder zehnte Jugendliche hat Cannabis mal probiert, mindestens ein Mal im Leben. Regelmäßig konsumiert – und das ist ja die entscheidende Information – haben gerade einmal zwei Prozent der Jugendlichen. Bei

den Konsum beeinflussen? Dazu sehen wir vollkommen unterschiedliche Entwicklun-gen in Europa.

Zunächst will ich die Prävalenzen bei jun-gen Menschen vorstellen. Vor kurzem titel-ten die Medien „dramatischer Anstieg der Prävalenzen unter jungen Menschen“. Die neue BZgA-Studie wurde vorgestellt. Viel-leicht beschäftige ich mich schon zu lange

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 25

aus“. Sie können jeden Statistiker fragen und jeden Menschen, der mit Zahlen operiert, dass immer jemand kommt, der sagt, „bei uns ist es aber anders“. Was ist die Wahrheit? Si-cher, die Wahrheit ist, was Ihnen vor Ort be-gegnet. Die Hamburger zum Beispiel hatten auch über Jahre hinweg eine eher sinkende Drogenaffinität unter ihren Jugendlichen zwischen 14 und 17 festgestellt. Schon seit 2009 gibt es eine Kehrtwende, wo man alarmiert hätte fragen müssen, was ist denn da in Hamburg los? Zu den gleichen Ergeb-nissen kommt auch Bernd Werse mit seinem Team der MoSyD-Studie in Frankfurt. Auch hier hören wir, dass es nach Jahren der Stabi-lität seit einigen Jahren wieder Anstiege gibt. Warum, weiß niemand so genau – und da wird trefflich spekuliert.

Nun möchte ich mit einigen Mythen aufräu-men zum Thema: Wie verbreitet ist eigentlich das Experimentieren mit Cannabis in verschie-denen Gruppen? Betrachtet man Statistiken sind die Verbreitungsquoten unter den Stu-denten und unter den Arbeitslosen die mit Abstand am höchsten. 40 Prozent der Studie-renden und jeder zweite Arbeitslose konsu-

diesen Zahlen gerät man schnell ins statisti-sche Kaffeesatzlesen. Wenn Sie ein Sample von 10.000 Jugendlichen haben und „ko-chen“ das immer weiter ein, sind Sie bei zwei Prozent am Ende bei drei, vier „Hanseln“, die gesagt haben, ich konsumiere Cannabis. Sagt dies nur einer oder eine mehr, schnellen die Prozente gleich nach oben. Dennoch besteht ein eklatanter Unterschied zwischen denen, die Cannabis „mal probiert“ haben und jenen, die regelmäßig konsumieren. Wobei „regel-mäßig konsumieren“ in der BZgA-Studie schon bei „mehr als zehn Mal im vergange-nen Jahr“ definiert ist – nicht am Tag. Den-noch kommt die Studie nur auf 2,2 Prozent.

Bei der Betrachtung der Geschlechter zeigt sich, dass Frauen immer weniger konsumie-ren als Jungs. Sowohl bei der 12-Monats-Prä-valenz als auch beim regelmäßigen Konsum fällt bei den Männern alles etwas höher aus. Gleiches gilt für die Anstiege, während die Kurve bei den Frauen relativ stabil verläuft, wenn auch auf hohem Niveau, was die Erfah-rungen mit Cannabis angeht. Neulich sagte ein Kollege aus einer Klinik in Köln zu mir, „bei uns in der Klinik sieht es aber ganz anders

26 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

auf das isolierte Problem Cannabiskonsum meines Erachtens unseriös.

Nun zum Alter beim Erstkonsum: Würde man den Mahnern Glauben schenken, die seit 20 Jahren ein sinkendes Alter des Erstkonsums kommunizieren, müssten wir heute irgendwie etwa beim Embryonalstatus angekommen sein. Tatsächlich sank das Einstiegsalter zwi-schen 1993 und 2004, aber seitdem steigt das Alter des Erstkonsums auch wieder. Sicher gibt es auch Zwölfjährige, die konsumieren, aber im Schnitt sieht die Kurve anders aus. Das Durchschnittsalter sinkt über Jahre hinweg, es gibt aber immer wieder einen Anstieg. Auch das beobachten wir seit mehreren Jahren.

Was allerdings zu stimmen scheint, ist, dass sich der experimentelle Konsum, also das Aus-probieren der Substanz, in Deutschland über die Jahre hinweg ausweitet – auch im Ver-gleich zu anderen Ländern. Dennoch erinnere ich, zu differenzieren: Wir müssen uns fragen, wer bleibt hängen und wer nicht? Die alleini-ge Ausweitung des experimentellen Konsums per se sagt nicht unbedingt etwas über den regelmäßigen Konsum aus. Sie haben es vor-hin auf der Grafik gesehen: die roten Linien des regelmäßigen Konsums sind ziemlich gleichförmig verlaufen und nicht explodiert.

WAS IST NUN PROBLEMATISCHER KONSUM? In Fragebögen, die Forscher entwickelt ha-ben, um das zu ermitteln, wird unter ande-rem abgefragt: „Haben Sie schon mal am Vor-mittag geraucht?“ „Rauchen Sie alleine?“ Die

mieren Cannabis – das klingt dramatisch. Ich weiß nur nicht, wie man diese beiden Grup-pen in die sogenannten „Randständigen“ ein-sortiert und in die „Hedonisten“. Wenn man Studierende und Arbeitslose sozial an ver-schieden Spektren ansiedelt, ist in beiden Gruppen zumindest der experimentelle Kon-sum gleichermaßen verbreitet. Offensichtlich schützt die Zugehörigkeit zu einer türkischen oder asiatischen Staatsbürgerschaft vor Cann-abiskonsum, zu dem Schluss kommt zumin-dest die BZgA , die festgestellt hat, dass unter den türkischen Jugendlichen der Konsum deutlich geringer verbreitet ist als unter ihren gleichaltrigen, insbesondere deutschen Mit-schülerinnen und Mitschülern. Jetzt werden alle gleich sagen, „oh, ich weiß aber, dass das ganz anders aussieht“. Dies sind alles Zahlen, die über die Menge hinweg gehen. Das heißt nicht, dass nicht jeder jemanden kennt, bei dem das ganz anders ist. Wir müssen uns im-mer wieder die Frage stellen, inwieweit sind unsere persönlichen Erfahrungen ein kleiner Ausschnitt aus der Gesamtrealität und was nutzen wir, um unsere Entscheidungen zu treffen? Den kleinen Ausschnitt oder das Ge-samtbild, soweit wir das überhaupt kennen?

Relativ hohe Zahlen im Blick auf den regel-mäßigen Konsum findet man auch bei den Arbeitslosen in den berufsbildenden Schu-len. Dazu stelle zumindest ich die Frage: Sind das nicht jene, die ohnehin schon Schwierig-keiten haben? Warum schauen wir immer mit der Perspektive, „das sind die intensiven Can-nabiskonsumenten“ auf diese Menschen? Es sind unter Um-ständen jene, die bereits aus an-deren Gründen gesellschaftlich abgehängt sind oder am Rand stehen oder andere Schwierig-keiten haben. Würden wir jetzt in einer Lehrerkonferenz sitzen, würden wir wahrscheinlich darü-ber diskutieren, dass das die Schulversager und die Auffälli-gen in der Schule sind. Oder Sozi-alarbeiter würden sagen, das sind diejenigen, die vielleicht krimi-nell sind in bestimmten Milieus. Letzten Endes ist die Reduktion

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 27

Erhebungen werden in einigen Bundeslän-dern durchgeführt, nicht deutschlandweit. Aus den Antworten werden dann Schlüsse gezogen, wo es ein Problem gibt. Laut den Erhebungen ist das nur bei einer Minderheit der Fall. Allerdings: In den Hauptschulen gab es tatsächlich zwischen 2007 und 2011 eine deutliche Veränderung bei denen, die konsu-miert haben. Das ist etwas, wo man in der Tat hinschauen muss.

Zur Beratung und Behandlung: Bei den Cannabiskonsumenten ist die Nachfrage nach Beratung, Ambulanz und Unterstützung in den vergangenen Jahren kontinuierlich ge-stiegen – unabhängig von den Fluktuationen der 12-Monats-Prävalenz. Die Grafik (s. Grafik links) zeigt den Anteil der Konsumenten von verschiedenen Substanzen, die in den vergan-genen acht Jahren in ambulanter Beratung waren. Der ockerfarbene Kuchen zum Beispiel zeigt den Anteil der Stimulanzienkonsumen-ten, der grüne den Anteil der Cannabiskonsu-menten. Inzwischen machen sie in den ambu-lanten Beratungs- und Behandlungsstellen mit 1300 bis 1400 Nachfragen eine ähnlich große Zahl an Zugängen aus wie Opiatkonsu-menten. Allerdings ist dies nur schwer ver-gleichbar, weil von den Opiatkonsumenten viele über Jahre hinweg durchgehend in Be-handlung sind. Insofern sind diese jährlichen Zugangszahlen mit Vorsicht zu genießen. Man beachte auch die Verteilung der übrigen Sub-stanzen – über die Hälfte der Ratsuchenden kommen wegen Alkoholproblemen.

Es gibt auch stationäre Behandlungen we-gen Cannabisproblemen (s. Grafik unten). Das ist diese kleine Gruppe der intensiven Konsu-menten mit manifesten psychischen und aus-geprägten gesundheitlichen Problemen. Auch diese Gruppe ist ebenso groß wie Opiat-konsumenten in stationärer Behandlung. Al-lerdings wissen wir nichts über jene, die im Jahr eine stationäre Behandlung in Fachklini-ken beenden, von den Psychiatrien und den Krankenhäusern wissen wir nämlich nichts. Es gibt eine ganze Reihe von Behandlungspro-grammen, die mittlerweile vorliegen, von On-line-Portalen und strukturierten Therapien.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein paar Schlaglichter präsentieren, um ein biss-chen Stimmung in die Bude zu bringen: In Europa verzeichnen wir jedes Jahr 1,25 Milli-onen drogenbezogene Straftaten – in Deutschland heißen sie Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (s. oben). Zwei Drit-tel davon beschäftigen sich nur mit dem Be-sitz und Konsum von Cannabis – nicht mit Handel. Man kann sich die Frage stellen, ob es sinnvoll eingesetzte Ressourcen sind, zwei Drittel aller einschlägigen Verstöße wegen Cannabis weiterhin in dieser Art und Weise zu behandeln? Die inländische Produktion beschränkt sich längst nicht mehr nur auf fünf Cannabispflanzen auf dem Balkon. Wir wissen von professionellen Plantagen, das ist nichts Neues. Mit Hilfe der Stadtwerke und ihrer Strom verbrauchs zähler oder mit Wär-mebildkameras kann man heute an der Gren-

ze ganze Gewächshäuser identi-fizieren. Es gibt hochpotente Pflanzen, und der durchschnittli-che Wirkungsgehalt scheint tat-sächlich höher zu sein als in den sechziger Jahren, aber es gibt auch noch jede Menge Müll. Und es gibt auch noch Leute, die glau-ben, wenn ich Stängel rauche, ist das gut und offensichtlich gibt’s auch immer noch Leute, die das kaufen.

Diese Diskussionen haben wir jetzt zum Teil im Husaren-Ritt be-wältigt. Zur Risikoeinschätzung habe ich einiges gesagt und es

gibt auch neue Erkenntnisse in den Lobby-gruppen. Soll heißen, auch von denjenigen, die sich für eine andere Regulierung oder eine Liberalisierung oder eine Endpönalisie-rung oder was auch immer im Umgang mit Cannabis einsetzen, habe ich noch nieman-dem gehört, dass man Cannabis systema-tisch für alle Bevölkerungsgruppen freigeben soll. Ich denke, das ist auch nicht die Diskussi-on. Die dreht sich vielmehr darum, wie wir vernünftig mit dieser Substanz umgehen können und diejenigen schützen, die den Schutz brauchen?

Zum Argument, die Cannabiswelle über-flute Deutschland, möchte ich nur noch mal darauf hinweisen, dass bereits jetzt ein Vier-tel der Erwachsenen irgendwie Erfahrungen mit Cannabis hat. Und ich stelle mir natürlich

manchmal schon die Frage, wer von den 40 oder 50 Prozent der Jugendlichen in be-stimmten Subkulturen, Cannabis nicht aus-probiert, wenn er es probieren will? Wen hin-dern wir heute daran, es zu probieren, der es denn möchte? Funktioniert das Ziel, das wir uns gesteckt haben denn im Moment?

Außerdem möchte ich tunlichst dazu ra-ten, die Diskussion über den Freizeitkonsum strikt von der Diskussion über die Verwen-dung von Cannabis als Medizin zu trennen. Das sind zwei Baustellen. Die einzige Verbin-dung zwischen den Themen, die wir ken-nen, ist, dass in den Bundesstaaten der USA, wo Cannabis für medizinische Zwecke ver-fügbar war, auch die Prävalenz, die Verbrei-tung in der Allgemeinbevölkerung ange-stiegen ist. Das spricht aber nur dafür, eine saubere Lösung zu finden und die Hintertür-politik, die zum Beispiel auch in Holland praktiziert wird – wo Cannabis im Übrigen ebenfalls illegal ist – zu verhindern.

Die größte Gruppe der problematischen Substanzen, mit der wir im Moment neu zu tun haben, sind die synthetischen Cannabi-noide, das muss man einfach erwähnen. Bernd Werse als ausgewiesener Experte für NPS in Deutschland kann dazu sicherlich noch mehr sagen. Die Potenz bei synthetisch hergestellten Cannabinoiden, die mit Pflan-zen nichts mehr zu tun haben sollen, Räu-chermischungen, auch auf Räuchermischun-gen aufgetragen werden, ist erheblich höher als von Cannabis, mit vollkommen – bis heu-te zumindest – unabsehbaren Langzeitfol-gen und mit teilweise dramatischen akuten Folgen. Dafür haben wir noch keine guten Lösungen.

Wir reden immer von verschiedenen Be-grifflichkeiten: Wir reden von Legalisierung, wir reden von Dekriminalisierung, Entkrimi-nalisierung. Wir müssen uns auch mal überle-gen, wovon wir eigentlich reden? De facto reden wir nicht von einer Legalisierung, das wäre das große Rad. Dafür müsste man die Konventionen der UN verändern und daran hat niemand ein Interesse außer vielleicht einzelne Staaten. Worüber wir pragmatisch in einem ersten Schritt sinnvoll reden können ist über eine Endpönalisierung, das heißt,

28 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

eine Strafe, die angedroht ist, nicht mehr zu vollziehen; oder vielleicht sogar eine Dekri-minalisierung, was unter anderem dadurch möglich wäre, dass man Verstöße unter das Ordnungsrecht stellt. Das sind aber Diskussi-onsstränge, die nichts mit einer Legalisierung zu tun haben.

Die UN-Konvention ist jetzt 50 Jahre alt. Als Wissenschaftler kann ich nur sagen, nach 50 Jahren ist es durchaus an der Zeit, die Er-kenntnisse, die man in der Zwischenzeit ge-wonnen hat, anzuwenden. Vor 50 Jahren, denken Sie mal daran, da gab es keine Han-dys, keine Computer, da gab’s kein Twitter, keine Sketch-Notes. Es gab es nur Diskussio-nen und Telefone. Und wir bewegen uns beim Thema Cannabis noch immer auf einem Diskussionsstand, was die Regularien angeht, auf Grundlage dieses 50 Jahre alten Doku-mentes. Evaluation, eine kritische Bestands-aufnahme, gehört nach meiner Überzeu-gung zur guten Wissenschaft.

Zum Abschluss möchte ich nochmals auf die Grafik von vorhin eingehen. Die senkrech-te Linie markiert in verschiedenen Ländern, wann eine Veränderung im Umgang mit Can-nabis eingetreten ist. Gestrichelte Linien zei-gen, wo Strafen verschärft wurden. Der Effekt ist gleich null. Es zeigt sich kein systematischer Zusammenhang zwischen Schwere der Strafe, die für den Cannabiskonsum angedroht wird, und einer Veränderung der Verbreitung des Konsums in der Bevölkerung. Ich finde, das gibt uns zu denken.

FRAGE UND DISKUSSION Publikumsfrage: Sie haben über die Entwick-lung von Cannabiskonsum unter Jugendlichen in den verschiedenen Ländern gesprochen und sind dabei speziell auf Länder eingegangen, wo der Cannabiskonsum nicht erlaubt ist. Gibt es einen Unterschied zu Ländern, in denen Cannabiskonsumenten bei den Jugendlichen nicht verpönt oder sogar toleriert wird?

Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel: Der reine Konsum von Cannabis ist in Deutschland auch nicht verboten. Wenn man Sie an einen Stuhl fes-selt und stopft Ihnen einen Joint in den

Mund, Sie atmen und ziehen das rein, ma-chen Sie sich nicht strafbar. Strafbar ist der Besitz. Wenn Sie beim Konsum erwischt wer-den und die Polizei ein Verfahren einleitet, dann wegen der Annahme, dass Sie das Can-nabis vorher besessen haben. Auch in Hol-land ist tatsächlich Cannabis eine illegale Substanz. Der Unterschied ist, dass in Holland aufgrund des Opportunitätsprinzips eine Duldung vorgenommen werden kann. Es liegt im Ermessen der Polizei, ob sie einschrei-tet oder nicht. Doch um Ihre Frage zu beant-worten: Der experimentelle Konsum unter Jugendlichen in Holland liegt höher als in Deutschland, wenn auch nicht in einem Maße, von dem man sagen würde, das ist jetzt zweimal so hoch. Betrachtet man die ge-samte junge Bevölkerung etwa zwischen 18 und 34 Jahren, dann liegen die Niederlande im Blick auf die Konsumprävalenz nicht weit weg von Deutschland, aber etwas höher. Nach Tschechien hat übrigens Frankreich die höchsten Prävalenzen unter Jugendlichen. Und Frankreich ist gemeinhin nicht bekannt als ein Land für liberalen Umgang mit illega-len Betäubungsmitteln.

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Jugendlicher Cannabiskonsum – zu Risiken und Neben-

wirkungen fragen Sie …? – Analysen und Einschätzungen

aus der Medizin

Dr. Klaus Behrendt, Suchtmedizinischer Chefarzt i.R., ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) / Teil1

Das Thema „Risiken und Nebenwirkungen – Erklärungen und Einschätzungen aus

der Medizin“, werde ich mir mit meinem Freund und Kollegen Hans-Günter Meyer-Thompson teilen. Ich werde zunächst einen Blick in die Geschichte werfen und be-fasse mich dann mit der akuten Intoxikation, mit körperlichen Nebenwirkungen und Fol-gen, psychischen und mentalen Nebenwir-kungen und Folgestörungen und das aufge-teilt in kognitive und affektive Störungen und Psychosen. Hans-Günter Meyer-Thomp-son wird dann den Schwerpunkt auf Harm Reduction legen und was man tun kann.

BLICK IN DIE GESCHICHTEZunächst also ein Blick in die Geschichte. Dies erscheint mir sinnvoll, um diesen Ein-druck zu relativieren, wir müssten jetzt ein ganz neues Problem bewältigen. In seinem Buch „Rausch und Realität“ zeigt uns der Au-tor Emboden, dass Cannabis schon vor 6000 Jahren für die Chinesen eine göttliche Pflan-ze war, die nicht nur eine wesentliche öko-

nomische und medikamentöse Bedeutung hatte, sondern eben auch ein Mittel war, das psychotrop wirkt. Die Chinesen wussten schon fast alles von der Pflanze, was wir heute auch wissen.

Ein bisschen jünger ist Stringaris, ein grie-chischer Psychiater, der in den 1930er Jahren in Heidelberg forschte und ein Buch über die „Haschischsucht“ herausgebracht hat. Weil in der ersten Cannabis-Haschischwelle, die ich damals als 18- bis 20-Jähriger erlebt habe, also 1968-1973, das Thema nicht aktuell wis-senschaftlich bearbeitet war, hat Stringaris das Buch etwas „aufgefrischt“ und wieder aufgelegt. Damals lag die Lebenszeitpräva-lenz sicher auch schon bei 30 bis 40 Prozent. Auch Herr Stringaris hat darin einen Blick in die Geschichte geworfen und verweist auf Herodot, der schon von einem Rauschmittel bei den Skythen geschrieben hat, die Dämp-fe eingeatmet und dann getanzt haben. Er verweist auch auf Galen, einen berühmten Arzt aus der Antike, noch heute sprechen wir bei der Herstellung von Arzneimitteln von Galenik. Und auch Galen erwähnte, dass man psychische oder geistige Folgen gewärtigen muss.

Ein anderer Pharmakologe, Louis Lewin, hat mehrere pharmakologische Bücher her-ausgebracht, in denen er das Thema Canna-bis erwähnt, insbesondere in den „Phantasi-ca“, die inzwischen schon fast 100 Jahre alt sind. Auch Lewin blickt in die Geschichte und zitiert aus dem 12. Jahrhundert, wo vom Konsum von vier bis acht Gramm Ha-schisch die Rede ist. Diese Menge muss man

 

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sich einmal vergegenwärtigen. In einem ge-wöhnlichen Joint, den vielleicht drei, vier Leute in der Runde kreisen lassen, steckt etwa ein halbes bis ein Gramm Cannabis. Das ist heutzutage sicher stärker, aber an die Menge von vier bis acht Gramm kommt er nicht heran. Lewin zitiert, dass der Stoff be-rauscht, größere Mengen erzeugten Deliri-um und Wahnsinn und der gewohnheitsmä-ßige Gebrauch führe zu Tobsucht oder Geistesschwäche, also Demenz. Ob das so stimmt, darauf komme ich gleich noch. Je-

denfalls ist dies schon ein klarer Hinweis auf die Dosisabhängigkeit.

Herr Lewin hat sich auch bereits zur Legali-sierungsdebatte geäußert. Er wusste, dass der Wunsch nach Bewusstseinsänderung nicht unterdrückbar ist und dass Prohibition nichts bringt. Selbst zur Zeit der Khane, die schwere Strafen auf den Verkauf von Rausch-mitteln verhängten, blieb sie ohne Erfolg. Lewin bringt es elegant ausgedrückt auf den Punkt: „Die Leidenschaft wuchert weiter, wenn sie nicht öffentlich ausgetragen wer-den kann, dann eben an geheimen Orten.“

Werden wir konkreter und wenden uns noch einmal Stringaris zu, der in seiner etwas veralteten psychiatrischen Nomenklatur schon vor 40 Jahren das Wesentliche zusam-mengefasst hat: Cannabis berauscht, das ist die unmittelbare Wirkung. Wer chronisch konsumiert, kann als Folge auch eine chroni-sche Intoxikation haben. In dem Bereich wird

 

Dr. Klaus Behrendt

 

 

 

 

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die These von dem sogenannten amotivatio-nalen Syndrom gerichtet, dass das eher ein Ausdruck chronischer Cannabisintoxikation ist. Stringaris beschreibt episodische Ver-wirrtheitszustände, also kurzzeitige Psycho-sen. Protrahierte Haschisch-Psychosen, Ha-schisch-Demenz allerdings verneint er. Das sei nicht endgültig festgestellt. Aber er be-schreibt das Zusammentreffen von Psycho-sen mit habituellem, also angewöhntem Ha-schischgebrauch. Stringaris hat also schon vor 40 beziehungsweise 70 Jahren die Dinge zusammengefasst, an denen wir heute noch forschen. Und es hat lange gedauert bis es überhaupt zu vernünftigen Forschungsan-sätzen gekommen ist.

DIMENSIONEN DES KONSUMSKommen wir nun zur Dimension des Kon-sums: Im Wesentlichen beziehe ich mich auf einen Aufsatz im Deutschen Ärzteblatt (DÄB) vom 17. April 2015, also eine sehr junge Quel-le. Bemerkenswert ist der Artikel schon des-halb, weil unter den Autoren Vorstandsmit-glieder der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG Sucht) sind, ebenso der Psychiater Rainer Thomasius, der ganz klar eine sehr restriktive Haltung zu Cannabis vertritt. Damit sind im Autorenteam alle Positionen vertreten. Des-halb kann man sagen, dass dieser Aufsatz eine Sammlung von Fakten ist, die keiner mehr bestreitet. Das heißt, immerhin herrscht auf einem bestimmten Niveau der medizini-schen wissenschaftlichen Forschung Einhel-

ligkeit – bei allen Unterschieden, die den-noch bestehen. Man kann sich gut vorstellen und auch erleben, dass etwa Frau Havemann Reinecke oder Herr Preuss ebenso meine Per-son mit Herrn Thomasius heftig streiten kön-nen, wie mit Cannabis umgegangen werden soll.

Nach den Ergebnissen der DÄB-Autoren haben 4,5 Prozent der Erwachsenen 2014 Cannabis gebraucht. Das entspricht der Zahl, die ich seit Jahrzehnten in juristischen Semi-naren nenne: drei bis fünf Millionen Men-schen konsumieren Cannabis regelmäßig – nicht täglich oder wöchentlich, aber regelmäßig. Im Aufsatz ist auch festgehalten, dass der THC-Gehalt über die Jahre deutlich angestiegen ist, dass die Substanz Cannabi-diol in den Pflanzen nicht mehr oder nur noch in geringem Anteil enthalten ist und dass die Zahl der Suchtbehandlung zuge-nommen hat.

ABHÄNGIGKEITSRISIKODas Abhängigkeitsrisiko ist bei Cannabis klein, es liegt bei neun Prozent. Diese Angabe bezieht sich sowohl auf alle, die in ihrem Le-ben einmal Cannabis konsumiert haben als auch auf die, die täglich rauchen. Sie alle flie-ßen in diese neun Prozent ein. Dieses Abhän-gigkeitsrisiko liegt bei Stimulanzien wie zum Beispiel Crystal Meth bei elf Prozent, bei Al-kohol bei 15 Prozent, bei Kokain bei 17 Pro-zent und bei Nikotin sogar bei 32 Prozent. Zwei weitere Fakten: Das Abhängigkeitsrisiko steigt, wenn man in jungen Jahren mit dem

 

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Konsum beginnt, und es steigt noch mehr, wenn man täglich konsumiert. Ich halte das bewusst so allgemein, weil dieser Satz auch für jede andere Substanz gilt. Wer täglich Zi-garetten konsumiert, hat ein höheres Risiko, davon abhängig zu werden. Gleiches gilt für Alkohol usw. Dennoch ist diese Erkenntnis wichtig und ein Ansatz für präventive Maß-nahmen.

WIRKUNG VON CANNABIDIOLIch möchte kurz auf Cannabidiol eingehen. Schon vor Jahrzehnten haben Biochemiker etwa 400 Substanzen in Cannabis identifi-ziert, etwa 60 davon mit psychoaktiver Po-tenz. Herausragend sind Tetrahydrocanna-binol (THC) und Cannabidiol. Es gibt viele belegte Gründe für die Annahme, dass das Cannabidiol aversive Wirkungen des Te-trahydrocannabinols ausgleichen kann. Dies ist ein Hinweis, wie wichtig Steuerung und Aufklärung sind und das geht natürlich bes-ser, wenn Cannabis aus der Illegalität geholt wird.

KÖRPERLICHE RISIKEN

Die körperlichen Risiken und Folgen sind schnell abgehandelt. Das Autoren-Team des Aufsatzes im Deutschen Ärzteblatt hat sich tatsächlich sehr viel Mühe gemacht, alles zusammenzutragen. Zum Ergebnis muss man sagen, dass zum Beispiel die Reizungen der Bronchien und der Atemwege auch da-mit zusammenhängen, dass Cannabis nicht rein konsumiert wird, sondern mit anderen Reizstoffen wie Tabak. Dieser Punkt hat so-mit den relativ hohen Grad 1b in der Evi-denz. Ansonsten muss man feststellen: Ver-nünftige Aussagen zu den einzelnen Folgen lassen sich nicht treffen. Wir stützen uns auf Fallberichte, es gibt Evidenzgrade zwischen 2a und 4, wobei sie eher bei 4 liegen – alles in allem also nichts, worauf man fundierte Aussagen zu körperlichen Folgen stützen könnte. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass es dafür kein Forschungsinteresse gibt. Ich kenne keinen Forschungsansatz, der da-rauf zielt, die körperlichen Folgen herauszu-filtern.

AKUTE CANNABISTOXIKATIONDeswegen komme ich jetzt zur akuten Can-nabisintoxikation, wie der Mediziner sagen würde, also dem „Haschischrausch“, der ge-kennzeichnet ist von Euphorie und Enthem-mung. Dieses Symptom ist zugleich das Ziel-Symptom: Konsumenten rauchen oder nehmen Cannabis; um euphorisiert zu sein und um ihre Hemmungen abbauen zu kön-nen. Abhängig von dem, was wir früher Set

 

 

und Setting genannt haben, also der eige-nen, insbesondere psychischen Verfassung, wenn man Cannabis konsumiert und der Umgebungsgestaltung – also wie konsu-miert wird – gibt es Menschen, die ängstlich oder agitiert auf den Konsum reagieren. Recht häufig ist verändertes Zeiterleben; al-les kommt dem Konsumenten viel länger vor. Weitere akute Folgen: Die Aufmerksamkeit ist nicht mehr gerichtet, und in geringer Ausprä-gung kommt es auch zu akustischen, opti-schen, taktilen Illusionen. Wohlgemerkt: nicht Halluzinationen.

In einem Aufsatz von vor 25 Jahren wird ein New Yorker Musiker zitiert mit einem „Bauch voller Gelächter, alles fühlt sich schö-ner an, klingt besser, sieht besser aus, schmeckt besser.“ Damit geht eine Appetits-teigerung einher, Mundtrockenheit, Tachy-cardie, also Herzrhythmus-Beschleunigung, und gelegentlich treten rote Augen auf, die aber kein signifikantes Zeichen für Canna-bis-intoxikation sind. Weitere Symptome sind beachtlicher und unerfreulicher. Zum Bei-spiel, wenn Konsumenten mit Misstrauen, paranoischen oder paranoiden Vorstellun-gen reagieren. Dies alles ist natürlich auch dosisabhängig wie schon bei Lewin vor hun-dert Jahren zu lesen war und abhängig von der Verfasstheit des Konsumenten, bevor er Cannabis genommen hat. Als weitere Symp-tome können auftreten: eine Einschränkung der Urteilsfähigkeit, Halluzinationen, Deper-sonalisation – sich nicht mehr als sich selbst fühlen – Derealisation und beeinträchtigte persönliche Leistungsfähigkeit.

FOLGESTÖRUNGENEs gibt aber auch ernst zu nehmende kogniti-ve Folgestörungen. Insbesondere – abge-grenzt von Menschen, die erst als Erwachse-ne mit dem Konsum beginnen – nach dauerhaftem Konsum. In der Abstinenz zei-gen sich selbst nach vier Wochen noch beste-hende Störungen in der psychomotorischen Geschwindigkeit, der Aufmerksamkeit und so weiter.

Bemerkenswert ist eine Studie in Neusee-land, bei der mehrere tausend Menschen über 25 Jahre begleitet wurden. Zu Beginn der Messung im 13. Lebensjahr hatten eini-ge einen um acht Punkte höheren IQ gegen-über dem 38. Lebensjahr. Bedeutend ist, dass bei der Messung die Abhängigkeit von anderen Substanzen oder eine schlechtere Ausbildung definitiv als Ursache ausge-schlossen wurden. Diese Befunde deuten auf eine erhöhte Verletzlichkeit von Jugend-lichen hin, die Cannabis konsumieren. Und es ist fraglich, ob sich diese Folge wieder bessern lässt. Festgestellt wurden auch eine Veränderung der grauen und weißen Hirn-substanz. Das muss unbedingt weiter be-forscht werden. Aktuell gibt es eine Studie aus Pittsburgh, bei der 408 Jugendliche un-tersucht und diese Befunde nicht fest-gestellt wurden. Aber es gibt eine Meta-analyse, also eine weitere Überprüfung von insgesamt drei Studien mit mehr als 6000 Teilnehmern, die in Bezug auf den Bildungs-stand eine deutliche Verschlechterung bei Menschen bei frühem Konsumbeginn nahe-legt.

34 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

 

GESTÖRTES GEFÜHLSLEBEN

Eher dürftig sieht die Erkenntnislage mit Blick auf affektive Störungen aus, also bei Störungen – im weitesten Sinne – des Ge-fühlslebens. Das gilt auch für ein erhöhtes Suizidrisiko. Es liegen einzelne Studien und Berichte vor, die das nahelegen, aber diese Studien sind so schlecht oder wissenschaft-lich unzureichend angelegt gewesen, dass ein direkt kausaler Zusammenhang von af-fektiven Störungen auch für Jugendliche nicht belegt ist und dringend weiter be-forscht werden muss.

ANGSSTÖRUNGENBeachtlich hingegen ist die Angststörung. Anknüpfend an das, was mein Vorredner Dr. Pfeiffer-Gerschel schon ausführte: Es wurden

Cannabiskonsumenten befragt und erforscht und dabei kam heraus, dass sie ein hohes Ri-siko haben, eine Angststörung zu entwickeln. Aber offen bleibt die Frage, was war Henne, was war Ei.

PSYCHOSENZur Gefahr von Psychosen möchte ich je-manden zitieren, die im deutschen wissen-schaftlichen und klinischen Bereich unange-fochten ist: die Kollegin Professor Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, die sich schon seit Jahr-zehnten mit drogeninduzierten Psychosen befasst. Dazu ist festzustellen, dass Cannabis-konsum eine Komponente ist; andere sind die genetische Bereitschaft aber auch Ge-walt- und Missbrauchserfahrung in der Ju-gend, die zum Ausbrechen von schizophre-nen Psychosen führen können. Das Ganze ist stark dosisabhängig und verläuft auf einem Kontinuum. Das heißt, es ist nicht ausge-macht, dass jemand schizophren wird, wenn er Cannabis raucht und ansonsten aber stabil

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 35

   

36 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

ist. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ich hatte ei-nen jungen Mann, Anfang 20, der unter sehr seltenem Cannabiskonsum eine akute psy-chotische Situation über mehrere Stunden entwickelt hat. Er hat sich selbst verletzt, ebenso Polizisten, die einschreiten wollten. Er war vollkommen schockiert von diesem Ereignis und ihm kann man nur raten, „lass das mal lieber bleiben mit dem Cannabiskon-sum, das tut dir nicht gut“.

GATEWAY-HYPOTHESENoch ein Punkt – nicht unbedingt mein Hauptthema – die Gateway Hypothese, die von den Autoren des Deutschen Ärzteblatts noch aufgegriffen wurde. Diese Gateway Hy-pothese ist nicht empirisch belegt. Es gibt ei-

nen Zusammenhang zwischen frühem Can-nabiskonsum und dem Gebrauch weiterer Drogen. Wenn wir unsere Heroinabhängigen befragt haben, gaben alle an, dass sie auch Cannabis konsumieren. Der Umkehrschluss jedoch, Cannabis rauchen führt zum Heroin-konsum, ist schlicht Unsinn.

ERGEBNISZum Abschluss drei Schlussfolgerungen: Es ist bekannt, dass abhängiger Cannabiskon-sum ein Problem ist. Das wird aber seit vielen Jahrzehnten und mit immer strengeren Maß-stäben erforscht. In dem Punkt sind wir auf dem Weg.

Zweitens: Inzwischen ist es empirisch sehr gut belegt, dass biografisch früher, hochdo-sierter, langjähriger und regelmäßiger Can-nabisgebrauch das Risiko für unterschiedliche Störungen der psychischen und körperlichen Gesundheit und der altersgerechten Entwick-lung erhöht.

Drittens: Bei alldem gibt es viele Begleitva-riablen, die Einfluss haben können und die in vielen Studien nur unzureichend kontrolliert worden sind, sodass sich die Frage eines kau-salen Zusammenhangs zwischen Cannabis-konsummustern und kognitiven Schädigun-gen beziehungsweise der Entwicklung von komorbiden psychischen oder körperlichen Störungen nicht abschließend beantworten lässt. Deshalb der Aufruf weiter zu forschen und alle offene Fragen zu bearbeiten.

 

Die zurückliegenden 20 Jahre haben eine Fülle von Erkenntnissen gebracht über

das schädliche Potenzial von Cannabis. Veröf-fentlichungen in „ADDICTION Journal“, dem „New England Journal of Medicine“ oder im „Deutsches Ärzteblatt“ kommen überein-stimmend zu dem Ergebnis: „Empirisch mitt-lerweile sehr gut belegt ist, dass biografisch früher, hochdosierter, langjähriger und regel-mäßiger Cannabisgebrauch das Risiko für un-terschiedliche Störungen der psychischen und körperlichen Gesundheit und der alters-gerechten Entwicklung erhöht.“ (Hoch, 2015)

Die beiden anderen relevanten Veröffentli-chungen werten den aktuellen Forschungs-stand ähnlich. Klaus Behrendt hat ihn mit be-sonderer Gewichtung Folgeschäden bei Konsum im Jugendalter gerade vorgetragen. Wie mit diesem Problem umzugehen ist, dazu stehen sich zwei extreme Positionen gegen-über: Diejenigen, die sich für eine liberale Cann-abispolitik aussprechen, konnten lange Zeit nur schwer akzeptieren, dass Hanfkonsum über-haupt schädliche Wirkungen entfalten kann. Sie vertreten die Ansicht, dass der Schaden, der durch das Hanfverbot entsteht, größer ist als je-ner, der durch den Konsum entstehen kann. Die Gegenposition vertritt die Ansicht, dass Hanf generell geächtet bleiben muss, weil der Schaden für einen Teil der heranwachsenden Konsumenten das strafbewehrte Verbot für alle anderen – auch für Erwachsene –rechtfertigt. Beiden Positionen im deutschsprachigen Raum sind gemeinsam, dass sie Überlegungen zur Schadensminderung bislang nicht konsequent angestellt haben.

Der Begriff Schadensminderung bezie-hungsweise Harm Reduction wurde Anfang der 1980er Jahre entwickelt und bezog sich damals auf den Umstand, dass sich in der Gruppe der Heroinabhängigen das AIDS-Vi-rus rasant ausbreitete, weil die Abgabe von sterilen Nadeln und Spritzen mehr oder we-niger weltweit verpönt war. Die Internationa-le Harm Reduction Association hat 2010 Harm Reduction wie folgt definiert: Das Hauptmerkmal lautet: „Vermeidung gesund-heitlicher Schäden der Drogeneinnahme“.

Fachtagung Cannabis 2015 |Vortrag 37

Jugendlicher Cannabiskonsum – zu Risiken und Neben-

wirkungen fragen Sie... ? – Analysen und Einschätzungen

aus der Medizin

Hans-Günter Meyer-Thompson, ehemaliges Vorstands-mitglied DGS, Arzt der Abteilung für Abhängigkeitser-krankungen, Asklepios Hamburg, Klinik Nord- Ochsen-zoll / Teil 2

Hans-Günter Meyer-Thompson

38 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

im „Harm Reduction Digest“ anmerkte, „nicht vergessen werden sollte, dass man die Bot-schaft in angemessener Sprache und in den richtigen Medien entwickeln sollte“. Und wei-ter: „Man sollte den Nutzen, den der Hanf-konsum in der Wahrnehmung bietet, nicht unterschätzen, nämlich Entspannung und eine Auszeit, die Anreize für einen fortgesetz-ten Konsum sind – trotz der gleichzeitigen Anerkennung der mit Cannabis verbunden Probleme.“ Und: „Manche Konsumenten se-hen den Hanfkonsum als Schadensminde-rung an sich an, weil sie glauben, dass er we-niger Probleme verursacht als andere Drogen wie beispielsweise Alkohol.“

Wie also könnten schadensmindernde Botschaften an Hanfgebraucher aussehen?

STRASSENVERKEHRGenerell gilt es, eine zu definierende Zeit ein-zuhalten zwischen Konsum und Teilnahme am Straßenverkehr. Für Straßenverkehrsbe-hörden, Verkehrspolizei und Konsumenten müssen Nachweismethoden und Grenzwer-te so bestimmt werden, dass sie internationa-len Standards beziehungsweise wissen-schaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Die Regelung in Deutschland schert alle Konsu-menten über einen Kamm und ist im Ver-gleich zum verkehrsmedizinischen Umgang mit Alkohol trinkenden Kraftfahrern extrem diskriminierend.

Rauchen: In der Kombination mit Tabak werden die schädlichen Wirkungen von Hanf

Harm Reduction ist einerseits eine politische Strategie und steht in der Drogenpolitik als vierte Säule gleichberechtigt neben Präventi-on, Therapie und Repression. Harm Reducti-on ist aber auch eine therapeutische Strate-gie in der Suchtmedizin, weil das Ziel der völligen Abstinenz nur eine Minderheit der Patienten erreicht. Als alleiniges Therapieziel ist die Abstinenz deshalb gefallen und wurde um kontrollierte oder zumindest weniger schädliche Konsummuster ergänzt – das gilt für illegale wie legale psychoaktive Substan-zen. Die Philosophie der Schadensminde-rung hat sich längst als erfolgreich erwiesen: den Spritzen- und Nadeltausch habe ich be-reits erwähnt, E-Zigaretten und Obergrenzen für den Nikotin- und Teergehalt sind ein wei-teres Beispiel, ebenso Plastikbecher für Bier-trinker in Fußballstadien oder auch Drug-Checking für Substanzen wie Ecstasy und LSD. Im Übrigen ist es der Medizin nicht fremd, Programme und Methoden zu entwi-ckeln, die schädliche Folgen riskanten menschlichen Verhaltens vermindern sollen.

Wenn wir diesen Gedanken nun auf den Umgang mit dem Cannabiskonsum anwen-den, können wir entsprechende schadens-mindernde Vorschläge entwickeln – ausge-hend von den wichtigsten Risiken. Da beziehe ich auch jene ein, bei denen es nach wie vor umstritten ist, ob es einen ursächlichen Zu-sammenhang zwischen Cannabiskonsum und diesen möglichen Folgeschäden gibt. Wobei, wie Wendy Swift bereits im Jahr 2000

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 39

und tief einatmen – das sorgt nur für größere Schäden an den Atemwegen und lagert zu-sätzliche Schadstoffe in der Lunge ab. Auch beispielsweise ein Auto „voll zu dampfen“ und dann solange ein- und auszuatmen, also „total zu absorbieren“, bis man wieder durch die Scheiben gucken kann, trägt wenig zum Rausch bei. Aber man kann mit diesem stu-dentischen Konsummuster 30 Jahre später immerhin Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden.

PSYCHISCHE FOLGENManchen Menschen mit depressiver Störung oder Angst bringt Hanf Erleichterung, bei an-deren hingegen verstärken sich diese unan-genehmen Symptome. Der Hanfkonsum kann Verfolgungsgedanken und Wahnvor-stellungen auslösen, im schlimmsten Fall eine Schizophrenie. Wenn sich solche Zei-chen zeigen, oder sie bereits einmal aufge-treten sind oder es in der Familie Fälle von psychischen Erkrankungen dieser Art gibt, dann ist äußerste Vorsicht im Umgang mit Hanf zu beachten. Das heißt, besser auf den Konsum verzichten und gegebenenfalls fach-liche Hilfe suchen.

Hanfprodukte mit hohem Wirkstoffgehalt: Da sämtliche Wirkungen – erwünschte wie unerwünschte – abhängig sind von Stärke und Menge der Substanz, von der stofflichen Zusammensetzung sowie von der biologi-schen und psychosozialen Individualität des Konsumenten, lautet der schadensmindern-

auf die Atemwege sowie die Tabaksucht selbst verstärkt. In essbarer Form lässt sich die aufgenommene Dosis schwer bestim-men, die Wirkung ist kaum zu beeinflussen. Zu empfehlen ist also entweder die Purpfeife oder die Verdampfung mittels Vaporizern. Das senkt auch die Gefahr von Infektionen über das Mundstück bei Herumreichen des Joints.

ALTERSGRENZEBis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gilt, dass die Hirnreifung nicht abgeschlossen ist und entsprechend zur Vorsicht beim Konsum geraten werden muss.

ABHÄNGIGKEITDie Zeichen eines schädlichen Gebrauchs so wie auch die Kriterien für ein abhängiges Konsummuster sollten auf verständliche Wei-se erläutert werden; in Verbindung mit Selbsttests wie beispielsweise auf der Seite von drugcom.de.

LERNPROBLEMEWer tagsüber lernt und abends kifft, löscht unter Umständen den „Arbeitsspeicher“. Das schränkt den Konsum an Schultagen und in Prüfungszeiten enorm ein.

ATEMWEGE/HERZ-KREISLAUFDie Wirkstoffe sind nach wenigen Sekunden bereits aufgenommen. Es ist ein Irrglaube, man müsse den Hanfrauch möglichst lange

40 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

durch die stigmatisierende Erfahrung einer Festnahme zerstört werden. (...) Viele Canna-biskonsumenten sind ohnehin schon sozial benachteiligt, für sie ziehen Strafen oft zu-sätzliche Kosten nach sich, mit Trennungen in Beziehungen und Verlust der Wohnung und des Arbeitsplatzes.“

Diese Überlegungen treffen sich mit den Beobachtungen von Juristen, von denen eine Vielzahl mittlerweile erkannt hat, dass der Hanfkonsum mit den Mitteln des Strafrechts kaum zu beeinflussen ist. Der Strafrechtler Lorenz Böllinger und mehr als 120 weitere deutsche Strafrechtsprofessoren sprechen sich deshalb für die Überprüfung des BtMG durch eine Enquete-Kommission des Bun-destages aus. Der langjährige Kommentator des BtMG, der ehemalige Frankfurter Ober-staatsanwalt Harald Hans Körner, plädiert letztlich für einen staatlich kontrollierten le-galen Markt, und sein Nachfolger als Bt-MG-Kommentator, Oberstaatsanwalt Jörn Patzak aus Rheinland-Pfalz, hat den Vorschlag gemacht, dass bei Besitz einer Menge von sechs bis zehn Gramm Cannabis und drei Pflanzen das BtMG dahingehend verändert werden könnte, dass diese Verfahren einge-stellt werden sollen.

Und wie könnten Harm-Reduction Publi-kationen und Fortbildungen für Multiplikato-ren aussehen? Dazu zwei Beispiele aus Kana-da und aus den Niederlanden: Die Universität von Victoria in Kanada hat zusammen mit dem Centrum für Suchtforschung in British

de Hinweis: jeweils kleinere Mengen zu kon-sumieren, zumal wenn es sich um einen Stoff handelt, den man noch nicht probiert hat. In einem legalisierten Markt sind Hanfprodukte nach Wirkstoffgehalt und nicht nach Gewicht zu besteuern. Schadensmindernd könnte ebenfalls sein, bei einer staatlich kontrollier-ten Zulassung auch die klassischen Freiland-sorten mit niedrigerem THC-Gehalt und aus-gewogenen Inhaltsstoffen zugänglich zu machen.

VERBRAUCHERSCHUTZDer illegale Drogenmarkt ist ein jeder Bezie-hung schmutziges Geschäft. Die Ware wird vielfach gestreckt, in Hanf sind von Klebstoff bis Bleipulver schon viele krankheitserregen-de Beimengungen gefunden worden, wie man laufend dem Streckmittelmelder des Deutschen Hanfverbands entnehmen kann. Soll das wirklich bei mehreren Millionen Ge-legenheitskonsumenten weiterhin in Kauf genommen werden? Was spricht gegen Drug-Checking?

PROHIBITIONDie Illegalität bewirkt mehr Schaden als Nut-zen. Alex Wodak, Arzt und Vordenker von in-ternationalen Harm-Reduction-Strategien und Präsident der Australien Drug Law Re-form Foundation, hat bereits 2002 im „British Medical Journal“ darauf hingewiesen, dass „Jahr für Jahr weltweit Leben, Ausbildung und Karrieren hunderttausender Menschen

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 41

mittleren Rang ein. Vor diesem Hintergrund kommen die Autoren van Amsterdam, Nutt, Philipps und van den Brink in ihrer Veröffent-lichung mit dem Titel „European rating of drug harms“ zu dem Ergebnis: „Die EU und die nationalen drogenpolitischen Maßnah-men sollten den Schwerpunkt legen auf die Drogen – einschließlich Alkohol und Tabak – mit dem höchsten Gesamtschaden. Hinge-gen sollte Drogen wie Ecstasy und Cannabis ein geringerer Rang eingeräumt werden, was auch eine Herabstufung in der rechtlichen Bewertung einschließt.“

Dennoch ist die Fachwelt nicht einer Mei-nung. Dass Kinder- und Jugendpsychiater zu anderen Wertungen tendieren als Suchtme-diziner, sollte nicht verwundern. Es sind nun einmal zwei unterschiedliche Blickwinkel, unter denen man die unerwünschte, bezie-hungsweise schädliche Wirkung einer Droge wahrnehmen kann. Gemeinsam ist uns mitt-lerweile die Auffassung, dass das Strafrecht wenig geeignet ist, Konsum und Konsum-schäden zu verhindern. Selbst Rainer Thoma-sius, der sich unbeirrt gegen eine Änderung des Status quo ausspricht, fordert als Vor-

Columbia und dem Coastal Health Service ein Faltblatt entwickelt, das Hinweise zum schadensarmen Konsum von Hanf auflistet.

Einer der Autoren begründete die Heraus-gabe des Faltblatts mit den Worten: „Als Ge-sundheitsexperten sind wir verantwortlich dafür, sicherzustellen, dass jeder, der sich für den Hanfkonsum entscheidet, klare Informa-tionen hat, wie er auf sich gut achtgeben kann beim Konsum.“

Noch einen Schritt weiter geht das nieder-ländische TRIMBOS-Institut, eines der führen-den Suchtforschungsinstitute weltweit. Es unterrichtet Besitzer und Angestellte von Coffee-Shops, Zeichen schädlichen Ge-brauchs zu erkennen und Risikosituationen mit schwierigen Gästen zu entschärfen. Auch das ist Harm-Reduction und unterscheidet sich im Übrigen nicht im Geringsten von den Fähigkeiten, die professionelle Kneipenwirte, Barkeeper und Croupiers entwickeln.

In den Niederlanden, wo demnächst die ersten Coffeeshops ihr 40-jähriges Jubiläum feiern, hat man mit Hanf und seinen Konsu-menten leben gelernt. Die Zahl der Gebrau-cher nimmt im europäischen Vergleich einen

42 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

favorisiert, oder kommunale Pilotprojekte, oder Cannabis Social Clubs oder was auch immer, das muss die Politik entscheiden. Die Medizin kann nur Hinweise liefern. An scha-densmindernden Schritten wird man in kei-nem Fall vorbeikommen, auch wenn der Stoff weiterhin verboten bleibt.

QUELLEN: What is Harm Reduction? A position statement from the International Harm Reduction Association, London, United Kingdom, German, April 2010. http://www.ihra.net/files/2010/06/01/Briefing_What_is_HR_German.pdf

DEMAND REDUCTION AND HARM REDUCTION Dr Alex Wodak AM Working Paper Prepared for the First Meeting of the Commission Geneva, 24-25 January 2011http://www.globalcommissionondrugs.org/wp-content/themes/gcdp_v1/pdf/Global_Com_Alex_Wodak.pdf

Cannabis control: costs outweigh the benefits. Wodak, A., BMJ : British Medical Journal. 2002;324(7329):105-108http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1121996/

Hoch E, Bonnet U, Thomasius R, Ganzer F, Ha-vemann-Reinecke U, Preuss UW: Risiken bei nichtmedizinischem Gebrauch von CannabisRisks associated with the non-medicinal use of cannabis.Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 271–8. DOI: 10.3238/arztebl.2015.0271http://www.aerzteblatt.de/archiv/169158/ Risiken-bei-nichtmed http://www.aerzteblatt.de/int/archive/ article?id=169163

Adverse health effects of marijuana use.Volkow ND, Compton WM, Weiss SR.N Engl J Med. 2014 Aug 28;371(9):879. doi: 10.1056/NEJMc1407928. No abstract available. PMID: 25162899http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/ NEJMc1407928

What has research over the past two decades

standsmitglied der DG Sucht, „Möglichkeiten zur Modifizierung des Betäubungsmittelge-setzes mit dem Ziel einer Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten zu prüfen.“ Wenn also kommunale oder nationale Drogenpoli-tik sich auf den Weg der Schadensminderung konsequent einlassen, so kommen unmittel-bar Fragen auf, die im Zusammenhang mit Pilotprojekten zu untersuchen sind.

Louisa Degenhardt und Wayne Hall haben im „Handbook of Cannabis“, das 2014 im Ver-lag der Universität Oxford erschienen ist, eine erste Auflistung vorgelegt:§  Sind Cannabiskonsumenten gewahr, dass

Hanf auch schädliche Wirkungen haben kann, wie kann man sie ansprechen und würden sie schadensmindernde Vorschläge annehmen?§  Lassen sich Cannabiskonsumenten unter

akuter Wirkung durch Polizeikontrollen vom Autofahren abhalten?§  Stehen Aufwand und Ergebnis in einem ak-

zeptablen Verhältnis zueinander?§  Gibt es bessere Wege, mit dem Thema um-

zugehen?§  Vermindern Vaporizer die Schäden auf die

Atemwege?§  Können Konsumenten bei höher konzent-

rierten Sorten die Wirkung titrieren?§  Könnten Regelungen zum Wirkstoffgehalt

und Anteil, insbesondere die Rolle von Cann-abidiol betreffend, unerwünschte Wirkun-gen vermeiden helfen?

Aus dem Blickwinkel von Public Health wie-derum werden wir uns damit beschäftigen müssen, ob bei einer Entkriminalisierung : §  mehr konsumiert wird, insbesondere in ge-

fährdeten Kreisen,§  andere illegale Drogen leichter zugänglich

sind oder vermehrt konsumiert werden und§  öffentliche Mittel umgeschichtet werden

können von Polizei und Justiz zu Präventi-on, Therapie und § Schadensminderung.

Welcher Weg in Deutschland gegangen wird: Eine Überprüfung des BtMG wie von Böllin-ger und Suchtfachverbänden vorgeschlagen, oder eine Änderung des BtMG wie von Patzak

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 43

(„It is important not to underestimate the benefits cannabis use is perceived to provide (e.g. relaxati-on,’time out’), which may be powerful motivators for continued use despite the simultaneous recognition of cannabis-related problems. Some users perceive cannabis use to be a form of harm reduction in itself, because they believe that it creates less problems for them than other drugs such as alcohol.“)http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1080/09595230096200/abstract

Streckmittelmelder des Deutschen Hanfverbandshttp://hanfverband.de/inhalte/streckmittel

Dr. Harald-Hans Körner, Stellungnahme zum Antrag verschiedener Abgeordneter sowie der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 4. Juni 2014 (BT-Drs.18/1613) für die öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages am 5. November 2014http://www.bundestag.de/blob/337946/b3d9b7bb-6926b1a71aa846454f1c8a8e/18_14_0067-1-_dr--ha-rald-hans-koerner-data.pdf

Jörn Patzak, Stellungnahme zum Antrag verschie-dener Abgeordneter sowie der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 4. Juni 2014 (BT-Drs.18/1613) für die öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages am 5. November 2014http://www.bundestag.de/blob/338704/8b3389a0c0b-ca37de3106542fe5b785d/18_14_0067-4-_joern-patzak-data.pdf

Resolution deutscher Strafrechtsprofessorinnen und -professoren an die Abgeordneten des Deutschen BundestagesSchildower Kreis 2013http://www.schildower-kreis.de/themen/Resoluti-on_deutscher_Strafrechtsprofessorinnen_und_%E2%80%93professoren_an_die_Abgeordne-ten_des_Deutschen_Bundestages.php

„Warum das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) aus suchtmedizinischer Sicht auf den Prüfstand gehört“Zur Diskussion gestellt vom Vorstand der DGS – Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin (15.02.2015)http://www.dgsuchtmedizin.de/vorstandsnews/?tx_

revealed about the adverse health effects of recreational cannabis use?Hall W.Addiction. 2015 Jan;110(1):19-35. doi: 10.1111/add.12703. Epub 2014 Oct 7.http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/add.12703/epdf

van Amsterdam J, Nutt D, Phillips L, van den Brink W; European rating of drug harms. J Psycho- pharmacol 2015; 29(6):655-60. doi: 10.1177/0269881115581980. Epub 2015 Apr 28.(„EU and national drug policy measures should focus on drugs with the highest overall harm, including alcohol and tobacco, whereas drugs such as cannabis and ecstasy should be given lower priority including a lower legal classification.“)http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25922421

Responsible and controlled use: Older cannabis users and harm reduction.Lau N, Sales P, Averill S, Murphy F, Sato SO, Murphy S. Int J Drug Policy. 2015 Aug;26(8):709-18. doi: 10.1016/j.drugpo.2015.03.008. Epub 2015 Mar 30. (Abstract)http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25911027

A universal harm-minimisation approach to preventing psychostimulant and cannabis use in adolescents: a cluster randomised controlled trial.Vogl LE, Newton NC, Champion KE, Teesson M.Subst Abuse Treat Prev Policy. 2014 Jun 18;9:24. doi: 10.1186/1747-597X-9-24.http://www.substanceabusepolicy.com/ content/9/1/24

Goed Gastheerschap in de Coffeeshop - Train de Trainer, TRIMBOS Instituut, Utrecht/Niederlande, 6.10.2015https://www.trimbos.nl/producten-en-diensten/trainingen/training/?event=20

W.Hall, L.Degenhardt, Harm Reduction Policies for Cannabis, in: Handbook of Cannabis, Oxford University Press 2014, Chapter 39, p.692 ffDrug and Alcohol Review (2000) 19, 101.112Wendy Swift; Jan Copeland; Simon Lenton

HARM REDUCTION DIGEST 8Cannabis and harm reduction

44 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

sich Probleme wieder bessern, ist nicht aus-gemacht. Als Wissenschaftler und auch als Kliniker und Arzt muss man solche Hinweise natürlich ernst nehmen. Es ist also nicht letzt-lich zu beantworten aber es gibt deutliche Hinweise. Deswegen muss man Jugendli-chen wie Hans-Günther Meyer Thompson das eben dargestellt hat, raten, eher nicht oder nur sehr selten zu konsumieren.

Wolfgang Sterneck, Alice-Projekt aus Frank-furt: Ich möchte nur hinweisen, dass es Ansätze der Harm Reduction und des Safer Use nicht nur in Kanada oder in Holland gibt, sondern in vielfältiger Form auch in Deutschland. Es gibt Drogenberatungsstellen, es gibt Szene-Initiati-ven gerade in der Partykultur. Es gibt auch im Hanfbereich Initiativen, die den Ansatz der Harm Reduction fördern, über Infomaterialien, über Fortbildung, über Aktionen vor Ort. Das Problem ist vielmehr, dass dieser Ansatz in Deutschland immer noch an den Rand ge-drängt wird und immer wieder mit dem Vor-wurf zu kämpfen hat, es wäre eine Verharmlo-sung oder eine Förderung des Konsums. Entsprechend notwendig ist es, dass man un-abhängig von der Legalisierungsdiskussion verstärkt solche Ansätze fördert, weil sie die Leute vor Ort tatsächlich erreicht und konkrete Verbesserungen bewirken.

Publikumsfrage: Ich höre hier unterschiedli-che Angaben zum Abschluss der Hirnreife, die ja eine wesentliche Rolle spielt bei den Risiken des Konsums. Wann ist die abgeschlossen, mit 21 oder 25 Jahren? Das hört sich etwas willkür-lich an.

Dr. Klaus Behrendt: Damit habe ich gelernt, zu leben. Als Student haben mir die Neurolo-gen, zu denen ich irgendwann auch gehörte, erklärt, mit 27, 28 ist die Hirnreife abgeschlos-sen. Heute geht man davon aus, dass die Hirnreife mit Anfang 20 bis 23 Jahren abge-schlossen sei. Aber dazu kann ich das letzte Wort nicht sprechen.

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Stellungnahme zur Legalisierungsdebatte des nicht-medizinischen Cannabiskonsums Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) e.V.Autoren: Hans-Jürgen Rumpf, Eva Hoch, Rainer Thomasius, Ursula Havemann-Reinecke (beschlossen vom Vorstand der DG-Sucht am 09.07.2015) http://www.dg-sucht.de/fileadmin/user_upload/pdf/stellungnahmen/Stellungnahme_Legalisierungsde-batte_Cannabis_DG-Sucht.pdf

„Take Care With Cannabis“Vancouver Coastal Health and the University of Victoria’s Centre for Addictions Research of BC published a valuable resource for individuals who use cannabis recreationally.(“It’s our responsibility as health care professionals to ensure that anyone who chooses to use canna-bis has clear information about how they can take better care when using.“)http://www.vch.ca/media/TakeCarewithCannabis.pdf

FRAGEN UND DISKUSSIONPublikumsfrage zu den kognitiven Schädi-gungen: Wenn ich bekifft bin und auf die Uhr schaue, habe ich ein unterschiedliches Zeitemp-finden. Wenn ich nicht mehr bekifft bin, kann ich die Uhr ganz normal lesen. Stimmt es, dass sich gewisse Folgen wieder ausschleichen oder leidet jemand immer unter kognitiven Konse-quenzen?

Dr. Klaus Behrendt: Bei den Untersuchungen wird gemessen, ob sich nach vier Wochen Abstinenz die Probleme verbessert haben. Nach den bisherigen Ergebnissen geht man davon aus, dass bei Menschen, die schon als Jugendliche angefangen haben, intensiv zu konsumieren, täglich zu konsumieren oder abhängig werden, die Gefahr besteht, dass sich die Probleme nicht mehr geben, wäh-rend sich bei Menschen, die erst später ange-fangen haben, das System wieder erholt. Es gibt aber auch Studien mit anderen Ergeb-nissen, das heißt, die Frage, ob und bei wem

Es gibt zu Cannabis keinen gesetzlichen Jugendschutz“, lautet der zentrale Satz

seines Vortrags, in dem sich Dr. Raphael Gaß-mann kritisch mit Jugendschutz und dessen Einhaltung auseinandersetzt. Cannabis blei-be im Jugendschutzgesetz unerwähnt, ob-wohl, wie bei Alkohol festgestellt werden müsse, je jünger ein Mensch mit dem Canna-biskonsum beginnt und je häufiger er konsu-miert, desto gravierender sind seine gesund-heitlichen Risiken.

Statt einer Dokumentation des Vortrags verweist Dr. Raphael Gaßmann jedoch auf das DHS-Papier „Cannabispolitik in Deutsch-land – Maßnahmen überprüfen, Ziele errei-chen“, aus dem stattdessen zitiert werden soll. Das Papier hat der Vorstand der DHS am 14.09.2015 einstimmig und ohne Enthaltung

verabschiedet. Auch Dr. Gaßmanns Vortrag bei der Frankfurter Fachtagung bezieht sich inhaltlich darauf.

Dass es bei Cannabis „keinen gesetzlichen Jugendschutz gibt“ und auch universelle Prä-ventionsprogramme in Deutschland fehlten, darauf hat Dr. Raphael Gaßmann unter ande-rem bei der Anhörung zur Frage „Legalisie-rung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs“ am 25. Januar 2012 im Ge-sundheitsausschuss des Bundestags hinge-wiesen: „Zur Frage nach der Prävention kann ich sagen, dass es in Deutschland keine Can-nabisprävention gibt. Es existieren lediglich eine überschaubare Zahl von Programmen zur Frühintervention, die in der Verantwor-tung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) liegen.“ Im Internet gebe es zwar interaktive Programme für Cannabis-konsumenten, die aussteigen oder den Kon-sum reduzieren wollen, es gebe aber keine Präventionskampagnen wie für jugendliche Alkoholtrinker – zum Beispiel die große Kam-pagne „Kenn dein Limit.“ (Quelle: www.bundestag.de/dokumente/textar-chiv/2012/37261739_kw04_pa_gesundheit/207306)

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen fordert in ihrem Positionspapier unter Punkt 8 deshalb ausdrücklich effektiven Jugendschutz: Bei einer Neufassung der ge-setzlichen Rahmenbedingungen ist vor al-lem die Einhaltung des Jugendschutzes zu gewährleisten. Die Enquete-Kommission soll sich mit der Ausgestaltung effektiver Jugend-schutzmaßnahmen befassen. Dazu zählen insbesondere Altersbeschränkungen, umfas-

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 45

Aus Fehlern lernen: Jugendschutz und Prävention

sind möglich – Erfahrungen und Ansätze der Drogen- und

Suchthilfe

Dr. Raphael Gaßmann, Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.

Dr. Raphael Gaßmann

46 Vortrag | Fachtagung Cannabis 2015

steht der Zugang zu dem weit verbreiteten Schwarzmarkt ebenso offen wie Erwachse-nen. Als effektive gesetzliche Maßnahmen des Jugendschutzes gelten Altersbeschrän-kungen für den Kauf ebenso wie die wirksa-me Sanktionierung der Abgabe an Minder-jährige wie auch umfassende Werbeverbote.

Unter den genannten Voraussetzungen ist von der Enquete-Kommission zu prüfen, wie eine effizientere Kontrolle der Altersgrenzen bei der Abgabe sichergestellt werden kann, zumal dies bereits im Umgang mit Alkohol und Tabak kaum gelingt. Zu berücksichtigen sind Fragestellungen, weshalb das Unrechts-bewusstsein bzgl. der Illegalität des Besitzes und Erwerbs bei Jugendlichen gering bis kaum vorhanden ist und ob vor allem die vielarmigen Strukturen des illegalen Dro-gen(klein)handels dazu führen, dass gerade unter Jugendlichen die Verfügbarkeit von Cannabis sehr hoch ist (Bernard, Werse, Schell-Mack, 2013). Zu klären ist weiterhin, wie selektive Prävention in Risikogruppen (Jugendliche und Heranwachsende) rechtssi-cher ermöglicht werden kann.

Die Enquete-Kommission soll das Problem der Umsetzung des Jugendschutzes auch im Hinblick auf den Umgang mit legalen Drogen umfassend analysieren und Lösungsmög-lichkeiten aufzeigen.(Quelle: DHS, 2015, „Cannabispolitik in Deutschland- Maßnahmen überprüfen, Ziele erreichen“ Seite 11).

FRAGEN UND DISKUSSION

Rosemarie Heilig, Gesundheitsdezernentin Frankfurt: Vielen Dank für Ihren wirklich inter-essanten Vortrag. Sie sagten eingangs, es gibt keinen Jugendschutz für Cannabis. Sie haben auch gesagt, anders als bei legalen Suchtmit-teln wie Alkohol oder Zigaretten, gibt es bei Cannabis keine Hinweise auf die Inhaltsstoffe. Man weiß also nicht, was man auf dem Schwarzmarkt bekommt. Was würden Sie mir als Gesundheitsdezernentin der Stadt Frankfurt bei dieser Sachlage raten?

Dr. Ralph Gaßmann: Ich will Ihnen die Ent-scheidungsfrage mitgeben: Wollen Sie Ju-gendschutz zu Cannabis ja oder nein? Wollen

sende Werbeverbote und wirksame Sanktio-nierung bei Abgabe an Minderjährige.

Angesichts des besonderen Gesundheits-risikos für Kinder und Jugendliche sind ge-setzliche Jugendschutzmaßnahmen drin-gend erforderlich. Unter den Bedingungen des illegalen Marktes existieren keine geson-derten Restriktionen und keine gesetzlichen Jugendschutzmaßnahmen. Minderjährigen

Aufmerksame Berichterstatter dokumentieren die Debatten...

Moderator Wolfgang Munderloh (rechts) ist auch in der Pause gefragter Gesprächspartner

Fachtagung Cannabis 2015 | Vortrag 47

Sie eine Prävention zu Cannabis, die mehr um-fasst als zu sagen, das ist sehr gefährlich, das sollt Ihr nicht nehmen, ja oder nein? Und wol-len Sie Schadensminderung, ja oder nein? Das sind die Fragen. Die müssen Sie klären. Jugendschutz geht im Jugendschutzgesetz so, dass man nicht die minderjährigen Konsu-menten sanktioniert, sondern die Erwachse-nen. Wie Prävention geht wissen wir auch. Und wir wissen, dass Prävention, die nur sagt, das ist aber sehr gefährlich, nehmt das nicht – vorsichtig formuliert – mäßige Erfolge hat. Wie Schadensminderung geht, wissen wir auch. Das alles müssen Sie im politischen Bereich regeln. Ich bin kein Politiker.

David Clement, Jugendamt Bonn: Sie haben den Jugendschutz sehr ordnungsbehördlich, ordnungspolitisch dargestellt. Es ist richtig, wir haben im Jugendschutzgesetz Cannabis nicht erwähnt. Wir haben aber im Kinder- und Ju-gendhilferecht in § 14 den erzieherischen Kin-der- und Jugendschutz. In diesem Bereich sind Sozialarbeiter und Sozialpädagogen auch in der Cannabis-Prävention oder Drogenpräven-tion allgemein tätig. Das heißt, auch neben dem Jugendschutzgesetz haben wir einen ganz klaren, gesetzlichen Auftrag, erzieherisch aus dem Jugendhilfeblick tätig zu werden. Das ma-chen wir auch in Schulen und Elternseminaren, aber auch in Jugendseminaren. Der erzieheri-sche Jugendschutz will befähigen und das nicht nur mit erhobenem moralischem Zeigefinger. Befähigung und kritische Auseinandersetzung

DHS und ihr Geschäftsführer zeichnen ein düsteres Bild von Prävention und Jugendschutz, das im Saal nachdenklich stimmt

sind dort auch ganz klar im Gesetz beschrieben, § 14 SGB 8.

Dr. Raphael Gaßmann: Das ist Prävention, was Sie machen. Und das ist richtig und gut, dass sie das machen. Die Frage ist, können Sie an Ihre Jugendlichen offen herantreten? Wir haben das zum Beispiel beim Präventi-onsprogramm Fred beobachtet: Können Sie Ihren Jugendlichen sagen, von denen Sie wissen, dass sie konsumieren und das nicht erst seit gestern, wenn Ihr konsumiert, dann bitte erstens, zweitens, drittens, viertens?

Frederik Wolf, Hanf-Initiative Frankfurt: Ich nehme mir die Freiheit heraus und möchte Frau Heiligs Frage beantworten. Eigentlich hat Herr Gaßmann alles dazu gesagt, um Ihnen das Handwerkszeug zu geben: Preis, Verfügbarkeit und Werbung. Das erreichen wir aber nicht mit einem Verbot.

Gefragte Frau: Gesundheitsdezernentin Rosemarie Heilig im TV-Interview (links)

Auch Jugendliche waren begehrte Interviewpartnerinnen und -partner

48 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

GRUPPENDIALOG – WORLD CAFÉ

Tischthemen 1-16

Die Antwort auf die Diskussionsfrage fällt am Thementisch 1 einhellig aus: Prävention sei nicht die Lösung auf alles, aber ein wichtiger Beitrag im gesamten Spektrum der Suchthil-fe. Mit dem Bestreben, die Eigenverantwort-lichkeit von Jugendlichen zu stärken, sei sie ein wesentlicher Faktor zur Resilienz. Was ihr Ziel sein soll, Abstinenz oder einen „gesun-den“, kontrollierten Umgang mit Drogen zu finden, darüber gehen die Meinungen in den beiden Gesprächsrunden auseinander.

Wie effektiv Prävention im Blick auf Canna-biskonsum bisher ist, schildern Präventions-fachkräfte und Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter der Suchthilfe am Tisch aus ihren Erfahrungen: Auch unter der aktuellen recht-lichen Situation gelinge es gut, mit Jugendli-chen in Kontakt zu kommen und offen über Cannabis zu sprechen – auch mit Jugendli-chen, die konsumieren. Dazu brauche es aber sichere Räume, in denen Jugendliche sich durchaus öffnen würden und sehr wohl in der Lage seien, über ihr Konsumverhalten zu sprechen und zu reflektieren. Nicht ganz leicht sei dies an Schulen, am besten gelinge dort ein offenes Gespräch, wenn Lehrerkräfte die Schülerinnen und Schüler mit der Präven-tionsfachkraft alleine lasse.

Einig sind sich alle, dass neue Zugangswe-ge zu Jugendlichen entwickelt werden müss-ten, um noch besser mit ihnen über ihr Kon-sumverhalten ins Gespräch zu kommen. Zumal nicht alle in der Runde überzeugt sind, dass Prävention ihre volle Wirkungskraft ent-falten kann, solange das Betäubungsmittel-gesetz Cannabiskonsum unter Strafe stellt. Jugendliche scheuten sich, aus Angst vor Konsequenzen, offen über ihren Konsum zu sprechen. Prävention sei in dieser „Grauzone“

nicht Fisch nicht Fleisch. Prävention funktio-niere nur mit Offenheit, aber Offenheit funk-tioniere nicht unter Angst vor Repressionen.

Das lenkt die Diskussion aufs Strafrecht und auf die Frage wie es zur Prävention pas-se. Die These wird aufgestellt, dass Strafrecht

Fachtagung Cannabis 2015 |Gruppendialog 49

Thementisch 1: Risiko und Schutz – Prävention: die Lösung

für alles?

Impulsgeber: Dr. Raphael Gaßmann , Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS)

Moderator: Hans Böhl, Stellvertretender Geschäftsführer des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ)

 Verhindert das Strafrecht Prävention in Sachen Cannabis? Mit der Frage haben sich die Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer in beiden Runden intensiv auseinandergesetzt. Unter den Diskutierenden auch der Frankfurter Oberstaatsanwalt i.R. Dr. Harald Hans Körner

50 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Prävention zunichte mache. Einige der Disku-tierenden plädieren für Modellprojekte, die die Substanz Cannabis als solche legalisieren. Wie bei Alkohol bliebe der Konsum für Jugendliche verboten. Die Modellprojekte sollten klare, ver-bindliche Vorgaben machen, um den Teilneh-mern einen rechtssicheren Raum zu garantie-ren. Außerdem sollten für Cannabis bundeseinheitliche Regelungen gelten. Unter diesen Rahmenbedingungen und den Erfah-rungen, die dabei gewonnen werden, könnten dann konkretere Ideen für Jugendschutz und Prävention abgeleitet und entwickelt werden.

Diese Idee wird in den Runden, in denen sich Fachkräfte von Prävention, Suchtberatung, so-

 

wie Vertreterinnen und Vertreter aus Orts-beirat und Justiz versammelt haben, sehr kontrovers diskutiert. Wobei weder berufli-che Funktion noch Parteizugehörigkeit über die Haltung zu einem Modellprojekt oder der Legalisierung der Substanz Can-nabis bestimmen, wie Moderator Hans Böhl registriert: „Entscheidend ist die per-sönliche Erfahrung, die jemand im Zusam-menhang mit Cannabis gemacht hat.“ Ein-hellig fällt dennoch das Fazit aus, das beide Runden ziehen: Prävention gelinge leich-ter, wenn Cannabis keine illegale Droge mehr wäre. Oder anders formuliert: Die Ille-galität erschwert Prävention.

Kiffen oder Nichtkiffen, gehört der Joint zum Erwachsen-werden? Die Frage hinterm Ge-dankenstrich im Titel bringt die Debatte gleich in Schwung und alle sind sich einig, dass es kein pauschales „Entweder-Oder“ gibt. Erst recht nicht nur das „eine“ Motiv, so wenig wie es „die“ Jugendlichen gebe. Alle Diskutierenden in beiden Gesprächsrunden, in denen Schülerinnen und Schüler, Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter aus den Berei-chen Prävention und Suchtberatung, Lehr-kräfte, ein Mitglied der Hanf-Initiative und ein Staatsanwalt i.R. aufeinander treffen, sind sich darin einig, dass jede und jeder Ju-gendliche den eigenen Konsum für sich re-geln und den eigenen Weg im Umgang mit Drogen finden müsse. Dies sei eine wichtige Entwicklungsaufgabe, bei der Jugendliche unterstützt und begleitet werden sollten, um Risikokompetenz und Verantwortungs-bewusstsein für sich und andere zu entwi-ckeln.

Zur Frage nach dem „Wie“ - wie man Ju-gendliche begleiten und auch Eltern dabei unterstützen kann, gute Gesprächspartner und kompetente Ratgeberinnen für ihre Kinder zu sein, halten die Diskutierenden ein-hellig folgende Grundsätze fest:

1. Man darf Konsum nicht per se verteufeln

2. Rauscherfahrung ist nicht per se schlechtWichtig sei, einen Blick für problemati-

schen Konsum zu entwickeln. Die beiden Schüler in der Runde appellieren, Jugendli-chen mehr zuzutrauen. Auch zuzutrauen, dass sie kritisch über Cannabis reflektieren. Obwohl sie bestätigen, dass viele, die kiffen, Cannabis eher verharmlosen würden. Grund-sätzlich wünschen sich die beiden jungen

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 51

Thementisch 2: Hintergründe, Motive und Verläufe

Kiffen oder Nicht - Kiffen, gehört der Joint zum

„Erwachsenwerden“?

Impulsgeber: Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), Leiter des nationalen Knoten- punktes der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA)

Moderatorin: Melanie Bieber, Mitarbeiterin der Jugendbe-ratung und Suchthilfe Am Merianplatz, Trainerin für Frühinterventionsprojekte (JJ)

 Moderatorin Melanie Bieber (rechts)

52 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Leute in der Runde mehr präventive Angebo-te, Informationen, und dass sie in der Schule oder in anderen Institutionen ohne Scheu über Cannabis sprechen könnten. Dass Kiffen eine Straftat sei, mache es ihnen schwer, mit Lehrern oder auch anderen Bezugspersonen offen zu sprechen. Die Frage, ob Kiffen zum Erwachsenenwerden dazugehört, quittiert ein Schüler lakonisch: „Von einem Joint wird man noch nicht erwachsen.“

Bei der Diskussion über sinnvolle Präventi-onsangebote werden Peer-Projekte an Schu-len als gute Idee festgehalten, statt die Auf-gabe nur Drogenberatungslehrkräfte zu überlassen. Gleichaltrige könnten Jugendli-che besser und vertrauensvoller erreichen, Informationen und Erfahrungen kämen glaubwürdig an.

Als weiteres Thema stellt Impulsgeber Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht und Leiter des nationalen Knotenpunktes der Europäischen Drogenbe-obachtungsstelle, die Frage zur Diskussion, wieviel Sinn oder Unsinn in Kontrollen ste-cken, wie zum Beispiel Urinkontrollen oder das Zimmer zu durchsuchen.

Alle in der Runde halten als Konsens fest, dass das offene Gespräch im Fokus stehen sol-le. Wichtig seien dabei zielgruppenspezifische Beratungsansätze. Hochrisikant Konsumieren-de müssten anders angesprochen werden als Jugendliche, die Cannabis nur mal auspro-bierten und für die eher neu trale, sachliche Informationen über Cannabis wichtig seien, ebenso Hinweise, wo man sich umfassend in-formieren kann. Konsens herrscht auch darü-ber, dass Kiffen für die meisten Jugendlichen ein passageres Phänomen sei und das Motiv dafür eher identifikationsstiftendes Verhalten in der Gruppe und Zeichen der Zugehörigkeit. Was die Diskussion auf das Thema „Gruppe“ bringt und was sie bedeutet. Die Diskutieren-den sehen darin Chance und Risiko zugleich. Chance, weil Jugendliche in der Gruppe aufei-nander Acht geben könnten, wenn auf Partys Cannabis konsumiert werde und registrieren, wenn ein Jugendlicher alleine für sich wegen anderer Probleme konsumiere. Risiko, wenn eine Gruppe von Jugendlichen ausschließlich zu dem Zweck zusammenfindet, Drogen zu konsumieren und darüber hinaus keine weite-re Verbindung zwischen den Jugendlichen besteht.

 

Zunächst werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – zwölf Erwachsene aus verschie-denen Bereichen der sozialen Arbeit, Kommu-nalpolitik, Schulamt, zwei Schüler und eine Schülerin - gebeten, den morgendlichen Vor-trag von Dr. Mark Calmbach zu kommentie-ren. Insbesondere sollen sie beantworten, ob sich neue Einsichten oder neue Aspekte erge-ben haben. Während die Erwachsenen den Vortrag durchgängig als interessant und pra-xistauglich einstufen, kritisieren die Jugendli-chen am Tisch die vorgetragene Idealtypisie-rung der Lebenswelten wie materialistische, hedonistische, expeditive, konservative, bür-gerliche etc.. Jugendliche wollen sich nicht in irgendeine Schublade stecken lassen, sagen sie. Die vielfältigen unterschiedlichen Lebens-formen und Lebensstile machen es notwen-dig, ein eigenes Lebenskonzept zu entwickeln. Dies sei sehr individuell geprägt und würde auch über die unterschiedlichen Bildungsle-vels kaum abbildbar sein.

Diese Art der Darstellung sei eine metho-disch notwendige Option, entgegnet Calm-bach. Es gehe lediglich darum, die Vielfältig-keitsmöglichkeiten zu reduzieren und so etwas wie Ähnlichkeiten und Übereinstim-mungen deutlich zu machen. Gleichzeitig gelte auch die Unschärfe-Relation der All-tagssituationen in den verschiedenen Grup-pen, gleichwohl ergäben sich aus diesen Zu-sammenhänge unterschiedliche Alltags- und Lebenswelten. So würden Jugendliche, die zum Krafttraining gingen, dies aus unter-schiedlichen Motiven heraus tun. Während die materiell hedonistischen Jugendlichen gerne einen kräftigen Körper präsentieren wollen, seien den Expeditiven eher gesuheit-

liche und Fitness-Aspekte wichtig. Bei der Diskussion wird deutlich, dass der Gesund-heitsbegriff bei Jugendlichen eine andere Bedeutung hat als bei Erwachsenen. Jugend-liche verstehen darunter körperliche Fitness, seelische Ausgeglichenheit und die Vermei-dung körperlicher Beeinträchtigungen. Ge-gen den asketischen Gesundheitsbegriff set-zen Jugendliche kalkulierbare zeitlich begrenzte Risiken und Flips.

In diesem Sinne plädieren die Jugendlichen für einen verantwortlichen Umgang mit Sub-stanzen. Die Verteufelungsstrategien „einiger Aufklärer“ seien für Jugendliche nicht glaub-würdig, Dramatisierungen und Kommunikati-on mit Scheuklappen sollten vermieden wer-den. Ein Jugendlicher formuliert zum Abschluss noch einen Slogan, um die Grund-haltung vieler Jugendlicher zu umschreiben: Ein gesundes, selbstreguliertes Maß im Um-gang mit Medien, Handy und Gras.

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 53

Thementisch 3: Zum Auf und Ab des

Erwachsenwerdens – wie ticken Jugendliche heute?

Impulsgeber: Dr. Mark Calmbach, Direktor der Abteilung Sozialforschung am SINUS-Institut

Moderator: Prof. Dr. Hans-Volker Happel, Institut für Suchtforschung (ISFF), Frankfurt University of Applied Science

 

Der Titel ist provokant gewählt und löst in den zwei Gesprächsrunden höchst unter-schiedliche Debatten aus. Während sich die erste Gruppe inhaltlich mit psychiatrischer Komorbidität, also möglichen Begleiterkran-kungen eines intensiven Cannabiskonsums auseinandersetzt, gerät die zweite Runde zur politisierten Auseinandersetzung um lücken-hafte Evidenzen zu negativen Folgen des Konsums, um heterogene und unzureichen-de Studienlagen zu abfallenden Schulleis-tungen, IQ-Verlust oder psychotischen Stö-rungen und um Schlussfolgerungen für Politik und Jugendschutz. Impulsgeber Tobi-as Hellenschmidt, Leitender Oberarzt der In-tensivbehandlungsstation der Vivantes-Ta-gesklinik für Jugendliche und Zentrum für

Abhängigkeitserkrankungen in Berlin, schickt voraus, dass die meisten Cannabiskonsu-menten nicht abhängig seien. Etwa 80 Pro-zent konsumierten experimentell. Dies sei vom Intensivkonsum zu unterscheiden, der als Langzeitfolge zu Abhängigkeit mit psychischer und körperlicher Symptomatik führen könne, die sich nach den ICD 10-Krite-rien beurteilen lasse. Sprich: Suchtverlangen, Entzugserscheinung, Toleranzentwicklungen gegenüber der Droge, Vernachlässigung an-derer Dinge, die fortwährende Beschäftigung mit dem Suchtmittel und Konsum trotz nega-tiver Folgen.

Zur Frage „macht Kiffen dumm und ver-rückt?“ macht Hellenschmidt deutlich, dass die Evidenzen zu psychiatrischen Folgen lückenhaft seien. Sehr heterogen sei die Stu-dienlage zu IQ-Verlust und Psychose, etwas evidenzstärker – aber auch heterogen – sei sie zu Schulleistungen und Intelligenzent-wicklung.

Aus den Evidenzen ließen sich aber Ten-denzen herauslesen. Etwa, dass besonders bei jungen Konsumierenden zwischen 9 und 19 Jahren ein erhöhtes Risiko bestehe für verminderte Gedächtnis- und Lernleis-tungen, ebenso für psychotische Störun-gen. Oder dass zwei Jahre „schulbegleiten-des Kiffen“ zu verschlechterten Leistungen, schlechteren Schulabschlüssen oder häufi-geren Schulabbrüchen führe. Mögliche Langzeitfolgen des Cannabiskonsums seien Depressionen und Entwicklungsstörungen, bei vulnerablen Personen könnten Psycho-sen auftreten.

54 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Thementisch 4 : Risiken und Nebenwirkungen – macht Kiffen

„dumm“ und „verrückt“?

Impulsgeber: Dr. Tobias Hellenschmidt, Leitender Oberarzt der Intensivbehandlungsstation, Jugend- station, Tagesklinik für Jugendliche und Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen, Vivantes GmbH

Moderator: Dr. Thomas Götz, Leiter der Abteilung Psychiatrie im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main

Vor allem die Jugendlichen in der Runde wollten genau über die psychischen und kognitiven Risiken des Konsums Bescheid wissen

Dies wirft bei den Diskutierenden die Fragen auf, ab welchen Mengen Konsum Nebenwir-kungen zeigt, wo die Grenze zu ziehen ist – auch zwischen Missbrauch und Abhängig-keit – wie sich erkennen lässt, wer klinische Behandlung braucht, und ob der Konsum tatsächlich Ursache oder selbst Folge psychi-scher Störungen und Problemlagen ist. Die Diskutierenden sind sich einig, dass es ent-scheidend ist, die Ursachen des Konsums zu klären, dass ein offenerer Umgang mit dem Konsum hilfreich wäre, und dass es dafür ge-schützte Räume brauche.

In der zweiten Diskussionsrunde werden von einer Gesprächsteilnehmerin die Eviden-zen möglicher psychiatrischer Folgen des Cannabiskonsums in Zweifel gezogen. Diese seien nicht hinreichend wissenschaftlich aus-geleuchtet. Möglicherweise werde psychiat-risiert, was kein Problem sei. Entscheidender sei die Frage nach den Folgen von Politik, wie

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 55

 

gesellschaftlich und gesetzgeberisch mit Cannabiskonsum umgegangen werden soll und welcher politische Auftrag sich für einen wirksamen Jugendschutz ableite. Impulsgeber Hellenschmidt wendet ein, dass die politische Diskussion zum Um-gang mit Cannabis nichts mit klinisch-dia-gnostischen Fragen zu tun habe, dass bei-de Themen nicht vermischt werden dürften.

Auch wenn nicht hinreichend belegt sei, ob intensiver Cannabiskonsum Ursache für psychische und kognitive Störungen sei, gebe es doch vernünftige klinische Reak-tionen darauf: „Man muss Menschen mit problematischen Konsum und Begleiter-krankungen eine Behandlung anbieten. Andernfalls dürfte man auch keine Depres-sionen bei Jugendlichen behandeln, für die es ebenfalls keine ausreichenden Un-tersuchungen gibt.“

Risiken und Nebenwirkungen des Cannabis-konsums hat Impulsgeber Dr. Klaus Behrendt in seinem Vortrag bereits umfassend dargelegt und sein Kollege Hans-Günter Meyer-Thomp-son ergänzte, wie die Risiken des Konsums mit Harm Reduction zumindest reduziert werden können. Die Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer am Tisch 5 können sich auf dieser Grundlage gleich mit zentralen Diskussions-fragen beschäftigen: Wie vermittelt man Ju-gendlichen, wann aus Spaß ernst wird? Gibt es „harte“ Kritierien, nach denen sich ein indivi-duell problematisches Konsummuster identifi-zieren ließe? Wie thematisiert man Risiken des Konsums mit Jugendlichen, die kaum in der Lage seien, ihre Vulnerabilität zu verstehen oder einzuschätzen? Die Diskutierenden sind sich einig, dass man Cannabisabhängigkeit als individuelle Problematik und die vielfältigen Formen des Konsums – insbesondere des ex-

perimentellen Konsums – nicht über einen Kamm scheren dürfe. Echte Abhängigkeit lasse sich mit den ICD 10 Kritierien abklären – wie zum Beispiel Suchtverlangen, Entzugserschei-nungen, Vernachlässigung anderer Dinge oder die fortwährende Beschäftigung mit dem Suchtmittel. Kritisch wird angemerkt, dass Cannabiskonsum als illegale Handlung bereits ein Ausschlusskriterium für Hilfen sei, während es Toleranz gegenüber Alkoholmissbrauch gebe. Dies wirft in der Diskussion die Frage auf, ob in Frankfurt Jugendhilfeeinrichtungen feh-len, die Cannabiskonsum tolerieren. Einig sind sich die Diskutierenden, dass spezialisierte An-gebote für Kinder und Jugendliche notwendig sind. Dies führt schließlich zu der Frage, wie sich Regeln und Regulierungen aus der Verhalten-sorientierung von Jugendszenen entwickeln ließen. Eine Antwort: Man muss Einfluss neh-men auf das Image von Cannabis.

56 Gruppendialog| Fachtagung Cannabis 2015

Thementisch 5 : Risiken und Nebenwirkungen – wo hört

der Spaß beim Kiffen auf? Was rät der Arzt?

Impulsgeber und Moderatoren: Dr. Kaus Behrendt, Suchtmedizinischer Chefarzt i.R., ehemaliger Vorsitzen-der der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS)

Hans-Günter Meyer-Thompson, ehemaliges Vorstandsmitglied DGS, Arzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankrungen, Asklepios Hamburg, Klinik Nord-Ochsenzoll

 

Die Impulsgeber Dr. Klaus Behrendt und Hans-Günter Meyer-Thompson (rechts) konnten nach ihren Impulsreferaten gleich in intensive Gesprächs-runden einsteigen

Der erste Anstoß zur Diskussion klingt ernüch-ternd: „Jugendschutz ist bei illegalen Drogen im Gesetz nicht vorgesehen, es gibt keine rechtliche Grundlage dafür.“ Für Impulsgeber Thomas Zosel, Frankfurter Kriminalhaupt-kommissar und zuständig für Prävention und Strategie, ist das ein zentraler Punkt, den der Gesetzgeber dringend ändern sollte. Canna-bis werde für Jugendliche niemals freigege-ben – der medizinische Einsatz im Einzelfall ausgenommen – deshalb sei auch Prävention mit Aufklärung und Transparenz über Risiken, gesundheitliche und strafrechtliche Folgen sinnvoll und notwendig. Darin sind sich in bei-den Gesprächsrunden, an denen sich unter anderen Vertreterinnen und Vertreter von Schulen, Staatlichem Schulamt, Suchtbera-tung, Sozialamt, der Wissenschaft und Medi-zin beteiligen, alle einig. Zumal für alle in der Runde Fakt ist, dass Cannabis trotz des Verbots an Schulen und überall, wo sich Jugendliche aufhalten, ein Thema sei. Der Impulsgeber plä-diert dafür, dass entsprechend der Präventi-onsangebote zu Alkohol- oder Tabakkonsum für Schülerinnen und Schüler ab 13 Jahren auch zu Cannabis frühestmöglich Informa-tions- und Präventions kampagnen laufen soll-ten – breitflächig an allen weiterführenden Schulen.

JUGENDSCHUTZ BEI CANNABISDies wird in den Diskussionsrunden einhellig als sinnvoll erachtet – ebenso wie eine recht-liche Grundlage für den Jugendschutz: Wäre der auch bei illegalen Drogen gesetzlich ver-ankert, könne viel problemloser, offener und ohne Tabuisierung mit Jugendlichen darüber

gesprochen werden und Präventionspro-gramme könnten wirksam greifen. Ideen wie sie an Schulen aussehen können, gibt es vie-le, vor allem sollten mehr externe Stellen wie Suchtberatungen und Experten aus der Pra-xis einbezogen werden: für Vorträge, Schilde-rungen aus der Praxis oder mit Peer-Groups von ehemals Abhängigen.

Mit der rechtlichen Grundlage müssten auch Mittel für den Jugendschutz bereitge-stellt werden, so die einhellige Meinung, da-mit Institutionen Präventionsprojekte aufbau-en und Multiplikatoren fortbilden könnten. Die Realität sei weit davon entfernt, wie die Diskutierenden teils aus dem eigenen Alltag schildern: An Schulen seien Stellen und Stun-denkontingente für Suchtberatung gestrichen

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 57

Thementisch 6 : Sinn und Unsinn

Kann Jugendschutz bei Cannabis gelingen?

Impulsgeber: Thomas Zosel, Kriminalhauptkommissar, Prävention und Strategie, Polizeipräsidium Frankfurt am Main und Kirstin Koch, Präventiver Jugendschutz im Jugend- und Sozialamt Frankfurt am Main

Moderatorin: Sabine Dinges, stellvertretende Teamleiterin im Jugend- und Sozialamt Frankfurt am Main

Impulsgeber Thomas Zosel fordert Gesetzesänderung: Jugendschutz brauche auch bei illegalen Drogen eine rechtliche Grundlage

worden, Lehrkräfte müssten dies im Neben-amt leisten. Beklagt wird auch, dass es die Koordinatorenstelle für Suchtberatungslehr-kräfte Frankfurter Schulamt nicht mehr gebe.

Drogenprävention und Jugendschutz sei-en auch für die Polizei zentrale Anliegen. Über Suchtberatungsstunden an Schulen, zu denen für Drogenprävention zuständige Be-amte von Schulleitungen eingeladen wer-den, informierten sie über Cannabis, erklär-ten rechtliche Konsequenzen, wenn Jugend-liche beim Kiffen oder mit Cannabis in der Tasche erwischt werden. Ein Diskussionsteil-nehmer vom Deutschen Hanfverband sieht es kritisch, wenn Polizei in Schulen auftritt. Zosel macht deutlich, dass dies nur auf Einla-dung der Schulen geschehe, die um Aufklä-rung bitten würden. Nach seinen Erfahrun-gen reagierten die Schülerinnen und Schüler sehr positiv. Vor allem Schilderungen aus dem Alltag der Polizei kämen gut an. Jugend-liche hätten ein sehr großes Bedürfnis nach offenen, sachlichen Informationen rund um das Thema Cannabis. „Sie brennen nach In-formationen“, würden sie auch erwarten und

wollten genau Bescheid wissen über mögli-che Risiken, ab wann Konsum gefährlich ist und warum. Ebenso wollten sie alles über die „repressive Seite“ erfahren und welche straf-rechtlichen Folgen der Konsum haben kann. Dabei gehe es vor allem um Eigenverantwor-tung. Jugendliche müssten lernen, dass sie verantwortlich sind für das, was sie tun, soll-ten sich auseinandersetzen, kritisch reflektie-ren, um verantwortungsbewusst handeln und auch mit Gruppendruck in der Clique umgehen zu können, der gleichfalls Thema in den Gesprächsrunden ist.

FRÜHINTERVENTIONSPROJEKT FRED STATT STRAFE „Präventiv informieren, um nicht repressiv eingreifen zu müssen“ – nach diesem Motto spiele Jugendschutz auch sonst im Frank-furter Polizeialltag eine große Rolle. So wür-den Jugendliche, die mit Cannabis erwischt werden oder häufiger wegen Cannabisdelik-ten aufgefallen sind, von Beamtinnen und Beamten an das Frühinterventionsprojekt FreD des Vereins JJ verwiesen. Die Erfahrun-gen seien positiv: Es wirke durchaus präven-tiv, wenn sich Jugendliche mit dem Thema Cannabis auseinandersetzen, sich Gedanken über ihren Konsum, Motive, über Risiken und mögliche Folgen machen.

Sinn oder Unsinn? Das Fazit fällt in beiden Gesprächsrunden eindeutig aus: Jugend-schutz ist grundsätzlich sinnvoll, brauche aber eine gesetzliche Grundlage, damit Prä-ventionsprogramme wirksam greifen kön-nen. Und – so ein weiteres, zentrales Ergebnis der beiden Diskussionsrunden – Jugend-schutz könne nur gelingen, wenn auch Eltern einbezogen werden. Ebenso wie die Jugend-lichen selbst müssten auch sie gut und um-fassend über das Thema Cannabis informiert sein, Risiken und mögliche Folgen kennen. Sie müssten vor allem auch wissen, worauf es zu achten gilt, wie sie reagieren sollen, wenn ihr Kind Cannabis konsumiert und wo sie sich verlässlich und diskret Rat holen können. Die Informationen müssten so aufbereitet sein, dass sie bei Menschen aus allen Kulturkrei-sen, die in Frankfurt leben, auch ankommen, verständlich und nachvollziehbar sind.

58 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 59

Thementisch 7 : Last Exit – lässt sich Cannabisabhängigkeit

stationär behandeln?

Impulsgeber und Moderatoren: Ulrich Claussen, Koordinator ambulante und stationäre Rehabilitation (JJ)

David Schneider, Mitarbeiter der Fachstelle Evaluation Jugendberatung Jugendhilfe e.V. (JJ)

Das Thema legt nahe, dass der Workshop eher zur Informations- und Fragerunde für die Im-pulsgeber Ulrich Claussen, Koordinator ambu-lante und stationäre Rehabilitation (JJ) und David Schneider, Mitarbeiter der Fachstelle Evaluation Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) und ihre Gesprächsteilnehmer wird. Die Beiden stellen zu Beginn am Beispiel der Fach-klinik Lenzwiese von JJ mit ihrem stationären Abstinenztraining für Cannabiskonsumieren-de (StACK) dar, dass stationäre Cannabisbe-handlung etwa vier bis sechs Monate Arbeits-, Einzel- und Gruppentherapie bedeutet. Ziel: Drogenabstinenz, soziale Integration, Rehabi-litation und Vorbereitung auf den Arbeits-markt. Zielgruppe seien Menschen mit ausge-prägten körperlichen Entzugserscheinungen von Cannabis, einer erhöhten Rückfallgefähr-dung, etlichen erfolglosen Therapieversu-chen, begleitenden psychischen Störungen und belastenden psychischen und sozialen Folgen des Konsums. Die Abhängigen müssen vor der Behandlung clean sein oder – wegen der mehrere Monate langen Nachweisdauer von Cannabis – sinkende Urinprobenwerte nachweisen.

VERSCHULDUNG, SCHULABBRÜCHE, PYCHISCHE FOLGENDas Durchschnittsalter der aktuell 80 Canna-bispatientinnen und Patienten in der Lenz-wiese liege bei 26,1 Jahren. Alle seien Inten-sivkonsumierende, die täglich mehrere Gramm Cannabis genommen hätten, das Gros habe keinen Beruf- und Schulabschluss. Zur Beschreibung der Patienten stellen Schneider und Claussen eine aktuelle Ver-gleichsuntersuchung von 600 Cannabis-

beziehungsweise Heroinabhängigen vor, nach der sich deren bisherige Laufbahnen gar nicht so sehr unterscheiden würden: Ver-schuldung, Schulabbrüche in vergleichbar hohem Umfang, belastende psychische Fol-gen, nachlassende kognitive Leistungen.

Die Erfahrungen in der Fachklinik Lenzwie-se zeigten allerdings, dass deutlich mehr Cannabiskonsumierende ihre Therapie er-folgreich beenden als Opiatabhängige. Bei Can nabiskonsumierenden würden die Werte von Depressionen, Angst und psychosomati-sche Symptome nach vier bis sechs Monaten auf das Normalmaß sinken, und in den ver-gangenen zehn Jahren hätten von 380 Can-

Beim Thema stationäre Therapie ist allen am Tisch schnell klar, dass dies nur für die kleine Gruppe der Intensivkonsumenten in Frage kommt

nabisabhängigen in der Fachklinik Lenzwiese rund 60 Prozent die Therapie erfolgreich be-endet. Bei den Opiatabhängigen liege die Quote bei 41 Prozent.

Zu den beiden Gesprächsrunden des World-Cafés haben sich Schülerinnen und Schüler, Ärzte, Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter des Jugendamtes und der Suchthilfe eingefunden. Den Nachfragen zufolge schei-nen vor allem die Jugendlichen das Bedürf-nis zu haben, dass der Cannabiskonsum grundsätzlich so schlimm gar nicht enden müsse. Schneider und Claussen bestätigen, dass sie bei ihrer Klientel von einem „speziel-len Milieu“ sprechen, jenen zwei Prozent, die zu Intensivkonsumenten zählen, und dass man beim Umgang mit Cannabis grundsätz-lich zwischen gelegentlichem Konsum und Intensivkonsum unterscheiden müsse. Den-noch sei laut Fachverband Sucht seit vorigem Jahr Cannabisabhängigkeit bundesweit die Hauptdiagnose. Gründe seien zum einen die Verfügbarkeit, aber auch, dass Cannabis eine subkulturelle Droge sei, cool und schick in der Hiphop-Szene, die überdies nicht zu der

kompletten Verelendung wie bei Heroin, Amphetaminen oder Kokain führe.

Auch in der Fachklinik Lenzwiese sei der Anteil der Cannabisabhängigen von drei Pro-zent aller Patienten im Jahr 2004 auf inzwi-schen rund 50 Prozent und damit „Platz eins“ gestiegen.

Die stationäre Therapie richte sich nur an Intensivkonsumenten. Für die sei die Legali-sierungsdebatte irrelevant, da Intensivkon-sumenten in der Regel ab dem 14. Lebens-jahr konsumieren – ein Alter, für das Cannabiskonsum ohnehin immer verboten bliebe. Es seien Menschen mit vielen Belas-tungen – familiär, psychisch – die Alkohol, Medikamente, illegale Substanzen zur Kom-pensation oder Krisenabwehr konsumierten. Ihre Situation sei am ehesten ein Argument für die Legalisierung, um juristische Proble-me abzumildern, die Suchtprobleme löse dies aber nicht. Die stationäre Therapie ziele deshalb nicht nur darauf, clean zu werden, sondern auch auf die Erweiterung sozialer Kompetenzen, bessere Stressbewältigung und soziale und berufliche Integration.

60 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Die Diskussionsfrage ist für die Impulsgeber Michael Hallstein, Leitender Polizeidirektor des Polizeipräsidiums Frankfurt, und den Frankfurter Oberstaatsanwalt Thomas Bech-tel, mit einem knappen Satz beantwortet: Es gilt das Legalitätsprinzip. Die Polizei ist ge-setzlich verpflichtet, den Erwerb und Besitz von Can nabis zu verfolgen und alle Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz auch bei der Führerscheinstelle zu melden. Das Gesetz lasse keinen Handlungsspielraum zu. Die ein-zige Ausnahme gelte im Bahnhofsviertel: Suchtkranke, die erkennbar auf dem Weg zu einer der Drogenhilfeeinrichtungen im Vier-tel unterwegs seien, würden nicht kontrol-liert.

LEGALITÄTSPRINZIP ZWINGT ZUR ANZEIGECannabisdelikte führten immer zu einer An-zeige, die jeden Monat in Massen bei der Staatsanwaltschaft auflaufen, wie Ober-staatsanwalt Thomas Bechtel schildert. Das Gros der Strafverfahren werde wegen gerin-ger Mengen (bis sechs Gramm) eingestellt, in der Regel allerdings mit der Auflage, ein Seminar der Frühinterventionsstelle FreD zu besuchen. Etwa 80 Personen, vor allem Ju-gendliche, nähmen aktuell an den Semina-ren teil. In der folgenden Diskussion wird von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einhellig gefordert, dass deutlich mehr in Präventionsangebote investiert werden, und es mehr als nur eine Stunde für Präven-tion in der Schule geben müsste. Dies gerade vor dem Hintergrund der Legalisie-rungsdebatte, die in der Öffentlichkeit diffe-

renzierter geführt werden müsse. Eine Frei-gabe für Jugendliche werde es nie geben – das ist Konsens in der Runde. Besonders die Schülerinnen und Schüler am Tisch spre-chen sich eindeutig gegen eine Freigabe von Cannabis für Jugendliche aus. Sie beto-nen aber auch, dass Verbote Jugendliche nicht vom Kiffen abhielten. Cannabis sei an allen Schulen, bei Partys und Freizeitaktivi-täten ein Thema, wobei die Einstellung der Jugendlichen zur Substanz aber stark variie-re. Das bestätigt auch Moderator, Kriminal-kommissar Lars Küthe beim Frankfurter Poli-zeipräsidium, von seinen regelmäßigen Suchtberatungen in Schulen. So stünden Jugendliche in Berufsschulen, die bereits

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 61

Thementisch 8 : Verbot und Strafe – wie gehen Polizei und

Staatsanwaltschaft mit GrenzverletzerInnen um?

Impulsgeber: Thomas Bechtel, Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und Michael Hallstein, Leitender Polizeidirektor des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main

Moderator: Lars Küthe, Verbindungsbeamter Drogen-hilfseinrichtungen und Justizvollzugsanstalten, Drogenprävention, Polizeipräsidium Frankfurt am Main)

Oberstaatsanwalt Thomas Bechtel: „Das Gros der Strafverfahren wegen Cannabis wird wegen geringer Menge eingestellt“

„ihren“ Weg gefunden und klare Ziele vor Augen haben, Cannabis häufiger kritisch ge-genüber, während Neunt- und Zehntklässler an weiterführenden Schulen Cannabis eher aus Neugier probierten oder als Spaßfaktor bei Partys, zum Chillen und Stressabbau sä-hen, ohne viel über Risiken und Folgen nachzudenken. Eine wichtige Rolle spiele auch der Gruppendruck. Ein „Aha-Effekt“ setze erst ein, wenn sich Jugendliche etwa während der Präventionsstunden mit dem Thema Cannabis und möglichen Risiken auseinandersetzten und über Konsum-muster und -motive reflektierten.

Wie man Prävention stärken und Jugendli-che schützen kann, sollte der Cannabiskon-sum für Erwachsene legal werden, wird zum

weiteren Diskussionspunkt. Gewarnt wird unter anderem vor Parallelmärkten – einen legalen für Erwachsene, während sich der Schwarzmarkt auf Jugendliche als neue Kun-dengruppe konzentrieren werde. Einhellig fordern alle, dass statt der Konsumierenden vielmehr Dealer stärker verfolgt werden müssten. Impulsgeber Michael Hallstein plä-diert dafür, die „Verwerflichkeit der Tat“ eines Dealers schärfer zu bewerten, grundsätzlich von einem Verbrechenstatbestand mit höhe-rem Strafrahmen auszugehen und nicht mehr – je nach gehandelter Menge – zwi-schen Verbrechenstatbestand oder dem ge-ringfügigerem Vergehens-Tatbestand zu un-terscheiden. Beim Konsumierenden solle der Fokus auf Prävention liegen.

62 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

 

Dr. Jens Kalke und Hermann Schlömer stellen für die Diskussionsrunden neue Studiener-gebnisse der Bundeszentrale für gesundheit-liche Aufklärung (BZgA) zum Cannabiskon-sum junger Menschen in Deutschland vor, die einen Anstieg des Cannabiskonsums do-kumentieren. So gaben 17,7 Prozent der jun-gen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jah-ren an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal Cannabis konsumiert zu haben. Im Jahr 2008 waren es noch 11,6 Pro-zent. Ebenso geben mehr 12- bis 17-jährige Jugendliche an, in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis konsumiert zu haben. Waren es 2011 noch 4,6 Prozent, sind es aktu-ell 7,7 Prozent (2014).

Die Impulsgeber zitieren außerdem Marle-ne Mortler, Drogenbeauftragte der Bundes-regierung (vom 15.09.2015): „Offenbar wirkt sich die Gesundheitsgefahren verharmlosen-de Argumentation der Befürworter einer Le-galisierung von Cannabis bereits negativ aus. Statt einer verantwortungslos die Gefahren des Cannabiskonsums verklärenden Darstel-lung, braucht es neben den bestehenden ge-setzlichen Regelungen daher mehr denn je fachlich fundierte Aufklärung über die ge-sundheitlichen Risiken, die gerade für Kinder und Jugendliche mit dem Konsum des illega-len Rauschmittels einhergehen.“

Demgegenüber stellen sie die Entgegnung von Dr. Bernd Werse, für den „Schildower Kreis“ (vom 22.09.2015) zur Diskussion: „Zur Aussage selbst ist zu sagen, dass der Canna-biskonsum junger Menschen bis Anfang der 2000er Jahre deutlich stärker bzw. höher an-stieg als dies aktuell der Fall ist; damals gab es

keine auch nur annähernd vergleichbare öf-fentliche Diskussion um eine mögliche ge-setzliche Regulierung des Cannabisange-bots. Zahlreiche Beispiele aus anderen Ländern haben gezeigt, dass sowohl das Re-den über Entkriminalisierung als auch tat-sächliche Liberalisierungsmaßnahmen kei-nen nennenswerten Einfluss auf die Entwicklung der Cannabisverbreitung ha-ben. Da Befragungen ohnehin nicht als 1:1-Abbild der Realität zu verstehen sind, er-scheint eine andere Hypothese weitaus plau-sibler als die von Frau Mortler geäußerte: nämlich, dass im Zuge der Entkriminalisie-rungsdiskussion schlichtweg mehr junge Leute ihren Konsum zugeben und die tat-

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 63

  Impulsgeber Dr. Jens Kalke und Herman Schlömer im Gespräch mit vielen jungen Leuten

Thementisch 9: Regulierung und Freigabe – beeinflusst

die Debatte Jugendliche?

Impulsgeber und Moderatoren: Dr. Jens Kalke, Sucht-forscher und Sozialwissenschaftler, Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung (ISD)

Hermann Schlömer, Pädagoge und Psychologe (ISD)

sächliche Zahl der Konsumierenden gar nicht zugenommen hat.“

Die Meinungen in den Diskussionsrunden sind ebenfalls konträr – und unentschieden. Möglicherweise beeinflusse die Debatte um Freigabe von Cannabis Jugendliche, aber niemand wisse wie, da empirische Daten fehlten. Während die einen darin verharmlo-sende Signale sehen, die den Erstkonsum förderten und Jugendlichen keine Orientie-rung geben, sehen andere darin die Chance, offener mit dem Thema Cannabis umzuge-hen, einen besseren Informationsaustausch zu ermöglichen, der wiederum einen be-wussteren, reflektieren Umgang mit der

Substanz bewirken könne. Die kontroverse Diskussion ermögliche Jugendlichen eher, eine zielführende Haltung zu entwickeln. Gleichzeitig eröffne die Offenheit gegen-über dem Thema auch die Chance, über Harm Reduction und Prävention zu reden. Ein Schüler in der Runde mahnt, Jugendli-che nicht zu unterschätzen. Und weitaus mehr als von Freigabe-Diskussion ließen sich Jugendliche von dem beeinflussen, was Freunde sagen oder tun. Umso wichtiger sei es, dass junge Leute gut aufgeklärt seien, um ihr eigenes Urteil zu bilden und auch un-ter Gruppendruck danach zu handeln – und selbstbewusst „nein“ zu sagen zum Konsum.

64 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

 

Frühintervention und Beratung – Stichworte, zu denen allen in der Runde spontan eines einfällt: Vertrauen. Kontakt zu Jugendlichen aufnehmen und eine vertrauensvolle Bezie-hung aufbauen, in Austausch kommen, das seien die zentralen Punkte. Frühintervention solle eine Pause vom Alltag bieten, in ge-schütztem Raum Informationen geben, Schwellen senken auch zu anderen, weiter-führenden Angeboten. Damit all dies gelingt und Vertrauen entsteht, müssten Jugendli-che in ihrer ganzen Persönlichkeit gesehen werden, ihr Drogenkonsum dürfe zumindest am Anfang nicht im Vordergrund stehen.

Gespräche ohne Tabus: mit dem Thema Frühintervention ist für alle am Tisch auch Harm Reduction verbunden. Wie geht es in der Schule, wie in der Familie und mit Freun-den? Wie sieht es mit Hobbys aus? Was be-schäftigt den oder die Jugendliche? Wo gibt es Probleme? All diese Fragen gelte es zuerst zu klären, sind sich alle in der Runde einig, denn der Drogenkonsum sei häufig nur eine Folge von anderen Dingen.

Wo Frühintervention ansetzen und wie sie aussehen sollte, sind weitere Themen in den beiden Gesprächsrunden, in denen Vertrete-rinnen und Vertreter von Drogenberatungs-stellen, des Jugendjobcenters, Schüler und Schülerinnen und Lehrkräfte zusammenge-funden haben. Ein Weg zum „Erstkontakt“ wird am Beispiel der Frühinterventionsstelle FreD am Merianplatz deutlich, die sich vor al-lem an auffällig gewordene junge Leute wen-

det: Die meisten Jugendlichen werden von Polizei oder der Gerichtshilfe geschickt, nach-dem sie wegen Cannabisdelikten angezeigt wurden. Als weitere Wege, um Zugang zu Jugend lichen zu finden, werden einhellig von den Diskutierenden Peer-Konzepte er-achtet, da Jugendliche eher mit kompeten-ten Jugendlichen sprechen würden als mit erwachsenen „Aufklärern“, wie eine Schülerin in der Runde bestätigt. Außerdem müssten Angebote der Frühintervention in die Lebenswelt junger Menschen eintauchen, in sozialen Netzwerken präsent sein, in Schulen und überall, wo sich Jugendliche in ihrer Frei-zeit aufhalten. Aus ihrer Sicht als bald Volljäh-rige beschreibt eine Schülerin wie Jugendli-che in Beratungsgesprächen angesprochen

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 65

Thementisch 10: Frühintervention und Beratung – was können

ambulante Hilfen leisten?

ImpulsgeberInnen: Mohamed Naji, Mitarbeiter der Jugend- und Drogenberatung Frankfurt-Höchst (vae),

Ricarda Vogel, Mitarbeiterin der Jugendberatung und Suchthilfe Am Merianplatz, Leiterin des Früh - inter ventionsprojektes FreD (JJ)

Moderatorin: Edith Schmidt-Westerberg, Mitarbeiterin der Evangelischen Suchtberatung, Evangelischer Regio nalverband Frankfurt am Main)

  Frühintervention setzt Vertrauen voraus – für alle am Tisch ist dazu auch Harm Reduction ein wichtiges Instrument

werden sollten: Nicht beleh-rend mit erhobenem Zeigefin-ger, sondern wertschätzend, auf Augenhöhe. Berater soll-ten nicht als all wissende Ex-pertinnen und Experten auf-treten, vielmehr die Sicht des oder der Jugendlichen erfra-gen. Nicht zuletzt müssten die Gespräche in einem geschütz-ten Raum laufen und der Schweigepflicht unterliegen.

Angesichts steigender Zah-len von Jugendlichen, die ris-kant konsumieren, kommen die Diskutierenden einhellig zum Schluss, dass auch Harm Reduction ein sinnvoller Be-

standteil der Frühintervention sei. Welche Folgen es für die Frühintervention

hätte, wenn Cannabiskonsum entkrimina-lisiert würde, schließt sich für die Diskutieren-den als logische Frage an. Ihr Fazit: Jugend-

liche wären leichter und vor allem sehr viel früher über die Schule zu erreichen, wenn Cannabiskonsum aus der Kriminalitätsecke geholt würde und ganz offiziell Thema in der Schule sein könnte.

Unabhängig von der Frage Legalisierung ja oder nein ist für die Gesprächsteilnehmerin-nen und -teilnehmer am Tisch jedoch ent-scheidend, dass Frühintervention als wichtig anerkannt wird und ausreichend finanzielle Mittel dafür bereitgestellt werden. Was sie ge-nerell leisten soll – und kann – fasst die Runde in folgenden Punkten zusammen: Frühinter-vention soll den ersten Zugang zu Jugendli-chen schaffen, soll Reflexionsmöglichkeiten über die persönliche Lebenssituation, über Substanzen und den eigenen Konsum anbie-ten, soll Jugendlichen, die mal probiert, aber auch schon über Konsum nachgedacht ha-ben, den Austausch auf Augenhöhe ermögli-chen und Jugendliche, die den Konsum been-den möchten, unterstützen und alle nötigen Hilfen dazu organisieren.

66 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

 

Mohamed Naji

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den beiden Gesprächsrunden repräsentieren ein ausgewogenes Bild: Jugendliche und Er-wachsene halten sich in etwa die Waage – und zu einem Punkt der Frage herrscht spon-tan Einigkeit, ohne dass die beiden Impulsgeberinnen, Silvia Schwarz, Elterncoa-cherin und Leiterin der Jugendberatung und Suchthilfe Sachsenhausen (JJ), und Charlotte Sturm, Leiterin des Bereiches Prävention und Beratung des Vereins Arbeits- und Erzie-hungshilfe, lange fragen müssen: Schweigen geht gar nicht. Einig sind sich alle Jugendli-chen auch sofort, was Sie von Eltern erwar-ten. Es sei deren „Job“, frühzeitig und umfas-send über Cannabis, Konsumformen und -muster sowie über gesundheitliche und strafrechtliche Risiken informiert zu sein. Die Schülerinnen und Schüler am Tisch betonen einhellig, dass sie sich ihre Eltern als „infor-mierte Vertrauenspersonen“ wünschen – und auch, was sie nicht wollen: Eltern, die mit „überzogener Besorgnis“ auf das Thema Can-nabis oder einen Joint zum Ausprobieren re-agierten. Das behindere ebenso eine offene, sachliche Kommunikation auf Augenhöhe wie Verbote und Sanktionen.

ELTERN OFT ZU WENIG INFORMIERT Der Wunsch, „kompetente, gut informierte Partner“ in der Familie zur Seite zu haben, und die Wirklichkeit lägen aber oft weit voneinan-der entfernt, so die nüchterne Bilanz. Viele El-tern wüssten nur wenig oder sehr oberfläch-lich Bescheid; ebensowenig, was Jugendliche in ihrer Freizeit, auf Partys, im Freundeskreis oder in der Schule konsumierten und was ge-

rade angesagt sei. Für Jugendliche seien Eltern deshalb auch nicht unbedingt die erste Adres-se, mit denen sie über Cannabis sprechen wür-den. Fragen oder Probleme würden eher mit Freundinnen und Freunden erörtert, denen mehr Sachverstand und Expertenwissen zu-getraut werde.

Ein Vater will wissen, ob er sich mit seinem jugendlichen Sohn einen ersten gemeinsa-men Joint genehmigen solle – so wie er mit ihm auf das erste gemeinsame Bier ange-stoßen hat – um als Ansprechpartner ernst ge-nommen zu werden. Aber das weisen die Ju-gendlichen zurück. Ihnen gehe es nicht um Kumpanei, sondern um eine andere Struktur der Kommunikation. Eltern sollten sachlich über „Schattenseiten“ und Risiken des Kon-sums sprechen, aber auch das Positive, das Ju-gendliche mit dem Kiffen verbinden, nicht

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 67

Thementisch 11: Kiffen in der Familie – schweigen, reden,

Grenzen setzen: was hilft?

Impulsgeberinnen und Moderatorinnen: Silvia Schwarz, Leiterin der Jugendberatung und Suchthilfe Sachsen- hausen, Elternchoacherin (JJ)

Charlotte Sturm, Leitung des Bereiches Prävention und Beratung, Verein, Arbeits- und Erziehungshilfe e.V.

Schweigen geht gar nicht, da sind sich alle einig

schlecht reden, sondern sich sachlich damit auseinandersetzen. Das bedeute, die Neugier, es mal auszuprobieren, den Nervenkitzel des Verbotenen oder den Spaßfaktor auf der Party als Motiv akzeptieren. Eltern müssten zum Bei-spiel auch erkennen und berücksichtigen, dass sich ihre Kinder im Freundeskreis anders verhalten als zu Hause besprochen und des-halb die „Rahmenbedingungen“ betrachten, in denen Jugendliche handeln. Einig sind sich Jugendliche wie Erwachsene in beiden Run-den, dass Eltern deutlich mehr Informations-möglichkeiten bräuchten. Wissen und Sach-verstand solle keine Exklusivität, sondern

Selbstverständlichkeit sein. Dies wirft die Fra-ge auf, weshalb in der allgemeinen Debatte um Cannabis und Cannabiskonsum unter Ju-gendlichen Eltern kaum eine Rolle spielten. Einerseits werde immer betont und auch von der Forschung bestätigt, welch wichtige Rolle Eltern spielen, dies stehe aber in Diskrepanz zur Einbeziehung der Eltern als Akteure in die Diskussion um Cannabiskonsum bei Jugendli-chen. Für die Diskutierenden – Jugendliche wie Erwachsene – ist das ein schwerwiegen-der Kritikpunkt in der Debatte um Cannabis: „Wir leisten es uns, die Familien als Hauptak-teure außen vor zu lassen.“

68 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

In den Diskussionsrunden wird eine klare Po-sition der Schule zum Konsum der Schülerin-nen und Schüler eingefordert. Es sei notwen-dig, dass das Kollegium eine gemeinsame Haltung erarbeite – auch wenn dies schwie-rig und nicht hinreichend umsetzbar sei. In den Prozess sollten neben den Schulleitun-gen auch die Beratungslehrkraft, Vertrauens-lehrerinnen und -lehrer, Schulpsychologen, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern ein-bezogen werden. Dieser Diskussionsprozess könne in eine Vereinbarung zum Konsum von Cannabis und anderen Stoffen („Sucht-vereinbarung“) an der Schule münden. Kom-munikation und ein gemeinsames Agieren aller Beteiligten seien wichtig.

In den Gesprächsrunden wurde betont, dass Lehrkräfte nicht konsumierende Schü-lerinnen und Schüler schützen und den Handel mit Cannabis auf dem Schulgelän-de unterbinden müssten. Sie müssten auch sicherstellen, dass der Unterricht nicht be-einträchtigt werde und ein störungsfreies Lernen für alle gewährleistet sei. Dazu sei es wichtig, dass Lehrkräfte ihre eigene Rol-le klären und dabei auch über Grenzen der Verantwortung nachdenken.

Einig sind sich aller, dass der jugendliche Konsum von Suchtmitteln, auch von Cann-abis, ein Thema an der Schule sein müsse. Mit konsumierenden Jugendlichen solle möglichst frühzeitig gesprochen werden, wenngleich auch ihre Entwicklungsfreiheit und Neugier zum Ausprobieren akzeptiert werden solle. Lehrkräfte sollten sich Rat holen und Krisenteams, Vertrauenslehr-kräfte, Schulleitung und gegebenenfalls die Schulsozialarbeit hinzuziehen.

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 69

Thementisch 12: Kiffen in der Schule – was kann und

muss Schule tun?

ImpulsgeberInnen und ModeratorInnen: Julia Kerfin, Lehrerin bei der Fachberatung für Suchtprävention am Staatlichen Schulamt Frankfurt

Oliver Krause, Teamkoordinator der Fachstelle Prävention (vae)

Das Thema Cannabis solle offen in der Schule behandelt werden, Lehrkräfte sollen notfalls externe Expertinnen und Experten zu Rate ziehen.

Wie rutscht man in eine Abhängigkeit? Was passiert mit dem eigenen Leben? Zwei ehe-mals cannabisabhängige Schüler des Bil-dungszentrums Hermann Hesse, einer schu-lischen Reha-Einrichtung für junge Menschen mit Suchtproblemen, haben jahrelange Er-fahrung mit Cannabis hinter sich: Einstieg mit 14, Entfremdung von alten Freunden, Schulabbruch, Psychose, drohende Haft …. Beide erzählen ihren Werdegang, was die Ge-spräche am Tisch zunächst auf die Themen Abhängigkeit und abhängiger Konsum lenkt und auf die Fragen: Welche Rolle spielt das Elternhaus, welche Rolle spielen Gleichaltri-ge? Wie sollten Eltern reagieren, wenn sie

den Konsum bemerken? Das einhellige Fazit – nach den Schilderungen der Ex-Betroffenen: Eltern und relevante Bezugspersonen sollten in jedem Fall im Gespräch mit dem konsu-mierenden Jugendlichen bleiben – allerdings nicht moralisierend und mit erhobenen Zei-gefinger mit Gefahren und Verboten drohen, sondern sachlich und auf Augenhöhe mit dem oder der Jugendlichen über Motive, Konsumverhalten, Folgen des Konsums, Beratung und Hilfe sprechen.

Neben den beiden Schülern des BZ Hermann Hesse und Stadtschülersprecher Lukas Schneider als Impulsgeber sitzen weite-re Schülerinnen und Schüler in den Gesprächs-runden. Alle bestätigen, dass Cannabis sowohl in den Schulen als auch im privaten Umfeld von Jugendlichen sehr präsent sei. Es gebe kaum eine Party, auf der nicht gekifft werde. Allerdings könne man sich gut davon distan-zieren, so die Erfahrung der Schülerinnen und Schüler, es gebe keinen Gruppendruck. Nach ihrer Wahrnehmung sei es immer eine kleine-re Gruppe, die in einem Umfang konsumiere, dass es auffalle.

PRÄVENTION AN SCHULEN ÜBER PEERS Alle Schülerinnen und Schüler am Tisch wünschen sich eine andere Form der Prä-vention an Schulen und fordern, mehr ehe-mals abhängige junge Leute mit einzube-ziehen. Schilderungen von Ex-Betroffenen seien viel eindrücklicher und nachhaltiger als Informationen und Warnungen von Lehr-kräften oder Präventionsfachkräften. Sie for-dern überdies mehr regelhafte psychologi-sche Betreuung und Vertrauenspersonen an Schulen.

70 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Thementisch 13: Erfahrungen und Einschätzungen – was

sagen Jugendliche selbst zu Cannabis?

Impulsgeber: Zwei Schüler des Bildungszentrums Hermann Hesse und Lukas Schneider, Stadtschüler-sprecher der Stadt Frankfurt

Moderator: Uwe Heilmann-Geideck, Koordinator der Jugendberatung und Suchthilfe am Bildungszentrum Hermann Hesse (JJ)

Intensive Gespräche im Saal

Wie allgegenwärtig das Thema Cannabis in ihrer Lebenswelt sei, schildern die jungen Leu-te auch am Beispiel Medien. Es gebe keine amerikanische Sitcom, in der nicht auch Can-nabis Thema wäre. Wobei dies immer witzig, humorvoll, eingebettet in eine Spaßkultur ver-arbeitet werde, nie krisenhaft oder problem-behaftet. Wenn überhaupt negativ, dann sei der Kiffer der „Trottel vom Dienst“. Die Schüle-rinnen und Schüler geben an, dass sie das nicht zum Konsum animiere – ob und inwie-weit die Medienbotschaften unterschwellig wirken könnten, wird nicht diskutiert.

Auch die Frage einer Präventionsfachkraft in der zweiten Gesprächsrunde, wie glaub-

haft die Debatte über Cannabis bei Jugendli-chen ankommt, wenn gleichzeitig der Alko-holkonsum mit teils schwerwiegenderen gesundheitlichen Folgen legal sei, greifen die Schülerinnen und Schüler nicht auf, son-dern halten den Fokus auf Cannabis. Dass-ihnen die älteren Gesprächsteilnehmer in den Runden – Beratungslehrkräfte, ein Kin-der- und Jugendpsychiater, Vertreterinnen und Vertreter von Prävention und Suchthilfe sowie des Präventionsrats – den Raum für ihre Anliegen lassen, werten sie nach den Diskussionsrunden als positiv. Sie fühlen sich angenommen, respektvoll, wertschätzend und auf Augenhöhe behandelt.

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 71

In einem Punkt sind sich alle am Tisch Num-mer 14 sofort einig: Das Fragezeichen hin-term ersten Teil ihres Diskussionsthemas ist überflüssig – die Frage ist mit einem klaren „Ja“ zu beantworten: Niedrigschwellige Hil-fen sind notwendig! Zumal alle in der Runde überzeugt sind, dass überall dort, wo sich Ju-gendliche aufhalten, auch Kiffen ein Thema ist. Für den zweiten Teil der Frage tragen die Impulsgeber Wolfgang Sterneck, Leiter des Alice-Projekts von Basis e.V. und sein Kollege Frank Günther, Projektleiter „Legal-High-In-haltsstoffe.de“, gemeinsam mit den Diskutie-renden zusammen, was niedrigschwellige Hilfen kennzeichnet:

§  dass man sehr schnell und unkompliziert mit Leuten in Kontakt kommt

§  dass Personen mit ihrer Entscheidung, Can-nabis zu konsumieren, akzeptiert werden, um sie überhaupt zu erreichen

§  dass Hilfen dort angeboten werden, wo sich Jugendliche bzw. Konsumierende oder Drogenabhängige aufhalten – in Schulen, Parks, Jugendhäusern ...

§  dass Personen akzeptiert, wertgeschätzt und ernst genommen werden, ohne Erwar-tungen aus der eigenen Perspektive.

All das schaffe eine Vertrauensbasis, auf der gemeinsam mit dem oder der Jugendlichen auf Augenhöhe geredet und weitere Wege entwickelt werden könnten. Dabei gehe es nicht darum, was man für Jugendliche, son-dern was man mit ihnen gemeinsam entwi-ckeln könne. Nach längerer Debatte über die Überschrift kommt die Runde zu dem Schluss, das Wort „Hilfen“ durch „Angebote“ zu erset-zen, um sich vom Defizitansatz zu lösen. Kif-fende Jugendliche seien nicht zwangsläufig problembelastet und sie bräuchten nicht alle zwangsläufig Hilfe. Stattdessen sollten ihnen Angebote gemacht werden wie etwa Aufklä-rung und Informationen, Safer Use-Hinweise, Harm Reduction. Der Fokus solle nicht auf „dem Problem“, sondern auf einer Stärkung der Person liegen. Jugendliche sollten mün-dig und kompetent im Umgang mit Substan-zen sein und alle nötigen Informationen und Hilfsmittel an die Hand bekommen.

Einig sind sich die Diskussionsteilnehmerin-nen und -teilnehmer auch, dass niedrigschwel-lige Angebote Türöffner zu den Jugendlichen seien, ohne sie bleibe die Tür zu. Junge Men-schen kämen zum Beispiel selten von alleine in

72 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Thementisch 14: Niedrigschwellige Hilfen – sind sie

überhaupt notwendig und was können sie bewirken?

Impulsgeber: Wolfgang Sterneck, Projektleitung Alice, (Basis e.V.)

Frank Günther, Projektleitung „Legal-High-Inhaltsstoffe.de“ (Basis e.V.)

Moderatorin: Monika Fuchs, Geschäftsführerin (Basis e.V.)

Niedrigschwellige Hilfen sollten besser Angebote genannt werden - und sind als „Türöffner“ notwenig, sind sich die Diskutierenden einig  

eine Drogenberatungsstelle. Angeregt wird, stärker mit Peer-Groups zu arbeiten – mit ge-schulten Jugendlichen, die Aufklärung und Be-ratung anbieten. Wenn Jugendliche zu Ju-gendlichen sprechen, habe dies eine hohe Authentizität und Glaubwürdigkeit. Im Übri-gen sei nichts peinlicher, als wenn ein Biolehrer über Cannabis referiere und die Schüler seien besser informiert. Das Peer-Group-Konzept wird als zentrales Ergebnis der Gesprächsrun-de festgehalten. Ein weiterer wesentlicher Punkt, in dem sich die Diskutierenden einig sind: Es brauche Räume, in denen Jugendliche offen reden, reflektieren und sich ohne morali-schen Input von außen intensiv mit sich und ihrem Konsum auseinandersetzen können. Ju-gendliche seien Experten ihrer eigenen Le-bensrealität, ihr Potenzial zur Reflexion werde oft unterschätzt. Sobald sie den Raum dazu haben, würden sie sich öffnen, auch mit sach-kundigen Erwachsenen reden.

HARM REDUCTION UND SAFER USEStoff für längere Debatten liefern die Stich-worte Harm Reduction und Safer Use. Bei kif-fenden Jugendlichen gehe es zunächst nicht um „kiffen ja oder nein“, um „gesund oder ungesund“; der erste Schritt sei, sie zu bewe-gen, risikoärmer und weniger schädlich für ihre Gesundheit zu konsumieren. Gleichzeitig gehe es darum, Jugendliche, die nicht kiffen, in dieser Hal-tung zu bestärken. In diesem Sinne setzen niedrigschwelli-ge Ange bote nicht erst nach einem Substanzgebrauch an.

In den Gesprächsrunden werden Harm Reduction eben-so wie Safer Use-Hinweise kon-trovers diskutiert. Die Ansätze bewegten sich rechtlich in einer Grauzone, die schaffe in der Praxis Probleme. Harm Reduc tion könne als Anleitung zum Konsum einer illegale Drogen und Verharmlosung der Gefahren verstanden wer-den. In Schulen oder Jugend-

zentren sei es deshalb problematisch und ein gesetzlicher Spagat, mit Jugendlichen über Harm Reduction oder Safer-Use zu sprechen. Als Gegenargument wird genannt, dass Jugendliche, die kiffen wollen, es auch tun – egal was im Gesetz steht. Harm Reduction sei ein niedrigschwelliges Angebot, um mit Ju-gendlichen ins Gespräch zu kommen und zu erreichen, dass sie über ihren Konsum reflek-tieren und Problembewusstsein entwickeln können.

Einig sind sich die Diskutierenden, dass niedrigschwellige Angebote sehr individuell auf Jugendliche eingehen müssten. Für jedes Milieu, jede Gruppe brauche es eine „eigene Ansprache“ und eigene Beratungsangebote. Bei Jugendlichen, die problematisch konsu-mieren, müsse man über ihre Motivation zum Konsum sprechen. Meist seien sie mit einer Vielzahl an Problemen belastet. Deshalb sei es wichtig, nicht nur auf den Cannabiskon-sum zu schauen, sondern auf die gesamte Lebenssituation. Nur wenn die grundsätzli-chen personenbezogenen Probleme ange-gangen würden, werde sich auch der Um-gang mit Substanzen ändern.

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 73  

Der Titel liefert ersten Gesprächsstoff – sug-geriert er doch, dass Kiffen im Jugendhaus ein Fakt ist. Auch wenn die beiden Vertrete-rinnen vom Jugendhaus Nied das nur für ihre eigene Einrichtung bestätigen können, sind sich alle Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmer quer durch alle Alters-stufen doch schnell einig, dass der Cannabis-konsum im Jugendhaus ein relevantes The-ma ist – und dass der Konsum nicht durch Wegschauen toleriert werden kann und soll. Wobei es beim „Hinsehen“ nicht um Krimi-nalisierung der Jugendlichen gehen dürfe. Auch die Frage legal oder illegal sei irrele-vant, darin sind sich alle am Tisch schnell einig. Vielmehr gelte es auszuloten, in wel-chem Zusammenhang konsumiert wird, in vertrauensvoller Gesprächsatmosphäre nach den Hintergründen zu schauen und danach wie konsumiert wird. Sprich: Ob es sich um einen „Gebrauch“ aus Neugier und/oder altersgemäßem Risikoverhalten oder schon

um „Abhängigkeit“ und „Missbrauch“ han-delt.

Einige Gesprächsteilnehmer berichten aus ihrer Erfahrung als Sozialpädagogen oder Ju-gendbetreuer, dass der Cannabiskonsum über die Jahre in Wellen bewegungen anstei-ge und abebbe. Bereits in den 90er Jahren sei Cannabis ein großes Thema gewesen, danach jahrelang kaum, und seit zwei, drei Jahren nehme der Konsum unter Jugendli-chen wieder zu. Mit einem Unterschied zu den 90ern, so die Beobachtung: Jugendli-che würden heute offener konsumieren, sich nicht mehr außerhalb des Jugend-haus-Geländes verstecken, um heimlich zu kiffen. Konsumiert werde zwar nicht im Ju-gendhaus, aber doch sichtbar in irgendeiner Ecke des Jugendhausgeländes. Die Diskutie-renden deuten dies einerseits als „Ge-sprächsangebot“, sprich: Jugendliche woll-ten angesprochen werden auf ihren Konsum. Andererseits zeige sich darin ein legerer Umgang, nach dem Motto „so richtig illegal ist kiffen nicht“.

Das decke sich mit den Erfahrungen, die kiffende Jugend liche im Alltag machten: Selbst wenn sie von der Polizei erwischt werden und eine Anzeige kassieren, würden alle Verfahren eingestellt und letztlich pas-siere nichts. Als ernsthaftes Problem werde die Anzeige von Jugendlichen in der Regel nur erachtet, wenn ein Führerscheinentzug oder eine MPU drohe.

Als weitere Beobachtung wird genannt, dass der alte Spruch „Hasch macht lasch“ - nach heu-tigem Jargon „gechillt“ - nicht mehr auf alle zutreffe. Im Gegenteil zeige eine relevante An-zahl von Jugendlichen unter Cannabiseinfluss

74 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

Thementisch 15: Kiffen im Jugendhaus – hin- oder weg-

schauen: Was ist an Hilfen möglich und nötig?

Impulsgeberin: Melanie Teckie, Pädagogin, Jugendberatung Nied, Projektgruppe Kind in Nied e.V.

Moderatorin: Dagmar Thiel, Geschäftsführerin der Projektgruppe Kind in Nied e.V.

  Gekifft wird überall, wo sich Jugendliche aufhalten - und sie tun es offener als früher, so die Beobachtung

auch aggressives Verhalten – Wutausbrüche, Sachbeschädigungen, kör per liche Attacken kämen durchaus vor. Das bestätigen auch die Moderatorinnen vom Jugendhaus Nied aus ihrer Erfahrung: „Es ist eine neue Fest-stellung, dass Jugendliche unter Cannabis-einfluss nicht nur verstärkt Durst und Hun-ger haben und sich Süßigkeiten holen, sondern völlig unsinnige Aktionen machen, die auch strafrechtliche Folgen haben wie Diebstahl, gegen EC-Schalter treten oder in den Schalterraum einer Bank urinieren.“ Ob-wohl die Diskutierenden zwei unterschied-liche Positionen vertreten, wie darauf zu re-agieren sei – Grenzen setzen und auf der Beziehungsebene die Situation mit den Ju-gendlichen reflektieren einerseits und ande-rerseits eine harte Linie fahren – sind sich alle einig, dass die strafrechtliche Relevanz der Taten nicht im Vordergrund stehen dür-fe. Jugendlicher Cannabiskonsum solle aus

der „Kriminalitäts-Ecke“ geholt werden, um offen über den Konsum mit all seinen Be-gleiterscheinungen und Folgeproblemen wie Schulden, Schulabbruch oder Jobver-lust sprechen zu können. Einige Diskutie-renden aus pädagogischen und sozialen Be-rufen äußern ihre Unsicherheit, inwieweit sie dies mit konsumierenden Jugendlichen überhaupt dürfen, ohne in Konflikt mit dem Gesetz zu kommen. Auch deshalb plädieren sie für die Entkriminalisierung. Legal werde der Konsum für Jugendliche deshalb nicht, da eine Legalisierung erst ab 23 Jahren gel-ten würde – das stellt niemand in den Ge-sprächsrunden infrage.

Die Diskutierenden sind sich aber einig, dass eine Entkriminalisierung von jugendli-chem Cannabiskonsum nur positiv sei. Ihr Fazit: Sie brächte Offenheit, neue Möglich-keiten der Information, Aufklärung und Re-flexion und erschwere Dealern das Geschäft.

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 75

 

Die Diskussionsfrage, „darf“ sich etwas än-dern, wird in Runde 1 am Tisch sogleich um „soll“ ergänzt und die Meinung in der Grup-pe, in der sich zum großen Teil Fachleute und Experten aus Politik und Wissenschaft ver-sammelt haben, tendiert eindeutig zum zweiten: Es solle sich etwas ändern. Der Sta-tus Quo der Illegalität verhindere Forschung, lasse den Schwarzmarkt florieren, binde Ka-pazitäten bei der Polizei, erschwere den Ju-gendschutz, da man mit Jugendlichen nur unter Bedingungen der Legalität offen ins Gespräch kommen könne. Der Ist-Zustand sei auch unbefriedigend, weil die „Kriminali-

sierung“ von Cannabiskonsumenten regional sehr unterschiedlich praktiziert werde. Nicht zuletzt müsse der Zugang zu Cannabis als Medikament erleichtert werden.

BREITE DEBATTE UND DRUCK VON UNTENUm Politik zu bewegen, brauche es „Druck von unten“ und eine breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Cannabis, sind alle in der ersten Diskussionsrunde über-zeugt. Eine Debatte, bei der auch die Illegali-tät von Cannabis als gesellschaftliche „Kon-vention“ hinterfragt werde, an der bisher niemand zu rütteln wage – trotz der „Bigotte-rie“ mit Blick auf die legale Droge Alkohol und ihre Folgen. Auch der Forschung wird von den Diskutierenden eine wichtige Rolle zugeschrieben, die vorangetrieben und un-terstützt werden solle. Die Politik müsse „mu-tiger“ werden, so der Tenor der ersten Ge-sprächsrunde. Politik müsse das Thema pragmatisch angehen, sich offen mit fachli-chen Fragen auseinandersetzen und vor al-lem das Betäubungsmittelgesetz überprü-fen, ob es seine Ziele erreicht. Die Mehrheit der Diskutierenden plädiert dafür, Formen der Regulierung zu finden, sich dabei Bei-spiele in anderen Ländern anzuschauen, Kommunen einzubinden und einen über-greifenden Jugend- und Verbraucherschutz zu organisieren, zu denen Prävention, Harm Reduction und Gesundheitsförderung ge-hörten. Außerdem solle wie bei Tabak und Alkohol eine Altersgrenze für den Cannabis-konsum festgelegt werden – ein Vorschlag aus der Runde lautet 21 Jahre.

Dem stimmen auch die Schülerinnen und Schüler in den beiden Diskussionsrunden zu,

76 Gruppendialog | Fachtagung Cannabis 2015

 

Thementisch 16: Cannabis und Politik – Darf sich

etwas ändern?

ImpulsgeberInnen und ModeratorInnen: Beatrix Baumann, Stellvertretende Geschäftsführerin der Integrativen Drogenhilfe (idh)

Karsten Tögel-Lins, Projektleitung „Legal-High-Inhaltsstoffe.de“ (Basis e.V.)

Konträre Debatten: Die erste Runde fordert eine andere Politik im Umgang mit Cannabis, die zweite sieht keinen Änderungsbedarf

die sich grundsätzlich viel mehr sachliche In-formationen wünschen – auch über die Risi-ken des Konsums. Außerdem fordern sie die Möglichkeit, offen über Cannabis zu reden. Nur dann könne Jugendschutz auch wirken. Von Verboten allein lasse sich niemand ab-halten, Drogen auszuprobieren – ebenso we-nig wie von Glücksspiel, versichern sie.

Während die erste Gesprächsgruppe kon-krete Schritte hin zu einer veränderten Politik und Drogenhilfe diskutiert, die mutiger als bisher auch Harm Reduction umsetzen und

dabei von Kommunen explizit geschützt werden solle, gerät die zweite Debattenrun-de zum echten Streitgespräch über Pro und Contra einer drogenpolitischen Verände-rung. Eine Änderung des Betäubungsmittel-gesetzes sei weder notwendig noch ein aktu-ell vordringliches Problem, so ein Statement. Dem steht unversöhnlich die Forderung ei-nes Befürworters der Legalisierung gegen-über, dass mündige Konsumierende das Recht haben müssten, selbst zu entscheiden – und dies auch könnten.

Fachtagung Cannabis 2015 | Gruppendialog 77

 

78 Schlussdebatte | Fachtagung Cannabis 2015

Schlussrunde mit Resümee des Tages: Auch wenn viele Themen konträr diskutiert werden - vom fundierten Input der Referenten und der sachlichen Diskussionatmosphäre sind alle auf dem Podium begeistert

SCHLUSSDEBATTE & RESÜMEE

wModerator Wolfgang Munderloh: Die Dame und die Herren, die hier am Tisch für die Schlussdebatte sitzen, waren nicht nur

zum Teil in den Grup-pen aktiv, sondern haben sich als Pro-zessbeobachter über den Tag immer wie-der umgesehen und umgehört, um Ein-drücke zu gewinnen, die sie in dieser Run-de zurückmelden. Zunächst begrüße

ich Herrn Tobias Hellenschmidt, er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und arbei-tet in Berlin Friedrichshain. Wir haben heute schon einiges aus der suchtmedizinischen Perspektive gehört, aber nicht ausdrücklich die Perspektive eines Kinder- und Jugend-psychiaters betrachtet. Deswegen die Frage an Sie, wie viel Schutz der Jugendlichen ist mit Blick auf den Cannabiskonsum aus der Sicht des Kinder- und Jugendpsychiaters not-wendig, und wo ist Eigenverantwortung und Selbstbestimmung möglich oder vielleicht sogar notwendig.

Dr. Tobias Hellenschmidt: Zunächst mal hof-fe ich, dass sich auch in Zukunft Suchtmedi-zin und Kinder- und Jugendmedizin nicht

ausschließen, son-dern dass es eine kinder- und jugend-p s y c h i a t r i s c h e Suchtmedizin gibt. Das kurz angemerkt. In den Vorträgen ist deutlich geworden, dass es Patienten gibt – also Jugendli-

che, die sehr intensiv konsumieren, die häu-fig auch komorbide, also begleitend auftre-tende psychische Störungen haben und bei denen ein erhöhtes Risiko besteht, eine Ab-

hängigkeit mit Folgeerscheinungen zu ent-wickeln. Uns fehlen Prädikatoren, vorherzu-sagen, wer dort landet. Aber wir wissen, dass häufig psychische Störungen auch einer Ab-hängigkeitsentwicklung vorausgehen. Das heißt, Menschen, die psychisch vulnerabel sind oder manifeste psychiatrische Erkran-kungen haben, haben auch ein höheres Risi-ko eben nicht so souverän und kompetent mit Rauschstoffen umzugehen. Genau diese Gruppe muss frühzeitig erkannt und auch frühzeitig in Behandlung und Diagnostik kommen – ganz unabhängig vom Thema Cannabis. Das gilt ebenso für die anderen Rausch- oder psychotropen Substanzen. An-sonsten haben wir ja auch heute gesehen, dass eine große Gruppe Jugendlicher eben nicht abhängig konsumiert, sondern experi-mentiert. Es ist eine Entwicklungsaufgabe, einen funktionalen Umgang mit psychotro-pen Substanzen zu finden. Wie wir sehen, ge-lingt dies auch der großen Mehrheit – unab-hängig von den Fragen, die heute viel diskutiert wurden über Evidenzen von Fol-gen und Folgeerkrankungen aus der klini-schen Perspektive oder aus der Behandlungs-perspektive heraus.

Wolfgang Munderloh: Nun zu Herrn Lukas Schneider, er ist Schüler an der Ernst-Reu-ter-Schule und Stadtschulsprecher im Stadt-schülerinnenrat in Frankfurt. Wir haben heute ein paarmal gehört, dass der Dialog zwischen Erwachsenen und Jugendlichen eine beson-dere Rolle spielt. Wie kann dieser generatio-nenübergreifende Dialog zum Thema Canna-biskonsum aus Ihrer Sicht gut gelingen?

Lukas Schneider: Der Dialog muss auf jeden Fall auf Augen-höhe laufen. Wenn man als Erwachsener mit einem Jugendli-

Fachtagung Cannabis 2015 | Schlussdebatte 79

Moderierte Schlussdebatte und Resümee

Dr. Tobias Hellenschmidt

Wolfgang Munderloh

Lukas Schneider

80 Schlussdebatte | Fachtagung Cannabis 2015

erwähnt: Wir brauchen den repressionsfrei-en Umgang mit der Thematik. Im Moment ist es zum Teil gerade in den Schulen sehr schwierig, offen über das Thema zu reden. Solange ich nicht offen über ein Thema re-den kann, habe ich auch keinen Zugang zu den entsprechenden Jugendlichen. Das heißt, auf dieser strukturellen Ebene müss-te sich meines Erachtens etwas ändern. Dann wurde den ganzen Tag über viel von Prävention geredet und wie wichtig sie ist. Wenn ich fachlich gute Prävention haben will, brauche ich auch entsprechendes Per-sonal. Schaue ich mir aber die vier Säulen der deutschen Suchtpolitik an: Prävention, Beratung und Therapie, schadensminimie-rende Maßnahmen und Repression, dann ist die Prävention zurzeit die mit Abstand am schwächsten ausgestattete. Wir haben zwar ein Präventionsgesetz, aber darin kommt das Thema illegale Drogen, somit auch Cannabis, überhaupt nicht vor. Das müsste sich ändern, um Jugendliche mit Präventionsmaßnahmen besser zu errei-chen. Was in den Vorträgen ebenfalls sehr deutlich wurde: Um mit Jugendlichen in Kontakt zu kommen, müssen wir uns über-legen, welche Funktion hat der Cannabis-konsum für die einzelnen Jugendlichen? Diese Funktionen sind sehr unterschiedlich. Wenn ich Jugendliche erreichen will, kann ich sie nicht alle mit dergleichen Botschaft „beharken“ oder mit denselben Materialien überschütten, sondern ich muss zielgrup-penspezifisch vorgehen. Muss schauen, sind das eher „Probierer“, sind das eher neu-gierige Personen oder habe ich es mit ex-zessiven Nutzern zu tun? Ich muss heraus-finden, wer da vor mir sitzt, um dieser Person auf Augenhöhe zu begegnen. Das machen wir nicht nur in der Prävention so, das ist das Einmaleins der Beratung und Therapie, wenn man mit anderen Menschen zusammenarbeitet.

Wolfgang Munderloh: Begrüßen Sie nun mit mir Frau Cordula Sailer. Sie ist Diplompsycho-login und Leiterin der Hauptabteilung Bera-tung und Suchthilfekoordination der Stadt Karlsruhe. Mit Blick auf Ihre Tätigkeit bei der

chen spricht, muss man akzeptieren, dass es letztlich dessen eigene Entscheidung ist, ob er Drogen nimmt oder nicht. Gegenseitiger Res-pekt und Verständnis sind wichtig, ansonsten kann kein Dialog funktionieren. Der Dialog funktioniert auch nicht einfach auf Druck, oder dass der Erwachsene mahnend den Fin-ger hebt und davor warnt, wie furchtbar schlecht diese Droge ist. Wichtig ist, dass man die Droge realistisch betrachtet, dass man klar sagt, wo die Schattenseiten und Risiken lie-gen, aber auch die – in Anführungszeichen – positiven Seiten zugesteht. Wenn man fest-stellt, dass ein Jugendlicher oder das eigene Kind Drogen nimmt, kann es ja durchaus sein, dass der Jugendliche verantwortungsbewusst damit umgeht – ähnlich wie man verantwor-tungsbewusst mit Alkohol umgehen kann. Das größte Problem ist allerdings, wenn Cann-abis nur ein Mittel ist, um Langeweile oder Ängste und Probleme zu bekämpfen. In dem Fall sollten Erwachsene deutlich machen, dass man das nicht mehr akzeptieren kann. Er-wachsene sollten dann aber die helfende Hand reichen, sich als Ansprechpartner anbie-ten, vertraute Bezugsperson bleiben und das Verhalten des Jugendlichen nicht verteufeln, sondern aufklären und unterstützen.

Wolfgang Munderloh: Ich begrüße jetzt Herrn Wolfgang Schmidt-Rosengarten. Er ist seit 1998 Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen und ein ausge-wiesener Experte für das Thema Suchtprä-vention. Was ist notwendig, um unter prä-ventiven Gesichtspunkten Jugendliche besser zu erreichen, als das bisher geschieht?

Wolfgang Schmidt- Rosengarten: Ich habe heute Mittag mehrere Diskussionsgruppen

besucht und mir sind zu Ihrer Frage drei Punkte eingefal-len, die sich ändern sollten, wenn wir Ju-gendliche zum The-ma Cannabis besser erreichen wollen. Das eine wurde in den Vorträgen schon

Wolfgang Schmidt-Rosengarten

Fachtagung Cannabis 2015 |Schlussdebatte 81

Dazu hatten wir im vergangenen Jahr einen Fachtag, der sehr großen Zulauf fand bei Er-zieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigten in Jugendeinrichtungen. Wie können wir die psychische Widerstandsfähigkeit von Kin-dern und Jugendlichen stärken, dass sie mit allen Herausforderungen, die das Leben zu bieten hat, umgehen können und dass sie ih-ren verantwortungsbewussten Umgang mit Suchtmitteln finden? Was mir heute in Frank-furt deutlich geworden ist, als die Montags-runde zur Sprache kam: Es ist wichtig, mit den verschiedenen politischen Gremien, mit Suchthilfe, Polizei und Staatsanwaltschaft, in vertraulicher Runde zu sprechen und fachlich zusammenzufinden. Wenn man Diskussio-nen zu schnell in öffentliche Gremien bringt, dann wollen sich alle zu schnell positionieren und trauen sich nicht mehr, etwas zu sagen, weil sie vielleicht ihr Gesicht nicht verlieren wollen oder sie eine Meinung vertreten müs-sen. Also wirklich erst mal in kleinen Runden fachlich gute Standpunkte finden.

Zur Frage: „Soll mit Cannabis ebenso wie mit Alkohol umgegangen werden? In Karls-ruhe gibt es seit einem Jahr die Jugend-schutzteams. Das sind Dreier-Teams, jeweils eine Person aus der Sozialarbeit, eine Ord-nungs- und eine Rettungskraft, die bei Groß-veranstaltungen, wo bekanntermaßen viel getrunken wird, herumlaufen. Sie schauen, ob der Jugendschutz gewahrt wird, sprechen Jugendliche mit exzessivem Alkoholkonsum an. Wenn das Team den Eindruck hat, die Ju-gendlichen sind alkoholisiert, nehmen sie sie mit zum Zentralteam, machen einen Alkohol-test und beraten mit den Fachleuten, was mit dem Jugendlichen geschieht. Die Eltern wer-den angerufen und wenn sie kommen, wer-den unter Umständen Termine in der Dro-genberatung vereinbart. Das heißt, die Jugendlichen und die Eltern werden ange-sprochen und in Verantwortung genommen. In den letzten Jahren haben wir einen deutli-chen Rückgang von Alkoholintoxikationen in Kliniken. Wir können diese Teams im Alkohol-bereich als Jugendschutz einsetzen. Das geht aber nicht bei Cannabis. Die Teams bekom-men schon mit, dass manche noch etwas an-deres als Alkohol genommen haben. Aber

Stadt Karlsruhe die Frage, was ist aus Ihrer Sicht der wünschenswerte Weg einer Kom-mune im Umgang mit Cannabis. Muss die Strategie eine andere sein als beim Umgang mit Alkohol?

Cordula Sailer: Der wichtige Punkt ist, dass wir dieses Thema weiter versachlichen müs-

sen und sachliche Diskussionen führen. Und wir müssen die Realität akzeptieren, dass konsumiert wird. Ebenso, dass Legalität oder Illega-lität keinen großen Unterschied ma-chen, ob, was und wie viel konsumiert

wird. Wir müssen in der Diskussion alle As-pekte abwägen, es ist einfach ein sehr vielfäl-tiges Thema. Vor allem müssen wir die Ju-gendliche ernst nehmen – wie das aussehen kann und wie es sich Jugendliche wünschen, haben wir eben gehört. Als Kommune, die die Fürsorgepflicht für ihre Bürger und Bür-gerinnen hat, müssen wir auch sie ernst neh-men und schauen, was sie benötigen, um psychisch und körperlich gesund und stabil zu bleiben. Wir müssen den Fokus auf Risiko-gruppen legen und viel stärker, das kann ich nur unterstreichen, in den Bereich der Prä-vention gehen – und das möglichst früh. Ein wichtiges Thema ist auch Resilienzförderung.

Cordula Sailer

Die Diskussion im Fokus

82 Schlussdebatte | Fachtagung Cannabis 2015

oder ungefährlicher Konsum eine wichtige Hausnummer. Im Cannabis ist Sand drin, ist alles Mögliche drin, und wir wissen gar nicht, wie viel Konsumentinnen und Konsumenten sozusagen zusätzlich gefährlich aufgrund der Prohibition konsumieren. Wir wissen auch nicht, ob die Jugendlichen überhaupt über den THC-Gehalt richtig informiert sind. Wir haben in den Vorträgen vom wachsenden THC-Gehalt gehört, aber wir wissen nicht, in-wiefern sozusagen der Verbraucherschutz unter den Bedingungen der Prohibition ge-wahrt ist. Es gibt dazu keine Forschung, keine statistischen Daten. Heute ist auch das Stich-wort Stigmatisierung von Jugendlichen ge-fallen, weil die, die erwischt werden, eine An-zeige kriegen und zur Polizei müssen. Es gibt keine Studie darüber, was diese Stigmatisie-rung für diese Jugendlichen bedeutet. Es ist ja nach wie vor so, dass die Mehrheit der Poli-tik sagt, das Verbot hat schon so hohe gene-ralpräventive Effekte, das wirkt. Aber auch darüber wissen wir nichts. Ab und zu wird in Schülerbefragungen gefragt, welche Rolle es spielt, dass Cannabis verboten ist, ob sie kon-sumieren oder nicht? Aber es gibt dazu keine systematische Er hebung. Und ein letzter Punkt: Es gibt auch keine empirischen Erhe-bungen darüber, was das Cannabisverbot in der konkreten suchtpräventiven Arbeit der Fachkräfte der Suchtprävention bewirkt. Wir haben einen riesengroßen Forschungsbedarf, was natürlich auch ein Ausfluss dessen ist, dass Cannabis verboten ist. Wollte ich eine Förderung für eine Grundlagenforschung im Bereich ungeplante Effekte des Cannabisver-botes beantragen, wüsste ich gar nicht, wo ich hingehen sollte, weil das natürlich ein Politi-kum wäre. Ich weiß nicht, was dabei herauskä-me, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass zum Beispiel die Ministerien davor wahnsinnige Angst hätten und solche Dinge gar nicht för-dern würden. Deshalb haben wir tatsächlich durch das Cannabisverbot eine absolut defizi-täre Forschungslage.

Wolfgang Munderloh: Jetzt spreche ich Sie alle in der Rolle als Prozessbeobachter an. Was hat bei Ihnen während des Fachtags Ihre Aufmerksamkeit in besonderer Weise erregt?

das können sie nicht ansprechen, weil es dann eine strafrechtliche Geschichte wäre, und das hat nichts mehr mit Jugendschutz zu tun. Wir wünschten natürlich, dass wir das bei Cannabis auch tun könnten.

Wolfgang Munderloh: Ich begrüße nun Herrn Dr. Jens Kalke. Er ist Politologe und So-zialwissenschaftler und arbeitet seit 1996 am Institut für interdisziplinäre Sucht- und Dro-genforschung in Hamburg. Eine Frage zur Differenzierung zwischen risikoreichem und risikoarmem Konsum: Ist das aus Sicht des Suchtforschers ausreichend erforscht? Und mal angenommen, es gäbe weitere For-schungsergebnisse, welchen Umgang damit würden Sie sich wünschen?

Dr. Jens Kalke: Meine Kollegen haben bereits die Kenntnisse, die man über Cannabiskon-

sum hat, sehr aus-führlich dargestellt. Man kann es sicher-lich etwas vereinfa-chend auf den Punkt bringen, der experi-mentelle und der ge-legentliche Konsum ist relativ ungefähr-lich und unbedenk-lich. Es gibt auch ge-

nügend Studien darüber, dass der intensive tägliche, regelmäßige Konsum, der auch frühzeitig begonnen wird, zumindest in einer Teilpopulation mit psychischen Krankheiten, Schulabbrüchen und anderen Dingen ver-bunden ist. Allerdings wissen wir relativ we-nig bis gar nichts darüber, welche Folgen das Cannabisverbot hat – vor allem empirisch nicht. Über die kontraproduktiven oder nicht geplanten Effekte des Cannabisverbots wis-sen wir wenig bis gar nichts in Deutschland. Das fängt damit an, dass man nirgendwo ver-lässliche Zahlen darüber findet, wie häufig Streckmittel in Cannabisprodukten stecken? Es gibt zwar einen Streckmittelmelder, aber keiner weiß das richtig. Ich selbst habe mich schon bei der Polizei erkundigt, um mich schlau zu machen. Das ist natürlich im Zu-sammenhang mit der Frage gefährlicher

Jens Kalke

Fachtagung Cannabis 2015 | Schlussdebatte 83

Bereich, die nicht sehr gut evidenzbelegt sind und dies gilt nicht nur für die Psychia- trie. Das wurde manchmal ein bisschen in Frage gestellt. Den Tag fand ich aber sehr gelungen.

Lukas Schneider: Ich saß am Thementisch Er-fahrung und Ursachen von Cannabiskonsum. Ich fand unglaublich toll, was das für ein offe-ner Dialog war, unglaublich sachlich und neutral. Man spürte, dass von allen Seiten großes Interesse da war – bei Politikern, bei Lehrern. Gut fand ich auch, dass die Schüler auf Augenhöhe und mit Respekt behandelt wurden und sie ehrlich nach ihren Einschät-zungen gefragt wurden oder welche Erfah-rungen sie gemacht haben. Da habe ich viel mitbekommen, was für ein toller Schritt das überhaupt ist, diesen Dialog zu starten. Mei-ner Meinung nach ist Kommunikation der erste Schritt zur Veränderung und um ein Thema wirklich sachgerecht zu behandeln. Von daher vielen Dank noch mal an die tolle Veranstaltung.

Wolfgang Schmidt-Rosengarten: Bei der Diskussion um – in Anführungszeichen – Le-galisierung oder Regulierung, egal wie man es nennt, stehen ja immer diese Worte Ju-gendschutz und Prävention im Mittelpunkt. In vielen Diskussionen heißt es, na ja, mit den Erwachsenen kriegen wir das vielleicht noch

Was hat Sie beeindruckt, vielleicht sogar überrascht?

Dr. Jens Kalke: Ich war nicht an jedem run-den Tisch unterwegs, weil ich selbst Impuls-geber an einem Tisch war. Es ist ja schon die zweite Fachtagung zu Cannabis, an der ich teilnehme, und möchte erst einmal positiv an die Veranstalter zurückmelden, dass ich die-ses Format der Veranstaltung gut finde. Dass man erst zusammen im Plenum sitzt und ei-nen Input erhält und danach folgen diese Runden Tische beziehungsweise beim letz-ten Mal waren es Workshops und dann kommt noch einmal zur Schlussdebatte zu-rück: Das ist eine gelungene Kombination aus Information und Interaktivität. Kollegin-nen und Kollegen und alle Gäste werden gut einbezogen. Von daher noch einmal meinen Glückwunsch an die Veranstalter, auch der heutige Tag ist gelungen. Bei unserem Run-den Tisch ging es um die Frage, inwiefern schon die Diskussion sozusagen konsumför-dernd ist oder nicht? Keiner weiß es empi-risch. Es gibt diese Äußerung von Bundesge-sundheitsministerin Marlene Mortler, die aber auch nicht auf empirischen Füßen steht, dass die Diskussion den Konsum anreize. Das war sehr lebendig und sehr facettenreich.

Tobias Hellenschmidt: In den Vorträgen ist deutlich geworden, dass sowohl die politi-sche Perspektive – wie soll es weitergehen mit Regelungen bezüglich Cannabis – als auch die klinische, die Behandlungspers-pektive, sehr in Richtung Wissenschaft und Evidenz schauen und darum auch ringen. Wir haben festgestellt, dass aus der Evidenz nur Tendenzen ablesbar sind. Üblicherweise ist es so – ein Kollege hat dies sehr verbild-licht – wenn wenig Evidenz da ist, kommt viel Eminenz und viel Ideologie ins Spiel. Bei dem Fachtag heute fand ich sehr gut, dass es bei einem sachlichen Dialog geblieben ist und ein Bewusstsein dafür da war, dass es so ist. Dennoch: Auch bei geringer Evidenz, das muss ich noch einmal anmerken, müssen wir natürlich trotzdem handeln, insbeson-dere in der klinischen Perspektive. Wir ha-ben viele Themen auch im medizinischen

Produktives Zuhören - und prompte Umsetzung des Gehörten als Tweet

84 Schlussdebatte | Fachtagung Cannabis 2015

stab den Impuls in sich, dass es nicht gut ist, einen anderen Menschen umzubringen. Gleichzeitig haben wir noch Gesetze, die uns sagen, wenn Du jemanden umbringst, ist das ganz schlimm, dann kommst Du ins Gefäng-nis. Und was passiert jeden Tag? Jeden Tag werden Menschen umgebracht. Das heißt, trotz ethischer Vorgaben, trotz des gesetzli-chen Rahmens gibt es Verstöße gegen diese Vorgaben. Das wird auch beim Jugendschutz der Fall sein, selbst wenn er noch so ausgetüf-telt sein mag beim Thema Cannabis. Wenn es um ein Modell geht, Jugendschutz vorzustel-len, dann bitte nicht mit dem Anspruch „Para-dise on Earth“, sondern pragmatisch orien-tiert und mit der Vorgabe, wir werden damit nicht verhindern, dass trotzdem Jugendliche Cannabis konsumieren, Schwierigkeiten da-durch bekommen und, und, und. In diesem Zusammenhang noch etwas, was mich heute beeindruckt, fast entsetzt hat: Dass diese ganze Cannabisdebatte wohl bei vielen Ju-gendlichen zu der Wahrnehmung führt, wenn sich etwas ändert, dann ist Cannabis auch für uns Jugendliche frei. Dann können wir auch als Jugendliche kiffen. Etliche Ju-gendliche haben dies heute bestätigt, dass sie selbst das so denken oder in ihrem Freun-deskreis diese Meinung verbreitet ist. Das hat mich wirklich erschüttert. Da muss man an der Kommunikationsstrategie arbeiten, weil hier im Saal niemand ist, und ich kenne auch keinen ernstzunehmenden Experten in Deutschland oder weltweit, der, auch wenn er sich für eine Regulierung einsetzt, davon abgeht, dass der Cannabiskonsum für Ju-gendliche Tabu ist.

Der zweite Punkt, der mich beeindruckt hat, angeregt durch das Referat von Herr Gaßmann, wo ich mir so überlegt habe, das ist ja ganz interessant zu gucken jetzt beim Thema Alkohol, wird der Dealer in Anfüh-rungszeichen bestraft und nicht der Konsu-ment. Wenn wir das auf Cannabis überneh-men würden, dann hätte man aber auch keine Möglichkeit mehr mit Cannabis-Usern irgendwie zu arbeiten. Darüber muss man noch ein bisschen nachdenken, ob man die-ses Form des Jugendschutzes wirklich so 1:1 übertragen sollte. Das ist aber eine Anre-

irgendwie hin. Aber wie ist es mit dem Ju-gendschutz, wie wollt ihr das machen? Das heißt, Jugendschutz und Prävention ist die zentrale Frage bei der ganzen Debatte. Ich hätte mir heute gewünscht, dass dazu ein Modell vorgestellt worden wäre. Das wäre natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen, aber an dem hätten wir uns abar-beiten können. Ich habe an mehreren The-mentischen teilgenommen und festgestellt, die Diskussion ist so ein Greifen im Nebel, weil nichts Konkretes auf dem Tisch lag. Wie wollt Ihr das machen mit dem Jugendschutz? Wenn das staatlich ausgegebene Cannabis 20 Euro kostet und an der Konstabler Wache wird’s für zehn Euro an Jugendliche verkauft, wie wollt Ihr damit umgehen? Dazu hätte ich mir heute eine Antwort gewünscht. Es ist ja noch ein bisschen hin bis Weihnachten, der Wunsch bleibt bestehen. Ich finde dieses For-mat des Fachtags sehr gut und ich wünsche mir, dass eine Veranstaltung folgt, bei der mehrere Modelle vorgestellt und durchdekli-niert werden: Bei einer Legalisierung oder Regulierung haben wir vor, für die Jugendli-chen das so und so zu handhaben oder den Jugendschutz mit den Mitteln und Wegen zu gewährleisten. Gleichzeitig habe ich manch-mal das Gefühl, dies habe ich auch bei eini-gen Diskussionen heute wahrgenommen, dass es eine Kontroll-Illusion beim Jugend-schutz gibt, die nichts mit der Realität zu tun hat. Jeder Mensch trägt als ethischen Maß-

Florian Fünffinger und Oliver Müller-Maar vom Drogenreferat der Stadt

Fachtagung Cannabis 2015 | Schlussdebatte 85

Wolfgang Munderloh: Nun möchte ich Ih-nen die radikalste Form der offenen Frage stellen: Welche Frage würden Sie gerne noch beantworten, die ich noch nicht gestellt habe? Welchen Gedanken noch loswerden?

Lukas Schneider: Herr Schmidt-Rosengarten hat angesprochen, dass man ein Modell zum Jugendschutz ausarbeiten sollte. Ich hätte ein paar Vorschläge, mit denen man Veränderun-gen an Schulen herbeiführen könnte. Man müsste Aufklärungsprojekte an Schulen ausar-beiten. Es gibt bisher nur vereinzelte Schulen, die Projekte planen und ihren Schülerinnen und Schülern eine generelle Aufklärung über Drogen bieten. Das müsste Standard an allen Schulen sein, dass ein aufklärerischer, sachli-cher und realistischer Umgang mit Drogen be-handelt wird. In der Form, dass klar über die Schattenseiten informiert wird, aber dass auch deutlich wird, dass es nicht einfach nur absolut böse ist, Drogen auszuprobieren und nur der moralische Zeigefinger erhoben wird. So etwas schreckt Jugendliche ab. Das Thema sollte auch nicht nur als Reaktion auf einzelne Vorfälle zur Sprache kommen. Wichtig wäre, dass auch die nötigen Ressourcen bereitgestellt werden - mit Psychologen, Anlaufstellen und Sozialarbeiter-stellen – um die Aufklärungsarbeit an Schulen tatsächlich umzusetzen.

Wolfgang Schmidt-Rosengarten: Noch ein Gedanke. Wenn nach einer möglichen Geset-zesänderung Cannabis für Jugendliche nach wie vor verboten ist – was machen wir dann mit Jugendlichen, die dagegen verstoßen?

gung, die ich noch mit nach Hause nehme. Ansonsten fand ich es einen gelungenen Tag. Dankeschön.

Cordula Sailer: Ich war in zwei Diskussions-gruppen, bei der einen ging es um Präventi-on, und da hatte ich den Eindruck, dass eine gewisse Lähmung über diesem Thema liegt. Ich denke, das hat mit der Illegalität zu tun. Es gibt diese Schere im Kopf, die es erschwert, so richtig energiegeladen ranzugehen. Das macht Prävention schwierig. Das andere Dis-kussionsthema war, „darf sich etwas ändern in der Politik? Dabei ging es um Fragen, ob eine Änderung aus der Politik kommen kann oder ob sie von unten, aus der Gesellschaft, kommt, die nach oben hin Druck ausübt? Wie bedingt sich was? Das fand ich sehr span-nend und hat mich zum Nachdenken ange-regt. Jemand aus der Gruppe sagte, wir hat-ten schon vor 30 Jahren einmal eine Zeit, in der wir den Eindruck hatten, jetzt ändere sich was. Ein anderer sagte, das sei auch vor 20 Jahren schon so gewesen, und es hat sich nichts geändert, und jetzt sind wir wieder an so einem Punkt. Da habe ich mich gefragt, wofür ist es gut, dass uns gerade dieses The-ma so umtreibt und wofür ist es gut, dass sich nichts ändert? Und wofür steht dieses Thema in der Gesellschaft? Dass man sich immer wieder daran abarbeitet und es ändert sich nichts? Diese Gedanken treiben mich noch um.

Kritische Zuhörerinnen nach einem informativen Tag, der bei den Jugendlichen Erwartungen für mehr Offenheit und Aufklärung geweckt hat

Unermüdlich werden die Inhalte des Fachtags getwittert

Wir haben viele gute Fach vorträge gehört. Wir brauchen auch dringend mehr Aufklärung über Cannabis. Das größte Manko ist aber der Mangel an Jugendschutz. Die Frage, ob ein Suchtmittel legal oder illegal ist, hilft den jungen Leuten nicht weiter und Verbote bewahren sie nicht vor Konsum. Es muss viel mehr Geld in Hilfen statt in die Ver-folgung von jugendlichen Konsumenten fließen. Und man muss mit ihnen offen über Konsumformen reden. Bei Cannabis ist es wie bei Al-kohol: Wer nur ab und zu etwas nimmt, trägt keinen Schaden davon, wer täglich und intensiv konsumiert, muss mit erheblichen Folgen rechnen.

Brigitta Reitz, Elternkreis drogengefähr deter und drogenabhän giger Jugendlicher Frankfurt

Am Anfang war ich dagegen, dass Cannabis legalisiert werden sollte. Beim Fachtag habe ich so viele Informationen und Argumente gehört, dass ich meine Meinung geändert habe und eine Entkrimina-lisierung des Konsums für sinnvoll halte. Wir brauchen viel mehr Auf-klärung und einen offeneren Umgang, besonders in der Schule. Alle kennen Leute oder haben Freunde, die kiffen – nur das würde niemand offen zugeben. Man sollte Cannabis wie Alkohol behandeln. Wenn sich alle frühzeitig und offen damit befassen, vor allem auch Eltern, kann man viel früher erkennen, wann der Konsum riskant wird. Mich hat sehr bewegt, was ehemalige Cannabisabhängige heute erzählt haben, wie sie immer weiter in die Sucht und schließlich in Dealer-szene gerutscht sind. Betroffene sollten auch in die Schulen von ihren Erfahrungen erzählen. Das würde Jugendliche viel eher erreichen, weil das glaubwürdiger ist, als wenn Lehrer über Risiken referieren.

Romy Kaiser, Schülerin des Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums Frankfurt

STIMMEN AUS DEM PUBLIKUM

Ich fand den Fachtag superinteressant und nützlich. Es gab viele tolle wissenschaftliche Beiträge, viel Input und viele fundierte Informa-tionen über medizinische und rechtliche Aspekte. Obwohl ich cannabis-abhängig war und wirklich alles erlebt habe, bin ich dafür, den Konsum zu legalisieren und die Abgabe zu kontrollieren, um den Schwarzmarkt einzudämmen. Verbote bringen es einfach nicht. Man sollte den Konsum, den man nicht stoppen kann, wenigstens kontrollieren.

Ein Schüler des Bildungs zentrums Hermann-Hesse der anonym möchte

86 Stimmen | Fachtagung Cannabis 2015

Fachtagung Cannabis 2015 | Stimmen 87

Ich habe bei dem Fachtag so viel über Cannabis gelernt wie vor-her in all den Jahren zusammen nicht. Bis man die Oberstufe erreicht, hat man in der Schule dreimal Sexualaufklärung gehabt, aber keine einzige Information über Cannabis bekommen. Jugendliche würden gerne offen reden und sie wollen verlässliche Quellen. Prävention soll-te raus aus dieser rechtlichen Grauzone.

Antonia Bäcker, Schülerin Heinrich-von Gagern-Gymnasiums Frankfurt

Spannend fand ich zu hören, dass Jugendschutz bei Cannabis vom Gesetz gar nicht vorgesehen ist. Wir brauchen bei Cannabis generell mehr Aufklärung, so wie bei Alkohol und Nikotin auch, und zwar möglichst früh. Am besten sollte das schon in der Grundschule anfangen. Eltern, Lehrer und Jugendliche sollten genau Bescheid wis-sen über Risiken des Konsums und offen darüber sprechen, damit Ju-gendliche einen sinnvollen Umgang mit Cannabis lernen. Ich war im-mer sehr neugierig, und es war mir schon als 14-Jähriger egal, dass Cannabis verboten ist. Wenn ich etwas wollte, haben mich Gesetze nicht gehindert, etwas zu tun. Wenn mein Umfeld offener und vertrau-ensvoller mit mir und meinem Konsum hätten umgehen können, statt Cannabis nur zu verteufeln, hätte das wahrscheinlich mehr geholfen.

Ein Schüler des Bildungs zentrums Hermann-Hesse der anonym möchte

Die Vorträge beim Fachtag waren sehr sachlich und informativ. Da wird nochmal deutlich, wie unglaubwürdig es ist, dass Alkohol toleriert wird, obwohl der Konsum viel heftigere gesundheitliche Fol-gen hat, während Cannabis verteufelt wird und Leute, die kiffen, als illegale Randgruppe gelten. Ich würde einen restriktiven staatlichen Verkauf befürworten, um den Schwarzmarkt einzudämmen. Die Rea-lität ist doch, dass man an zig Stellen etwas angeboten bekommt, wenn man durch Frankfurt läuft. Komplett wird man den Konsum nicht verbieten können, weil Cannabis auch ein Teil der Jugendkultur ist, aber es wäre besser, wenn man offen über den Konsum und die Risiken sprechen könnte.

Kevin Hetschiek, Schüler der Paul-Ehrlich-Schule, Frankfurt

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir haben heute und hier eine Fülle an Infor-mationen und kontroversen Standpunkten gehört.

Mir hat der Tag heute nochmals eindrück-lich vor Augen geführt, wie viele Facetten das

Thema Jugendliche und Cannabis hat, wenn man genauer hinschaut und in die Tiefe geht.

Vor allem eines hat sich für mich klar bestä-tigt Wir müssen diffe-renzieren und mit küh-lem Kopf abschätzen, wer Hilfe braucht, wen man in Ruhe lassen kann und welche An-sprache angemessen

oder überzogen daher kommt. Nur dann bleiben wir gegenseitig „auf Sendung“ und junge Menschen empfänglich für unsere Botschaften.

Was nehme ich als Gesundheitsdezernen-tin mit?

1. Es gibt „Jugendliche, die kiffen“ das ist die Realität und es ist die Aufgabe der Politik, auf diese gesellschaftliche Realität Antworten zu geben.

2. Das Jugendschutzgesetz, so wie es ist, ist in Bezug auf Cannabis nur ein Feigenblatt für

90 Schlusswort | Fachtagung Cannabis 2015

SCHLUSSWORT

Politik und Verwaltung. Es schützt Jugendli-che nicht vor dem Konsum von Cannabis und seinen Nebenwirkungen.

3. Es gibt sowenig die Prävention wie es den Ju-gendlichen gibt. Prävention muss mehr sein, als Maßnahmen zur Verhinderung von Konsum.

Ich möchte einen Ansatz verfolgen, der die öffentliche Gesundheit und nicht das Strafen in den Vordergrund stellt.

4. Um konsumierende Jugendliche zu errei-chen, müssen wir ungeachtet der Illegalität von Cannabis die Räume zum Dialog erwei-tern. Das gilt zum einen im Hinblick auf unser Bild von dem Jugendlichen, zum anderen in Bezug auf unsere Mittel, Wege und Sprache.Dafür müssen wir eine Sprache sprechen, die die Zielgruppe versteht und ihre Lebenswel-ten und Foren kennen und nutzen.

5. Wir werden den Frankfurter Weg mit sei-nen vier Säulen weiterentwickeln und uns noch stärker als bisher der Frage widmen, welche Maßnahmen zur Schadensminimie-rung wir ergreifen und intensivieren müssen.Schon jetzt werbe ich bei allen Akteuren in der Stadtgesellschaft um Unterstützung.

Ich denke, dass wir heute einen weiteren Schritt in Richtung eines informierten und aufgeklärten Umgangs mit Cannabis gekom-men sind.

Die Fachtagung macht mir Mut. Das Expe-riment, eine generationenübergreifende De-batte über Cannabis in Gang zu bringen ist aus meiner Sicht gelungen.

Allen Beteiligten, allen voran allen Jugend-lichen, die heute dabei waren und sich einge-bracht haben, möchte ich herzlich danken und zugleich die Bitte aussprechen: bleiben Sie gemeinsam mit uns am Thema dran!

Damit das passiert, lade ich die Schülerin-nen und Schüler schon heute in den Römer zu einem Austausch mit Gesundheitspoliti-kern aller Fraktionen ein.

Ich wünsche Ihnen nun allen einen guten Heimweg!

„Um konsumierende Jugendliche zu erreichen, müssen wir ungeachtet der Illegalität von Cannabis die Räume zum Dialog erweitern“

Rosemarie Heilig, Gesundheitsdezernentin der Stadt Frankfurt am Main

Fachtagung Cannabis 2015 | Schlusswort 91

 

Viel Lob für die perfekte Organisation der Fachtagung für Regina Ernst, Leiterin des Drogenreferats, …

… und für ihre Stellvertreterin Renate Lind-Krämer sowie für das gesamte Team des Drogenreferats

Erkenntnisse des Tages ins Bild gesetzt

92 Schlusswort | Fachtagung Cannabis 2015

Gesundheitsdezernentin Rosemarie Heilig begrüßt ihre jugendlichen Gäste zum Nach-gespräch mit Stadtverordneten und Vertrete-rinnen und Vertretern aus Schule, Suchthilfe, Polizei und Justiz.

„Ich möchte die Diskussion mit Ihnen wei-ter führen“, rief Gesundheitsdezernentin Ro-semarie Heilig den beteiligten Schülerinnen und Schülern bei der Fachtagung „Jugendli-che und Cannabis“ zu und lud sie spontan zum Nachtreffen am 21. Dezember in den Rö-mer ein. Zur großen Gesprächsrunde im Haus Silberberg versammelten sich auch Lehrkräf-te, Vertreterinnen und Vertretern von Polizei, Justiz, Suchthilfe und Stadtverordnete von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen.

Das Wort sollten vor allen aber die Schüle-rinnen und Schüler haben. Ihre Bilanz der Fachtagung „Jugendliche und Cannabis“ fiel

grundsätzlich positiv aus: Sie lobten einen umfassenden, interessanten und sehr diffe-renzierten Wissens-Input, informative Vorträ-ge, wissenschaftlich fundierte Darstellungen und die überwiegend sachlichen Diskussio-nen. Generell, so der Tenor der jungen Leute, fühlten sie sich als Gesprächspartnerinnen und -partner ernst genommen. Alle Diskussi-onen seien „auf Augenhöhe“ geführt worden. Kritik richteten die jungen Leute allerdings an die Adresse der Politik: Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Parteien würden sich Argumente zwar anhören, von vornher-ein sei jedoch klar, dass sie nicht von ihrer festgefügten Parteilinie abrücken würden und sich deshalb auch nicht ernsthaft mit Ar-gumenten von anderen auseinandersetzten. Einige der jungen Leute zeigten sich daher eher skeptisch, ob ihre Positionen ins Ge-wicht fallen – und ob eine konstruktive Aus-einandersetzung mit dem Thema überhaupt gewollt ist. Denn obwohl Cannabiskonsum bei Jugendlichen von der Freizeit bis zur Schule eine Realität sei, gebe es keine konst-ruktiven Ansätze, darauf einzugehen.

Ähnlich äußerte sich ein Lehrer: Das Kon-zept der Fachtagung, Fachleute, Jugendliche, Politikerinnen und Politiker, die interessierte Bürgerschaft nach Fachvorträgen über Work-shops ins Gespräch zu bringen, sei „begeis-ternd“ und „großartig gelungen“. Es seien sachliche, differenzierte Gespräche entstan-den, Argumente ausgetauscht und Themen von allen Seiten beleuchtet worden. „Wirklich geärgert“ habe ihn, dass Stimmen aus der Po-litik im Nachgang gleich wieder eingeschränkt hätten, nichts gegen die eigene Parteilinie zu unternehmen, auch wenn sie sich in der Dis-

Nachtreffen und Bilanz des Fachtages:

„Diskussionen auf Augenhöhe sollen weiter laufen

Gesundheitsdezernentin Rosemarie Heilig zieht mit Frankfurter Schülerinnen und Schülern im Römer Bilanz der Fachtagung „Jugendliche und Cannabis“

Gesundheitsdezernentin Rosemarie Heilig begrüßt ihre jugendlichen Gäste zum Nachgespräch mit Stadtverordneten und Vertreterinnen und Vertretern aus Schule, Suchthilfe, Polizei und Justiz

Fachtagung Cannabis 2015 | Schlusswort 93

kussion inhaltlich von einer anderen Position überzeugen ließen. Das schaffe Frust und be-ende den angestoßenen Bürgerdialog: „Ich appelliere an alle Parteien, sich wirklich einmal auf die Jugendlichen einzulassen.“

Was die sich im Umgang mit Cannabis wün-schen und welche Form der Kommunikation sie erwarten, darüber sind sich die Schülerin-nen und Schüler sehr einig – unabhängig davon, wie unterschiedlich sie persönlich zu Cannabis stehen. Vor allem verlangen sie „um-fassende, sachliche Informationen“, sowohl für Jugendliche aber auch für Eltern – und den realistischen Blick auf Konsumformen und –motive.

CANNABIS-PRÄVENTION SOLL STANDARD WERDENWie zu Alkohol oder Tabak sollten an Schulen Informations- und Präventionskampagnen auch zum Thema Cannabis Standard sein. Dazu müsse das Thema enttabuisiert und verlässliche, wissenschaftlich fundierte Infor-mationen für Jugendliche und Erwachsene zugänglich werden. Dies sei entscheidend, betonten die Schülerinnen und Schüler, denn sie erwarten gleichzeitig eine „realistische Einschätzung und Darstellung unterschiedli-cher Konsumformen“ und der jeweils damit verbundenen Risiken. Cannabis nur zu ver-teufeln, wirke unglaubwürdig – besonders im Vergleich zu den weitaus gravierenderen gesundheitlichen Risiken und Folgen des Al-koholkonsums. Jugendliche wünschen sich außerdem gut informierte, aufgeklärte El-tern, nur dann würden sie auch als sachkun-dige Vertrauenspersonen akzeptiert. Dazu gehöre, dass Erwachsene jugendtypische Verhaltensweisen ernst nehmen, sie aner-kennen, dass Jugendliche experimentier- und risikofreudig sind, bewusst Grenzen überschreiten wollen und Cannabis bei vie-len gerade deshalb positiv besetzt sei.

Verbote seien dagegen wirkungslos. Die Schülerinnen und Schüler nennen es deshalb wichtig, dass auch Informationen über risi-koärmeren Konsum / Harm Reduction zur Prävention gehören. Wie Prävention an Schu-len aussehen könnte, dazu hatten die jungen Leute beim Gespräch im Römer einige Ideen.

Als Voraussetzung müssten die nötigen „per-sonellen Ressourcen“ mit Fachleuten ge-schaffen werden. Die eigenen Lehrkräfte soll-ten möglichst nicht im Raum sein, um offen reden zu können. Kritisch sehen die jungen Leute allerdings, dass man wegen der Illega-lität von Cannabis nicht über konkrete Fälle sprechen könne, die für Jugendliche viel ein-drücklicher seien – und deren Beispiele sie viel eher vom Konsum abhalten könnten. Um die Prävention aus der „Grauzone“ zu holen, solle der Gesetzgeber Cannabis entkriminali-sieren, plädieren einige Schülerinnen und Schüler. Alle sprechen sich dafür aus, Präven-tion an Schulen mit Peer Groups anzubieten und ehemalige Drogenabhängige über ihre Erfahrungen reden zu lassen, die glaubwür-dig über Risiken und negative Folgen spre-chen könnten.

Als Fazit der Gesprächsrunde fordern Schü-lerinnen und Schüler von Gesellschaft und Politik, sich dem Thema Cannabis zu stellen und fordern Mut zu Modellversuchen, um zu pragmatischen Lösungen zu kommen. Dazu solle sich Politik in anderen Ländern infor-mieren, was dort gut und was schlecht läuft.

Trotz der Kritik der jungen Leute, äußerten sich am Ende alle positiv: Das erste stadtweite und generationenübergreifende Gespräch zum Thema „Jugendliche und Cannabis“ in Frankfurt, das das Drogenreferat der Stadt mit der 2. Frankfurter Fachtagung organisiert und angestoßen habe, sei gelungen und sollte auf dieser inhaltlich umfassenden, sachlichen Ebene mit allen Beteiligten weiter gehen.

„Probesitzen“ im Römer. Dezernentin Heilig ermutigt ihre Gäste, sich kommunalpolitisch zu engagieren

© Drogenreferat der Stadt Frankfurt am Main 2015

Redaktion: Anita Strecker, Drogenreferat

Layout: Dilek Kraus-Yasar

Titel: Sarah Graf

Fotos: Gerd Kever-Bielke, Philipp Kohl

Druck: Henrich Druck+Medien GmbH, Frankfurt am Main

Herausgeber: Stadt Frankfurt am Main - Der Magistrat - Drogenreferat Alte Mainzer Gasse 37 60311 Frankfurt am Main www.drogenreferat.stadt-frankfurt.de