Justiz im Dritten Reich 1933-1940 (Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner) || VIII....

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VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtspre- chungsorgane : Gesetzgebungs- und Verwal- tungsmaßnahmen des Reichsjustizministeriums auf den Gebieten der Gerichtsverfassung, des Verfahrensrechts und der „Lenkung der Rechtsprechung" 1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung a. Die Beratungen der beiden Strafprozeßkommissionen des Reichsjustizministeriums und die Vorschläge des NSRB: Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes vom Februar 1936 und seine Umgestaltung bis Mai 1939 Bei der Umgestaltung der Justiz für die Zwecke des nationalsozialistischen Regimes spielte eine umfassende Reform der Gerichtsverfassung bei weitem nicht die bedeut- same Rolle wie die Änderung des materiellen und des Verfahrensrechts - vor allem nachdem auf dem Gebiete der Strafrechtspflege den unmittelbaren Bedürfnissen der politischen Führung durch die Errichtung der Sondergerichte 1933 und des Volksge- richtshofs 1934 Genüge getan worden war. Im Gegensatz zum Strafrecht und Strafver- fahrensrecht wurden Reformpläne für die Ablösung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) vom 27. Januar 1877, das in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. März 1924 (RGBI. I, S.299) galt, nur soweit vorangetrieben, wie sie als Grundlage für die Ausarbeitung einer neuen Strafverfahrensordnung notwendig waren. Die Beratung dieser Materie wurde daher auch nie einer „großen" amtlichen Kommission unter Einschluß von Strafrechtslehrern, sondern 1933 lediglich einer „kleinen" Kommission von Ministerialbeamten und Praktikern der Justizverwaltung anvertraut, die gleichzei- tig den Vorentwurf einer neuen Strafverfahrensordnung erarbeiten sollte und deshalb die die Zivilgerichtsbarkeit betreffenden Fragen auf dem Gebiet des Gerichtsverfas- sungsrechts nur soweit behandelte, wie es der Zusammenhang erforderte. Diese Kom- mission des Reichsjustizministeriums, die unter dem Vorsitz des Leiters der Abteilung II (Strafgesetzgebung) Ministerialdirektor Schäfer tagte1, stellte die Ausarbeitung eines neuen GVG zugunsten der Strafverfahrensordnung zunächst überhaupt zurück. Als sie die erste Lesung einer neuen Strafverfahrensordnung mit dem Entwurf vom 15. Dezember 1934 abschloß, erläuterte sie jedoch „im Interesse des richtigen Ver- ständnisses der Verfahrensordnung", daß sie „von folgender Organisation der Gerichte 1 Zur Zusammensetzung der Kommission vgl. Kapitel VIII.2.a., S.981.

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VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtspre-chungsorgane : Gesetzgebungs- und Verwal-

tungsmaßnahmen des Reichsjustizministeriumsauf den Gebieten der Gerichtsverfassung,

des Verfahrensrechts und der „Lenkung derRechtsprechung"

1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassunga. Die Beratungen der beiden Strafprozeßkommissionen des Reichsjustizministeriums

und die Vorschläge des NSRB: Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzesvom Februar 1936 und seine Umgestaltung bis Mai 1939

Bei der Umgestaltung der Justiz für die Zwecke des nationalsozialistischen Regimesspielte eine umfassende Reform der Gerichtsverfassung bei weitem nicht die bedeut-same Rolle wie die Änderung des materiellen und des Verfahrensrechts

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vor allemnachdem auf dem Gebiete der Strafrechtspflege den unmittelbaren Bedürfnissen derpolitischen Führung durch die Errichtung der Sondergerichte 1933 und des Volksge-richtshofs 1934 Genüge getan worden war. Im Gegensatz zum Strafrecht und Strafver-fahrensrecht wurden Reformpläne für die Ablösung des Gerichtsverfassungsgesetzes(GVG) vom 27. Januar 1877, das in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. März1924 (RGBI. I, S.299) galt, nur soweit vorangetrieben, wie sie als Grundlage für dieAusarbeitung einer neuen Strafverfahrensordnung notwendig waren. Die Beratungdieser Materie wurde daher auch nie einer „großen" amtlichen Kommission unterEinschluß von Strafrechtslehrern, sondern 1933 lediglich einer „kleinen" Kommissionvon Ministerialbeamten und Praktikern der Justizverwaltung anvertraut, die gleichzei-tig den Vorentwurf einer neuen Strafverfahrensordnung erarbeiten sollte und deshalbdie die Zivilgerichtsbarkeit betreffenden Fragen auf dem Gebiet des Gerichtsverfas-sungsrechts nur soweit behandelte, wie es der Zusammenhang erforderte. Diese Kom-mission des Reichsjustizministeriums, die unter dem Vorsitz des Leiters der AbteilungII (Strafgesetzgebung) Ministerialdirektor Schäfer tagte1, stellte die Ausarbeitung einesneuen GVG zugunsten der Strafverfahrensordnung zunächst überhaupt zurück. Alssie die erste Lesung einer neuen Strafverfahrensordnung mit dem Entwurf vom

15. Dezember 1934 abschloß, erläuterte sie jedoch „im Interesse des richtigen Ver-ständnisses der Verfahrensordnung", daß sie „von folgender Organisation der Gerichte

1 Zur Zusammensetzung der Kommission vgl. Kapitel VIII.2.a., S.981.

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932 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeausgegangen" sei2: Über die kleine Kriminalität sollte der Amtsrichter als Einzelrich-ter entscheiden. Berufungsinstanz sollte die mit 3 Richtern besetzte (kleine) Strafkam-mer beim Landgericht sein, „Rechtsrügeinstanz" (d. h. Revisionsinstanz) hingegen dasReichsgericht, dessen Strafsenate mit 5 Richtern besetzt sein sollten. Für die mittlereKriminalität war als erste Instanz das „Kreisgericht" mit 3 Richtern vorgesehen, dasmit dem bisherigen Schöffengericht vergleichbar war, nur bei größeren Amtsgerichtengebildet werden sollte und mehrere Amtsgerichtsbezirke umfassen konnte. Beru-fungsinstanz sollte hier die (große) Strafkammer beim Landgericht mit 5 Richtern ab-geben und Rechtsrügeinstanz der Strafsenat des Reichsgerichts sein. Wie die Kom-mission erläuterte, sei „der hier dargestellte Aufbau

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nicht dahin zu verstehen, alssollten bei der kleinen und mittleren Kriminalität regelmäßig drei Instanzen tätig wer-den": wie die vorgeschlagene Regelung der Rechtsmittel im Entwurf der Strafverfah-rensordnung zeige3, dürfe „für den Regelfall nur einmal ein höheres Gericht angeru-fen werden", d.h. entweder Berufung oder Rechtsrüge eingelegt werden. Für dieschwere Kriminalität war das mit 3 Richtern und 6 Geschworenen besetzte Schwurge-richt als erste Instanz vorgesehen, der Strafsenat des Reichsgerichts dagegen als zweite(Rechtsrüge-)Instanz. Neben die genannten Gerichte sollten „sozusagen als Sonderge-richte für Sonderfälle" treten: einmal eine Strafkammer für sogenannte Monstrestraf-sachen mit dem Reichsgericht als Rechtsrügeinstanz, zum anderen der Volksgerichts-hof und die Oberlandesgerichte als erste und einzige Instanz für Hoch- und Landes-verrat. An diesem Gerichtsaufbau, den die Kommission „vorläufig ihrem Entwurf derVerfahrensordnung zugrunde" legte, ist vor allem bemerkenswert, daß die Oberlandes-gerichte nicht mehr als strafrechtliche Revisionsgerichte und Sondergerichte über-haupt nicht mehr vorgesehen waren. Die Kommission führte aus, der endgültige Auf-bau werde „von der Entschließung darüber abhängen, ob, in welchem Umfange undmit welchen Rechten Laien an der Ausübung der Strafrechtspflege beteiligt" würden.Sie sei aber „der Ansicht, daß bei der Aburteilung der schweren Kriminalität an derMitwirkung von Laien in der Form des Schwurgerichts unter allen Umständen festge-halten" und hier die Stellung des Laienrichters noch verstärkt werden müsse. Die end-gültige Stellungnahme über die Beteiligung von Laien bei der Aburteilung der mittle-ren und kleinen Kriminalität behalte sie sich bis zur Beratung des GVG vor. Im übri-gen betrachte sie aber „diese Frage in erster Linie als eine politische Frage, die von denzuständigen politischen Instanzen zu entscheiden sei".4

In der Kommission war die Meinung über die Frage geteilt. Während der württem-bergische Landgerichtsrat Cuhorst meinte, man könne Schöffen und Geschworene„nicht entbehren, weil sie der Popularität der Rechtsprechung dienten", lehnten diepreußischen Vertreter unter Ministerialdirektor Crohne deren Beteiligung ab, da dieBerufsrichter im neuen Staat selbst volksverbunden genug seien; sie befürworteten je-doch die Mitwirkung von Laien bei der Aburteilung von Kapitalsachen, „die zumAusschluß des Angeklagten aus der Volksgemeinschaft führen können": hier sollten„Laien in Gestalt des alten Schwurgerichts, also unter Trennung von Schuld und Straf-frage, mitwirken". Demgegenüber forderte der sächsische Generalstaatsanwalt Weber2 Zum folgenden vgl. „Zurückgestellte Fragen" zum StVO-Entw. v. 15.12.34 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/

1034).3 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.a.,S. 982, ferner 991.4 Vgl. „Zurückgestellte Fragen", a.a.O.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 933

die Beseitigung der Laiengerichtsbarkeit und äußerte im übrigen „schwere Bedenkengegen die von preußischen Herren gewünschte Einführung des alten Schwurgerichts",da sie einen Rückschritt darstellen würde. Der Vertreter des ReichsjustizkommissarsHans Frank, Oberregierungsrat Schraut, forderte, Laien „möglichst nur bei Gerichtenunterer Ordnung beizuziehen. Jedenfalls müsse für bessere Auswahl Sorge getragenwerden".5

Die Beratungen über das GVG wurden von der Kommission erst anläßlich derzweiten Lesung des Entwurfs der neuen Strafverfahrensordnung aufgenommen, dieAnfang April 1935 begann. Zur Vorbereitung wurde den Kommissionsmitgliederndurch die Strafgesetzgebungsabteilung des Reichsjustizministeriums ein von Regie-rungsrat Schafheutle gefertigter vorläufiger Entwurf vom 11. März 1935 zugestellt, derin über 200 Paragraphen eine Regelung für die gesamte Gerichtsverfassung mit Aus-nahme jener Vorschriften enthielt, die die Zivilrechtspflege betrafen.6 In diesem Ent-wurf waren die im Dezember skizzierten Instanzenzüge im einzelnen ausgestaltet, dieZuständigkeiten der einzelnen Gerichte wie auch deren Strafgewalt festgelegt. Er wichvon den geschilderten Plänen insofern ab, als die Strafsenate der Oberlandesgerichteaußer als erste Instanz für jene Hoch- und Landesverratssachen, die vom Volksge-richtshof an sie abgegeben wurden, wieder als Rechtsrügegerichte für Urteile desAmtsrichters und für Berufungsurteile der kleinen Strafkammer vorgesehen wurden.Wollte das Oberlandesgericht von einer Entscheidung des Reichsgerichts abweichenoder eine grundsätzliche Rechtsfrage entscheiden, zu der das Reichsgericht noch nichtStellung genommen hatte, sollte es dem Reichsgericht die Sache zur Entscheidungvorlegen; auch der Staatsanwalt konnte unter diesen Voraussetzungen die Vorlage ver-

langen. Für „Monstrestrafsachen" wurde nunmehr die große Strafkammer des Landge-richts

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neben ihrer Zuständigkeit als Berufungsgericht für Urteile des Kreisgerichts-vorgesehen : statt beim Kreisgericht sollte der Staatsanwalt bei ihr Anklage erheben,

wenn die Hauptverhandlung wegen der großen Zahl der Angeklagten, Zeugen undSachverständigen voraussichtlich mehr als sechs Sitzungstage in Anspruch nahm. AlsRechtsrügeinstanz war das Reichsgericht zuständig. Das Schwurgericht sollte nicht inseiner alten Form wiedererstehen, die es vor der „Emminger-Verordnung" vom 4. Ja-nuar 19247 besessen hatte, wonach die Geschworenen allein über die Schuldfrage (Tat-und Rechtsfrage) entschieden und die Richter sich auf die Straffrage (Strafzumessung)und die Nebenentscheidungen beschränkten; vielmehr sollten die 3 Berufsrichter und6 Geschworenen über Schuld und Straffrage gemeinschaftlich entscheiden. Zur Wah-rung der Rechtseinheit sah der Entwurf ferner beim Reichsgericht die Bildung von jeeinem Großen Senat für Strafsachen und für Zivilsachen und deren gemeinsame Sit-zung als „vereinigte Große Senate" vor, wie sie ein Vierteljahr später in der Novellevom 28. Juni 1935 verwirklicht wurden.8

3 Vgl. Niederschr. über die Sitzung der Kommission v. 4./5.12.33 (a.a.O., Sign. R 22/1041), dort auch graphi-sche Darstellungen der drei von Crohne, Dürr und Weber vorgelegten Vorschläge zur Gerichtsorganisation,auf die hier nicht eingegangen werden kann.

6 Vgl. Sehr, des RJM an die Kommissionsmitglieder v. 31.1. und 18.3.35 (a.a.O., Sign. R 22/1034). Zum fol-genden den als Umdruck Nr. 59 versandten Entw. Schafheutles v. 11.3.35 (Bibl. des BGH, Sign. F 7446).

7 Diese VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege (RGB1.I, S. 15) reduzierte die Zahl der Geschwore-nen bereits von 12 auf 6 und wandelte das nur dem Namen nach beibehaltene Schwurgericht der Sache nachin ein Schöffengericht um.

8 Vgl. dazu Kapitel VIH.l.b, S.972.

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934 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeDie Mitwirkung von Laien auch bei der kleinen und mittleren Kriminalität hatte

der Entwurf nunmehr positiv entschieden: bei den Kreisgerichten waren für dieHauptverhandlung neben 1 Berufsrichter 2 Schöffen vorgesehen

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wobei der Vorsit-zende bei besonders schwieriger Sach- oder Rechtslage ein oder zwei weitere Berufs-richter als Beisitzer bestellen konnte -, bei der großen Strafkammer 3 Richter und 2Schöffen. Aufgabe der Laien war, „bei der Ausübung der Strafgewalt die gesundeVolksanschauung zur Geltung zu bringen und zur Stärkung des Vertrauens des Volkesin die Strafrechtspflege beizutragen". Voraussetzungen für dieses Ehrenamt sollten au-

ßer der Vollendung des dreißigsten Lebensjahres, Ehrbarkeit, Lebenserfahrung undMenschenkenntnis auch die „nationale Zuverlässigkeit" und „arische Abstammung"sein. Für die Ernennung der Schöffen9 sah der Entwurf vor, daß der Bürgermeister je-der Gemeinde des Gerichtsbezirks unter Anhörung des Gemeinderats eine „Urliste"von geeigneten Personen aufstellte und eine Woche lang öffentlich auslegte, um Ein-wendungen zu ermöglichen. Dann wurde die Urliste dem Vorstand des Kreisgerichtsvorgelegt, der erhobene Einwendungen prüfte und gegebenenfalls die Liste entspre-chend berichtigte. Aus ihr ernannte der Landgerichtspräsident die Schöffen für jedesKreisgericht seines Bezirks und für das Landgericht nach Anhörung eines Ausschus-ses, dem die Vorstände der Kreisgerichte, die Vorsitzer der Strafkammern, die Land-räte und die Kreisleiter der NSDAP des Landgerichtsbezirks angehörten. Die Reihen-folge, in der die auf zwei Jahre ernannten Schöffen an den Gerichtssitzungen teilnah-men, sollte für jedes Geschäftsjahr im voraus durch öffentliche Auslosung bestimmtwerden. Bei Verletzung ihrer Amtspflichten konnte sie das Oberlandesgericht ihresAmtes wieder entheben. Entsprechendes galt für die Geschworenen, nur daß hier dieErnennung aus den Urlisten des Schwurgerichtsbezirks durch den Oberlandesge-richtspräsidenten vorgenommen wurde.

Der Entwurf behielt den Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung vor den er-

kennenden Gerichten bei und regelte ihren ausnahmsweisen Ausschluß, ferner dieOrdnungsgewalt des Vorsitzenden, um Würde und Ordnung der Verhandlung zu si-chern. Obwohl zu dieser Zeit die Diskussion über die Beseitigung der verpönten de-mokratischen Abstimmung in den mit mehreren Richtern besetzten Kollegialgerich-ten und ihre Ersetzung durch das nationalsozialistische „Führerprinzip" noch nichtausgestanden war, sah der Entwurf vor, daß die Entscheidungen der Gerichte mit ein-facher Stimmenmehrheit gefaßt werden sollten, wobei die Stimme des Vorsitzers beiStimmengleichheit den Ausschlag gab. Als Konzession an das „Führerprinzip"tauchte schon in diesem frühen Entwurf der von Freisler vertretene Vorschlag auf, daßein überstimmter Vorsitzender „von der Bekanntgabe der Entscheidung absehen undanordnen [konnte], daß die Sache einem Gericht derselben Ordnung mit anderer Be-setzung zur Entscheidung überwiesen werde". Dabei waren alle Richter, die an der er-

sten Entscheidung mitgewirkt hatten, nunmehr von der Mitwirkung ausgeschlossen.Allerdings sollte die Besetzung des zur neuen Entscheidung berufenen Gerichts nichtad hoc vorgenommen, sondern im voraus bestimmt und daher die Vorschriften überdie Geschäftsverteilung entsprechend gestaltet werden. Auch sollte dem Vorsitzer die-

9 Die hier vorgeschlagene Prozedur wich von der des G. zur Änderung des GerichtsverfassungsG. v. 13.12.34(RGBI. I, S. 1223) insofern ab, als nach diesem G. zwar die bisherige Wahl der Vertrauenspersonen für denWahlausschuß (§ 40 GVG) durch ihre Ernennung durch den Amtsrichter ersetzt wurde, die Schöffen vondiesem Ausschuß aber weiterhin durch Mehrheitswahl gewählt wurden.

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ses zweiten Gerichts die Befugnis zur Überweisung nicht mehr zustehen, um das Ver-fahren nicht endlos in die Länge zu ziehen.

Neben der Organisation der Gerichte regelte der Entwurf auch Aufbau und Gliede-rung der Staatsanwaltschaft, wobei die Staatsanwaltschaft bei den neuen Kreisgerich-ten als Zweigstelle derjenigen des zugehörigen Landgerichts errichtet werden sollte.

Der Entwurf Schafheuties wurde im April 1935 durch zwei von der Strafprozeß-kommission gebildete Unterkommissionen beraten, zu denen außer Schafheutle diebeiden als Korreferenten bestellten Mitglieder Generalstaatsanwalt Parey (Celle) undLandgerichtsdirektor Detlefs (Hamburg), ferner Präsident Bahr (Kassel), VizepräsidentMinisterialdirektor Dürr (Oberlandesgericht München), Ministerialrat Dörffler (Straf-gesetzgebungsabteilung) und Staatsanwaltschaftsrat Rempe (Strafrechtspflegeabtei-lung) gehörten.10 Als Ergebnis entstand bis Ende April eine neue Fassung des Ent-wurfs, über die die Beratungen jedoch erst auf der letzten Sitzung der Kommission imFebruar 1936 fortgesetzt wurden.11 Mit dem Abschluß der Beratungen der „kleinen"Strafprozeßkommission am 27. Februar lag der „Entwurf eines Gerichtsverfassungsge-setzes mit Ausnahme der die Zivilrechtspflege betreffenden Vorschriften" vor12 undwurde als Manuskript gedruckt, um den an der Gesetzgebung beteiligten Stellen„streng vertraulich" übersandt werden zu können.

Das „Erste Buch" dieses Entwurfs behandelte die Unabhängigkeit der Gerichte.Den § 1 des geltenden GVG: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur

dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt" erweiterte der Entwurf dahingehend,daß die richterliche Gewalt „durch unabhängige Richter ausgeübt" werde, die dabei„nur an Recht und Gesetz gebunden und ihrem Gewissen unterworfen" seien

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ein Zu-satz, der die entschiedene Kritik des NS-Rechtswahrerbundes herausfordern sollte.13Jede sachliche Nachprüfung richterlicher Entscheidungen sollte wiederum nur Ge-richten vorbehalten bleiben, die Dienstaufsicht sich also nur auf Pflichtwidrigkeitenerstrecken (§ 2). Zur „richterlichen Gewalt" in diesem Sinne rechnete nicht die Tätig-keit der Gerichte als Justizverwaltungs- und Vollstreckungsbehörden (§ 3). Da nie-mand „seinem gesetzlichen Richter entzogen werden" durfte (§ 4), sollte der Gerichts-präsident die Geschäftsverteilung für die Dauer eines Geschäftsjahres regeln und von

ihr nur abgewichen werden, „wenn es wegen Überlastung, Wechsels oder dauernderBehinderung eines Richters erforderlich" wurde oder Gefahr im Verzüge war (§ 5).

Im „Zweiten Buch", betitelt „Die Organe der Rechtspflege"14, war der Aufbau derGerichte geregelt, wobei diejenigen Gerichte, die vorwiegend mit der Tatsachenfest-stellung befaßt waren, mit Schöffen oder Geschworenen versehen waren

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nicht we-

10 Vgl. die Stellungnahmen Pareys, Detlefs und Bährs v. März 1935 und die Vorschläge der Unterkommissio-nen v. 15.4.35 (Bibl. des BGH, Sign. F. 7446).

1 ' Laut Einladungsschr. Schäfers an die Kommissionsmitglieder v. 23.1.36 lag den Beratungen auf der Tagungv. 17.-22.2.36 der am 30.4.35 übersandte Entw. des GVG zugrunde (Akten des RJM; BA, Sign. R22/1035). Dabei handelte es sich um einen Entw. Schafheutles v. 19.3.35 (Umdruck Nr.61), nebst den Än-derungen durch die Unterkommissionen (Umdrucke Nr. 75 u. 76) (a.a.O., Sign. R 22/208).

12 Entw. und „Leitgedanken" s. Schubert, Quellen III., Bd. 1, S.87ff., 14ff.» Vgl. Kapitel VIII.2.b., S. 997.14 Auf die zahlreichen Bestimmungen in diesem „Buch" über Änderung der Gerichtsbezirke, Aufhebung von

Gerichten, Dienstaufsicht, Ernennung und Versetzung von Berufsrichtern, ehrenamtliche Richter beimVGH, Aufbau und Gliederung der StAschaft, Einrichtung von Geschäftsstellen usw. kann in diesem Zu-sammenhang nicht eingegangen werden.

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936 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganegen der „liberalistischen" Zielsetzung, die Berufsrichter zu überwachen, „sondern aus

der Erwägung, daß gerade im nationalsozialistischen Staate die Rechtspflege die Ge-samtheit der Volksgenossen angeht und daß sie vom Volke selbst ausgeübt werdensoll". Nur bei der kleinen Kriminalität sollte aus Gründen der Vereinfachung und Er-sparnis von diesem Grundsatz abgewichen werden und der Amtsrichter als Einzelrich-ter mit einer Strafgewalt bis zu einem Jahr Gefängnis entscheiden. Deshalb sollte aberfür die Berufung gegen seine Urteile

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abweichend vom Entwurf Schafheutles-

eine'mit 3 Richtern und 2 Schöffen besetzte „Schöffenkammer" beim Landgericht zustän-dig sein (§19 Abs. 1). Rechtsrügegericht blieb hier der Senat des Oberlandesgerichtsmit 5 Berufsrichtern (§ 28). Für die mittlere Kriminalität war nicht mehr ein „Kreisge-richt" sondern das

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mit einer Strafgewalt bis zu fünfzehn Jahren Zuchthaus ausgestat-tete

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„Schöffengericht" mit 1 Amtsrichter und 2 Schöffen vorgesehen. Hier sollte derStaatsanwalt bis zum Beginn der Hauptverhandlung die Zuziehung von 2 weiterenAmtsrichtern beantragen können, wenn Umfang und Bedeutung der Sache es erfor-derten (§ 12), z. B. eine-Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren, Vermögenseinziehung,Sicherungsverwahrung oder Entmannung zu erwarten waren. Auch hier ging die Be-rufung an die erwähnte, für alle Sachen gleichmäßig besetzte „Schöffenkammer" beimLandgericht (§ 19 Abs. 1); Rechtsrügegericht war das Reichsgericht mit 5 Richtern(§ 37). Über die schwere Kriminalität

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d.h. mit dem Tode bedrohte Verbrechen, Tot-schlag und Meineid

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entschied auch nach diesem Entwurf das Schwurgericht beimLandgericht mit 3 Richtern und 6 Geschworenen (§ 23); für die Rechtsrüge war wie-derum das Reichsgericht zuständig (§ 37). Für Monstresachen, die eine Verhandlungvon mehr als sechs Tagen erforderten, war nunmehr eine Strafkammer des Landge-richts (Sonderkammer) vorgesehen, die zur Erhöhung ihrer Arbeitsfähigkeit mit 5 Be-rufsrichtern besetzt war (§19 Abs. 2); die Rechtsrüge ging hier gleichfalls ans Reichs-gericht. Einzige Instanz für Hoch- und Landesverrat blieben auch in diesem Entwurfder Volksgerichtshof, dessen Senate mit 2 Berufsrichtern und 3 ehrenamtlichen Beisit-zern besetzt waren, oder

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bei Abgabe-

die Senate der dafür vorgesehenen Oberlan-desgerichte mit 5 Berufsrichtern (§§ 33, 28). Die unterdessen durch die Novelle vom

28. Juni 1935 beim Reichsgericht gebildeten „Großen Senate" behielt der Entwurf bei(§ 39).

Für die Eignung zum Schöffen sah der Entwurf nicht mehr ausdrücklich die „natio-nale Zuverlässigkeit" vor

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diese Voraussetzung sollte wohl in entsprechende Ausfüh-rungsbestimmungen verwiesen werden -, der Schöffe mußte aber nach seiner Persön-lichkeit geeignet sein, „zu einer volksverbundenen Ausübung der Strafrechtspflegebeizutragen" (§ 59). Die „Vorschlagsliste" wurde nunmehr vom Amtsrichter „im Be-nehmen mit dem Staatsanwalt, der zuständigen Staatsverwaltungsbehörde und demBeauftragten der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" aufgestellt unddem Landgerichtspräsidenten vorgelegt (§ 61), der

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wiederum im Einvernehmen mitden genannten Vertretern

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daraus die Schöffen für die „Schöffenkammern" ernannte

(§ 62). Aus der Reihe der übrigen Personen der Vorschlagsliste konnte der Amtsrich-ter im selben Verfahren die Schöffen für das „Schöffengericht" ernennen (§ 63). DieReihenfolge, in der die auf zwei Jahre ernannten Schöffen an den Sitzungen teilnah-men, wurde auch hier für jedes Geschäftsjahr im voraus ausgelost (§ 65). Die Ernen-nung der Geschworenen, für die diese Vorschriften entsprechend galten, sollte abernicht mehr der Oberlandesgerichtspräsident, sondern gleichfalls der Landgerichtsprä-

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sident vornehmen (§ 76). Dagegen sollte auch hier der Oberlandesgerichtspräsidentdie Schöffen bei Verletzung ihrer Pflichten des Amtes entheben können (§ 69).

Das „Dritte Buch" über „Gemeinsame Vorschriften für alle Arten der Rechtspflege"regelte die Befreiung von der deutschen Gerichtsbarkeit, die Gerichtssprache, die Öf-fentlichkeit der Verhandlung und ihren Ausschluß, die Ordnungsgewalt der Gerichts-vorsitzenden sowie die Rechts- und Amtshilfe. Über „Beratung und Entscheidung"stellte der Entwurf den Grundsatz auf, daß der Vorsitzer die Entscheidungen erlassenund die mitwirkenden ehrenamtlichen oder Berufsrichter ihn dabei nur beraten soll-ten. Jedoch sollte der Vorsitzer „zu den Entscheidungen, die nach der Verfahrensord-nung dem Gericht vorbehalten" waren13, „der Zustimmung mindestens der Hälfte dermitwirkenden Richter" bedürfen (§ 134). In den Entwurf hatte jedoch die Kommis-sion wiederum jenen von Freisler vertretenen Vorschlag über die Verweisungsbefugnisdes Vorsitzenden aufgenommen, „den sie freilich nicht ohne praktische Bedenken ge-macht hat und für erörterungsbedürftig" hielt16: Fand „der Vorsitzer nicht die erfor-derliche Zustimmung der mitwirkenden Richter", so sollte er anordnen können, „daßin der Sache von einem anders besetzten Gericht zu entscheiden" war, in dem Vorsit-zer und Richter, die an der früheren Beratung teilgenommen hatten, nicht mitwirkendurften (§ 136). Die noch im Schafheutle-Entwurf vom 11. März 1935 vorgeseheneKlausel, daß dem Vorsitzer des zur neuen Entscheidung berufenen Gerichts dieseÜberweisungsbefugnis im Wiederholungsfalle nicht mehr zustehen sollte, war hier so-

gar fallengelassen worden.Neben zahlreichen Änderungs- und Ergänzungswünschen äußerten einige der

Reichsministerien, denen der Entwurf am 9. Mai 1936 vom Justizminister zur Stel-lungnahme übermittelt worden war17, vor allem an diesen beiden Paragraphen 134und 136 Kritik. Das Reichsarbeitsministerium hielt sie für bedenklich und betrachtetesie „zunächst nur als Versuch und als Vorschlag".18 Der Reichsinnenminister sah inihnen eine „Herabminderung der Stellung der Beisitzer", die die Notwendigkeit von

Laienbeisitzern überhaupt in Frage stelle, und hielt vor allem die Verweisungsbefugnisdes überstimmten Vorsitzers „nicht für durchführbar": da sich derselbe Vorgang wie-derholen könne, würde das „zu einer geradezu unerträglichen Verlangsamung derRechtspflege führen", wobei offenbliebe, „wer die Kosten der wiederholten Hauptver-handlung tragen soll".19 Auch der Reichsfinanzminister befürchtete eine „finanzielleMehrbelastung der Reichskasse" und forderte daher, daß die Verweisung in einer In-stanz nur einmal gestattet werden sollte.20 Der Reichskriegsminister sah in der Ver-weisungsbefugnis eine Schädigung der Autorität der Gerichte und hielt sie zumal beiMonstresachen für „praktisch unerträglich". Er trat für die Beibehaltung der Abstim-mung vor allem in der Militärjustiz ein und regte zur Klarstellung der Verantwortlich-

15 Über die Abgrenzung dieser Entscheidungen, zu denen auch das Urteil gehörte, vgl. die Bestimmungen desgleichzeitig fertiggestellten StVO-Entw. v. 27.2.36 in Kapitel VIII.2.a., S.987.

16 Vgl. Leitgedanken zum Entw. (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S.7f.).17 Vgl. Sehr. Gürtners an sämtliche Reichsminister v. 9.5.36, ferner an verschiedene Parteistellen, den BNSDJ,

die AkDR, das RG und den VGH (a.a.O.).18 Sehr, des RuPrArbeitsM an das RJM v. 30.6.36 (a.a.O.). Die Bedenken des RG und des VGH zum Führer-

prinzip bei Kollegialgerichten werden bei den Stellungnahmen dieser Gerichte zum Entw. der StVO be-handelt, s. Kapitel VIII.2.C., S. 1013.

19 Vgl. Sehr, des RuPrMdl an das RJM v. 24.7.36 (a.a.O.).20 Vgl. Sehr, des RFinanzM an das RJM v. 5.8.36 (a.a.O.).

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938 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganekeit an, daß ein überstimmter Vorsitzender oder Richter besser sein geschlossenesSondervotum beim Gerichtspräsidenten niederlegen sollte. Er forderte ferner, in dieBestimmungen über Schöffen und Geschworene

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analog § 34 des geltenden GVG-

eine Liste derjenigen Personengruppen aufzunehmen, die von vornherein nicht zu

diesem Amt berufen werden konnten, da Wehrmachtangehörige davon auch weiter-hin befreit bleiben sollten.21 Er wurde darin vom Reichskirchenminister unterstützt,da nach dem Reichskonkordat auch Geistliche von dieser Verpflichtung befreit wa-

ren.22Bei einer Verwirklichung des vorgesehenen Aufbaus und der Zuständigkeiten der

Strafgerichte sah der Reichsfinanzminister „beachtliche Mehrbelastungen des Justiz-haushalts an persönlichen wie sächlichen Ausgaben" voraus. Er schlug daher vor, dasgeplante erweiterte Schöffengericht (§ 12) wegzulassen und seine Aufgaben der großenStrafkammer beim Landgericht

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im Entwurf „Schöffenkammer" genannt-

als ersterInstanz zuzuweisen. Bei Ablehnung dieses Gegenvorschlages sollte die Rechtsrüge ge-gen Urteile des nicht erweiterten Schöffengerichts wenigstens statt dem Reichsgerichtdem Oberlandesgericht übertragen werden. Für die Berufung gegen Urteile des Amts-richters als Einzelrichter sollte die durch den Entwurf abgeschaffte kleine Strafkam-mer beim Landgericht mit 1 Richter und 2 Schöffen wiederhergestellt werden. Fernersollten die Senate der Oberlandesgerichte

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abgesehen von erstinstanzlichen Verhand-lungen

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wieder mit 3 Berufsrichtern besetzt werden, da sonst bei der schon bestehen-den gespannten Geschäftslage der Oberlandesgerichte eine Vermehrung der dortigenRichterstellen notwendig würde.23

Die entschiedensten Gegenvorschläge machte der Bund NationalsozialistischerDeutscher Juristen (BNSDJ), dem der Entwurf gemeinsam mit dem Entwurf derneuen Strafverfahrensordnung am 9. Mai ebenfalls zugegangen war. Der Ausschuß fürStrafverfahrensrecht bei der Reichsführung des NS.-Rechtswahrerbundes (NSRB)-wie sich der BNSDJ ab Juni 1936 nannte

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arbeitete eine Denkschrift aus, die demReichsjustizministerium am 8. Februar 1937 übersandt wurde.24 Da sie beim zukünfti-gen Strafverfahren von einer radikalen Durchführung des Führerprinzips bei den Ge-richten und

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außer einer Wiederaufnahme des Verfahrens-

von der Abschaffung al-ler Rechtsmittel (Berufung und Revision) ausging23, vertrat sie auch bei der Gerichts-verfassung andere Vorstellungen. Der Amtsrichter als Einzelrichter sollte abgeschafftwerden. Es sollte nur noch Kollegialgerichte mit Einschluß von „nichtrichterlichenBeisitzern"

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wie die Laienrichter künftig genannt werden sollten-

geben, bei denender Vorsitzende allein das Urteil fand und ihn die Beisitzer dabei lediglich berieten.Das unterste Gericht sollte das „Schöffengericht" beim Amtsgericht sein, das aus 2 Be-rufsrichtern und 2 nichtrichterlichen Beisitzern bestand und dessen Vorsitzender ein

2 ' Vgl. Sehr, des ReichskriegsM an das RJM v. 5.10.36 (a.a.O.).22 Vgl. Sehr, des RuPrM für die kirchlichen Angelegenheiten an das RJM v. 2.7.36 (a.a.O.).23 Sehr, des RFinanzM (s. Anm. 20).24 Vgl. „Denkschrift des Nationalsozialistischen Rechtswahrer-Bundes zum Entwurf einer Strafverfahrensord-

nung, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes der amtli-chen Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums" v. 30.1.37, die dem RJM vom Reichswalter desNSRB Raeke mit Sehr. v. 8.2.37 übersandt wurde (a.a.O., Sign. R 22/1037). Die Denkschrift wurde im März1937 mit dem Obertitel „Neuordnung des Strafverfahrensrechts" im Deutschen Rechts-Verlag Berlin veröf-fentlicht.

23 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.b., S. 1006, dort auch über Franks Rivalität als tieferer Grund für seine Ablehnungder Entwürfe des RJM.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 939

Landgerichtsdirektor des übergeordneten Landgerichts sein sollte, um „für die Rechts-findung eine gewisse Loslösung von einer allzu großen örtlichen Gebundenheit" zu

erreichen. Durch diese Zusammensetzung des Gerichts sollte „eine Verbindung von

örtlicher Sachkunde und zentraler Unvoreingenommenheit" gewährleistet werden.Beim Landgericht sollte die bewährte bisherige Besetzung der Großen Strafkammermit 3 Berufsrichtern und 2 nichtrichterlichen Beisitzern beibehalten werden, ebensodie Besetzung des Schwurgerichts mit 3 Berufsrichtern und 6 Geschworenen; es solltefür alle Kapitalverbrechen einschließlich des Meineides zuständig sein. Die Oberlan-desgerichte sollten in ihrer erstinstanzlichen Tätigkeit beibehalten werden, ihre Senatejedoch auch nichtrichterliche Beisitzer bekommen; auch der Volksgerichtshof sollteals ordentliches Gericht weiterbestehen. Zur Behandlung der als einzigen Rechtsbe-helf zugelassenen Wiederaufnahme des Verfahrens sollten bei allen Gerichten Wie-deraufnahmekammern bzw. -Senate gebildet werden, denen gleichfalls nichtrichterli-che Beisitzer angehören sollten.

Es fällt auf, daß keiner der geschilderten Entwürfe und Vorschläge für ein neues

GVG die im März 1933 geschaffenen Sondergerichte erwähnte. Das hatte seinenGrund zunächst einmal darin, daß diese Gerichte nicht zu den „ordentlichen" Gerich-ten gerechnet wurden, denen dieses Gesetz galt

-

ganz im Gegensatz zum Volksge-richtshof, der im April 1936 auch gesetzlich als „ordentliches Gericht im Sinne desGerichtsverfassungsgesetzes" anerkannt und etatisiert wurde.26 Darüber hinaus beab-sichtigte die Justizleitung aber auch, die Sondergerichte im Zuge der Gerichtsverfas-sungsreform abzuschaffen. Als der Entwurf der Strafverfahrensordnung vom Februar1936 und die damit zusammenhängenden Fragen des Aufbaus der Strafgerichte undihrer Zuständigkeiten durch die im Dezember 1936 einberufene „große" amtlicheStrafprozeßkommission27 beraten wurden, forderte Freisler, man müsse „den unmög-lichen Zustand beenden, daß die sog. politischen Sachen kleineren Formats vor Ge-richten abgeurteilt werden, die nach Art und Namen schon nicht etwas Normalessind, den Sondergerichten". Diese Sachen sollten vielmehr Senaten übergeben wer-

den, die an jedem Oberlandesgericht gebildet und nach dem Muster des Volksge-richtshofs mit 2 Berufsrichtern und 3 Laien (Schöffen) besetzt werden sollten28. Beab-sichtigt war, die Gerichte der politischen Strafjustiz wieder als ordentliche Gerichte indie künftige Gerichtsverfassung einzubauen. Dadurch sollte laut Freisler zugleich er-

reicht werden, „nur das als ein politisches Vergehen aufzufassen, was am Volksge-richtshof oder den Senaten der Oberlandesgerichte verfolgt wird. Die kleineren Sa-chen, die mehr Dummheiten sind, würden den Charakter als politische Strafsachenverlieren, wenn der Staat sie vor dem Schöffengericht aburteilen läßt"; gegenwärtigwürden „unter der Bezeichnung des politischen Vergehens viele Dinge abgeurteiltwerden, die harmloser sind, als es der Behandlung vor dem

...

Sondergericht ent-

spricht". Wie die Urteile der bisherigen Sondergerichte sollten allerdings die Urteiledieser geplanten Senate gleichfalls durch Rechtsmittel nicht angefochten werden kön-

26 Durch das G. v. 18.4.36 (RGB1.I, S.369), vgl. dazu Kapitel VHI.l.b., S.968.27 Zur Zusammensetzung der Großen Strafprozeßkommission s. Kapitel VIII.2.c, S. 1015f.28 Diese 26 Senate (1936 = 26 OLGe) sollten nicht mit jenen Senaten identisch sein, an die der VGH Hoch-

und Landesverratssachen von geringerer Bedeutung abgeben konnte und die nur an bestimmten (13)OLGen gebildet worden waren.

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940 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganenen.29 Die Änderungen konnten um so unbedenklicher vorgesehen werden, als dasVerfahren vor den „ordentlichen" Gerichten durch Wegfall der gerichtlichen Vorun-tersuchung, des Eröffnungsbeschlusses usw. ohnehin dem für die Sondergerichte be-reits geltenden Verfahren angeglichen werden sollte.30 Als dieses Problem gegen Endeder Beratungen der Großen Strafprozeßkommission im Dezember 1938 nochmalsaufgegriffen wurde, schlug Freisler zur Vereinfachung des Aufbaus der Strafgerichtevor, die bisherigen Sondergerichtsdelikte statt einem bestimmten Strafsenat am Ober-landesgericht lieber den normalen Schöffenkammern beim Landgericht zuzuweisen.31Da dadurch in diesen Sachen aber eine Revision ans Reichsgericht möglich gewordenund der Grundsatz der Einziginstanzlichkeit bei politischen Strafsachen zerstört wor-den wäre, wurde dafür schließlich die Errichtung einer Strafkammer beim Landgerichtvorgesehen, die nur mit 3 Berufsrichtern besetzt und deren Urteile rechtsmittellosbleiben sollten. Der Einwand Ministerialdirektor Schäfers, daß dadurch der einheitli-che Aufbau und Instanzenzug gestört werde, indem am Landgericht neben die mitLaien besetzte Schöffenkammer, gegen deren Urteile ein Rechtsmittel gegeben sei,nun noch eine berufsrichterliche Dreimännerkammer trete, deren Urteile unanfecht-bar seien, drang nicht durch. Ebenso blieb das Bedenken Thieracks unberücksichtigt,daß mit der Betrauung der zahlreichen Landgerichte mit politischen Strafsachen eineuneinheitliche Verzettelung der Rechtsprechung auf diesem Gebiet eintreten werde,denn „die Begründung der Zuständigkeit der Sondergerichte zur Aburteilung dieserSachen beruhte seinerzeit auf der Erwägung, daß man in diesem besonderen Verfah-ren besonders geeignete Richter haben müsse, die möglichst in einer Behörde einesOberlandesgerichtsbezirks zusammenzufassen waren".32

Zu diesem Zeitpunkt-

Dezember 1938-

sollte sich auch die Frage der Laienbetei-ligung an den Amtsgerichten zugunsten des Einzelrichters entscheiden

-

und zwardurch Umstände, die außerhalb der Justiz lagen. Hatte sich die „kleine" Strafprozeß-kommission in ihrem Entwurf von 1936 zu einer weitgehenden Beteiligung von Laiendurchgerungen, so dauerte die Diskussion um diese Frage in der Öffentlichkeit weiteran. Gegen das Laienrichtertum wurde ins Feld geführt, daß dieses Relikt aus der libe-ralen Epoche, das der Kontrolle der Richter durch das Volk dienen sollte, nunmehrüberflüssig sei, da die Kluft zwischen dem nationalsozialistischen Richter und demVolk überwunden sei. Bereite es ohnehin schon Schwierigkeiten, die nötige Anzahlgeeigneter Laien zu finden und sie bei der Verhandlung auch tatsächlich zur Verfü-gung zu haben, so sei ihre mangelhafte Rechtskenntnis wenig von Nutzen, unter Um-ständen

-

vor allem bei Revisionsgerichten - sogar schädlich. Dagegen argumentiertendie Befürworter, daß es kein besseres Mittel als die Laienbeteiligung gebe, um „dasVolk die Rechtspflege als unmittelbare Äußerung des eigenen Lebens empfinden" zulassen. Je mehr das Recht mit dem sittlichen Empfinden des deutschen Volkes in29 Vgl. Freislers Ausführungen auf der 4. Sitzung der Großen StPO-Kommission v. 17.12.36 (Schubert, Quel-len III, Bd.2.1, S.77). Dazu auch die Debatten in der 8. Sitzung v. 5.2. und 9. Sitzung v. 6.2.37 (a.a.O.,S.132ff., 151 ff.).30 Die Vorschläge im StVO-Entw. v. 27.2.36 gingen teilweise sogar darüber hinaus, vgl. Kapitel VIII.2.a.,S. 986 ff.31 Vgl. Freislers Vorschlag auf der 71. Sitzung v. 1.12.38 (a.a.O., Bd. 2.3, S.415). Freisler unterstützte seinen

Vorschlag am nächsten Tag mit dem Argument: „Nachdem aber 62 Prozent unserer Richter und Staatsan-wälte aktiv in der NSDAP und ihren Gliederungen tätig" (!) seien, müßten sie sämtlich „als gleich geeignetzur Arbeit in solchen politischen Strafsachen anzusehen" sein (s. nächste Anm.).32 Vgl. 72. Sitzung v. 2.12.38 (a.a.O., S.443, 441).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 941

Übereinstimmung gebracht werde, könne es „jeder seelisch gesunde Volksgenosse...auch ohne eingehende Gesetzeskenntnis" aus dem Volksgewissen schöpfen.33 Vor al-

lem sei der Laie geeignet, Fragen des Lebens zu beurteilen, die Auffassung des Volkesan den Richter heranzutragen und Tatsachen richtig zu würdigen. In der GroßenStrafprozeßkommission, in der es nicht mehr um die grundsätzliche Beteiligung von

Laien, sondern nur noch darum ging, ob sie in den Gerichten gegenüber den Berufs-richtern eine Mehrheit oder eine Minderheit bilden sollten, führte Gürtner am 5. Fe-bruar 1937 wohl nicht unzutreffend aus, daß sowohl auf Seiten der Befürworter wie derGegner des Laienrichtertums „im Unterbewußtsein Gefühlsgründe maßgebend zu

sein" schienen und deshalb „ein Ausdiskutieren der Frage schwer möglich sein"werde.34 Den Ausschlag zu ihrer Entscheidung gab schließlich die Entwicklung aufdem Arbeitsmarkt. Im Laufe des Jahres 1938 trat durch die Rüstungsindustrie, denBau der Vierjahresplan-Werke und des Westwalls eine Verknappung der Arbeitskräfteein, so daß die Regierung zum Mittel der Teildienstverpflichtung greifen mußte.35Folglich stellte Freisler bei der Wiederaufnahme der Diskussion um die Laienbeteili-gung im Dezember 1938 fest, daß bei Beginn der Reformarbeiten „ein Übermaß an

Arbeitskräften vorhanden" gewesen sei, dagegen sei nunmehr „im ganzen DeutschenVolk eine Ökonomie der Kräfte notwendig geworden". Aus diesem Grunde schlug er

unter anderem vor, beim Amtsgericht das Schöffengericht abzuschaffen und seine Zu-ständigkeiten dem Amtsrichter als Einzelrichter zu übertragen. Gürtner ergänzte dieseAusführungen mit dem Hinweis, „daß an alle Verwaltungen der Wunsch und Befehlergangen ist, sie möchten weniger Menschen beschäftigen", damit sie der Wirtschaftzur Verfügung ständen. Deshalb werde jetzt von verschiedenen Seiten „die Verwen-dung von Laien als eine Verschwendung von Menschen und Arbeitskraft" angese-hen.36 In der Tat hätte allein die vorübergehend erörterte Besetzung der „Schöffen-kammer" am Landgericht mit 2 Berufsrichtern und 3 Schöffen

-

statt der im Entwurfvon 1936 vorgesehenen 3 Berufsrichter und 2 Schöffen

-

den jährlichen Bedarf an

Schöffen von 26600 auf rund 80000 erhöht und einen finanziellen Mehraufwand fürSchöffen von etwa 360 000 RM bedeutet37 Gürtner legte in der Kommission dar, daßeine ins Gewicht fallende Freimachung von Arbeitskräften nur durch die Abschaffungder Laienrichter bei den Amtsgerichten (Schöffengerichten) erreicht werden könne:im letzten Jahr (1937) hätten etwa 80000 Schöffengerichtsverhandlungen stattgefun-den, dagegen nur 3000 Hauptverfahren bei den Schwurgerichten sowie 28000 bei denGroßen Strafkammern in erster und 18 000 in zweiter Instanz. Um die mögliche Ein-sparung von Arbeitskräften durch den Wegfall der Schöffen beim Amtsgericht zu ver-

deutlichen, trug Gürtner folgende Rechnung vor:

33 Vgl. Freisler in seinem Aufsatz: Dringende Fragen der deutschen Strafgerichtsorganisation und des deut-schen Strafverfahrens (DStR 1936, S. 311 ff.), in dem er die gängigsten Argumente für und gegen Laienrich-ter anführte und für ihre Beteiligung bei politischen Strafsachen auch an den OLG-Senaten und den Son-dergerichten eintrat, wie sie beim VGH schon bestand.

34 Vgl. 8. Sitzung v. 5.2.37 (Schubert, Quellen III, Bd.2.1, S. 150).35 Durch die VO zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeu-

tung v. 22.6.38 (RGBI. I, S. 652). Zum Arbeitskräftemangel 1938 vgl. D. Petzina, Autarkiepolitik im DrittenReich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968, S. 116, 159 f.

36 Vgl. 71. Sitzung v. 1.12.38 (Schubert, Quellen III, Bd.2.3, S.413, 415f.).37 Vgl. die Ausf. MinRat Dörflers (Ref. für laufende Fragen des GVG in der Abt. II und gleichzeitig Personal-

referent in der Abt. I) auf der 8. Sitzung v. 5.2.37 (a.a.O., Bd. 2,1, S. 148).

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942 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane„Wenn man die Arbeitsleistung der hier beteiligten Laienrichter in Menschen und Zeit um-

rechnet und dabei eine Stunde als durchschnittliche Dauer einer Schöffensitzung ansetzt, so

macht das, wenn zwei Schöffen je eine Stunde im Jahr Schöffendienst leisten, 160000 Arbeits-stunden aus. In Tage umgerechnet ergibt das 20000 Arbeitstage (bei acht Stunden täglicher Ar-beitszeit) und in Jahre umgerechnet (bei 300 Arbeitstagen im Jahr) 66 Arbeitsjahre. Anders aus-

gedrückt heißt das: 66 Personen würden ein Jahr lang als Schöffen beschäftigt werden müssen,um 80000 Schöffensachen mit erledigen zu können. Letzten Endes würden also 66 Arbeitskräftemehr der Wirtschaft ein Jahr lang zur Verfügung stehen ..."

Es sei daher fraglich, ob „angesichts dieser doch recht bescheidenen Zahl" die Ab-schaffung der Schöffengerichte tatsächlich geboten sei, da gerade durch die Ausschal-tung der Laien in der unteren Instanz „die Rechtspflege dem Volk völlig entrückt"werde: „denn der kleine Mann erlebt die Rechtspflege vor allem, wenn nicht über-haupt, nur am Schöffengericht". Trotzdem glaube er angesichts der angespannten Ar-beitslage in der Wirtschaft und anderer staatlicher Belange nicht, „daß die Schöffen imbisherigen Umfang erhalten werden" könnten.38

In der neuen Konzeption für den Aufbau der Strafgerichte und den Rechtsmittel-zug, die im Zusammenhang mit dem letzten Entwurf der Strafverfahrensordnung vom

1. Mai 1939 fertiggestellt wurde39, waren die Schöffengerichte „infolge der Einschrän-kung der Volksrichterbeteiligung" auch tatsächlich weggefallen. Über die kleine undmittlere Kriminalität sollte nunmehr der Amtsrichter als Einzelrichter entscheiden.Seine Strafgewalt wurde gegenüber dem geltenden Recht (§25 GVG) erheblich erwei-tert und umfaßte im wesentlichen Gefängnis bis zu fünf Jahren, Zuchthaus bis zu zweiJahren, ferner sogar die sichernden Maßregeln mit Ausnahme der Sicherungsverwah-rung, Entmannung und Berufsverbot auf Lebenszeit. Für die schwere Kriminalität war

die Schöffenkammer beim Landgericht vorgesehen, die in der Hauptverhandlung mit3 Berufsrichtern und 2 Schöffen besetzt war und deren Strafgewalt sich auf sämtlicheStrafen und Maßregeln erstreckte. Sie übernahm auch die Zuständigkeit des bisheri-gen Schwurgerichts, das abgeschafft werden sollte, da es durch seine Arbeitsweise ge-genwärtig ohnehin nur noch „ein großes Schöffengericht" darstellte. Über die Zustän-digkeit von Amtsrichter oder Schöffenkammer entschied im konkreten Fall derStaatsanwalt, der vor der Schöffenkammer nur dann Anklage erheben sollte, wenn er

die amtsrichterliche Strafgewalt für nicht ausreichend hielt, oder die Verhandlung vor

dem Amtsrichter „mit Rücksicht auf den Umfang oder die Bedeutung der Sache nichtangezeigt" war. Neben die Schöffenkammer sollte beim Landgericht die „Strafkam-mer" treten, die die Aufgaben des bisherigen Sondergerichts übernahm. Da es bei ihr„auf eine besonders schlagfertige Abwehr" ankam, waren an ihr keine Laienrichter be-teiligt: wie die bisherigen Sondergerichte war sie mit 3 Berufsrichtern besetzt. Nebenden bisherigen Sondergerichtsdelikten und bestimmten Tatbeständen, die im Entwurfdes neuen StGB vorgesehen waren, sollte sie auch solche Straftaten zugewiesen be-kommen, „bei denen der Staatsanwalt mit Rücksicht auf ihre Schwere oder Verwerf-lichkeit oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburtei-

38 Vgl. 72. Sitzung v. 2.12.38 (a.a.O., Bd. 2.3, S.443, 449). Für Beibehaltung der Schöffengerichte traten dieKommissionsmitglieder Lehmann, Martin, Neubert, Niethammer, Suchomel, Thierack und von Vacano ein.Zu diesen Personen vgl. Kapitel VIII.2.C, S. 1015 f.

3' Zum folgenden vgl. Begründung des Entwurfs einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- undSchiedsmannsordnung vom l.Mai 1939 (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S.372ff.). Während die Strafgerichts-organisation wie bisher im GVG geregelt werden sollte, waren die Vorschriften über die sachliche Zustän-digkeit und den Rechtsmittelzug in den StVO-Entw. aufgenommen worden.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 943

lung durch die Strafkammer für geboten" hielt.40 Als Gerichte des ersten und letztenRechtszuges für Hoch- und Landesverrat und einige gleichgestellte Straftaten bliebender Volksgerichtshof und die Oberlandesgerichte zuständig, wobei die Zuständigkeitder letzteren Gerichte wie bisher auf diejenigen Sachen beschränkt blieb, die derOberreichsanwalt beim Volksgerichtshof oder der Volksgerichtshof selbst an sie ab-gab. Ihre Besetzung wurde derjenigen des Volksgerichtshofs angeglichen, so daß sie inder Hauptverhandlung statt wie bisher mit 5 Berufsrichtern nunmehr mit 2 Berufs-richtern und 3 ehrenamtlichen Richtern entschieden. Außerdem war noch ein Beson-derer Strafsenat des Reichsgerichts als erst- und einziginstanzliches Gericht vorgese-hen, der mit 3 Berufsrichtern und 2 ehrenamtlichen Richtern besetzt war. Vor ihmkonnte der Oberreichsanwalt Anklage erheben, wenn er es „wegen der Bedeutung derSache für angezeigt" hielt.41 Der Rechtsmittelzug war nunmehr so geregelt, daß dieUrteile des Amtsrichters nur noch mit der Berufung angefochten werden konnten,über die die Schöffenkammer des Landgerichts in der erwähnten Besetzung entschied.Urteile der Schöffenkammer, die im ersten Rechtszug ergangen waren, konnten nur

mit der „Urteilsrüge" (Revision) angefochten werden; über sie sollte das Reichsgerichtin der Besetzung mit 5 Berufsrichtern entscheiden. Gegen die im Berufungsrechtszugerlassenen Entscheidungen der Schöffenkammern war jedoch kein ordentlichesRechtsmittel vorgesehen, ebenso nicht gegen die Entscheidungen der Strafkammern,die die Aufgabe der bisherigen Sondergerichte übernahmen, sowie gegen die Ent-scheidungen der Oberlandesgerichte, des Volksgerichtshofs und des Reichsgerichts.Somit ergab sich für den Gerichtsaufbau und den Rechtsmittelzug folgende schemati-sche Übersicht42: j Mnt mi> mMm 2< ,d)a)ere

Kriminalität KriminalitätSlmtsridjter Echöffenfammer

(1 ÍBÍR.) (3 233t. + 2 291.)

SS

6rhöffcntnmmer Slcidjsgeridjt(3 S9t. + 2 S3ÎR.) (5 BÎR.)

3. 6oitoerfäiIeStraftanuner Soifs« Dberlanbe»« Sr'onucrer

gerictjtsfjof gerirftt Strafjenat besUleirbsgerirhts

(3 5B9Î.) (223ÍR.+323ÍR.) (2 BÍK.+3S3ÍR.) (3 58^+23351.)'-v-'

_

feine 5tcd)tsm:ttelSBÍR. = SBerufsndjter; S3¡K. = SklfSridjter.

40 Das entsprach der bisherigen Regelung für die SGe durch die VO über die Erweiterung der Zuständigkeitder Sondergerichte v. 20.11.38 (RGBI. I, S. 1632).41 Zu dieser Bestimmung (§ 105 des StVO-Entw. v. 1.5.39) und ihrer Entstehung vgl. Kapitel VIII.2.d.,

S. 1040 ff.42 Vgl. Begründung zum StVO-Entw. (Schubert, a.a.O., S.374).

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944 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeDie in der amtlichen Begründung aufgestellte Behauptung, daß der Entwurf beson-

deres Gewicht „auf eine Vereinfachung des Ganges der Strafrechtspflege, namentlichim Aufbau der Strafgerichte, in der Regelung der Zuständigkeit und der Gestaltungdes Rechtsmittelzuges" lege43, entsprach allerdings kaum der Wirklichkeit. Trotz derAbschaffung des Schöffengerichts, der kleinen Strafkammer, des Schwurgerichts undder Sondergerichte waren

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statt bisher sieben-

immer noch sechs verschiedene erst-instanzliche Gerichte vorgesehen. Neben dem Einzelrichter gab es Kollegialgerichte,die teils ausschließlich, teils mit einer Mehrheit oder Minderheit von Berufsrichternbesetzt waren. Die Gerichte hatten teils ausschließliche, teils wahlweise Zuständigkei-ten; sie waren teils originär, teils durch Überweisung oder Abgabe zuständig. Trotz desWegfalls der Oberlandesgerichte als Revisionsgerichte blieben auch die Rechtsbehelfevielfältig gestaltet, denn die geschilderte Beschränkung der ordentlichen Rechtsmittelwurde durch die Vermehrung der außerordentlichen Rechtsbehelfe wettgemacht, diein Form einer Erweiterung der Wiederaufnahme des Verfahrens sowie der Einführungder Nichtigkeitsbeschwerde und des außerordentlichen Einspruchs vorgenommenwurde.44 Dabei standen die vorgesehenen Rechtsbehelfe teils beiden Prozeß„par-teien", teils einer zur Verfügung. Die Neuerungen, die eine stärkere Effektivität desStrafverfahrens bringen sollten, lagen daher weniger in den Bereichen der Gerichtsor-ganisation und der Zuständigkeitsregelung, sondern bei jenen Vorschriften, die dasVerfahren auflockerten und eine erhebliche Beschleunigung des Prozesses bewirkten.Immerhin sollte auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung eine ganze Reihe der in derReformkonzeption vorgesehenen Regelungen unmittelbar bei Kriegsbeginn durcheine Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung verwirklicht werden, dieallerdings im Interesse der Personalersparnis noch weiter ging und außer beim Volks-gerichtshof die Beteiligung von Laienrichtern völlig beseitigte.45

b. Die Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung: Errichtung der Sondergerichte 1933, desVolksgerichtshofs 1934 und die legislativen

Maßnahmen im Kriege 1939/40Eine der ersten gesetzgeberischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfas-sung1 zielte darauf ab, die noch unter dem Weimarer Regime gewählten und bestell-ten Laienbeisitzer zu ersetzen: von der allgemeinen „Säuberung" und „Gleichschal-tung" aller öffentlichen Funktionsträger sollten schließlich auch sie nicht verschontbleiben. Das Reichskabinett nahm in seiner Sitzung am 7. April 1933 das von Staats-

43 A.a.O.44 Vgl. §§ 354ff, 370, 373 StVO-Entw. v. 1.5.39, dazu ferner Kapitel VIII.2.a„ S.991, und 2.d, S. 1037ff.45 Vgl. VO über die Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege v. 1.9.39

(RGBI. I, S. 1658), ferner Kapitel VIII.Lb, S.974H.

1 Auf die zum Ressort des RWehrMin. gehörende Militärgerichtsbarkeit, deren Wiedereinführung bereitsdurch das G. v. 12.5.33 (RGBI. I, S. 264) vorgeschrieben wurde und durch das EinführungsG und die Militär-strafgerichtsordnung v. 4.11.33 (RGB1.I, S.921) am 1.1.34 erfolgte, wird im folgenden nicht eingegangen.Das gleiche gilt für die Sondergerichtsbarkeit der SS und Polizei, die durch die VO über eine Sondergerichts-barkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderemEinsatz v. 17.10.39 (RGB1.I, S.2107) eingerichtet wurde (vgl. dazu Kapitel VI.4.C, S.654; ferner H. Rüping,Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizei-Gerichte (NZfStR 1983, S. 112 ff.).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 945

Sekretär Schlegelberger vorgetragene Gesetz über die Neuwahl der Schöffen, Geschwore-nen und Handelsrichter an2:, das die an sich bis Ende 1934 laufende Wahlperiode derBeisitzer mit dem 30. Juni 1933 beendete. Es schrieb die unverzügliche Neuwahl desAusschusses nach § 40 GVG vor, der die Laienbeisitzer zu wählen hatte und dem ne-

ben dem Amtsrichter und einem Staatsverwaltungsbeamten sieben von den Einwoh-nern des jeweiligen Amtsgerichtsbezirks ebenfalls gewählte Vertrauenspersonen ange-hörten. Der Ausschuß sollte dann baldigst die neuen Schöffen und Geschworenenwählen, deren Amtsperiode wiederum bis zum 31. Dezember 1934 festgesetzt wurde.Darüber hinaus wurden die Landesjustizverwaltungen ermächtigt, bis zum Beginn derneuen Wahlperiode am 1. Juli 1933 besondere Bestimmungen über die Zuziehungvon Schöffen und Geschworenen zu erlassen „und hierbei von den Vorschriften desGerichtsverfassungsgesetzes abzuweichen". In dieser Hinsicht bereits getroffene Maß-nahmen wurden rückwirkend legalisiert; war als Folge dieser Maßnahmen ein Gerichtbis zum 1. Juli 1933 „nicht vorschriftsmäßig besetzt" gewesen, so durfte darauf eineRevision nicht gestützt werden. Diese Regelung diente dem Ausschluß politisch uner-

wünschter und jüdischer Laienbeisitzer. In der Folge stellten die Landesjustizverwal-tungen für die auch weiterhin nach dem GVG vorgenommene Wahl der Schöffen undGeschworenen eigene Richtlinien auf, die u.a. „Nichtarier" und „volksfeindliche Per-sonen" von diesen Ämtern ausschlössen.3 Noch ehe die auf Ende Dezember 1934festgesetzte Wahlperiode der Laienbeisitzer ablief, kündigte das Reichsjustizministe-rium den Landesjustizverwaltungen an, daß die Zusammensetzung des Ausschusseszur Wahl der Schöffen und Geschworenen in Kürze neu geregelt werde; bis dahinsollten die Wahlsitzungen dieses Ausschusses auf jeden Fall aufgeschoben werden.4Nachdem Gürtner vergeblich versucht hatte, den entsprechenden Gesetzentwurf nachAbstimmung mit den beteiligten Reichsministern als eilbedürftig im Umlaufwege zu

verabschieden3, konnte er ihn dem Kabinett in der Sitzung vom 4. Dezember 1934vorlegen. Dort schlug Reichswehrminister v. Blomberg vor, daß nicht nur Soldaten,Militärbeamte und Zivilbeamte der Wehrmacht, sondern auch deren Angestellte vomAmt als Schöffen und Geschworene befreit werden sollten, soweit sie gemäß Wehrge-setz den für Soldaten geltenden gesetzlichen Bestimmungen unterstellt waren. Mitdiesen Änderungen wurde das Gesetz zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes6noch in derselben Sitzung verabschiedet. Es bestimmte, daß die sieben Vertrauensper-sonen nicht mehr von den Einwohnern des Amtsgerichtsbezirks

-

durch die Vertre-tungen der Kreise, Ämter, Gemeinden oder dergleichen Verbände - gewählt, sondernvom Amtsrichter ernannt wurden. Dabei wurde der Kreis der Personen, die dafür inFrage kamen, entsprechend der politischen Neuordnung begrenzt und die Einfluß-nahme der NSDAP gesichert: Der Amtsrichter sollte dazu die Vorsteher der Gemein-den und Gemeindeverbände und

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soweit nicht ohnehin damit identisch-

den Kreis-

2 Vom 7.4.33 (RGBI.I, S. 188), vgl. Niederschr. über die RMin.Bespr. v. 7.4.33, nachmittags 4.15 Uhr in derReichskanzlei (Akten der Reichskanzlei, Die Regierung Hitler, Teil I: 1933/34, Band 1 [s. Anm.3 in Kapi-tel I], Dok.Nr. 93, S. 322).

3 Vgl. z. B. für Thüringen die VO v. 10.5.33 (ThürGS, S. 274), für Preußen die AV des JM v. 13.11.33 (DJ 1933,S.673).4 RdSchr. des RuPrJM an die Landesjustizverwaltungen v. 7.11.34 (DJ 1934, S. 1396).3 Vgl. Sehr. Gürtners v. 1.11.34 und Freislers v. 20.11.34 an die RK (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/206).< Vom 13.12.34 (RGBI. I, S. 1233), Begründung (DJ 1934, S. 1606), dazu Niederschr. über die Sitzung des

Reichskabinetts v. 4.12.34, 16.30 Uhr (Akten der RK, Regierung Hitler, Bd. II.l, Dok.Nr. 53, S.203f.).

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946 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeleiter der Partei oder deren Vertreter ernennen; umfaßte der Amtsgerichtsbezirk meh-rere NSDAP-Kreise, so schlug der zuständige Gauleiter den zu ernennenden Kreislei-ter vor.7 Immerhin wählte dieser Ausschuß die Schöffen und Geschworenen auch wei-terhin und ging damit nicht so weit wie der Vorschlag der Strafprozeßkommission fürein neues GVG, der die Ernennung der Schöffen und Geschworenen durch denAmtsrichter bzw. den Präsidenten des Landgerichts vorsah.8 Das Änderungsgesetz er-

gänzte ferner die Personengruppen, die nicht zu Schöffen und Geschworenen berufenwerden sollten (§ 34 GVG), nach dem erwähnten Vorschlag des Reichswehrministers.Diese Novelle zum GVG stellte nunmehr sicher, daß die Wahl der Laienbeisitzer nachden Grundsätzen des nationalsozialistischen Staates erfolgte.9

Die wichtigste Neuerung auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, die in den erstenWochen der nationalsozialistischen Herrschaft getroffen wurde, war zweifellos dieVerordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März1933 (RGBI. I, S. 136), deren Entwurf Staatssekretär Schlegelberger dem Kabinett an

diesem Tage zusammen mit dem Entwurf einer „Verordnung gegen die Diskreditie-rung der nationalen Regierung" - die dann die Bezeichnung „zur Abwehr heimtücki-scher Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung" erhielt

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vortrug, umden Vorwürfen verschiedener Kabinettsmitglieder entgegenzutreten, daß die Justiz dieneue Regierung im Abwehrkampf gegen oppositionelle Kräfte ungenügend unter-stütze.10 Sondergerichte, die in Zeiten politischer Hochspannung eine schnelle Bestra-fung terroristischer Gewalttaten durch vereinfachtes Verfahren ermöglichten, hatte esauch in den turbulenten Anfangsjahren und in der Endphase der Weimarer Republikgegeben: So wurde die Reichsregierung durch die Dritte Verordnung zur Sicherungvon Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom6. Oktober 1931 (RGBI. I, S. 537), die Reichspräsident Hindenburg auf Grund des Ar-tikels 48 der Weimarer Verfassung erließ, zur Einrichtung solcher Gerichte ermäch-tigt. Um den wachsenden politischen Gewalttaten entgegenzutreten, machte die Re-gierung Papen im August 1932 von dieser Ermächtigung Gebrauch und schuf in eini-gen Oberlandesgerichtsbezirken Sondergerichte für bestimmte Straftaten.11 DieseSondergerichte

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von deren Urteilen besonders das Todesurteil des Sondergerichts inBeuthen gegen die Mörder von Potempa Aufsehen erregt hatte

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wurden jedoch imDezember 1932 von der Regierung Schleicher wieder aufgehoben.12 Die nunmehr imMärz 1933 gebildeten Sondergerichte

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deren Errichtung im Gegensatz zur gleichzei-tig erlassenen Heimtückeverordnung nicht unmittelbar auf Artikel 48 der Weimarer

7 In den Entw. aufgenommener Änderungsvorschlag des St.d.F., vgl. Sehr. Bormanns an das RJM v. 23.10.34(Akten des RJM, a.a.O.).

8 Vgl. Kapitel VIII.l.a.,S.934.9 Das G. regelte ferner die Befreiung der Angehörigen ausländischer diplomatischer Vertretungen von der

deutschen Gerichtsbarkeit (§§ 18, 19 GVG) und die der Strafvollstreckung dienende Rechtshilfe (§ 162 GVG)neu und übertrug die Bezeichnung der Beamtenklassen, die Hilfsbeamte der StAschaft waren (§ 152 GVG),von den LReg. auf die RReg.

10 Vgl. Niederschr. über die Sitzung am 21.3.33, nachm. 4 Uhr, im RMdl (Akten der Reichskanzlei [s. Anm.3in Kapitel I], Dok.Nr. 70, S.243L)." VOder Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten v. 9.8.32 (RGBI. I, S. 404). Zu den Sonderge-richten in den ersten Jahren der Weimarer Republik (Wuchergerichte, außerordentliche Gerichte, Volksge-richte usw.) vgl. E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München u. Berlin 1954, S. 176 ff.12 VO der Reichsregierung über die Aufhebung der Sondergerichte v. 19.12.32 (RGB1.I, S.550). Zum Fall Po-

tempa vgl. Kapitel I.5., S. 61, und Anm. 235.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 947

Verfassung, sondern auf der erwähnten Verordnung Hindenburgs vom Oktober 1931beruhte

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waren zunächst gleichfalls als vorübergehende Einrichtungen gedacht: als„Notgerichte" des Staates zur Bekämpfung von „Verbrechen, die seine Existenz zur

Zeit besonders bedrohen".13 Daß sie „auf unbestimmte, aber von vornherein als vor-

übergehend ins Auge gefaßte Zeit" errichtet wurden14, geht aus dem § 18 der Grün-dungsverordnung hervor, der Übergangsbestimmungen für die Abwicklung laufenderVerfahren bei der Wiederaufhebung der Sondergerichte enthielt. Dafür spricht ferner,daß sie zunächst nur für die Verfolgung akut aufgetretener oder von der Führung fürmöglich gehaltener kommunistischer Oppositionshandlungen zuständig waren, diedurch die improvisierten Bestimmungen der Heimtückeverordnung und der Reichs-tagsbrandverordnung vom 28. Februar15 teils neu, teils verschärft unter Strafe gestelltworden waren: für die Ahndung diskreditierender „Greuelpropaganda", des Miß-brauchs von Uniformen der NS-Verbände sowie ausgesprochen politischer Gewaltaktewie bewaffneter Aufruhr, politische Geiselnahme, terroristische Sprengstoffanschläge,Brandstiftung, Beschädigung von Eisenbahnanlagen usw. Auf die in diesen beidenVerordnungen bezeichneten Verbrechen und Vergehen beschränkte sich zunächst dieZuständigkeit der neuen Sondergerichte, soweit nicht das Reichsgericht - später derVolksgerichtshof

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oder die Oberlandesgerichte zuständig waren, d.h. gleichzeitigHoch- oder Landesverrat vorlag (§ 2). Für den Bezirk jedes Oberlandesgerichts wurdeein Sondergericht gebildet, das bis zur „Verreichlichung" der Justiz ein Gericht desbetreffenden Landes war und dessen Sitz folglich auch von der Landesjustizverwal-tung bestimmt wurde (§ 1). Die Sondergerichte entschieden in der Besetzung mit dreiBerufsrichtern

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einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern -, die ebenso wie ihre Ver-treter ständig angestellte Richter des Bezirks sein mußten, für den das Sondergerichteingerichtet war. Die Berufung dieser Richter und die Geschäftsverteilung erfolgtedurch das Präsidium des Landgerichts, in dessen Bezirk das Sondergericht seinen Sitzhatte (§ 4); Anklagebehörde war die Staatsanwaltschaft dieses Landgerichts (§ 5). InAusführung dieser Bestimmungen errichteten die Landesjustizverwaltungen in jedemder 26 Oberlandesgerichtsbezirke das Sondergericht jeweils bei einem Landgericht,das durchaus nicht am Sitz des betreffenden Oberlandesgerichts angesiedelt seinmußte: so wurde z.B. das Sondergericht für den preußischen OberlandesgerichtsbezirkNaumburg nicht beim dortigen Landgericht, sondern beim Landgericht Halle, dasSondergericht für den bayerischen Oberlandesgerichtsbezirk Zweibrücken beimLandgericht Frankenthal oder das Sondergericht für den sächsischen Oberlandesge-richtsbezirk Dresden beim Landgericht Freiberg gebildet.16 Die Bestimmungen überdie Berufung der Richter am Sondergericht präzisierten die Landesjustizverwaltungendahingehend, daß zu Vorsitzenden und ihren Vertretern möglichst Landgerichtsdirek-

13 MinDir. Crohne, Bedeutung und Aufgaben der Sondergerichte (DJ 1933, S. 384 f.).14 So z. B. noch der Beschl. des SG Breslau v. 22.6.34 (DJ 1934, S. 1061).15 Vgl. VO des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen

Erhebung v. 21.3.33 (RGB1.I, S.135), dazu Kapitel VII.3.a., S.825; VO des Reichspräsidenten zum Schutzvon Volk und Staat v. 28.2.33 (RGBI. I, S.83), dazu S. 823 und Kapitel VI.l., S. 535 f.

16 Vgl. AV des preuß. JM v. 23.3.33 (JMB1. 1933, S. 98), Bekanntmachung des bayer. StMdJ v. 24.3.33(BayerJMBl. 1933, S.5); zu dem Anfang April 1933 gebildeten sächsischen SG Freiberg s. DJ 1934, S.589.Ein Verzeichnis sämtlicher (26) SGe nach der Verreichlichung findet sich in der AV des RJM v. 9.12.35 (DJ1935, S. 1811).

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948 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganetoren, d. h. erfahrene Richter bestellt werden sollten, und zwar „mit Rücksicht darauf,daß gegen die Entscheidung der Sondergerichte Rechtsmittel nicht zulässig sind". AusGründen der Kostenersparnis sollten die Mitglieder der Sondergerichte „tunlichst aus

der Zahl der Richter des Landgerichts berufen werden, in dessen Bezirk das Sonderge-richt seinen Sitz hat".17 Eine besondere Anforderung hinsichtlich der politischen Zu-verlässigkeit dieser Richter wurde weder in den Reichs- noch in den Landesvorschrif-ten gestellt. Da es sich praktisch um die Organisation einer Art „Spezialstrafkammer"innerhalb des Landgerichts handelte, war auch die sonst bei Ernennungen und Beför-derungen obligatorische Zustimmung der Parteidienststellen nicht gegeben. Dasschloß natürlich nicht aus, daß möglichst Richter in die Sondergerichte berufen wur-

den, die durch ihre bisherige Rechtsprechung und ihre positive Einstellung zum

neuen Staat geeignet schienen, die Erwartungen der Führung bei politischen Strafver-fahren zu erfüllen.173 Neben einer entsprechenden personellen Besetzung dieser Ge-richte sollte aber vor allem ihr Verfahren durch spezielle Bestimmungen vereinfachtund beschleunigt werden, so-„daß wirklich der Tat die Strafe auf dem Fuße folgt ...

und sofort und rücksichtslos vollstreckt [wird], um Gesinnungsgenossen zu schrek-ken".18 Haftbefehl konnte der Vorsitzende neben dem normalerweise dafür zuständi-gen Amtsrichter ohne mündliche Verhandlung selbst erlassen, auch über die Untersu-chungshaft entschied er allein; erst auf Beschwerde entschied das Sondergericht (§ 9).Der Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens entfiel: nach Eingang der An-klageschrift ordnete der Vorsitzende die Hauptverhandlung allein an; nur wenn er diegesetzlichen Voraussetzungen dafür nicht für gegeben hielt, führte er einen Beschlußdes Sondergerichts herbei. Die Ladungsfrist konnte auf 24 Stunden herabgesetzt wer-den (§ 12). Das Gericht konnte eine Beweiserhebung ablehnen, wenn sie nach seinerÜberzeugung für die Aufklärung der Sache nicht erforderlich war (§ 13). Gegen dieEntscheidungen des Sondergerichts waren keine Rechtsmittel (Berufung oder Revi-sion) zulässig, sie waren unanfechtbar, daher mit der Verkündung rechtskräftig und so-fort vollstreckbar. Zwar war die Wiederaufnahme des Verfahrens zugelassen

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über ei-nen entsprechenden Antrag sollte die Strafkammer des Landgerichts entscheiden -,und das sogar in erweiterter Form, indem den bestehenden Wiederaufnahmegründenzugunsten der Verurteilten (§ 359 StPO) ein neuer hinzugefügt worden war: „wennUmstände vorliegen, die es notwendig erscheinen lassen, die Sache im ordentlichenVerfahren [d. h. nicht durch das Sondergericht, sondern durch das zuständige ordentli-che Gericht] nachzuprüfen" (§ 16). Aber schon beim ordentlichen Strafverfahren be-gegnete jede Wiederaufnahme in der Praxis erheblichen Schwierigkeiten, die beim

17 Vgl. die preuß. und bayer. Verfügungen (voranstehende Anm.). Die Bestimmung über die Berufung ausdemselben LG-Bezirk war in der nach der „Verreichlichung" der JVerw. erlassenen AV des RJM v. 9.12.35(a.a.O.) nicht mehr enthalten.

""Aus einem Verzeichnis in den Akten des RJM (BA, Sign. R 22/5046) vom Juni 1941 geht hervor, daß z.B.die Richter bei den SGen in Bamberg, Dresden, Essen, Hamburg, Koblenz, Köln, Leipzig und Luxemburgsämtlich

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in Hannover bis auf einen-

Parteigenossen waren.18 MinDir. Crohne, Bedeutung und Aufgaben der Sondergerichte (DJ 1933, S.384). Obwohl die Neuerungen

im Strafverfahrensrecht in einem eigenen Abschnitt vorliegender Arbeit behandelt werden (s. KapitelVIII.2.e.), müssen die speziellen Verfahrensänderungen für die SGe an dieser Stelle dargestellt werden, umdie Funktion dieser Gerichte verständlich zu machen.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 949

Sondergerichtsverfahren nicht geringer waren; dennoch gab es auch hier Wiederauf-nahmen des Verfahrens zugunsten der Verurteilten.19

Obwohl eine Verteidigung vorgeschrieben war-

soweit ein Angeklagter selbst kei-nen Verteidiger wählte, mußte er von Amts wegen gestellt werden -, schmälerte dassummarische Verfahren die Rechte des Angeschuldigten und die Möglichkeit seinerVerteidigung u.a. schon deshalb erheblich, weil ihm die Anklage nicht zugestelltwurde. In den Ausführungsbestimmungen war vermerkt, daß es sich „empfiehlt" (!),dem Angeschuldigten die Anklageschrift so rechtzeitig mitzuteilen, daß er „zur An-bringung von Beweisanträgen vor dem Beginn der Hauptverhandlung oder zur unmit-telbaren Ladung oder Gestellung von Zeugen und Sachverständigen Gelegenheithat".20

Bereits im Juli 1933 schlug der Hamburger Justizsenator Rothenberger demReichsjustizministerium vor, die Zuständigkeit der Sondergerichte auf jene Fälle derVorbereitung zum Hochverrat auszudehnen, bei denen gleichzeitig ein Delikt vorlag,für das die Sondergerichte zuständig waren: da die Abgabe solcher Sachen an dieReichsanwaltschaft meist zu einer Rücküberweisung an die Oberlandesgerichte führe,werde die Aburteilung unnötig verschleppt. Obwohl die zuständigen Referenten desMinisteriums die Sondergerichte für die Ahndung dieser Fälle grundsätzlich für geeig-net hielten, wurde dieser Vorschlag schließlich abgelehnt, da der Oberreichsanwalt aufdie Kenntnis aller Fälle von Vorbereitung des Hochverrats nicht verzichten wollte, um

von seiner zentralen Position aus „den inneren Zusammenhängen der Straftaten nach-gehen zu können".21 Die Kompetenz der Sondergerichte wurde jedoch in andererHinsicht ständig erweitert. So erhielten sie die ausschließliche Zuständigkeit für eineganze Reihe weiterer „politischer" Delikte zugewiesen, soweit im konkreten Fall nichtwegen Hoch- oder Landesverrats das Reichsgericht

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später der Volksgerichtshof-oder die Oberlandesgerichte zuständig waren: für die Verbrechen gegen die §§ 5 bis 8

des Sprengstoffgesetzes, Inbrandsetzung oder Sprengung öffentlicher Bauwerke(§§ 306 bis 308, 311 StGB), Brandstiftung oder Sprengung in der Absicht, in der Be-völkerung Angst und Schrecken zu erregen, schwere Körperverletzung durch Vergif-tung (§ 229 StGB), vorsätzliche Überschwemmung (§312 StGB), Eisenbahntransport-gefährdung (§315 StGB) und Brunnenvergiftung (§ 324 StGB)22; Verletzung der An-zeigepflicht von Auslandsvermögen und Devisen gemäß § 8 des Gesetzes gegen Verratder Deutschen Volkswirtschaft23; Angriffe auf das Leben von Richtern, Staatsanwäl-ten, Schöffen und Geschworenen, Polizeibeamten, SA- und SS-Angehörigen, Amts-waltern der NSDAP u.a. sowie Einführung bestimmter Druckschriften (§§ 1, 2 des

19 Vgl. W. Johe, Die gleichgeschaltete Justiz. Organisation des Rechtswesens und Politisierung der Rechtspre-chung 1933-1945, dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Hamburg, Frankfurt a.M. 1967,S. 100ff. Als konkretes Einzelbeispiel s. ferner Urt. des LG Bamberg v. 21.8.41, das das SG-Urt. v. 8.10.40(9 Monate Gefängnis) aufhob und freisprach, weil die Zeugen einen Meineid geleistet hatten (H. Schütz, Ju-stiz im „Dritten Reich". Dokumentation aus dem Bezirk des Oberlandesgerichts Bamberg, Bamberg 1984,S.204f).

20 So gleichlautend in den preuß. und bayer. Verfügungen, auch in der späteren AV des RJM v. 9.12.35 (s.Anm. 16).

21 Vgl. Sehr. Rothenbergers an das RJM v. 26.7.33 und Ber. des GStA Drescher über die Bespr. im RJM v.3.8.33 (StArch der Freien und Hansestadt Hamburg, Best. OLG 213-1), auch W. Johe, Die gleichgeschalteteJustiz, a.a.O., S. 86 f.

22 Vgl. § 2 des G. zur Abwehr politischer Gewalttaten v. 4.4.33 (RGBI. I, S. 162).23 Vom 12.6.33 (RGBI. I, S. 360), vgl. dort § 9, s. auch Werle, Justiz-Strafrecht (1989), S.82f.

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950 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeGesetzes zur Gewährleistung des Rechtsfriedens)24; Verstöße gegen das Gesetz gegenheimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformenvom 20. Dezember 1934 (RGBI. I, S. 1269)25, das die Heimtückeverordnung vom

März 1933 ersetzte; schwere Gefährdung des Eisenbahn-, Schiffs- und Luftverkehrs (§315 StGB n.F.)26; öffentliche Beschimpfung der NSDAP, ihrer Gliederungen, Fahnenusw. (§ 134 b StGB)27 sowie öffentliche Beschimpfung des Reichs, seiner Fahnen undder Wehrmacht (§ 134 a StGB).28 Andererseits wurde die Anklagebehörde aber schonin den ersten Wochen des Bestehens der Sondergerichte ermächtigt, eine an sich zur

Zuständigkeit dieser Gerichte gehörende Sache zur Behandlung im ordentlichen Ver-fahren abzugeben, wenn „die alsbaldige Aburteilung der Tat für die Aufrechterhaltungder öffentlichen Ordnung oder für die Staatssicherheit von minderer Bedeutung" oderder Täter ein Jugendlicher war. Selbst wenn das Verfahren beim Sondergericht schonanhängig war, konnte das Gericht die Sache auf Antrag des Staatsanwalts an ein or-

dentliches Gericht überweisen.29 Damit war die ausschließliche Zuständigkeit derSondergerichte durchbrochen und in die Entscheidung der Staatsanwaltschaft gestelltworden. Während die veröffentlichten Ausführungsverfügungen zu dieser Bestim-mung als Entscheidungskriterien immer noch den Charakter der betreffenden Tat inden Vordergrund stellten30, machte das Reichsjustizministerium in internen Bespre-chungen deutlich, wie diese Vorschrift gehandhabt werden sollte: die Staatsanwältesollten unbeschadet der Zuständigkeit „keine Strafsachen vor die Sondergerichte brin-gen, die besondere Beweisschwierigkeiten bergen oder nach Zahl der Angeklagtenoder Zeugen eine vieltägige Verhandlung" erforderten, sondern solche, „in denen derBeschuldigte geständig, auf frischer Tat ergriffen oder die Schuld sonstwie offenkun-dig", d.h. ein schnelles Urteil möglich war.31 Damit verloren aber die Sondergerichtetrotz ihres detaillierten Zuständigkeitskatalogs den Charakter von „Sondergerichten",die für bestimmte, gesetzlich im voraus allgemein bezeichnete Tatbestände oder Per-sonenkreise an die Stelle der ordentlichen Gerichte traten; sie näherten sich dem Cha-rakter von „Ausnahmegerichten", die nicht durch allgemein gültige abstrakte Normen,sondern durch konkrete Anordnung für einen oder eine bezeichnete Mehrzahl von

Einzelfällen zuständig wurden.32 Die „Liquidität" des konkreten Falles ging hier überdie sachliche Abgrenzung der Zuständigkeit, um dem Sondergericht das Image der„blitzartig" und entschieden zuschlagenden Waffe vor der Öffentlichkeit zu bewahren;denn neben der Abschreckung potentieller Täter war es zumindest das verkündeteZiel des Regimes, mit Hilfe der Sondergerichtsbarkeit das Vertrauen der Bevölkerungin den staatlichen Rechtsschutz zu stärken.24 Vom 13.10.33 (RGBI. I, S. 723), vgl. dort§3.23 Vgl. VO über die Zuständigkeit der Sondergerichte v. 20.12.34 (RGBI. 1935 I, S.4).26 Vgl. Art. 8 Nr. 4 des G. zur Änderung des Strafverfahrens und des GerichtsverfassungsG v. 28.6.35 (RGB1.I,

S.844).27 Vgl. VO über die Zuständigkeit der Sondergerichte v. 24.9.35 (RGBI. I, S. 1179).28 Vgl. VO der Reichsregierung über die Zuständigkeit der Sondergerichte v. 5.2.36 (RGBI. I, S. 97).29 Vgl. VO der Reichsregierung über die Zuständigkeit der Sondergerichte v. 6.5.33 (RGBI. I, S. 259), die einen

entsprechenden § 3 a in die SondergerichtsVO vom März 1933 einfügte.30 Vgl. z.B. AV des preuß. JM v. 16.5.33 (JMB1.1933, S.154), ersetzt durch die AV des RJM v. 9.12.35 (DJ

1935, S. 1811).31 Vgl. z.B. MinDir. Crohne in seinem Referat „Was bringt man vor die Sondergerichte?" auf der Tagung der

SG-Vorsitzenden und Sonderdezernenten für SG-Sachen bei den GStAen am 24.10.39 im RJM. Als abge-kürzter Ber. veröffentlicht in: Die Arbeit der Sondergerichte in der Kriegszeit, Berlin 1939, S.471

32 Vgl. die Unterscheidung bei G Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1928, S. 285 f.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 951

Daß die Sondergerichte beibehalten wurden, nachdem sich die politischen Verhält-nisse beruhigt hatten und das Regime fest im Sattel saß, lag nicht daran, daß jene imHeimtückegesetz und in anderen Normen verstreut niedergelegten Straftaten, für diedie Sondergerichte zuständig waren, organisch in das künftige StGB eingefügt werdensollten33 und ihre Ahndung somit als Daueraufgabe bestehenblieb. Im Gegenteil gin-gen die Überlegungen zur Reform des GVG dahin, diese Aufgabe von ordentlichenGerichten

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entweder den erstinstanzlichen Strafsenaten der Oberlandesgerichte oderden Strafkammern der Landgerichte

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wahrnehmen zu lassen und ihr Verfahren inder künftigen allgemeinen Strafverfahrensordnung zu regeln, in der das Verfahren derordentlichen Strafgerichte dem bisherigen vereinfachten Verfahren der Sonderge-richte ohnehin angeglichen werden sollte.34 Daß bis zur Realisierung dieser Neuord-nung auf die wirksamen Instrumente der Sondergerichte nicht verzichtet wurde, hatteunter anderem seinen Grund in einer überraschenden Welle schwerer Mord- undRaubfälle im Jahre 1938, die am 18. November in zwei Überfällen junger Burschen aufKraftwagen im Raum westlich von Graz gipfelten, bei denen die Fahrer der Wagen er-

mordet und zwei weitere Männer einer SA-Streife, die die beiden Täter stellte, getötetwurden.35 Diese Verbrechen, die die Öffentlichkeit stark beschäftigten, erweckten an-

geblich „das Bedürfnis nach sofortiger Aburteilung derartiger Taten in einem beson-ders schnellen und rechtsmittellosen Verfahren".36 Damit wurde eine neue Entwick-lung eingeleitet, bei der die Sondergerichte neben der Ahndung politischer Straftaten

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die um diese Zeit ohnehin zunehmend nur noch in der Verfolgung von Handlun-gen und Äußerungen nach dem Heimtückegesetz bestand37, da die schweren politi-schen Fälle vom Volksgerichtshof und den Oberlandesgerichtssenaten abgeurteiltwurden

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zur Bekämpfung unpolitischer Schwerverbrecher eingesetzt wurden. IhreZuständigkeit wurde nunmehr auf sogenannte „Gangstersachen", d. h. schnell abzuur-teilende Kapitalsachen ausgedehnt: Durch die Verordnung vom 20. November 1938

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zu der der vierfache Mord von Graz den letzten Anstoß gegeben hatte38-

wurde dieStaatsanwaltschaft ermächtigt, Verbrechen, die zur Zuständigkeit des Schwurgerichts,der Strafkammer, des Schöffengerichts oder des Amtsrichters gehörten, vor dem Son-dergericht anzuklagen, wenn sie der Auffassung war, „daß mit Rücksicht auf dieSchwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgeru-

33 Vgl. dazu den StGB-Entwurf von 1936 (Kapitel VII.2.b., S.780ff.).34 Vgl. dazu den StVO-Entw. von 1936 (Kapitel VIII.2.a., S. 986 ff.) und die Beratungen der Großen Strafpro-

zeßkommission 1936-1938 (Kapitel VIII.l.a., S.939f.).35 Vgl. Ber. in den Münchner Neuesten Nachrichten v. 20.11.38, S. 7, und v. 21.11.38, S. 9.36 Vgl. RV des RJM an die OLGPräs. und GStAe v. 23.11.38 (Akten RJM-Hauptbüro, Arch, des BJM).37 Vgl. dazu die Ausf. Freislers in der Sitzung der Großen Strafprozeßkommission v. 17.12.36 (Kapitel

VIII.l.a., S.939), ferner v. 1.12.38: „Die Heimtückesachen nehmen außerdem ständig ab, teils weil mannicht jedes unbedachte Wort vor das Gericht bringt, teils weil auch die Freude an staatsgefährdenden .Wit-zen', wenn ich einmal so sagen darf, außerordentlich nachgelassen hat." (Schubert, Quellen III, Bd.2.3,S.415). Die Regionalstudie von P. Hüttenberger, Heimtückefälle vor dem Sondergericht München1933-1939 (Bayern in der NS-Zeit, Bd. IV. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, herausg. von M. Bros-zat, E. Fröhlich, A. Grossmann, München 1981, S.435ff.) bestätigt, daß das Schwergewicht der sonderge-richtlichen Tätigkeit ungefähr ab 1934 bis zum Kriegsbeginn bei der „Repression der alltäglichen Meinungs-bekundung" (S.437), d.h. den Heimtückeverfahren lag.

38 VO über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte v. 20.11.38 (RGBI. I, S. 1632), vgl. dazuGürtners Äußerung in der Großen Strafprozeßkommission v. 2.12.38: „Die erweiterte Zuständigkeit desSondergerichts verdankt ihre Entstehung den Grazer Morden" (Schubert, a.a.O., S.450).

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952 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganefene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten" war

(Art. I); ferner wurde die Ladungsfrist für alle Sondergerichtssachen nunmehr generellauf 24 Stunden herabgesetzt (Art. III). Durch diese Verordnung wurde die Grenzezwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Sondergerichtsbarkeit

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die gemäß denGrundsätzen des GVG (§§ 13 und 16) nach der Eigenart der Täter bzw. der Taten odernach Geltungsraum bzw. -zeit scharf gezogen sein sollte

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aus Zweckmäßigkeitsgrün-den endgültig beseitigt. In den Richtlinien des Justizministeriums für die Staatsan-wälte zur Handhabung dieser Verordnung wurde auch hier wiederum bestimmt, daßselbst bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen „Taten, deren Aburteilung be-sondere Beweisschwierigkeiten in der Hauptverhandlung erwarten ließen", nicht vordas Sondergericht gebracht werden sollten, um „eine Verminderung seiner Schlagkraftzu vermeiden".39 Dagegen sollten die Staatsanwälte Verbrechen nach dem Gesetz ge-gen Straßenraub mittels Autofallen vom 22. Juni 1938 (RGBI. I, S. 651) grundsätzlichnur vor dem Sondergericht anklagen.40

Der Kriegsausbruch verstärkte die Ausdehnung des sondergerichtlichen Tätigkeits-bereichs. Mochte dabei auch der Gedanke an eine Entlastung der Strafjustiz durch denWegfall von Berufungs- und Revisionsverhandlungen eine Rolle gespielt haben, so be-deutete das einen schwerwiegenden Einbruch in die Rechtsstaatlichkeit des Strafver-fahrens. Durch die Vereinfachungsverordnung vom 1. September 193941 durfte dieStaatsanwaltschaft nicht nur Verbrechen, sondern auch Vergehen, für die die ordentli-chen Gerichte zuständig waren, vor den Sondergerichten anklagen, wenn sie der Auf-fassung war, „daß durch die Tat die öffentliche Ordnung und Sicherheit besondersschwer gefährdet wurde" (§ 19). Hiernach konnte die Anklagebehörde praktisch jedesVerbrechen oder Vergehen vor das Sondergericht bringen, das nicht zur Zuständigkeitdes Volksgerichtshofs oder der Oberlandesgerichte als erster Instanz gehörte. Nebendieser uferlosen Wahlzuständigkeit wurden die Sondergerichte noch für folgendeStraftaten ausschließlich zuständig: Abhören und Verbreiten ausländischer Rundfunk-nachrichten42; Plünderung im frei gemachten Gebiet43; Gewalttaten mit der Waffe,Angriff auf einen Helfer bei der Verfolgung von Verbrechen44; erpresserischer Kin-desraub, Straßenraub mittels Autofallen sowie Delikte nach § 1 der Kriegswirtschafts-verordnung vom 4. September 1939 (RGBI. I, S. 1609).45

Um dem dadurch ausgelösten vermehrten Anfall von Anklagen vor den Sonderge-richten Herr zu werden und gleichzeitig für eine möglichst beschleunigte Abwicklungder Verfahren zu sorgen, ergriff das Justizministerium auf dem Gebiet der Gerichts-verfassung organisatorische Maßnahmen. Hatte sich die Justizverwaltung zunächst da-mit geholfen, die bestehenden Sondergerichte durch die Bildung zusätzlicher Kam-

39 Vgl. RV des RJM v. 23.11.38 (Akten RJM-Hauptbüro, Arch, des BJM).40 RV des RJM an die GStAe und OStAe v. 22.12.38 (a.a.O.). Zum AutofallenG, auf dessen Grundlage die

SGe bis 1.4.39 acht Todesurteile fällten (Graf zu Dohna, Die Verwendung der Todesstrafe in Deutschlandseit 1933, Monatsschr. für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 1939, S.487), s. Kapitel VII.3.d, S.897ff.

41 Vgl. § 19 der VO über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege v. 1.9.39(RGB1.I.S.1658).

42 Vgl. § 4 der VO über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen v. 1.9.39 (RGBI. I, S. 1683).43 Vgl. § 1 Abs. 2 der VO gegen Volksschädlinge v. 5.9.39 (RGBI. I, S. 1679).44 Vgl. § 3 der VO gegen Gewaltverbrecher v. 5.12.39 (RGBI. I, S. 2378).45 Vgl. § 13 der VO über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige verfahrensrecht-

liche Vorschriften v. 21.2.40 (RGB1.I, S.405).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 953

mern zu vergrößern46, so wurde der Reichsjustizminister durch § 18 der erwähntenVereinfachungsverordnung vom 1. September 1939 ermächtigt, nunmehr auch für dieBezirke der Landgerichte Sondergerichte zu errichten. Das Ministerium wies daherdie Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte an, bis Mitte Januar 1940zu berichten, ob bei ihnen Bedarf an weiteren Sondergerichten bestand, und gegebe-nenfalls deren günstigste Bezirksabgrenzungen vorzuschlagen.47 Die am 21. Februarvom Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung erlassene Zuständigkeitsver-ordnung48 bestätigte nochmals, daß nunmehr auch bei mehreren Landgerichten einesOberlandesgerichtsbezirks Sondergerichte gebildet und deren Sitz und Bezirk vom

Reichsjustizministerium im Verwaltungsweg bestimmt werden konnten (§ 10). Nachdem Stand vom 15. März 1940 waren im Reich einschließlich des Protektorats Böh-men und Mähren 55

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davon in manchen Oberlandesgerichtsbezirken sogar drei odervier

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Sondergerichte errichtet49; ihre Zahl stieg bis Februar 1941 auf 63 an.30 IhreMitglieder wurden seit dem Geschäftsverteilungsgesetz vom November 1937 auf Vor-schlag des Landgerichtspräsidenten vom Oberlandesgerichtspräsidenten bestellt, derauch die Geschäftsverteilung regelte.

Die seit Kriegsbeginn stattfindende Verschiebung des Schwerpunktes der Strafju-stiz von den ordentlichen Gerichten zu den Sondergerichten ist mangels statistischerUnterlagen für das Reich31 quantitativ nicht meßbar. Sie läßt sich jedoch beispielhaftan einem Vergleich der Urteile des Sondergerichts und des Landgerichts Hamburgzahlenmäßig verdeutlichen: Von 1936 bis 1939 fällte das Landgericht Hamburg 4269,das Sondergericht 815 Strafurteile (=16%); in den folgenden vier (Kriegs-)Jahren1940 bis 1943 standen 2089 Landgerichtsurteile 1976 Sondergerichtsurteilen(= 49%) gegenüber. Dabei überstieg 1942 die Zahl der Sondergerichtsurteile erstmalsdiejenigen des Landgerichts; im Jahre 1943 fällte das Sondergericht schon 73% derUrteile.32 Die von Gürtner bereits im Januar 1940 gegenüber Frick getroffene Feststel-

46 So wurden bis Mitte September 1939 z.B. beim SG Hamburg drei Kammern eingerichtet, später noch einevierte (vgl. W. Johe, Die gleichgeschaltete Justiz, a.a.O., S. 84), beim LG Düsseldorf zwei Kammern, im Laufedes Krieges vier (vgl. Düsseldorf und sein Landgericht 1820-1970, herausg. vom Verein für DüsseldorferRechtsgeschichte e.V., Düsseldorf 1970, S.65).

47 Vgl. RV des RJM v. 9.12.39 (Akten RJM-Hauptbüro, Arch, des BJM).48 Vgl. voranstehende Anm. 45.49 Vgl. Liste der 55 SGe mit Bezirkszuständigkeit in der AV des RJM v. 11.3.40 (DJ 1940, S. 323).30 Vgl. DJ 1940, S.795, 1031, 1167, 1321; DJ 1941, S.223, 405, 1143 (betr. Aufhebung); bis Ende 1942 sollten

es 71 werden, vgl. DJ 1942, S.69, 387, 439, 471 (betr. Aufhebung), 505, 543, 558, 624.31 Zahlen über die Sondergerichtsurteile wurden im Stat. Jahrbuch für das Deutsche Reich (Jg. 54, 1935,

S. 529; Jg. 55, 1936, S. 556) nur für die ersten beiden Jahre der NS-Herrschaft angegeben. Danach wurden imJahre 1933 3853 SG-Urteile gefällt, denen 22 596 erstinstanzliche Urteile der LGe (19 264 der Großen Straf-kammern und 3332 der Schwurgerichte) gegenüberstanden; dazu kamen 160 Urteile des RG und 900 derOLGe in erster und letzter Instanz sowie 361 211 Strafurteile der Schöffen-(Amts-)Gerichte. Im Jahr 1934waren es: 2767 SG-Urteile, 27 802 erstinstanzliche LG-Urteile (24 264 Gr. Strafkammer, 3538 Schwurge-richt), 2461 einziginstanzliche Urteile der OLGe sowie 284 889 Urteile der Schöffen-(Amts-)Gerichte. In derSitzung der Großen Strafprozeßkommission v. 2.12.38 (Niederschr. der 72.Sitzung, Bibl. des BGH, Sign. F7446) nannte Gürtner für 1937 die Zahl von 6500 von den SGen abgeurteilten Fällen. Nach dem Stat. Jahr-buch (Jg. 57, 1938, S.607) würden ihnen 31793 erstinstanzliche Hauptverhandlungen der LGe (28 786 derGr. Strafkammern, 3007 der Schwurgerichte) gegenüberstehen.

32 Vgl. Johe, Die gleichgeschaltete Justiz (a.a.O.), S.92. Für die Friedenszeit bleiben allerdings die Urteile desLG Bremen unberücksichtigt, für dessen Bezirk das SG Hamburg seinerzeit noch mit zuständig war. Überdie „stark zunehmende Belastung" des SG Dortmund finden sich im Lageber, des OLGPräs. Hamm v.

4.7.36 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1127) folgende Zahlen der Hauptverhandlungen: 1.Halbjahr 1934:SG = 45, LG = 367; 1. Halbjahr 1935: SG = 104, LG = 310; 1.Halbjahr 1936: SG = 316, LG = 297.

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954 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

lung, „daß der Schwerpunkt der heutigen Strafrechtspflege mehr und mehr auf denUrteilen der Sondergerichte" ruhe53, entsprach insofern der Realität, als die Sonderge-richtsbarkeit zweifellos den sachlich bedeutenderen Teil des Kriegsstrafrechts um-

faßte. Da sich mit der Sondergerichtsbarkeit auch ihr vereinfachtes Verfahren auf ei-nen wesentlichen Teil der Strafrechtspflege übertrug, fand unterderhand zugleich eineArt Reform des Strafverfahrensrechts statt. Anders wirkte sich jedoch diese Entwick-lung auf die Besetzung dieser Gerichte aus: Je mehr sich das Krebsgeschwür der Son-dergerichtsbarkeit im Körper der Strafjustiz ausbreitete, desto mehr mußte es von derpersonellen Substanz dieses Körpers zehren und auch weniger „zuverlässige" und„scharfe" Richter

-

vielfach aus den Zivilkammern-

in die eigenen Reihen aufneh-men. Wie der zuständige Referent des Ministeriums im September 1943 feststellte,mußte in verschiedenen Bezirken „auf fachlich durchschnittliche oder unterdurch-schnittliche Richter, die auch nicht immer Parteigenossen" waren, zurückgegriffenwerden.54 Diese Entwicklung ging in den letzten Kriegsmonaten soweit, daß einfachsämtliche Richter eines Gerichts zu Mitgliedern des Sondergerichts bestellt wurden.55Damit wurde aber der gewünschte „Elite"-Charakter der Sondergerichte verwässertund als Folge auch ihre Rechtsprechung zunehmend uneinheitlicher.553 Diese Mög-lichkeit bestand bei den Sondergerichten um so eher, als ihre Urteile wegen ihrerRechtsmittellosigkeit durch kein Instanzgericht nachprüfbar und korrigierbar waren

-eine Gefahr für die Rechtseinheit, die auch durch das Instrument der Nichtigkeitsbe-schwerde nicht gebannt werden konnte, die mit der bereits erwähnten Zuständigkeits-verordnung vom Februar 1940 eingeführt worden war.56 Die Gegenmaßnahmen, diedas Justizministerium auf dem Gebiet der „Lenkung" der Rechtsprechung ergriff, wer-den an anderer Stelle behandelt. Als organisatorische Maßnahme richtete das Reichsju-stizministerium bei sich „zur Erhöhung der Schlagkraft der Strafrechtspflege" schonim Oktober 1939 ein Sonderreferat für die wichtigsten zur Zuständigkeit der Sonder-gerichte gehörenden Strafsachen ein57, das dem Leiter der Abteilung III (Strafrechts-pflege) unmittelbar unterstellt und von Oberstaatsanwalt von Haacke wahrgenommenwurde, der durch seine Tätigkeit bei der ehemaligen Zentralstaatsanwaltschaft des Mi-nisteriums in den Anfangsjahren des Regimes für eine Lenkungsfunktion ausgewiesenwar. Die Generalstaatsanwälte wurden angewiesen, sofort auch ihrerseits „bei denStaatsanwaltschaften beim Oberlandesgericht ein entsprechendes Sonderdezernat ein-

53 Vgl. Sehr. Gürtners an den GBV für die Reichsverw. Frick v. 22.1.40 bei der Vorlage des Entw. der Zustän-digkeitsVO (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1039).

54 Vgl. Ber. des Ref. v. 22.9.43 (Akten des RJM, Sign. R 22/1032), der übrigens aufgrund der gemeldeten Ge-schäftszahlen ebenfalls eine „Verlagerung des Schwergewichts der Strafrechtspflege von Amtsgericht undLandgericht auf die Sondergerichte" feststellte. Der Referentenber. beruhte auf den Ber. der OLGPräs., dieaufgefordert worden waren, zu einem vertraul. SD-Bericht über die SGe Stellung zu nehmen.

55 So z.B. sämtliche am AG Bad Kreuznach tätige Richter zu Mitgliedern des SG Koblenz, vgl. Ber. des GStAKöln an das RJM v. 30.1.45 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/3374). Seit der VereinfachungsVO v. 1.9.39(RGBI. I, S. 1658) konnten auch Gerichtsassessoren und Hilfsrichter ins SG berufen werden; es brauchtennicht mehr ständig angestellte Richter des SG-Bezirks zu sein.

'"Kennzeichnend dafür ist die Klage Thieracks in seiner RV an die OLGPräs. und GStAe v. 5.7.43 (AktenRJM-Hauptbüro, Arch, des BJM), den Urteilen der SGe komme „die ursprüngliche abschreckende Wirkungnicht mehr in dem Maße zu wie früher".

56 Vgl. Anm. 45 und Kapitel VIII.2Í., S. 1083 ff.57 Vgl. RV des RJM an die GStAe v. 16.10.39 (Akten RJM-Hauptbüro, Arch, des BJM). Ausgenommen von

der Berichtspflicht und zentralen Behandlung waren Heimtückesachen, Beschimpfungen des Reichs oderder NSDAP, Gewaltakte nach der ReichstagsbrandVO und Devisendelikte.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 955

zurichten"; die Sonderdezernenten konnten auf Weisung des Generalstaatsanwalts an-

stelle der sonst zuständigen Anklagebehörde auch selbst die Anklage vor dem Sonder-gericht vertreten. In den Sondergerichtssachen, die der Aufsicht des Sonderreferatsdes Ministeriums unterlagen, sollte die Anklageschrift von Haacke so rechtzeitig über-sandt werden, „daß dieser in der Lage ist, vor Urteilsfällung mit dem AnklagevertreterFühlung zu nehmen".58

In der Folgezeit blieb es ein vordringliches Anliegen des Ministeriums, mit allen or-

ganisatorischen Mitteln für die Schnelligkeit der Sondergerichtsverfahren zu sorgen.Denn neben der Härte der Urteile, auf die das Ministerium durch Lenkungsmaßnah-men Einfluß zu nehmen suchte, war es die äußerste Beschleunigung der Prozesse, dieden Charakter der Sondergerichte als „Standgerichte" ausmachte, den Gürtner wenigeWochen nach Kriegsausbruch Hitler gegenüber hervorgehoben hatte, um ihn davonzu überzeugen, daß die Ahndung von Straftaten durch polizeiliche Erschießungenüberflüssig sei.59 Auch Freisler betonte bei seinem ständigen Drängen auf Beschleuni-gung der Verfahren, daß „der standgerichtliche Charakter

...

ein Wesensmerkmal derSondergerichte" sei60; nachdem diese Gerichte seit kurz nach Kriegsbeginn von jegli-cher Ladungsfrist absehen sollten, wenn der Täter auf frischer Tat betroffen oder sonstseine Schuld offen zutage lag61, besaßen sie diesen Charakter in der Tat. In einerRundverfügung vom September 1940, in der Freisler nochmals darauf hinwies, daß„Kriegsverbrechen, insbesondere auf Grund der Verordnung gegen Volksschädlinge,der Kriegswirtschaftsverordnung, der Verordnung gegen Gewaltverbrecher, der Rund-funkverordnung, grundsätzlich vor den Sondergerichten angeklagt werden" sollten,hieß es erneut:

„Sollte die erforderliche beschleunigte Abwicklung der Verfahren infolge ihrer Häufung nichtmehr gewährleistet sein, bitte ich mir alsbald zu berichten, damit neue Sondergerichte oder wei-tere Kammern der bestehenden Sondergerichte rechtzeitig eingerichtet werden können. Keines-falls darf eine Überlastung des Sondergerichts dazu führen, daß die Anklage vor anderen Gerich-ten erhoben wird."

Eine Überlastung sei dann anzunehmen, wenn durchschnittlich im Monat mehr als40 neue Anklagen erhoben würden.62 Soweit auf diesen Erlaß hin Vorschläge zur Er-richtung neuer Sondergerichte eingingen, versprach Freisler im November, ihnennoch bis Jahresende zu entsprechen. Er „nehme nunmehr an, daß die für die Anklage-erhebung vor dem Sondergericht erlassenen Weisungen in allen Oberlandesgerichts-bezirken ausnahmslos durchgeführt werden" könnten und es nicht mehr notwendigsei, .Anklagen vor der Strafkammer nur deshalb zu erheben, weil ein Hauptverhand-lungstermin vor dem Sondergericht nicht mit kürzester Frist anberaumt werdenkann". Freisler sprach die Erwartung aus, daß „der Hauptverhandlungstermin späte-stens 2 Wochen nach Eingang der Anklageschrift" stattfinde, und schloß abermals mitder Aufforderung, „erneut über die zur Abhilfe zu ergreifenden Maßnahmen zu be-richten", falls diese Frist bei einem Sondergericht nicht eingehalten werden könne.63

58 RV des RJM an die GStAe v. 18.10.39 (a.a.O.).39 Vgl. Aufz. Gürtners v. 28.9.39 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/5019), dazu Kapitel VI.6.a„ S. 678 f.60 Vgl. RV des RJM (i.V. Freisler) an die OLGPräs. und GStAe v. 21.2.40 (Akten RJM-Hauptbüro, Arch, des

BJM).61 Vgl. § 5 der VO gegen Volksschädlinge v. 5.9.39 (RGBI. I, S. 1679).62 Vgl. RV des RJM (i.V. Freisler) an die OLGPräs. und GStAe v. 25.9.40 (a.a.O.).63 Vgl. RV des RJM (i. V. gez. Freisler) an die OLGPräs. und GStAe v. 20.11.40 (a.a.O.).

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956 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeAlle diese Erlasse zeigen das Bestreben, den Sondergerichten auf dem Gebiet der Ge-richtsverfassung die Voraussetzungen zu schaffen, daß sie die ordentlichen Gerichteersetzen und die ihnen als „Standgerichte der inneren Front" zugedachte Aufgabe er-

füllen konnten: den-

auch vom nichtpolitischen-

Straftäter geführten „Dolchstoß inden Rücken des Volkes" abzuwehren, während das „Volk sich zum Kampf gegen denäußeren Feind hat erheben müssen".64 Mit dieser Zielsetzung und der Ausdehnungauf Kosten der ordentlichen Gerichtsbarkeit hatte die Sondergerichtsbarkeit eine Ent-wicklung genommen, die Gürtner und Schlegelberger im März 1933

-

Freisler war da-mals noch im preußischen Justizministerium

-

kaum vorausgesehen haben dürften, alssie die vorübergehende Errichtung von Sondergerichten befürworteten, um dem Ver-langen der politischen Führung nach Schutz vor realen oder befürchteten oppositio-nellen Straftaten zu entsprechen. Als der Druck der konkurrierenden „Polizeijustiz"immer mehr zunahm, glaubten sie diese Gerichte

-

die sich als wirksame Instrumenteeiner „autoritären" Strafrechtspflege erwiesen hatten

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auch bei der Bekämpfung derallgemeinen Kriminalität nicht mehr entbehren zu können, um die Stellung der Justizgegenüber der Polizei zu behaupten. Die Sondergerichte teilten so das Schicksal man-

cher bei der Justiz ursprünglich mit anderen Intentionen eingeführten Institutionenund Instrumente, die in der Praxis deformiert

-

in diesem Falle „hypertrophiert"-wurden, um den Forderungen der politischen Führung gerecht zu werden.

Der nächste gesetzgeberische Schritt von Bedeutung, der nach der Bildung der Son-dergerichte vom März 1933 auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung getan wurde, war

die Errichtung des Volksgerichtshofs im April 1934.63 In der Errichtung dieses Ge-richts eine Verwirklichung von Hitlers Worten in „Mein Kampf" zu sehen, „daß einstein deutscher Nationalgerichtshof etliche Zehntausend der organisierenden und damitverantwortlichen Verbrecher des Novemberverrats und alles dessen, was dazugehört,abzuurteilen und hinzurichten" habe66, ist unsinnig: vor dem

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für diesen Zweck wohlauch reichlich spät eingerichteten

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Volksgerichtshof hat nie ein Angeklagter wegenseiner „Verbrechen in der Novemberrepublik" gestanden. Auch der für die politischeFührung „unbefriedigende" Ausgang des Reichstagsbrandprozesses vor dem Reichs-gericht war nicht die Ursache für die Einrichtung des Volksgerichtshofs; sie wäre mitSicherheit auch unabhängig davon erfolgt. Gewiß hat dieser Prozeß den Machthaberndie Notwendigkeit einer Änderung auf diesem Gebiet noch einmal deutlich vor Au-gen geführt, es ist jedoch nicht erkennbar, daß er die Schaffung des Volksgerichtshofs

64 Vgl. Freislers einleitende Ausführungen auf der Tagung der SG-Vorsitzenden und Sonderdezernenten fürSG-Sachen bei den GStAen am 24.10.39 im RJM, a.a.O. (voranstehende Anm. 31), S. 5 ff.

65 Das zeitlich dazwischenliegende AusfG. zu dem G. gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und überMaßregeln der Sicherung und Besserung v. 24.11.33 (RGBI. I, S. 1000) fügte lediglich zwei Bestimmungen(§§ 26a, 171a) in das GVG ein, daß die Aburteilung von Gewohnheitsverbrechern und die Anordnung von

Maßregeln nicht durch den Amtsrichter (Einzelrichter) erfolgen und die Öffentlichkeit ausgeschlossen wer-den durfte, wenn die Unterbringung in eine Heil- und Pflegeanstalt verhandelt wurde.

66 A. Hitler, Mein Kampf, 2. Bd. (9. Aufl.), München 1933, S.610L Ähnlich anläßlich seiner „Legalitätserklä-rung" vor dem RG als Zeuge im Ulmer Reichswehrprozeß (September 1930): „Wenn die Bewegung in ih-rem legalen Kampf siegt, wird ein deutscher Staatsgerichtshof kommen, und der November von 1918 wirdseine Sühne finden, und es werden auch Köpfe rollen" (Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammen-bruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- undDokumentensammlung zur Zeitgeschichte, herausg. von H. Michaelis und E. Schraepler, Bd. VII, S.531),sinngemäß wiedergegeben auch im Urt. des RG v. 4.10.30 gegen Scheringer u.a. (Arch, des IfZ, Sign. Fa101).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 957

auch nur sonderlich beschleunigt hätte. Das Urteil des Reichsgerichts vom 23. De-zember 193367 stand mit den Absichten der Machthaber ohnehin weitgehend im Ein-klang: Das Gericht hatte bei der

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von der Regierung gewünschten-

rückwirkendenAnwendung der Todesstrafe aufgrund der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Fe-bruar in Verbindung mit der „lex van der Lubbe" vom März 193368 keine Schwierig-keiten gemacht und den Täter wegen Hochverrats in Tateinheit mit aufrührerischerBrandstiftung zum Tode verurteilt. Es hatte dabei die Behauptungen der Führung be-kräftigt, daß van der Lubbe seine Tat

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zusammen mit weiteren unbekannten kommu-nistischen Mittätern und Hintermännern

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„im Dienst der KPD. und ihrer Hochver-ratspläne" begangen habe und die Brandstiftung „den Auftakt zum politischen Mas-senstreik und anschließenden Massenaufstand bilden sollte". Dieser gewaltsame Um-sturzversuch sei nur durch „das energische Eingreifen der Regierung,

...

insbesonderedie Verhaftung aller maßgebenden kommunistischen Funktionäre und die Lahmle-gung der Führung noch in der Brandnacht" vereitelt worden. Das Reichsgericht hattein seinem Urteil ferner festgestellt, daß im Laufe des Verfahrens alle „Lügen eine ver-

nichtende Widerlegung gefunden" hätten, die über einen von den Nationalsozialistenselbst gelegten Brand verbreitet worden seien, um die Tat „in ein nationalsozialisti-sches Provokateurstück zu Wahlzwecken umzufälschen".69 Das Gericht hatte aber denkommunistischen Reichstagsabgeordneten Torgier und die drei kommunistischenExilbulgaren Dimitroff, Popoff und Taneff

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letztere drei übrigens auf Antrag desOberreichsanwalts

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freigesprochen, weil ihnen eine Beteiligung an der Tat nichtnachgewiesen werden konnte. Damit hatte es die politische Führung bloßgestellt, diealle Angeklagten öffentlich

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auch im Gerichtssaal70-

der Straftat für schuldig erklärthatte, nur weil sie Kommunisten und Gegner waren. Auch in weiten Teilen der Bevöl-kerung, die aufgrund der nachdrücklichen Propaganda überraschende und sensatio-nelle Enthüllungen erwartet hatte, löste der sachlich-nüchterne Verlauf des sich überMonate hinziehenden Prozesses mit seinem „mageren" Ergebnis Unverständnis undEnttäuschung aus. Die Kritik ließ daher nicht auf sich warten. Die „Nationalsozialisti-sche Korrespondenz" gab eine in verschiedenen Tageszeitungen veröffentlichte par-teiamtliche Stellungnahme heraus, die den „aus formaljuristischen Gründen" erfolgtenFreispruch der vier kommunistischen Angeklagten „nach dem Rechtsempfinden desVolkes ein glattes Fehlurteil" nannte. Sie kritisierte vor allem „die ganze Prozeßanlageund die Prozeßführung, die vom Volke mit wachsendem Unwillen verfolgt worden"sei: „durch solche falschen juristischen Verfahren, wie das soeben beendete, wäre diekommunistische Gefahr in Deutschland niemals beseitigt worden". Daraus ergebesich „die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform unseres Rechtslebens, das sichvielfach noch in den Gleisen überwundenen, volksfremden liberalistischen Denkens

Zum folgenden vgl. Urt. des RG (4.Strafsenat) v. 23.12.33 gegen Marinus van der Lubbe u.a. (Arch, des IfZ,Sign. Fa 100/19).Vgl. dazu Kapitel VII.3.a., S.829Í.Von der Täterschaft van der Lubbes abgesehen, ist die Urheberschaft des Reichstagsbrandes bis heute um-

stritten, s. Kapitel VI.l., S. 535, Anm. 2.So z.B. Göring als Zeuge zu Dimitroff am 4.11.33: „Bekannt ist dem deutschen Volke, daß Sie sich hier un-

verschämt benehmen und hierhergelaufen kommen, den Reichstag anstecken [!] und dann hier mit demdeutschen Volke noch solche Frechheiten sich erlauben

...

Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der längstan den Galgen gehört [!]" (Stenogr. Bericht, 31. Verhandlungstag, S. 133, Arch, des IfZ, Sign. Fa 100/11).

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958 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

bewegt".71 Es war nicht in erster Linie das Ergebnis des Reichstagsbrandprozesses, dasdem Regime abträglich war; wie alle Rechtsakte konnte es ohne Schwierigkeiten kor-rigiert werden: die Freigesprochenen wurden in Schutzhaft genommen72, die drei Bul-garen im Februar 1934 in die Sowjetunion abgeschoben, Torgier erst Anfang Dezem-ber 1936 wieder freigelassen. Was dagegen dem Ansehen des Regimes in den Augender Machthaber schadete und in Zukunft auf jeden Fall vermieden werden sollte, war

die Art der Prozeßführung und ihre Dauer: am 7. März war die Voruntersuchung ge-gen van der Lubbe eröffnet worden, am 24. Juli erfolgte die Anklage, vom 21. Septem-ber bis 16. Dezember die Hauptverhandlung und am 23. Dezember die Urteilsverkün-dung. Eine nach allen Regeln der StPO unter Beachtung der Garantien für die Ange-klagten erfolgende Feststellung des Beweismaterials mit allen Verästelungen der Be-weisaufnahme, seine Ausbreitung und rechtliche Würdigung unter allen denkbarenGesichtspunkten vor der Öffentlichkeit entsprachen nicht den Vorstellungen vom

„Kurzen Prozeß", den die Machthaber „Hochverrätern" zu machen beabsichtigten.Die nach dem Reichstagsbrand geschaffenen Maßnahmen zur Beschleunigung desVerfahrens in Hoch- und Landesverratssachen, die u. a. die für das Reichsgericht vor-

geschriebene gerichtliche Voruntersuchung beseitigten, waren für diesen Prozeß zu

spät gekommen.73 Nach Hitlers Meinung hätte van der Lubbe „binnen drei Tagen ge-hängt werden müssen", statt dessen „habe sich der Prozeß über Wochen hinge-schleppt und mit einem lächerlichen Ergebnis geendet".74 Noch während des Prozes-ses tadelte Hitler im vertrauten Kreis die Verhandlungsführung des Reichsgerichtsund kritisierte, „daß der Senatspräsident mit dem van der Lubbe nicht richtig fertigwerde". Als der bei dieser Äußerung anwesende SS-Standartenführer Frhr. von Schadedaraufhin das Reichsgericht einen „Kalk-Areopag" nannte, entgegnete Hitler jedoch,das Reichsgericht sei „als formal juristische Revisionsinstanz

...

eine Weltkapazität". Essei „aber eben falsch, einem Gerichtshof, der zur Nachprüfung formaljuristischer Fra-gen berufen ist, eine Tatsacheninstanz in die Hand zu drücken. Damit ist er überfor-dert. Ich habe daher vor, für derartige Dinge einen eigenen Gerichtshof zu schaffen."75

Ein neues Gericht, „das nur zur Aburteilung der mit dem Brand des Reichstags zu-

sammenhängenden strafbaren Handlungen eingesetzt würde", hatte das Reichsjustiz-

71 Vgl. VB, süddt. Ausgabe v. 27.12.33, S.2, auch abgedruckt im Organ des BNSDJ (DR 1934, S. 19) und inJW 1934, S.24. Demgegenüber gab es vorsichtige Rechtfertigungen des Urt. von Juristenseite: OVerwGRatHagemann in „Kriminal-Archiv" (DJZ 1934, S. 132 f.) und StARat K. Krug in der „Wochenschau" des amtl.Organs des RJM (DJ 1933, S.870): „Schließlich kann der Verdacht nicht zu einer rechtlichen Verurteilungführen, wenn man nicht mit Revolutionstribunalen arbeiten will"; bei der Beweiswürdigung des RG sei „derFreispruch folgerichtig".

72 Vgl. Meldung im VB, a.a.O.73 Zur VO des Reichspräsidenten gegen Verrat am Deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe v.

28.2.33 (RGBI. I, S.85), die vom Reichskabinett schon am Nachmittag vor dem Reichstagsbrand beschlos-sen wurde, also keine Reaktion auf den Brand darstellte (vgl. Niederschr. über die Kabinettssitzung v.

27.2.33, nachm. 4.15 Uhr, Akten der Reichskanzlei, Die Regierung Hitler, Teil I: 1933/34, Band 1 [s. Anm.3 in Kapitel I], Dok.Nr. 30, S. 123 f), und der VO des Reichspräsidenten zur Beschleunigung des Verfahrensin Hochverrats- und Landesverratssachen v. 18.3.33 (RGB1.I, S. 131) s. Kapitel VIII.2.e., S. 1051 f.

74 Vgl. H. Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-42, Bonn 1951, S.24H. (10.5.42abends).

75 Vgl. Niederschr. einer Befragung von OLGPräs. a.D. Stepp v. 17.12.71 (Arch, des IFZ, Sign. ZS 2335).Stepp nahm seinerzeit als SS-Hauptsturmführer und Verbindungsmann des bayer. JM zur Bayer. Polit. Po-lizei an der Einweihung des Dietrich-Eckart-Denkmals in Neumarkt (Oberpf.) teil und fuhr im Wagen mitHitler nach Nürnberg zurück.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 959

ministerium am 10. März 1933 abgelehnt, da es sich um ein Ausnahmegericht ge-handelt hätte, das nach Artikel 105 der Reichsverfassung unzulässig und nur durcheine Verfassungsänderung zu erreichen gewesen wäre, für die zu diesem Zeitpunktnoch der Reichstag zuständig war. Dagegen hatte das Ministerium gegen die Errich-tung eines Gerichts, dessen „Zuständigkeit für allgemein abgegrenzte Gruppen vonstrafbaren Handlungen begründet" würde, schon zu diesem Zeitpunkt nichts einzu-wenden.753 Dennoch forcierte Hitler nach dem Abschluß des Reichstagsbrandprozes-ses die Verwirklichung seiner Absicht

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etwa durch einen entsprechenden Auftrag anden Justizminister

-

zunächst keineswegs. Die Gelegenheit dazu ergab sich, als am 23.März 1934 der von Gürtner vorgetragene Entwurf einer Strafrechtsnovelle im Kabi-nett besprochen wurde, die die bisherigen Vorschriften über Hoch- und Landesverratzusammenfaßte und verschärfte76: Hitler, Göring und Frick äußerten hierbei die An-sicht, „daß wesentlicher als die Fassung der materiellen Bestimmungen bei Hoch- undLandesverrat das Verfahren sei, in dem diese Tatbestände zur Aburteilung gelangten".Frick meinte, daß hier wie bei den Sondergerichten eine Aburteilung „wenn möglichinnerhalb 24 Stunden" erfolgen sollte. Diesen Gedanken „müßten Verfahren und Zu-sammensetzung des Gerichts Rechnung tragen". Man kam überein, im Anschluß andie Kabinettssitzung „das Verfahren in einer Besprechung der beteiligten Reichsmini-ster" in diesem Sinne zu erörtern. Diese Besprechung, an der Hitler, Röhm, Göring,Gürtner, Frick, v. Blomberg und Staatssekretär Pfundtner teilnahmen, „ergab Überein-stimmung dahin, daß die Aburteilung von Hoch- und Landesverratssachen einem be-sonderen Volksgerichtshof übertragen werden solle", der aus zwei Berufsrichtern unddrei für einen längeren Zeitraum ernannten Laienrichtern bestehen sollte. Gürtnerwurde beauftragt, den vorliegenden Entwurf der Strafrechtsnovelle durch entspre-chende Vorschriften zu ergänzen.77 Seinen ergänzten Entwurf mußte Gürtner nach ei-nem Vortrag bei Hitler am 17. April allerdings nochmals abändern, bevor ihn Hitleram 24. April 1934 unterzeichnete.773 Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften desStrafrechts und des Strafverfahrens16 sah die Errichtung des Volksgerichtshofs vor, deranstelle des bisher dafür zuständigen Reichsgerichts die Hochverrats- und Landesver-ratssachen aburteilen sollte (Art. III § 1). Mit der Abgabe seiner erstinstanzlichenRechtsprechung an dieses Gericht wurde das Reichsgericht als höchstes Revisionsge-richt auf die Aufgabe beschränkt, die Rechtseinheit im Reich zu wahren, während dieGestaltung des Volksgerichtshofs ganz auf seine besondere Aufgabe als Tatsachenin-stanz zur Aburteilung der Staatsverbrechen ausgerichtet werden konnte. Wie dasReichsgericht entschied der Volksgerichtshof in der Hauptverhandlung in der Beset-zung von fünf Mitgliedern

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außerhalb der Hauptverhandlung von drei -, jedochbrauchten entsprechend dem erwähnten Kabinettsbeschluß nur der Vorsitzende und75a Vgl. Aufzeichnung zur Beschleunigung des Verfahrens, Anlage III zur Kabinettsvorlage Schlegelbergers v.

10.3.33-

die auch die Ablehnung einer rückwirkenden lex van der Lubbe enthielt-

an den Chef der RK,die RMinister und das Büro des Reichspräs. (Nachlaß Saemisch, Bd. 163, BA, Sign. NL 171).76 Vgl. dazu Kapitel VII.3.a„ S. 844 ff.77 Vgl. Niederschr. nebst Anhang über die Sitzung des Reichskabinetts am 23. März 1934, nachm. 4.15 Uhr in

der Reichskanzlei (Akten der Reichskanzlei, a.a.O., Band 2, Dok.Nr. 323, S.1217, und Dok.Nr. 324, S. 1221).77,Vgl. Vermerke Lammers' v. 29.3. und 17.4.34 (Akten der RK, BA, Sign. R 43 H/1519).n Zum folgenden vgl. RGBI. I, S. 341, und Amtliche Begründung (DJ 1934, S. 595 ff.), ferner die umfassende

Darstellung bei Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1974. B. Engel-manns These (Tradition Bd.2 [1989], S. 159f.), der VGH sei u.a. „zur Beschwichtigung der SA" geschaffenworden, ist unhaltbar.

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960 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeein weiteres Mitglied die Befähigung zum Richteramt zu besitzen. Es konnten auchmehrere Senate gebildet werden. Während die Mitglieder des Reichsgerichts vom

Reichspräsidenten bestellt wurden, ernannte Hitler die Mitglieder des Volksgerichts-hofs auf Vorschlag des Reichsjustizministers für die Dauer von fünf Jahren selbst. DieFunktion der Anklagebehörde übernahm der bislang nur dem Reichsgericht zugeord-nete Oberreichsanwalt mit, der zu diesem Zweck seine erstinstanzliche Abteilung un-

ter Reichsanwalt Jörns von Leipzig nach Berlin verlegte. Die Zuständigkeit des neuen

Gerichts erstreckte sich beim Hochverrat auf die bisherige des Reichsgerichts (§§ 80bis 84 StGB), ging aber beim Landesverrat durch Einbeziehung der landesverräteri-schen Vergehen (§§ 90 b bis 90 e StGB)

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die bisher die Amtsgerichte aburteilten-darüber hinaus. Neu einbezogen waren zwei weitere Straftaten: Gewalttätigkeiten ge-

gen den Reichspräsidenten (§ 94 StGB) und die unternommene Tötung eines Regie-rungsmitgliedes (§ 5 der Reichstagsbrandverordnung) (Art. III § 3). Um den Volksge-richtshof zu entlasten, konnte der Oberreichsanwalt Verfahren wegen Vorbereitungzum Hochverrat und wegen landesverräterischer Vergehen an das Oberlandesgerichtabgeben (Art. III § 4), dagegen nicht mehr Verfahren wegen hochverräterischen Un-ternehmens und landesverräterischen Verbrechens, wie er es vorher zur Entlastungdes Reichsgerichts in minder bedeutsamen Sachen dieser Art hatte tun dürfen. Auchder Volksgerichtshof selbst konnte die Abgabe vornehmen, wenn es der Oberreichs-anwalt beantragte. Bis zur Errichtung des Reichskriegsgerichts im September 1936 er-

streckte sich die personelle Zuständigkeit des Volksgerichtshofs auch auf die sonst derMilitärgerichtsbarkeit Unterworfenen; nur durfte in diesen Fällen keine Überweisungder Sache an das Oberlandesgericht erfolgen.79

Wie die Sondergerichte erhielten der Volksgerichtshof und-

soweit sie in Abgabe-sachen tätig wurden

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die Oberlandesgerichte eigene Verfahrensvorschriften. So warauch gegen ihre Entscheidungen kein Rechtsmittel zulässig (Art. III § 5). Von den Be-stimmungen, die unterdessen für das Reichsgericht eingeführt worden waren, wurdedie Bestellung eigener Ermittlungsrichter (Art. IV §§ 1 und 2) übernommen, fernerder Wegfall der obligatorischen Voruntersuchung, wenn sie nach dem Ermessen derAnklagebehörde nicht erforderlich war und sie auch das Gericht nach Anklageerhe-bung nicht anordnete (Art. IV § 4), sowie die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses(Art. IV § 5).80 Neu dagegen war, daß auch Jugendliche der Zuständigkeit und demVerfahren des Volksgerichtshofs und der Oberlandesgerichte unterworfen wurden(Art. IV § 6) und in Hoch- und Landesverratssachen nicht mehr von den Jugendge-richten nach deren speziellen Verfahren abgeurteilt wurden. Begründet wurde dieseÄnderung damit, daß bei Umsturzbestrebungen immer wieder versucht werde, Ju-gendliche vorzuschicken und zur Erfüllung besonders gefährlicher Aufgaben zu ge-winnen", und daß nur die nunmehr zuständigen Gerichte „solche Bestrebungen in ih-rem Gesamtverlauf zu überblicken" vermochten. Hierbei besondere Verfahrensvor-schriften für Jugendliche gelten zu lassen, bestehe „bei dem hohen Rang dieser Ge-richte" kein Anlaß. Neu war ferner, daß die Wahl des

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übrigens notwendigen-

Ver-

79 Vgl. G. zur Änderung des Militärstrafgesetzbuchs und der Militärstrafgerichtsordnung v. 23.11.34 (RGBI. I,S. 1165); zur Errichtung des RKriegsG.s vgl. VO zur Änderung der Militärstrafgerichtsordnung und des Ein-führungsgesetzes zu ihr v. 5.9.36 (RGB1.I, S.718).

80 Diese Vorschriften waren für Hoch- und Landesverratsfälle vor dem RG und den OLGen schon durch diebeiden VOen v. 28.2.33 und 18.3.33 (s. Anm. 73) eingeführt worden, vgl. Kapitel VIII.2.e., S. 1051.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 961

teidigers der Genehmigung durch den Gerichtsvorsitzenden bedurfte und jederzeitwiderrufen werden konnte (Art. IV § 3). Obwohl die amtliche Begründung zum Ge-setz behauptete, daß sich dadurch „an den Grundsätzen des Prozeßrechts über die un-

abhängige und ungehinderte Verteidigung" nichts ändere, unterwarf diese Vorschriftden Verteidiger de facto dem Wohlwollen des Vorsitzenden und mußte daher seineTätigkeit beeinträchtigen. Im Kriege wurde dann die Vorbereitung der Verteidigungallein schon dadurch erschwert, daß durch die Häufung der Verfahren zwischen derBekanntgabe der Anklageschrift

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die nur dem Verteidiger zugestellt wurde und von

diesem nach der Verhandlung zurückgegeben werden mußte, während dem Ange-klagten nur Einsicht gewährt wurde

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und dem Termin der Hauptverhandlung einesehr kurze Frist lag.81 Durch die Verfahrensbestimmungen des April-Gesetzes war dasVerfahren vor dem Volksgerichtshof bzw. den einzig-instanzlichen Strafsenaten derOberlandesgerichte somit dem der Sondergerichte angenähert worden.

Nach Artikel XII des Gesetzes, das am 2. Mai 1934 in Kraft trat, bestimmte derReichsjustizminister den Zeitpunkt, zu dem der Volksgerichtshof zusammentretensollte. In der Ausführungsverordnung vom 12. Juni82, die u.a. für den Sitz des neuen

Gerichtshofs nicht Leipzig, sondern die politische Zentrale Berlin vorsah, wurde alsTag des Zusammentritts der 2. Juli festgelegt. Zwischen Justizministerium und Partei-führung sollte sich jedoch um die Besetzung des Gerichts eine Kontroverse entwik-keln, so daß dieser Termin nicht eingehalten werden konnte und sogar der zur Eröff-nungssitzung gebetene Hitler wieder ausgeladen werden mußte.

Das Reichsjustizministerium trat zunächst an verschiedene Landesjustizverwaltun-gen heran, ihm geeignete Richter zu benennen, die neben strafrechtlicher Praxis „poli-tischen Blick, Entschlußkraft und ein reiches Maß an Lebenserfahrung" besitzen soll-ten.83 Gleichzeitig bat es den Reichwehrminister, den Reichsminister für Luftfahrt,den Reichsinnenminister sowie den Stabschef der SA um Vorschläge für ehrenamtli-che Beisitzer, „die über besondere Erfahrungen auf dem Gebiete der Abwehr staats-feindlicher Angriffe verfügen" sollten.84 Aufgrund der eingegangenen Empfehlungenübersandte Gürtner dem Reichskanzler am 6. Juni die Liste mit den Ernennungsvor-schlägen. Da der „zu erwartende Geschäftsanfall" die Bildung von drei Senaten erfor-derlich machte, enthielt die Aufstellung

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einschließlich der vorgesehenen Stellvertre-ter

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12 hauptamtliche Richter und 21 ehrenamtliche Beisitzer. Von den richterlichenMitgliedern waren 3 Senatspräsidenten, 6 Landgerichtsdirektoren, 1 Landgerichtsrat,1 Amtsgerichtsrat sowie 1

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zum Landgerichtsdirektor vorgeschlagener-

Oberstaats-anwalt. Sechs von ihnen hatten das preußische Justizministerium, zwei das bayerische81 Zum Handikap der Verteidigung vor dem VGH s. Wagner, a.a.O., S. 32 ff.82 Vgl. VO über den Volksgerichtshof v. 12.6.34 (RGBI. I, S. 492).83 Vgl. Sehr, des RJM an die LJVerw. Hamburg v. 17.5.34 (zit. bei Johe, a.a.O., S.112Í.).84 Vgl. amtl. Begründung (DJ 1934, S.597).84" Bruner mußte in Bayern erst vom Direktor des LG München I zum Senatspräsidenten am OLG München

befördert werden, um den vom RJM im Sehr. v. 17.5.34 gestellten Anforderungen zu genügen. Der bayer.JM Hans Frank hatte gleichwohl den LGDir. vorgeschlagen, da er sich als stellvertr. Vorsitzender des SGMünchen bewährt hatte und in Bayern „die Senatspräsidenten bei den Oberlandesgerichten nicht über dienötigen praktischen Erfahrungen auf strafrechtlichem Gebiete" verfügten, weil hier die Revisionen und Be-schwerden in Strafsachen nicht an die OLGe, sondern an das Oberste Landesgericht gingen. Vgl. Sehr.Franks an das RJM v. 23. 5.34 sowie die bayer. Ernennungsvorgänge, bei denen übrigens nirgends von be-sonderen politischen Anforderungen an den Vorzuschlagenden die Rede ist (Akten des bayer. RStH,BayerHStArch., Sign. Reichsstatthalter 221).

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962 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeJustizministerium, je einen die sächsische, württembergische, badische und hamburgi-sche Justizverwaltung namhaft gemacht. Von den ehrenamtlichen Beisitzern waren

vom Reichsinnenministerium sechs, von den anderen genannten Stellen je fünf vorge-schlagen worden. Gürtner teilte mit, daß er die drei Senatspräsidenten

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Rehn vom

Kammergericht, Springmann vom Oberlandesgericht Düsseldorf und Bruner aus Bay-ern84a

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zu Vorsitzenden der drei in Aussicht genommenen Senate des Volksgerichts-hofs zu bestellen gedenke. Optimistisch legte Gürtner den von ihm bereits gegenge-zeichneten Ernennungserlaß bei und bat angesichts des festgesetzten Zeitpunktes desZusammentritts um „baldige Vornahme der Ernennungen".85 Nach einer Woche er-

hielt jedoch der zuständige Personalreferent des Justizministeriums aus der Reichs-kanzlei die telefonische Mitteilung, zu den Vorschlägen müsse zunächst die

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imAprilgesetz nicht vorgesehene

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Stellungnahme des Stellvertreters des Führers Heßeingeholt werden.86 Dennoch lud Gürtner, der mit keinen Komplikationen rechnete,am 22. Juni Hitler zur feierlichen Eröffnung des Volksgerichtshofs für den 2. Juli inden großen Sitzungssaal der Stiftung Preußenhaus (Leipziger Str. 3) ein.87 Am näch-sten Tag erhielt er eine schriftliche Mitteilung vom Chef der Reichskanzlei Lammers,daß Hitler „zur Vollziehung der Ernennungen sich nicht entschließen möchte", bevorHeß zu ihnen nicht Stellung genommen habe. Da aber die Überprüfung der 33 Perso-nalvorschläge eine gewisse Zeit benötige, stelle er anheim, den Termin für die konsti-tuierende Sitzung des Volksgerichtshofs zu verschieben. Gleichzeitig erinnerte er Heßan die Erledigung der am 14. Juni übermittelten Personalvorschläge.88 Als der Eröff-nungstermin näher rückte, ohne daß sich die Parteiführung gerührt hatte, mußte Gürt-ner den Termin um zwei Wochen verschieben. Schlegelberger teilte Lammers mit,daß die dadurch notwenig gewordene Änderung der Ausführungsverordnung vom12. Juni bereits veranlaßt worden sei89, daß aber eine nochmalige Verschiebung „ausallgemeinen Gesichtspunkten vermieden werden" müsse. Er bat daher, sich bei Heß„für eine beschleunigte Stellungnahme zu den Vorschlägen" einzusetzen.90 Gürtnerunterrichtete Hitler von der Verschiebung des Termins „aus technischen Gründen"und lud ihn zur Eröffnung des Gerichtshofs für den 14. Juli ein, die nunmehr im frü-heren Sitzungssaal des Preußischen Landtags, Prinz-Albrecht-Str. 5 (Preußenhaus),stattfinden sollte.91

Mit seinen Vorschlägen hatte es das Justizministerium dem Stellvertreter des Füh-rers in der Tat nicht leicht gemacht, denn die von der Justiz benannten Richter warenzwar zum Teil an Sondergerichten tätig gewesen, stellten aber nicht gerade eine Aus-lese „alter Kämpfer" dar: von den als Senatsvorsitzende vorgesehenen Richtern warenweder Rehn

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der als dienstältester Senatspräsident geschäftsführender Präsident desVolksgerichtshofs sein sollte

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noch Bruner Parteigenossen; Springmann war ein typi-scher „Märzgefallener" mit dem 1. Mai 1933 als Eintrittsdatum. Von jenen der weite-

85 Vgl. Sehr. Gürtners mit den Namen der Vorgeschlagenen an den Reichskanzler v. 6.6.34 nebst vorgefertig-ten Erl. über die Ernennungen (Akten der RK, BA, Sign. R 43 11/1518).

86 Vgl. Aktenverm. v. 12.6.34 (a.a.O.).87 Vgl. Sehr. Gürtners an Hitler v. 22.6.34 (a.a.O.).88 Vgl. Sehr. Lammers' an Gürtner und an Heß v. 23.6.34 (a.a.O.).85 Das geschah durch die Zweite VO über den Volksgerichtshof v. 29.6.34 (RGB1.I, S.617), die den Zusam-

mentritt auf den 14.7.34 verlegte.90 Vgl. Sehr, des RJM (i.V. Schlegelberger) an Lammers v. 26.6.34 (a.a.O.)." Vgl. Sehr. Gürtners an Hitler v. 27.6.34 (a.a.O.).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 963

ren vorgeschlagenen Richter, deren Personaldaten gegenwärtig verfügbar sind, waren

zwei nicht Parteigenossen, einer hatte sich „im Frühjahr 1933 zur NSDAP angemel-det", war aber offenbar bislang nicht aufgenommen worden, zwei waren ebenfalls erstseit 1. Mai 1933 Parteigenossen.92

Wegen der ausbleibenden Äußerung der Parteiführung hatte Lammers am 28. Junibereits ein Mahnschreiben an Heß unterzeichnet, in dem er um „tunlichste Beschleu-nigung" bat, als noch vor Abgang des Schreibens dessen Stellungnahme einging.Darin führte Heß aus, daß „als Mitglieder des Volksgerichtshofes nur Nationalsoziali-sten in Frage" kämen. Deshalb müsse er gegen Senatspräsident Rehn und den vorge-schlagenen Amtsgerichtsrat Zieger „Einspruch erheben, da es sich hierbei um Perso-nen handelt, die als Nationalsozialisten nicht bekannt" seien, ebenso gegen die viervom Reichsluftfahrtminister vorgeschlagenen Fliegerkommodores Felmy, Wenninger,Stumpft und Wimmer, „da es sich hierbei nicht um Parteigenossen handelt". Es sei„dringend notwendig, daß an deren Stelle bewährte Parteigenossen genannt" wür-den.93 Die Mitteilung dieser Stellungnahme an Gürtner verband Lammers mit derFeststellung, daß Hitler die Ernennungen erst dann vollziehen werde, wenn sich Heßmit sämtlichen Vorschlägen einverstanden erklärt habe. Er schlug Gürtner vor, mitHeß unmittelbar Fühlung zu nehmen, „um eine nochmalige Verschiebung des Zu-sammentritts des Volksgerichtshofs über den 14. Juli d.J. hinaus zu vermeiden".94 Amnächsten Tag

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dem 30. Juni-

trat ein unerwartetes Ereignis ein, das eine Anzahl wei-terer Ernennungsvorschläge in Frage stellte: durch die Ausschaltung des Stabschefsder SA Röhm mußten alle von ihm gemachten Vorschläge überprüft werden. Als sichGürtner und Heß am 3. Juli in jener Kabinettssitzung trafen, in der Hitler seine Ak-tion gegen die SA-Führung rechtfertigte, vereinbarten sie, daß Heß nach Fühlung-nahme mit dem neuen Stabschef der SA Lutze baldigst die geänderten Personalvor-schläge der SA-Führung einreichen sollte. Bei dieser Gelegenheit gelang es Gürtner,Heß zu bewegen, wenigstens seinen Einspruch gegen die vier Fliegerkommodores zu-

rückzuziehen.95 In der Folge wurden zunächst drei der von Röhm vorgeschlagenenfünf SA-Führer durch andere ersetzt und ein vom Reichsinnenminister vorgeschlage-ner Gruppenarzt der SA ersatzlos gestrichen.96 Hinsichtlich der beiden von der Partei-führung beanstandeten Richter blieb das Justizministerium jedoch unnachgiebig: sieblieben nach wie vor auf der „auf den neuesten Stand gebrachten" und von Gürtnerbereits gegengezeichneten Ernennungsurkunde, die Gürtner der Reichskanzlei am

10. Juli „mit der Bitte um schnellste weitere Veranlassung" übersandte.97 Angesichtsdes heranrückenden Termins drängte die Kontroverse auf eine Entscheidung zu. Als

92 Die Angaben wurden den Personalbögen entnommen, die den späteren Ernennungsvorschlägen vom April1936 beilagen (a.a.O., Sign. R 43 H/1517 b).

93 Vgl. Lammers' nicht abgesandtes Mahnschr. an Heß und Sehr. Heß' an Lammers v. 28.6.34 (a.a.O., Sign. R43 11/1518).

94 Sehr. Lammers' an Gürtner v. 29.6.34 (a.a.O.).93 Vgl. Sehr. Gürtners an Heß v. 3.7.34 (a.a.O.). Möglicherweise bat Gürtner Heß zu berücksichtigen, daß die

Betreffenden wegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages zwar formal nur dem Deutschen Luftsport-verband, in Wirklichkeit aber der geheimen Reichswehrfliegerei angehörten: laut § 36 des geltendenWehrG. v. 23.3.21 (RGBI. I, S. 329) durften aber Angehörige der Reichswehr keiner politischen Vereinigungbeitreten, weshalb noch nach 1933 NSDAP-Mitglieder, die in die Reichswehr aufgenommen wurden, ausder Partei austreten mußten.

96 Vgl. Schnellbrief Fricks an den RJM v. 10.7.34 (a.a.O.).97 Vgl. Sehr. Gürtners an Lammers v. 10.7.34 (a.a.O.).

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964 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedie Reichskanzlei noch am 12. Juli beim Berliner Verbindungsstab des Stellvertretersdes Führers rückfragte, erklärte dessen Leiter im Auftrage von Heß, die beiden Richtermüßten auf jeden Fall „vorläufig gestrichen werden". Kurze Zeit später traf jedoch dietelegrafische Mitteilung von Heß' Adjutanten aus Königsberg ein, daß Heß mit der Er-nennung der beiden Richter einverstanden sei98: das Reichsjustizministerium hattedie Nervenprobe bestanden. Als Hitler die Ernennungsliste zur Unterschrift vorgelegtwurde, strich er lediglich den noch von Röhm vorgeschlagenen SA-Obergruppenfüh-rer und Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, von Ulrich

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den Heß bestätigt hatte -,

und ersetzte ihn durch den Münchener SA-Gruppenführer und Staatssekretär beimReichsstatthalter von Bayern Hofmann.99 Da Göring kurz vor Zusammentritt desVolksgerichtshofs mitteilte, daß er Fliegerkommodore Wimmer durch Fliegerkom-mandant Bodenschatz ersetzen wolle, wurde Wimmer seine bereits vollzogene Ernen-nung nicht mitgeteilt, während alle anderen Mitglieder des Volksgerichtshofs auf derfeierlichen Eröffnungssitzung im Preußenhaus

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an der Hitler nicht teilnahm undGürtner, Rehn und Oberreichsanwalt Werner sprachen

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einzeln vereidigt wurden.100Damit war der Auftrag zur Errichtung des Volksgerichtshofs, den der Gesetzgeber na-

hezu ein Vierteljahr vorher erteilt hatte, erfüllt worden.Diese detaillierte Betrachtung der Vorgänge bei der Zusammensetzung des Volks-

gerichtshofs zeigt, daß das Reichsjustizministerium 1934 keinesfalls darauf aus war,mit dem neuen Gericht ein mit fanatischen nationalsozialistischen „Blutrichtern" be-setztes „Revolutionstribunal" zu errichten. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs inden Jahren 1934/35 bestätigt diese Feststellung. Auch hier sollte eine ursprünglichnicht beabsichtigte Entwicklung vor sich gehen, die 1936 unter der PräsidentschaftThieracks mit einer allmählichen Verschärfung der Rechtsprechung dieses Gerichts-hofes begann und im Kriege ab 1942 unter Freisler ihren Höhepunkt fand, als diesesGericht von einem Strafrechtspflegeorgan zur Abwehr von Hoch- und Landesverratimmer mehr zu einem Instrument der politischen Zweckmäßigkeit entartete, das dieStrafe nicht mehr nach der Tat, sondern nach der Einstellung der Täter zum Regimemaß

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ja sogar danach, welche Ansicht das Regime von ihm und seiner weiteren Nütz-lichkeit hatte.101 Erst in diesem Stadium folgte das Gericht der Maxime, die Goebbelsseinen Mitgliedern in einer Ansprache am 22. Juli 1942 nahegelegt hatte: Im Kriegegehe es nicht um die Gerechtigkeit eines Urteils, „sondern nur um die Frage derZweckmäßigkeit der Entscheidung ... Es sei nicht vom Gesetz auszugehen, sondernvom dem Entschluß, der Mann müsse weg."102

Als der Volksgerichtshof am 1. August 1934 im Preußenhaus zum ersten Mal tagte,begann er keineswegs mit einem Paukenschlag: wegen Vorbereitung zum Hochverratverurteilte der 1. Senat unter Rehn einen Kommunisten in Verbindung mit Vergehen98 Vgl. Aktenvermerke für Lammers v. 12.7.34 (a.a.O.).99 Vgl. Anfrage v. Ulrichs an das RJM v. 14.7. und Auskunft der RK v. 20.7.34 (a.a.O.).,0° Vgl. Ber. im VB, Süddt. Ausgabe v. 16.7.34, S.2. Die namentliche Aufstellung der 32 VGH-Mitglieder

(noch mit Wimmer), a.a.O., v. 14.7.34, S. 1, sowie (ohne Wimmer) DJ 1934, S. 927. Die Ernennung von Bo-denschatz erfolgte am 4.9- 34 (Akten der RK, a.a.O.).

101 Vgl. dazu die stichprobenartige, nichtsdestoweniger aufschlußreiche Analyse der Rechtsprechung des VGHaufgrund von über 200 Urteilen des 1. (Freisler-)Senats 1943 und 1944 durch H. Rüping, StrafJustiz imFührerstaat (Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1984, S. 297 ff, 305 f.), ferner die ausgewogene Beurteilungüber die Rechtsprechung des VGH 1934-45 bei Wagner, a.a.O., S.79ff.

102 Vgl. Ber. MinDir. Crohnes v. 23.7.42 über die Rede Goebbels' vor den Mitgliedern des VGH am Vortage(Nürnbg. Dok. NG-417, Arch, des IfZ).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 965

gegen das Schußwaffengesetz unter Anrechnung von sieben Monaten Untersuchungs-haft zu zwei Jahren Gefängnis, der 2. Senat unter Bruner einen weiteren unter Anrech-nung der ebensolangen Untersuchungshaft zu einem Jahr und neun Monaten Zucht-haus; hier hatte die Reichsanwaltschaft wegen „Zersetzung der Reichswehr" zweiJahre und drei Monate Zuchthaus beantragt. Beide Urteile waren angesichts der ge-setzlichen Strafmöglichkeiten gemäßigt.103 Als es der Volksgerichtshof ablehnte, kom-munistischen Hochverrätern die bürgerlichen Ehrenrechte abzusprechen, da sie„nicht aus selbstsüchtigen Motiven, sondern aus kommunistischer Überzeugung her-aus gehandelt" hätten, zog er sich sogar die öffentliche Kritik des Ministeriums zu:

diese Betrachtungsweise stehe „mit der nationalsozialistischen Auffassung vom Wesendes Hochverrats nicht in Einklang".104 Auch die Rechtsprechung des Volksgerichts-hofs zum Landesverrat, die wegen der hohen und starren gesetzlichen Strafandrohun-gen für dieses Delikt ohnehin schärfer war, blieb nicht unbeanstandet: so wurde z.B.an 18 Urteilen aus der Zeit vom April 1935 bis August 1936 kritisiert, daß sie zu

milde ausgefallen seien.105 Hitler bemängelte noch Jahre später, daß die Urteile desVolksgerichtshofs „den von ihm gewünschten strengen Maßstäben zunächst ebenfallsnicht entsprochen" hätten.106 Todesurteile fällte der Volksgerichtshof in den verblie-benen fünf Monaten des Jahres 1934 vier, im Jahre 1935 neun, 1936 zehn; angesichtsder ab 1942 die Tausendgrenze weit übersteigenden Anzahl seiner jährlichen Todesur-teile107 kann auch in dieser Hinsicht noch von einer anfänglich „gemäßigten" Recht-sprechung des Gerichtshofs gesprochen werden.

Als Rehn am 18. September 1934 starb, gelang es Gürtner, die Besetzung des Präsi-dentenpostens durch den Wuppertaler Rechtsanwalt Schroer

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Generalinspekteur desBNSDJ und Inhaber des goldenen Parteiabzeichens

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zu verhindern, den Hans Frankbei Hitler als „altbewährten Kämpfer für das nationalsozialistische Recht" in Vor-schlag gebracht hatte.108 Bei Schroer handelte es sich um einen fanatischen National-sozialisten, der gerade in dieser Zeit in seiner Eigenschaft als Gaurechtsstellenleiterdes BNSDJ im Gau Düsseldorf einen Konflikt mit der Justizverwaltung heraufbe-schworen hatte, indem er im Verein mit dem dortigen Gauleiter Florian die strafrecht-liche Verfolgung der barbarischen Mißhandlungen im „wilden" KonzentrationslagerWuppertal-Kemna zu unterdrücken suchte und sich zu diesem Zweck an dem Kes-

103 Vgl. DJ 1934, S. 1013 f. Das Urt. des 3. Senats unter Springmann, der am selben Tag eine Landesverratssa-che unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelte, ist dort nicht angegeben. Zur Beurteilung der Ent-scheidungen s. Wagner, a.a.O., S.81. Am nächsten Tag verurteilte der Rehn-Senat abermals einen Kommu-nisten wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Verstoß gegen das ParteienneubildungsG zu 2 J. 9 M. Ge-fängnis unter Anrechnung von 9 M. Untersuchungshaft (Münchner Neueste Nachrichten v. 3.8.34, S. 6).

104 Vgl. die Urt. des VGH v. 8., 15. und 16.11.34 mit Kritik des für Hochverratssachen des VGH zuständigenReferenten OStA Krug (DJ 1935, S.909).

105 Vgl. die für eine Bespr. mit dem RKriegsM zusammengestellte Liste in den Akten des RJM (BA, Sign. R22/20113).

106 Am 7.6.42 mittags, s. H. Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Bonn 1951, S.249.107 Nach den Ber. der Präsidenten des VGH an das RJM betrug die Zahl der verhängten Todesurteile in den

folgenden Jahren :

1937 = 32 1941= 1021938 = 17 1942 = 11921939 = 36 1943 = 16621940 = 53 1944 = 2097(Vgl. die Zusammenstellung bei W. Wagner, a.a.O., Anlage 33, S.945 f., mit Einzelnachweisen.)

108 Vgl. Sehr. Franks an Hitler v. 8.10.34 (Akten der RK, BA, Sign. 43 11/1518).

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966 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeseitreiben der Partei gegen den ermittelnden Staatsanwalt beteiligte.109 Seine Ernen-

nung zum Präsidenten des Volksgerichtshofs hätte aller Voraussicht nach auf die Tä-tigkeit dieses Gerichtshofs katastrophale Auswirkungen zeitigen müssen. Da Hitlerden Chef der Reichskanzlei beauftragt hatte, Gürtner das Schreiben Franks abschrift-lich zu übersenden, kamen Lammers und der Justizminister überein, die Angelegen-heit gelegentlich ihres Zusammentreffens bei der nächsten Kabinettssitzung mitein-ander zu besprechen, die am 16. Oktober stattfand.110 Es gelang Gürtner, Lammersdavon zu überzeugen, daß es besser sei, auf die Neubesetzung des Postens zunächstüberhaupt zu verzichten und die Geschäfte des Präsidenten des Volksgerichtshofsstellvertretend durch Senatspräsident Bruner weiterführen zu lassen.

Diese Regelung war nach außen hin um so leichter zu vertreten, als sich die haus-halts- und beamtenrechtliche Ausgestaltung des Volksgerichtshofs, die im Gesetz vom

24. April 1934 nicht geregelt worden war, noch in der Schwebe befand. Bei seiner Er-richtung waren weder für den Präsidenten noch für die anderen elf hauptamtlich täti-gen Richter im Reichshaushalt Planstellen geschaffen worden. Sie gehörten haushalts-mäßig weiter den Gerichten an, von denen sie an den Volksgerichtshof abgeordnetworden waren; ihre bisherigen Planstellen durften zwar anderweitig besetzt werden,sie behielten jedoch die Rechte und Pflichten, die mit dieser Planstelle verbunden wa-

ren.111 Obwohl der Volksgerichtshof den Charakter eines Sondergerichtshofes be-saß112, wurde von Parteiseite immer wieder betont, daß er keine vorübergehende Er-scheinung sei : man habe nicht „lediglich aus praktischen oder politischen Zweckmä-ßigkeitsgründen die Hoch- und Landesverratssachen vorübergehend aus der früherenZuständigkeit des Reichsgerichts herausgenommen", sondern eine Einrichtung ge-schaffen, die „einen wesentlichen Bestandteil der nationalsozialistischen Strafrechtsor-ganisation", eine „organische Schöpfung des nationalsozialistischen Staates" darstelle,da durch die Beisitzer „bei keinem anderen deutschen Gericht eine derartig enge per-sonelle Verbindung mit der Partei" bestehe.113 Auch Freisler erklärte im März 1935„mit aller Bestimmtheit", daß die Frage „einer Rückführung der Volksgerichtsbarkeitin die Rechtspflege des Reichsgerichts" nicht mehr gestellt werden könne und des-halb „diejenigen Elemente im Aufbau des Volksgerichtshofes, die auf eine

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minde-stens der Idee nach

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nur vorübergehende Lebensdauer dieses Gerichtes hinweisen,verschwinden" müßten. Dazu gehörten u.a. „das Fehlen der Etatisierung dieses Ge-richtes, die Speisung der erforderlichen Richterstellen des Volksgerichtshofes aus Stel-len bei anderen Gerichten" sowie „das Fehlen einer eigenen, beim Volksgerichtshofakkreditierten Anklagebehörde". Auf dem Gebiet des Gerichtsverfassungsrechts müß-ten Maßnahmen ergriffen werden, um „den organischen Auf- und Ausbau dieses Ge-richtes äußerlich so zu gestalten, daß seine Erscheinungsform seiner Aufgabe ent-

spricht". Aber Freislers Überlegungen gingen weiter: er schlug vor, den Volksgerichts-hof zum „Kristallisationspunkt" für ein einheitliches „Reichsstrafgericht" zu machen,109 Vgl. Kapitel rV.2.b, S.356, 359.110 Vgl. Begleitschr. Lammers' an Gürtnerv. 11.10.34 mit Besprechungsvorschlag sowie Verm. MinRat Wien-

steins (Protokollführer im Kabinett), daß er Gürtner gelegentlich der Sitzung am 16.10.34 an die Bespr. derPersonalsache mit Lammers erinnert habe (Akten der RK, a.a.O.).

111 Vgl. § 2 der Zweiten VO über den Volksgerichtshof v. 29.6.34 (RGBI, S.617).112 Vgl. Urt. des RG v. 21.3.35 (DJ 1935, S.850).113 So der stellv. Hauptschriftleiter des VB, SA-Gruppenf. W. Weiß, Der Volksgerichtshof des Deutschen Rei-

ches (DR 1935, S. 518).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 967

das auch die Revisionsgerichtsbarkeit des Reichsgerichts einschließen und die „einzig-und höchstinstanzliche Strafgerichtsbarkeit Deutschlands" in sich vereinigen sollte.Da die Reform der Revision ohnehin zu einer berufungsähnlichen Ausgestaltung ten-diere, die die Nachprüfung auf tatsächliche Feststellungen und auf die materielle Ge-rechtigkeit erweitere114, müßten die künftigen höchstinstanzlichen Revisionssenateauch aus Berufs- und Laienrichtern zusammengesetzt sein, d.h. denen des Volksge-richtshofs gleichen. Nichts liege näher, als diese „zur freien Überprüfung schwurge-richtlicher Urteile" bestimmten Senate „in einer großen organisatorischen Einheit mitden Senaten des Volksgerichtshofes verbunden arbeiten" und sich gegenseitig be-fruchten zu lassen. Für die reinen Revisionen könne eine dritte Gruppe von Senatengebildet werden, die nur aus Berufsrichtern beständen. Bei Abweichung eines Senatsvon einem Präjudiz könne statt des gegenwärtig zuständigen Plenums der Strafsenateoder des Reichsgerichts in seiner Gesamtheit ein besonderer Senat entscheiden, dersich aus Mitgliedern der drei genannten Senatsgruppen zusammensetze; er habe dieRechtseinheit zu wahren und über alle Rechtsfragen allgemeiner Bedeutung authen-tisch zu entscheiden. Die mit dieser Lösung durchgeführte Trennung der Zivil- undStrafgerichtsbarkeit in der höchsten Spitze sei ohnehin „bereits vollzogen dort, wo sieam fühlbarsten ist": durch die Schaffung des Volksgerichtshofs mit seiner einzigin-stanzlichen politischen Strafgerichtsbarkeit. Den Einwand, daß in der Revisionsstraf-rechtspflege oft zivilrechtliche Fragen auftauchten, die eine jederzeitige Fühlung-nahme des Strafrichters des Reichsgerichts mit dem Zivilrichter dieses Gerichts er-

forderlich machten, ließ Freisler nicht gelten: die Fühlungnahme sei heute so selten,daß er „ein Bedürfnis hierzu nur theoretisch, nicht aber tatäschlich bestehend aner-kennen" könne. Durch die Einrichtung dieses Reichsstrafgerichts, „das dem Reichszi-vilgericht ebenbürtig zur Seite treten würde", wäre jedenfalls „das Peinliche der jetzi-gen Lage des höchsten deutschen politischen Strafgerichtes, nicht einmal etatisiert zu

sein", überwunden.113Die Bemühungen des Justizministeriums zur Etatisierung nahmen sich demgegen-

über jedoch bescheidener aus und waren mit geringeren organisatorischen Umstellun-gen auf dem Gebiet des Gerichtsverfassungsrechts verknüpft. Da der Reichsfinanzmi-nister die Mittel für eigene Planstellen in der erforderlichen Höhe wiederholt ablehnteund die Schaffung von Planstellen für auf Zeit ernannte Beamte auch haushaltsrecht-lich auf Schwierigkeiten stieß, wurde eine Änderung des Gesetzes vom April 1934 an-

gestrebt, um den Volksgerichtshof gerichtsverfassungsrechtlich in die Reihe der or-dentlichen Gerichte einzugliedern und damit die Ernennung seiner hauptamtlichenRichter statt auf fünf Jahre auf Lebenszeit (§ 6 GVG) zu erreichen und haushaltsmäßigzu sichern. Denn auf die Einführung des neuen GVG, dessen Entwurf diese Regelun-gen bereits vorsah116, sollte nicht gewartet werden. Nach Abstimmung mit den unmit-telbar beteiligten Ressorts

-

dem Reichsfinanzminister, dem Reichsinnenminister unddem Stellvertreter des Führers - reichte Gürtner am 23. Januar 1936 der Reichskanz-lei einen entsprechenden Gesetzentwurf mit der Bitte ein, ihn zur Beschlußfassung indie Tagesordnung der nächsten Kabinettssitzung aufzunehmen. Die darin enthaltenen

114 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.a., S.989f.113 Vgl. R. Freisler, Der Volksgerichtshof

-

das Reichsstrafgericht? (ZAkDR 1935, S. 90 ff).1,6 Vgl. Kapitel VIII.La., S.936, 939.

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968 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Bestimmungen sollten „der Würde und der politischen Bedeutung des Volksgerichts-hofs den erforderlichen Ausdruck" verleihen und die hauptamtlichen Beamten diesesGerichts „in der Besoldung so

...

stellen, wie es der Bedeutung ihres Amtes ent-

spricht".117 Da mehrere Ressorts Änderungswünsche vorbrachten, konnte der Justiz-minister, der sich schließlich mit der Verabschiedung des Gesetzes im Umlaufwegeeinverstanden erklärte, der Reichskanzlei nach Ablauf dieser Prozedur am 28. Märzdie von ihm gegengezeichnete Ausfertigung übersenden, die als Termin des Inkraft-tretens den 1. April vorsah.118 Hitler kam jedoch erst am 18. April dazu, das Gesetz zu

unterschreiben.Das Gesetz über den Volksgerichtshof und über die fünfundzwanzigste Änderung des

Besoldungsgesetzes vom 18. April 1936119 erhob den Volksgerichtshof zum ordentli-chen Gericht im Sinne des GVG (§ 1) mit eigenen Planstellen für seine hauptamtli-chen Mitglieder. Vorgesehen waren 1 Präsident, der gleichzeitig einem Senat vorsaß,2 Senatspräsidenten und 6 hauptamtliche Richter

-

nunmehr „Volksgerichtsräte" ge-nannt - (§ 2), die sämtlich die Befähigung zum Richteramt besitzen und das 35. Le-bensjahr vollendet haben mußten. Ihre Ernennung erfolgte auf Lebenszeit (§ 3), undzwar nunmehr nach der normalen Prozedur für höhere Beamte120, während die ehren-amtlichen Mitglieder nach dem bisherigen Verfahren und weiterhin auf fünf Jahre be-stellt wurden (§ 4). Die Zahl der einzurichtenden Senate bestimmte der Reichsjustiz-minister (§ 5). Das Gesetz übernahm ferner die Regelung, deren Einführung sichschon im August 1935 als notwendig erwiesen hatte121: um bei der geringen Zahlhauptamtlicher Mitglieder eine auftretende Mehrbelastung bewältigen zu können,konnten planmäßig angestellte Richter der Amtsgerichte, Landgerichte und der Ober-landesgerichte als Hilfsrichter zugezogen werden (§ 6); laut Durchführungsbestim-mungen erfolgte diese Berufung durch das Reichsjustizministerium, und die Richterwaren verpflichtet, ihr zu folgen. Die Staatsanwaltschaft beim Volksgerichtshof wurdedem Oberreichsanwalt in Leipzig entzogen: sie war nicht mehr Glied der Staatsan-waltschaft beim Reichsgericht, sondern selbständige Behörde, an deren Spitze einReichsanwalt als Leiter stand (§ 7). Sie erhielt die Planstellen für 2 „Oberstaatsanwältebeim Volksgerichtshof" und für 4 weitere Oberstaatsanwälte, daneben beschäftigte siezahlreiche abgeordnete „Hilfsarbeiter".

Die Besoldungsbestimmungen des Gesetzes (§§ 9, 10) zeigen, daß der Volksge-richtshof bei der Eingruppierung seiner Mitglieder dem Reichsgericht

-

wohl im Hin-blick auf seinen beschränkteren Aufgabenkreis

-

nicht gleichgestellt wurde: der Präsi-dent wurde wie der Kammergerichtspräsident, die Volksgerichtsräte wie die Präsiden-ten größerer Landgerichte eingestuft; nur die Senatspräsidenten, auf denen die Haupt-verantwortung für die Rechtsprechung des Gerichtshofes lag, wurden den Senatspräsi-denten am Reichsgericht gleichgestellt. Der leitende Reichsanwalt wurde nach der all-gemeinen Gepflogenheit wie die Senatspräsidenten besoldet.

1,7 Vgl. Sehr. Gürtners an den Chef der RK v. 23.1.36 nebst GEntw., nachrichtlich an alle RM (Akten der RK,BA, Sign. R 43 11/1517 b).

"8 Vgl. Sehr. Gürtners nebst neuem Entw. v. 10.3.36 und Sehr. v. 28.3.36 an die RK (a.a.O.).119 RGBI. I, S. 369, dazu DurchfVO vom selben Tag (RGBI. I, S. 398).120 Vgl. Erl. des Führers und Reichskanzlers über die Ernennung und Entlassung der Reichsbeamten v. 1.2.35

(RGBI. I, S. 74): Ernennung durch Hitler auf Vorschlag des RJM.121 Vgl. Dritte VO über den Volksgerichtshof v. 22.8.35 (RGB1.I, S. 1121).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 969

Mit der gerichtsverfassungsrechtlichen und etatmäßigen Neuordnung wurde nun-

mehr auch die personelle Zusammensetzung des Volksgerichtshofs weitgehend nachden Wünschen der Partei geregelt. Die Planstelle des Präsidenten erhielt ein bewähr-ter nationalsozialistischer Jurist: Georg Thierack

-

Parteimitglied seit August 1932und SA-Oberführer -, der 1933 Justizminister in Sachsen geworden und nach derVerreichlichung der Justizverwaltung auf dem Posten des Vizepräsidenten des Reichs-gerichts untergebracht worden war. Der bisherige (stellvertretende) Präsident desVolksgerichtshofs, Nichtparteigenosse Senatspräsident Bruner, wurde auf Thieracksbisherigen Posten beim Reichsgericht abgeschoben. Als Senatspräsident wurde nebendem verbleibenden Springmann der ,Ahe Kämpfer" Karl Engerí berufen, der bei derVerreichlichung als Ministerialrat vom bayerischen Justizministerium ins Reichsjustiz-ministerium übernommen worden war. Engert war ein persönlicher Bekannter Hitlersaus den zwanziger Jahren, gehörte seit April 1921 der Partei, seit 1930 der SA an, dieer aber im Oktober 1935 verließ, um als Sturmbannführer der SS in den persönlichenStab Himmlers überzutreten. Von den sechs Stellen für Volksgerichtsräte wurden viermit bisherigen Richtern des Volksgerichtshofs besetzt, zwei mit Landgerichtsdirekto-ren, die schon im November 1935 als Hilfsrichter in den Gerichtshof berufen wordenwaren: einer war Parteigenosse seit Dezember 1930, der andere seit 1. Mai 1933. DieStelle des Reichsanwalts behielt der bisherige Leiter der Zweigstelle Berlin der Reichs-anwaltschaft, Reichsanwalt Jörns; „Oberstaatsanwälte beim Volksgerichtshof" wurdenParrisius und Eichler.122 Die feierliche Einführung der Ernannten fand am 3. Juni1936 im Großen Saal des Volksgerichtshofs in der Bellevuestraße 15 statt, wohin derGerichtshof im Mai 1935 seinen Sitz verlegt hatte.123

Wie bereits erwähnt, bewirkte die neue Besetzung des Gerichtshofes unter Thierackeine Verschärfung seiner Rechtsprechung. Aber auch in die Zahl seiner Verfahrenkam Bewegung: hatte der Volksgerichtshof während seiner fünfmonatigen Tätigkeitdes Jahres 1934 rund 80 Verfahren wegen Hochverrats und Landesverrats, 1935 rund210 solcher Verfahren erledigt, so stieg deren Zahl 1936 auf fast 300 an, um sich inden Jahren 1937 bis 1939 zwischen 250 und 260 einzupendeln. Nach Kriegsbeginnverdoppelte sich die Zahl der jährlichen Verfahren und vervierfachte sich schließlich1942.124 Bei Kriegsausbruch wurde die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die Tatbe-stände der Nichtanzeige hoch- und landesverräterischer Vorhaben, der Wirtschaftssa-botage und der besonders schweren Fälle von Wehrmittelbeschädigung ausgedehnt.125172 Vgl. Sehr. Gürtners an die RK v. 29.4.36 nebst Ernennungsvorschlägen und Personalbögen (Akten der

RK, a.a.O.). Namentliche Aufstellung der Ernannten in DJ 1936, S.792.123 Vgl. DJ 1935.S.807; 1936, S.907.124 Nach den Akten des RJM betr. Jahresstatistik des Volksgerichtshofs (zusammengestellt bei W. Wagner,

a.a.O., Anlage 5, S.873) betrug die Zahl der jährlich erledigten Verfahren wegen Hochverrats und Landes-verrats (ohne die Verfahren wegen sonstiger Delikte, die kaum ins Gewicht fielen):1934= 81 1937 = 265 1940= 5351935 = 219 1938 = 253 1941= 5911936 = 297 1939 = 261 1942 = 1100Die Zahl der Verfahren ist nicht mit der Zahl der Urteile gleichzusetzen, da Verfahren auch durch Einstel-lung erledigt wurden, ferner nicht mit der Zahl der Angeklagten, da an einem Verfahren mehrere Ange-klagte beteiligt sein konnten. So betrug z.B. 1942 die Zahl der VGH-Urteile 1033, die Zahl der Angeklag-ten 2572 (vgl. Ber. Freislers v. 11.1.43, Akten des RJM, BA, Sign. R 22/4693).

123 G. zur Änderung des StGB v. 2.7.36 (RGBI. I, S. 532) und G. gegen Wirtschaftssabotage v. 1.12.36 (RGBI. I,S.999). Eine Zusammenfassung der Zuständigkeit des VGH nach dem Stand von 1940 gab der § 5 der VOüber die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vor-schriften v. 21.2.40 (RGBI. I, S. 405).

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970 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeMit der Zunahme der Verfahren erfuhr der Volksgerichtshof eine ähnliche organi-

satorische Hypertrophie, wie sie bei den Sondergerichten zu beobachten war. Zu denursprünglichen drei Senaten war schon im November 1935 ein 4. Senat

-

anfänglichals „Hilfssenat" und durch einberufene Hilfsrichter ermöglicht

-

getreten, im Novem-ber 1941 sollte ein 5., im Dezember 1942 ein 6. folgen; daneben bestand seit 1939 der„Besondere Senat" für die Behandlung jener Sachen, gegen die der „außerordentlicheEinspruch" eingelegt worden war.126 Entsprechend nahm die Zahl der Mitglieder desVolksgerichtshofs ständig zu. Anfang 1939 besaß er 1 Präsidenten, 1 Vizepräsi-denten - diese Planstelle war im Dezember 1937 geschaffen und mit Engert besetztworden -, 2 Senatspräsidenten, 8 Volksgerichtsräte und 5 abgeordnete Hilfsrichter.Anfang 1943 war die Zahl der Senatspräsidenten auf 3, die der Volksgerichtsräte auf 9und die der Hilfsrichter auf 33 gestiegen.127 Schon beizeiten erwies sich auch die ur-

sprüngliche Anzahl von 20 ehrenamtlichen Mitgliedern als unzureichend, zumal sichnicht alle dieser Beisitzer zur Ausübung ihres Amtes zu drängen schienen: so schei-terte z.B. im Herbst 1934 die Abhaltung einer Hauptverhandlung mit sieben Ange-klagten und dreißig Zeugen daran, „daß am Tage der Verhandlung ein auswärtigerBeisitzer seine Erkrankung mitteilte und trotz fast vierstündiger Bemühungen die Bei-ziehung eines Ersatzmitgliedes nicht möglich war".128 Da manche Dienststellen überdie starke Beanspruchung ihrer zu ehrenamtlichen Beisitzern bestellten Angehörigenklagten, mußte das Justizministerium verschiedentlich bereits ernannte Beisitzer fürden Rest ihrer fünfjährigen Amtsdauer von der Wahrnehmung ihrer Obliegenheitenentbinden.129 Um dem Mangel abzuhelfen, teilte Gürtner schon im Herbst 1934 Hit-ler die Notwendigkeit mit, „die gegenwärtige Zahl von 20 nichtrichterlichen Mitglie-dern auf etwa das Doppelte bis Zweieinhalbfache zu erhöhen", und reichte eine Listemit 24 Vorschlägen ein, an denen nun auch die organisatorisch selbständig gewordeneSS mit fünf ihrer Führer beteiligt war. Aus dieser von Heß gebilligten Liste strich Hit-ler bei der Unterzeichnung am 4. Dezember zum zweiten Mal den Magdeburger SA-Obergruppenführer v. Ulrich sowie bezeichnenderweise SA-Gruppenführer Prinz Au-gust Wilhelm von Preußen heraus.130 Da eine Woche später noch ein vom Reichsluft-fahrtministerium namhaft gemachtes Mitglied ernannt wurde, verfügte der Volksge-richtshof Anfang 1935 über 43 ehrenamtliche Beisitzer. Auch ihre Zahl sollte in denfolgenden Jahren erheblich zunehmen: 1939 war sie auf 95 gestiegen, 1944 betrug sieschließlich 173.131

Von der Personalvermehrung blieb naturgemäß auch die Staatsanwaltschaft beimVolksgerichtshof nicht ausgenommen, die im Dezember 1937

-

analog der „Reichs-anwaltschaft beim Reichsgericht"

-

zur „Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof"

126 Vgl. dazu Kapitel VIH.2.f, S. 1075.127 Vgl. Akten des RJM (BA, Sign. R 22/303 und 20040).128 Vgl. Ber. Bruners, wiedergegeben im Sehr. Gürtners an Hitler v. 10.12.34 über die notwendige Entlastung

der ehrenamtlichen VGH-Mitglieder durch zusätzliche Ernennungen (Akten des RK, BA, Sign. R 43 11/1518).

129 Vgl. z. B. Sehr. Gürtners an Hitler v. 8.3.35 wegen einer Ersatzernennung (a.a.O.).130 Vgl. Sehr, des RJM (i.V. Freisler) an Hitler v. 10.11.34, mit Ernennungsvorschlägen und Ernennungsur-

kunde v. 4.12.34 (a.a.O.).131 Akten des RJM (BA, Sign. R 22/302), Ernennungs- und Wiederernennungsvorgänge in den Akten der RK

(BA, Sign. R 43 H/1517 c).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 971

erhoben wurde und als Behördenleiter gleichfalls einen Oberreichsanwalt erhielt132:erster „Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof" wurde Parey, der dem pensioniertenJörns im August 1937 als Reichsanwalt nachgefolgt war133; nach Pareys Unfalltod imNovember 1938 nahm diesen Posten ab Juli 1939 der Generalstaatsanwalt von Karls-ruhe Lautz ein.134 Durch die Schaffung neuer Planstellen und die Abordnung zahlrei-cher Hilfsarbeiter wuchs diese Behörde 1939 auf 25, 1943 auf 61 und 1944 auf 62 Be-amte an: in diesem Jahr umfaßte sie außer dem Oberreichsanwalt 5 Reichsanwälte,4 Oberstaatsanwälte sowie 52 abgeordnete Richter und Staatsanwälte als Sachbearbei-ter.133

Beim Volksgerichtshof gab es kein Präsidium; die Bestimmungen des GVG überdas Präsidialsystem waren hier von Anfang an unanwendbar: der Präsident erließ dieGeschäftsordnung, die der Genehmigung durch das Reichsjustizministerium be-durfte.136 Vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres verteilte er die Geschäfte unter dieSenate, wies den Senaten sowohl die hauptamtlichen wie die ehrenamtlichen Mitglie-der zu und regelte deren Vertretung. Die ehrenamtlichen Beisitzer sollten zu denHauptverhandlungen ihres Senats in der Reihenfolge berufen werden, die sich aus ih-rer Überweisung an die Senate ergab. Wie bei allen übrigen ordentlichen Gerichtensollten die getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres nur dann geändertwerden, „wenn dies wegen Überlastung, Wechsels oder dauernder Behinderung einesMitglieds erforderlich" war.137

Durch die Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung vom 20.März 1935 (RGBI. I, S. 403), die die bisherigen landesrechtlichen Ausführungsvor-schriften auf diesem Gebiet ersetzte, wurde das Präsidialsystem auch für die Amtsge-richte abgeschafft. Soweit bisher

-

wie z. B. in Preußen - das Präsidium des Landge-richts für die Geschäftsordnung der Amtsgerichte zuständig war, übernahm der Land-gerichtspräsident diese Aufgabe und regelte auch die Vertretung der Amtsrichter inBehinderungsfällen; war das Amtsgericht mit einem Präsidenten besetzt, wurden dieseAnordnungen von ihm getroffen.

Der nächste Schritt zum Abbau der Selbstverwaltung der Gerichte traf das Reichs-gericht, und zwar im Zusammenhang mit der Änderung des Verfahrens zur Wahrungder Einheit der Rechtsprechung. Bislang entschieden

-

wenn ein Strafsenat desReichsgerichts von der Entscheidung eines anderen Strafsenats abweichen wollte

-

dievereinigten Strafsenate, also sämtliche mit Strafsachen befaßten Richter. Entsprechendwar die Regelung bei den Zivilsenaten. Wollte ein Strafsenat von der Entscheidung ei-nes Zivilsenats abweichen oder umgekehrt, so entschied das Plenum des Reichsge-richts (§136 GVG). Dieses im Interesse der einheitlichen Rechtsprechung eingerich-

132 Vgl. AV des RJM v. 24.12.37 (DJ 1938, S.27). Sie beruhte auf dem G über die Einunddreißigste Änderungdes Besoldungsgesetzes v. 9-12.37 (RGB1.I, S. 1355), das nunmehr auch die Richter des VGH denen desRG besoldungsrechtlich gleichstellte.

133 Vgl. Ber. über seine Amtseinführung am 7.8.37 (DJ 1937, S. 1235).134 Vgl. die Nachrufe für den am 3.11.38 verunglückten Parey (DJ 1938, S. 1774, 1802) sowie die Ber. über die

Ernennung von Lautz und seine Amtseinführung am 4.7.39 (DJ 1939, S. 1141, 1150).133 Vgl. Akten I p3 des RJM (BA) und W. Wagner, a.a.O., S. 28.136 Vgl. § 6 der AusfVO über den Volksgerichtshof v. 12.6.34 (RGBI. I, S. 492).137 Vgl. die §§ 3, 4, 6 und 7 der VO zur Durchführung des G. über den Volksgerichtshof und über die fünfund-

zwanzigste Änderung des BesoldungsG. v. 18.4.36 (RGBI. I, S. 398), die die vorher getroffenen Regelungenim wesentlichen sanktionierten.

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972 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganetete Verfahren wurde nunmehr als Hindernis für die „gesunde Fortentwicklung desRechts" angesehen: allein aus Scheu vor der Ingangsetzung dieser schwerfälligen Pro-zedur („horror pleni") würde vielfach an Entscheidungen festgehalten, die unter ganzanderen weltanschaulich-politischen Verhältnissen ergangen waren. Um künftig „eineschnelle und sichere Entscheidung der strittigen Rechtsfrage" zu erzielen, wurdedurch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichts-verfassungsgesetzes vom 28. Juni 193513S anstelle der vereinigten Senate je ein „GroßerSenat"

-

im Entwurf noch „Ausgleichssenat" genannt139-

für Strafsachen und Zivilsa-chen gebildet, die in gemischten Sachen anstelle des bisherigen Plenums als vereinigteGroße Senate zusammentraten. Jeder Große Senat bestand aus dem Präsidenten unddem Vizepräsidenten des Reichsgerichts sowie sieben Mitgliedern. Sie wurden abersamt ihren Vertretern und dem Vertreter des Vizepräsidenten nicht mehr vom Präsi-dium gewählt, sondern vom Reichsjustizminister aus der Reihe der Senatspräsidentenund Räte des Reichsgerichts auf die Dauer von zwei Geschäftsjahren bestellt (Art. 3).Diese Regelung wurde damit begründet, daß sich die Aufgaben der Großen Senateeng mit der Gesetzgebung berührten: sie stellten „in gewissem Sinne eine Art verlän-gerten Arm des Gesetzgebers" dar.140 In der Tat sollten künftig auch Rechtsfragen von

grundsätzlicher Bedeutung durch einen Senat oder den Oberreichsanwalt vor denGroßen Senat gebracht werden können, wenn

-

außer der Sicherung einer einheitli-chen Rechtsprechung

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die „Fortbildung des Rechts" es erforderte.Ansonsten blieben das Präsidium des Reichsgerichts wie auch die Präsidien an den

Oberlandesgerichten und Landgerichten-

die sämtlich bereits im Juli 1933 verklei-nert worden waren141

-

nebst ihren im GVG geregelten Selbstverwaltungsfunktionenzunächst bestehen. Das schloß nicht aus, daß sie auch bei der Ausübung dieser Funk-tion bereits Weisungen des Reichsjustizministeriums befolgen mußten: so teilte dasMinisterium am 4. Oktober 1937 den Oberlandesgerichtspräsidenten mit, daß Richter,die mit jüdischen Frauen verheiratet waren, nur noch in Grundbuch-, Register- oderVerwaltungssachen

-

dort aber auf keinen Fall in Personalangelegenheiten-

beschäf-tigt werden dürften. Die Oberlandesgerichtspräsidenten wurden angewiesen, „die da-nach etwa erforderliche Änderung der Geschäftsverteilung bei den in Betracht kom-menden Gerichten unverzüglich herbeizuführen".142 Diese Maßnahme mag ein letzterAnstoß gewesen sein, die Präsidialverfassung nunmehr bei allen Gerichten zu beseiti-138 Vgl. RGB1.I, S.844, und amtliche Begründung (Die Strafrechtsnovellen v. 28.Juni 1935, Amtliche Sonder-

veröffentlichungen der DJ, Nr.10, Berlin 1939, S.50ff). In Art.2 des G wurde bestimmt, daß das RG beider Entscheidung über eine Rechtsfrage ohne das geschilderte Verfahren des Art. 3 von einer Entscheidungabweichen konnte, die vor dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes ergangen war (vgl. dazu KapitelVIII.2.e., S. 1063).

139 Die Abt. IV (Bürgerliche Rechtspflege) des RJM kritisierte diesen Ausdruck, da er „die irrige Vorstellungerweckt, als sollte zwischen zwei Ansichten ein Ausgleich geschaffen, d. h. vermittelt werden", sie schlugdie Bezeichnung „Großer Senat" vor (vgl. Stellungnahme an Strafgesetzgebungsabteilung v. 14.2.35, Aktendes RJM, BA, Sign. R 22/1061).140 Vgl. MinDir. E. Schäfer, Die leitenden Gedanken der beiden Gesetze zur Änderung des Strafgesetzbuchessowie zur Änderung des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28.Juni 1935 (DJ 1935,S.993), auch amtliche Begründung (a.a.O., S. 58).

141 Vgl. G. zur Änderung der Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Präsidien der Gerichte v.4.7.33 (RGBI. I, S.451). Konkreter Anlaß war die Zusammenlegung der Berliner Landgerichte: das Präsi-dium des einheitlichen Landgerichts hätte sonst aus nahezu 150 Mitgliedern bestanden (vgl. Sehr. Gürtnersv. 17.6.33 nebst GEntw. an Lammers, Akten der RK, BA, Sign. R 43 11/1505).'42 Vgl. RV des RJM betr. jüdisch versippte Richter an die OLGPräs. v. 4.10.37 (Akten des RJM, Hauptbüro,Arch, des BJM).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 973

gen : Jedenfalls legte Gürtner zwei Tage später Hitler anläßlich einer Zusammenkunftden Entwurf eines entsprechenden Gesetzes vor. Nachdem sich dieser einverstandenerklärt hatte, reichte Gürtner den Entwurf eine Woche später beim Chef der Reichs-kanzlei mit der Bitte ein, ihn im Umlaufwege zu verabschieden, damit seine Bestim-mungen am l.Januar 1938 in Kraft treten könnten. In der Begründung hieß es, daßdie Geschäftsverteilung durch die Präsidien, wie sie das GVG (§§ 64, 117, 131) vorsah,„heutiger Rechtsauffassung nicht mehr ganz zu entsprechen" vermöge, „da diese Artder Geschäftsverteilung nicht immer eine volle Gewähr für einheitliche Führung [!]bietet". Ferner müsse ermöglicht werden, die Geschäftsverteilung im Laufe des Ge-schäftsjahres auch aus anderen Gründen zu ändern, als es das GVG (§ 63 Abs. 2) vor-

schreibe.143 Das von Hitler am 24. November 1937 unterzeichnete Gesetz über die Ge-schäftsverteilung bei den Gerichten144 entzog diese Änderungsbefugnis und die Bildungder Rechtsprechungskörper

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d. h. die Auswahl der Vorsitzenden und ständigen Mit-glieder der einzelnen Kammern und Senate sowie deren Vertreter

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der Kollegialent-scheidung unabhängiger Richter und machte sie zu einer Angelegenheit der Justiz-verwaltung". Sie erfolgte nunmehr „bei den Amtsgerichten durch den Amts- oderLandgerichtspräsidenten, dem die Dienstaufsicht über das Amtsgericht zusteht, beiden Landgerichten, den Oberlandesgerichten, dem Volksgerichtshof und dem Reichs-gericht durch die Präsidenten" und bei den Sondergerichten, wo diese Aufgabe bishervon den Präsidien der Landgerichte wahrgenommen wurde, durch den Oberlandesge-richtspräsidenten (§ 3). Innerhalb der Kammern und Senate wurde die Arbeit von denVorsitzenden auf die Mitglieder verteilt (§ 4). Im Laufe des Geschäftsjahres durfte dieGeschäftsverteilung von nun an nicht nur wegen Überlastung, Wechsels oder dauern-der Verhinderung eines Richters, sondern auch dann erfolgen, wenn es „sonst im In-teresse der Rechtspflege [!] dringend erforderlich wird" (§ 2). Da über das Vorliegen ei-nes solchen „Interesses" im konkreten Fall das Reichsjustizministerium entschied unddie Gerichtspräsidenten auch in der Frage der Geschäftsverteilung der Dienstaufsichtdes Ministeriums unterstanden, konnte die Justizleitung durch interne Weisungen je-derzeit in die Geschäftsordnung eingreifen. Um die Aufstellung der Geschäftsvertei-lungspläne für 1938 nach den neuen Bestimmungen zu ermöglichen, sollte das Gesetznun doch schon ab 1. Dezember 1937 gelten, gleichzeitig sollten die Bestimmungendes GVG über das Präsidium außer Kraft treten und alle „ihm übertragenen sonstigenAufgaben als Justizverwaltungsangelegenheiten auf die Präsidenten der Gerichte"übergehen (§ 6). Laut Begründung zum Gesetz wurde damit ausdrücklich „klargestellt,daß das Präsidium nach Wegfall seiner wesentlichen Aufgabe nunmehr auch als sol-ches beseitigt ist".

Mit der Aufhebung der gerichtlichen Selbstverwaltung, die die Verwendung derRichter bislang dem Einfluß der Justizverwaltung entzogen hatte, war ein weiteresrechtsstaatliches Mittel beseitigt worden, das die Unabhängigkeit des Richters sichernsollte: nunmehr konnten die Organe der Justizverwaltung Versetzungsweisungen von

einer Kammer (bzw. Senat) in eine andere aussprechen und dadurch bei politischenProzessen „zuverlässige" Richter einsetzen oder nicht genehme Richter ausschließen,

143 Vgl. Sehr. Gürtners an den Chef der RK v. 14.10.37 nebst Entw., nachrichtlich an sämtliche RM (Aktendes RJM, Hauptbüro, Arch, des BJM).

144 Vgl. zum folgenden RGB1.I, S. 1286, und Begründung in der AV des RJM v. 3.12.37 (DJ 1937, S. 1944).

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974 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedurch Versetzung ins Grundbuchamt sogar für die Dauer ausschalten. Es darf abernicht unerwähnt bleiben, daß zumindest Gürtner auf eine zurückhaltende Anwendungdieser neuen Ermächtigungen durch die nachgeordneten Instanzen sah. Auf einer Be-sprechung im Januar 1938 mahnte er die Oberlandesgerichtspräsidenten, „daß einefalsche Anwendung dieses Gesetzes zu einer Gefährdung der Unabhängigkeit führenkönne": von der Möglichkeit einer „im Interesse der Rechtspflege" erfolgenden Ver-setzung im Laufe des Geschäftsjahres dürfe daher nur in wirklich dringenden FällenGebrauch gemacht werden. „Daß das Gesetz eine Gefährdung der Unabhängigkeit derRechtspflege nicht mit sich bringen dürfe, müßten sich die Beteiligten immer vor Au-gen halten, und es sei ihre Aufgabe, dafür zu sorgen." Als „Riegel gegen falsche An-wendung des Gesetzes" werde in Kürze eine Vorschrift erlassen werden, „daß derLandgerichtspräsident, wenn er von der Möglichkeit einer Versetzung im dringendenInteresse der Rechtspflege Gebrauch machen wolle, dem Oberlandesgerichtspräsiden-ten den Vorgang vorlegen müsse".145 In dieser am 15. Mai erlassenen und von Gürt-ner selbst gezeichneten Rundverfügung wurde die Mahnung wiederholt, von dieserMöglichkeit „nur in besonderen, begründeten Ausnahmefällen Gebrauch" zu machen,und vorgeschrieben, vorher an das Ministerium zu berichten und dessen Weisung ab-zuwarten.146 Auf jeden Fall aber hatte sich das Reichsjustizministerium auch auf die-sem Gebiet gesetzlich die Möglichkeit geschaffen, um im konkreten Fall

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etwa aufVerlangen der politischen Führung

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durch Weisung eingreifen zu können.Dieses Gesetz vom November 1937, das trotz seiner grundsätzlichen Bedeutung für

die Gerichtsverfassung außerhalb der Gerichte anscheinend wenig beachtet wurde,schloß die Reihe der wichtigsten gesetzgeberischen Maßnahmen ab, die im Friedenauf diesem Gebiet ergriffen wurden.147 Der Kriegsausbruch mit der Einberufung zahl-reicher Justizbeamter und Rechtsanwälte zur Wehrmacht oder ihrem Einsatz für vor-

dringliche Kriegsaufgaben erzwang auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung einschnei-dende gesetzgeberische Änderungen, die zum Teil ausgesprochene Notmaßnahmenwaren, zum Teil aber auch mit den Reformplänen vom Mai 1939 übereinstimmten.Die vom Ministerrat für die Reichsverteidigung gleich am ersten Kriegstag erlasseneVerordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechts-

pflege vom 1. September 1939 (RGBI. I, S. 1658) - später 1. Vereinfachungsverordnunggenannt

-

gab der Justizverwaltung erweiterte Befugnisse, um den Aufbau und dieKräfteverteilung der Gerichte elastischer gestalten zu können; sie verkleinerte dieRichterkollegien, um Personal einzusparen, und vereinfachte das Verfahren, um trotz-dem die Leistung der Gerichte zu steigern.148 Konnten bisher die Errichtung und dieAufhebung eines Gerichtes sowie die Verlegung eines Gerichtssitzes nur durchReichsgesetz und die Abgrenzung der Gerichtsbezirke nur auf dem Verordnungswege145 Vgl. Ber. des stand. Vertreters des OLGPräs. Hamburg (Senatspräs. Letz) für Rothenberger über die Tagungder OLGPräs. im RJM am 18.1.38, an der auch die Präsidenten des RG, VGH und RPatentamts teilnah-

men (Arch, der Forschungsstelle für die Geschichte des NS in Hamburg, Sign. Best. 3308). Kurzbericht inDJ 1938, S. 123.

146 Vgl. RV des RJM v. 15.5.38 an die Präsidenten des RG, des VGH und die OLGPräs. (Akten des RJM,Hauptbüro, Arch, des BJM).147 Die Erörterungen über eine Änderung gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften, die im Zusammenhangmit dem Deutschen Beamtengesetz 1937/38 zur Frage der unfreiwilligen Versetzung an eine andere Plan-

stelle (Gericht) gepflogen wurden, werden in Kapitel III.I.e., S. 195 ff., behandelt.148 Zu den Änderungen im Strafverfahren s. Kapitel VIII.2.f, S. 1069ff.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 975

erfolgen, so genügte dazu nunmehr eine bloße Verwaltungsverfügung des Reichsju-stizministers. Ferner wurde er ermächtigt, einem Gericht für die Bezirke mehrerer Ge-richte bestimmte Arten von Geschäften zu übertragen (§ 1); diese Befugnis zur Über-tragung ganzer Geschäftsgruppen war bislang nur in einzelnen Gesetzen vorgesehengewesen. Alle Richter wurden verpflichtet, auf Anordnung des Reichsjustizministe-riums innerhalb des ganzen Geschäftsbereiches der Reichsjustizverwaltung

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auf An-ordnung des Oberlandesgerichtspräsidenten innerhalb des betreffenden Oberlandes-gerichtsbezirks

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jegliche richterlichen, staatsanwaltschaftlichen oder Verwaltungsauf-gaben bei jedem ordentlichen oder besonderen Gericht der Reichsjustizverwaltungwahrzunehmen (§ 2). Waren im März 1935 schon alle Richter bei den Amts- undLandgerichten verpflichtet worden, innerhalb ihres Landgerichtsbezirks und am über-geordneten Oberlandesgericht Hilfsrichterdienste zu leisten149, so war diese Verpflich-tung nunmehr auf das gesamte Reichsgebiet

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gegebenenfalls auch auf den darüberhinausgehenden Geschäftsbereich der Reichsjustizverwaltung

-

ausgedehnt worden.Da diese unfreiwillige Abordnung des Richters ohne zeitliche Begrenzung ermöglichtwurde und damit einer Versetzung gleichkam, wurde der Grundsatz durchbrochen,daß ein Richter gegen seinen Willen nur bei einer Veränderung in der Einrichtung derGerichte und der Gerichtsbezirke versetzt werden durfte (§ 8 Abs. 3 GVG); mit derBeseitigung der Unversetzbarkeit des Richters war aber auch der Grundsatz seinerpersönlichen Unabhängigkeit erneut tangiert.130 Allerdings durften Staatsanwälte auchweiterhin nicht zu richterlichen Geschäften abgeordnet werden (§151 GVG). Dage-gen wurden innerhalb der Richterschaft die Verwendungsschranken beseitigt: nun-mehr konnten auch Gerichtsassessoren und andere zum Richteramt befähigte Perso-nen131 bei allen Gerichten, d.h. auch bei den Oberlandesgerichten und dem Reichsge-richt, als Hilfsrichter verwendet werden (§ 3). Jeder bei einem Gericht angestellteRichter konnte den Vorsitz in den Kammern oder Senaten führen, im Bedarfsfalleauch ein Hilfsrichter (§ 4). Die genannten Bestimmungen dienten laut Freisler der„Schlagkraftsteigerung der Rechtspflege durch Mobilisierung ihres Menschenmate-rials"132; sie vergrößerten aber zugleich die Möglichkeit, durch Richterversetzung deneinzelnen „seinem gesetzlichen Richter zu entziehen".

Eine einschneidende Veränderung nahm die Vereinfachungsverordnung bei derOrganisation und Besetzung der Gerichte vor, indem sie die Schöffen und Geschwore-nen völlig abschaffte. Freisler betonte, daß es sich hierbei um eine rein kriegsbedingteMaßnahme handele und niemand meinen solle, „daß sich hier eine Entwicklung zur

schöffenlosen Strafrechtspflege auch für die Zukunft anbahne".133 Die Zuständigkeitdes beseitigten Schöffengerichts ging auf den Amtsrichter als Einzelrichter über (§ 13),149 Vgl. § 10 der VO zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung v. 20.3.35 (RGB1.I, S.408), der die

landesgesetzlichen Bestimmungen über die Abordnung aufhob, die gewisse Sicherungen im Interesse derUnabhängigkeit der Justiz vorgesehen hatten.

130 Zur Beseitigung der Unafeetzbarkeit des Richters als zweiter Komponente seiner persönlichen Unabhän-gigkeit s. Kapitel IH.l.a., S. 130ff, 161 f., 1641, und I.e., S.191L, 195 ff.

131 D.h. diejenigen Inhaber der großen Staatsprüfung, die nicht in den Probedienst oder als Anwärter über-nommen waren. Nach § 7 der VO über die Laufbahn für das Amt des Richters und Staatsanwalts v. 29.3.35(RGBI. I,S. 487) konnten auch sie zu richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Geschäften herangezogenwerden.

132 Vgl. R. Freisler, Die Vereinfachungsverordnung als Mittel der Schlagkraftsteigerung der Strafrechtspflegeund ihr Stand in der Strafverfahrenserneuerung (DJ 1939, S. 1545).

133 A.a.O., S. 1539.

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976 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedessen Strafgewalt entsprechend erweitert wurde

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und zwar auf den Amtsrichter am

Sitz des bisherigen Schöffengerichts, weil dort auch eine Staatsanwaltschaft ihren Sitzhatte und die nötigen Hafträume zur Verfügung standen.154 Beim Landgericht wurdedas Schwurgericht abgeschafft: seine Zuständigkeit übernahm die Strafkammer (§ 13),die in und außerhalb der Hauptverhandlung nur mit 3 Berufsrichtern besetzt war, zu-

gleich Gericht des ersten Rechtszuges wie auch Berufungsgericht gegenüber Urteilendes Amtsrichters darstellte und damit an die Stelle der kleinen und der großen Straf-kammern trat (§ 14), die bislang mit 1 Berufsrichter und 2 Schöffen bzw. mit 3 Berufs-richtern und 2 Schöffen entschieden hatten. Die Beseitigung des Schöffengerichts unddes Schwurgerichts stand mit den letzten Reformplänen zum GVG vom Mai 1939völlig im Einklang.133 Dagegen muß im Wegfall der Schöffen beim Landgericht einekriegsbedingte Notmaßnahme gesehen werden: der Reformentwurf hatte für die er-

wähnten Aufgaben eine „Schöffenkammer" mit 3 Berufsrichtern und 2 Schöffen vor-

gesehen. Das gleiche gilt für die Besetzung der Strafsenate der Oberlandesgerichte imersten Rechtszug, die nunmehr in der Hauptverhandlung statt bisher mit 5 nur nochmit 3 Berufsrichtern entschieden (§ 15); nach den Reformvorstellungen sollten sie mit2 Berufsrichtern und 3 ehrenamtlichen Beisitzern besetzt werden. Hingegen gingendie neuen Bestimmungen über die Rechtsmittel mit den Reformabsichten völlig kon-form: Die Urteile der Amtsrichter konnten nur noch mit der Berufung angefochtenwerden; die wahlweise Revision war damit beseitigt. Gegen die Berufungsurteile derdafür zuständigen Strafkammer war kein Rechtsmittel mehr zugelassen (§ 16): dieMöglichkeit einer Revision war für denjenigen, der keine Berufung eingelegt hatte,nicht mehr gegeben, auch nicht mehr für den Staatsanwalt, wenn er das Urteil wegenunterlassener oder falscher Anwendung der Analogie anfechten wollte. Die Anfech-tung der erstinstanzlichen Urteile der Strafkammer durch Revision beim Reichs-gericht wurde durch die Vereinfachungsverordnung

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entsprechend den Reformplä-nen

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nicht geändert, gleichfalls nicht die Besetzung der Sondergerichte136, desReichsgerichts und des Volksgerichtshofs, der als einziges Strafgericht seine ehren-amtlichen Beisitzer behielt.

Noch im Herbst 1939 ging das Justizministerium daran, für die umgestalteten Ge-richte auch die sachliche Zuständigkeit neu zu ordnen. Einen entsprechenden Verord-nungsentwurf, dem die beteiligten Ressorts und am 22. Dezember auch der Stellver-treter des Führers zugestimmt hatte, reichte Gürtner am 22. Januar 1940 dem Gene-ralbevollmächtigten für die Reichsverwaltung ein, um ihn im vereinfachten Verfahrendurch das „Dreierkollegium"137 verabschieden zu lassen. Wie Gürtner dazu ausführte,

134 Vgl. § 1 der DurchfVO v. 8.9.39 (RGBI. I, S. 1703). Der StA konnte jedoch die Anklage auch vor einem an-deren AR erheben, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand für die Sache begründet war.

133 Über die Reformpläne zum GVG, die mit dem letzten Entw. einer StVO v. 1.5.39 im Zusammenhangstanden, vgl. Kapitel VIII.l.a., S.940ff.136 Zu den Bestimmungen der 1. VereinfachungsVO, die die SGe betrafen (§§ 18, 19), vgl. vorliegendes Kapi-tel, S.952. Auf die gerichtsverfassungsrechtlichen Änderungen, die die VereinfachungsVO auf dem Gebiet

der bürgerlichen Rechtspflege brachte, kann hier nur hingewiesen werden: die Besetzung der Zivilkam-mern der LGe und der Kammern für Handelssachen mit nur 1 Richter (§ 5); die Erhöhung der Wertgren-zen für die Zuständigkeit der AR in Streitigkeiten aus vermögensrechtlichen Ansprüchen auf 1500 RM(§ 6), für die Zulässigkeit der Berufung auf 500 RM, für die Revision auf 10000 RM (§ 7); Zuständigkeit derOLGe statt der LGe für die Berufung gegen Urteile des AR (§ 9). Vgl. dazu MinRat E. Staud, Die bürgerli-che Rechtspflege in Kriegszeiten (DJ 1939, S. 1482 ff.).

137 Zum „Dreierkollegium" s. Kapitel VIII.2.f, S. 1082.

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 977

sollten u.a. die Zuständigkeitsvorschriften für die Strafgerichte übersichtlich zusam-

mengefaßt werden: sie seien „in dem geltenden Recht derart zersplittert, daß ihre An-wendung der Praxis ernste Schwierigkeiten bereitet und zu vielfachen Unsicherhei-ten" führe.158 Die zusammenfassende Regelung erfolgte durch diese Verordnung überdie Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtli-che Vorschriften vom 21. Februar 1940 (RGBI. I, S. 405) - kurz Zuständigkeitsverord-nung genannt -, die u.a. eine Reihe von Bestimmungen des GVG außer Kraftsetzte159, zugleich aber über den bestehenden Rechtszustand hinausgehende Neue-rungen enthielt. Während die ausschließliche Zuständigkeit des Volksgerichtshofs, deroberlandesgerichtlichen Hochverratssenate und der Sondergerichte wie bisher durchabstrakt gesehene Straftatbestände geregelt blieb, wurde für die Abgrenzung der Zu-ständigkeit160 des Amtsrichters und der Strafkammer des Landgerichts

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d.h. der bei-den allgemeinen Strafgerichte, die nach der Vereinfachungsverordnung vom Septem-ber 1939 noch bestanden

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eine neue Methode angewendet: sie erfolgte nicht mehrnach Gesichtspunkten der gesetzlichen Tatbestandsgestaltung und der Höhe der ge-setzlich angedrohten Strafe, sondern nach „der sog. konkreten Betrachtungsweise, dieden Forderungen des Willens- und Täterstrafrechts entsprechend ... die Besonderhei-ten des Einzelfalles entscheiden" ließ.161 Damit verwirklichte die Zuständigkeitsver-ordnung

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unter Berücksichtigung der unterdessen eingetretenen Veränderungenbeim Gerichtsaufbau durch die Vereinfachungsverordnung

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jene Zuständigkeitsrege-lung, die der Reformentwurf einer Strafverfahrensordnung vom 1. Mai 1939 vorsahund die wiederum darauf beruhte, daß der Entwurf der StGB statt enger Strafrahmendem richterlichen Ermessen weiten Spielraum gewähren und vor allem die Dreitei-lung der Straftaten in Übertretungen, Vergehen und Verbrechen beseitigen wollte162,die der bisherigen Zuständigkeitsregelung zugrunde lag. Um die Zuständigkeitsbe-stimmung nach der „konkreten Betrachtungsweise" zu ermöglichen, wurde der Begriffder „Strafgewalt" (Strafbann) eingeführt: die Zuständigkeitsverordnung räumte demAmtsrichter sowie der Strafkammer eine bestimmte Strafgewalt ein, in deren Rahmensie Straftaten jeder Art aburteilen konnten, soweit sie nicht dem Volksgerichtshof, denOberlandesgerichten oder den Sondergerichten vorbehalten waren. Die Strafgewaltder Strafkammer umfaßte „alle Strafen und Maßregeln der Sicherung und Besserung,die das Gesetz vorsieht" (§ 2), d.h. sie war unbeschränkt. Die Strafgewalt des Amts-richters war

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ganz im Einklang mit dem Reformentwurf vom Mai 1939-

zwar ver-

hältnismäßig hoch angesetzt, umfaßte jedoch nur einen Ausschnitt der vollen Strafge-walt (§ 1): so durfte er die Todesstrafe, Zuchthaus über zwei Jahre, Gefängnis oder Fe-stungshaft über fünf Jahre, Sicherungsverwahrung und Entmannung nicht verhängen;158 Vgl. Sehr. Gürtners an den GBV für die ReichsVerw. v. 22.1.40 nebst VOEntw. und Begründung (Akten

der RK, BA, Sign. R 43 11/1508).159 Laut DurchfVO v. 13.3.40 (RGB1.I, S.489) waren es die §§ 24-26a, 79-92, 134, 139 Satz 2 GVG. Da der

Abschnitt über die Schwurgerichte unter die Aufhebung fiel, nicht aber der über die Schöffengerichte, soll-ten offensichtlich die Schwurgerichte

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ganz im Einklang mit den Reformplänen-

auch nach dem Kriegenicht wiedererrichtet werden.

160 Im ersten Rechtszug: die sachliche Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte (§ 74 GVG für die Berufung,§ 135 GVG für die Revision) blieb durch die VO unberührt, ebenso die Zuständigkeit des AR in Privatkla-gesachen.

161 Vgl. Begründung (a.a.O., Anm. 158), eine amtliche Begründung zur ZuständigkeitsVO wurde nie veröffent-licht.

162 Vgl. dazu Kapitel VII.2.b, S. 778 f, 780.

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978 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeauch bei Bildung einer Gesamtstrafe aus mehreren Freiheitsstrafen durfte er seineStrafgewalt nicht überschreiten. Die Entscheidung darüber, ob im konkreten Einzel-fall die Zuständigkeit des Amtsrichters oder der Strafkammer gegeben war, wurdenunmehr dem Staatsanwalt übertragen : er erhob Anklage vor dem Amtsrichter, „wenner dessen Strafgewalt für ausreichend hält, im übrigen vor der Strafkammer" (§ 4 Abs.1 Satz 1). Da nicht mehr die angedrohte, sondern die verwirkte Strafe maßgebend war,bedeutete das aber, daß der Staatsanwalt zum Zeitpunkt der Anklageerhebung eineVorausschau

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eine Prognose-

über die zu erwartende Strafe oder Maßregel anstellenmußte, obwohl die dafür maßgebenden Gesichtspunkte hinsichtlich der Beweggründeund des Zieles der Tat, hinsichtlich der Persönlichkeit des Täters, der Tatumständeusw. häufig erst in der Hauptverhandlung zutage traten. Obwohl Freisler dieseSchwierigkeiten durchaus sah, begrüßte er den Durchbruch zur „konkreten Betrach-tungsweise" als Ausdruck einer „Strafrechtspolitik, die den Organen der Strafrechts-pflege ein weites Feld eigenverantwortlicher Entscheidungsgewalt anvertrauen will".Diese Regelung sei „ein Stück Abkehr vom Rechtspositivismus", sie überwinde „dieliberal doktrinären Hemmungen ..., die das Vorausbestimmtsein des zur Entschei-dung des Einzelfalles berufenen Richters bereits in dem Augenblick, in dem dieserFall zur Behandlung der Strafjustiz gelangt, verlangen".163 Die Prognose, ob die Straf-gewalt des Amtsrichters ausreichte, sollte nach der Verordnung aber nicht der einzigeMaßstab sein, um das zuständige Gericht zu bestimmen: auch wenn dessen Strafge-walt reichte, konnte der Staatsanwalt „die Anklage statt vor dem Amtsrichter vor derStrafkammer erheben, wenn er der Auffassung ist, daß dies mit Rücksicht auf denUmfang oder die Bedeutung der Sache oder aus anderen Gründen angezeigt ist" (§ 4Abs. 1 Satz 2). Damit war gesichert, daß Straftaten aufsehenerregender oder politischerArt

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soweit sie nicht ohnehin vor das Sondergericht gehörten-

vor dem stärker be-setzten Landgericht abgeurteilt wurden, ebenso Strafsachen mit zweifelhaften Rechts-fragen, für die der Rechtszug zum Reichsgericht nur durch die Anklage vor der Straf-kammer eröffnet werden konnte. Die Bestimmung ermöglichte ferner, daß das Justiz-ministerium über den weisungsgebundenen Staatsanwalt auf die sachliche Zuständig-keit der Gerichte und damit auf den Instanzenzug Einfluß nehmen konnte.

Die auf der Prognose des Strafmaßes-

die viel schwieriger war als die für jede An-klage notwendige Prognose der Tatbeweisbarkeit und der rechtlichen Bewertung

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be-ruhende Zuständigkeitsentscheidung des Staatsanwalts konnte für die Gerichte nichtbindend sein. Aber die Möglichkeit für den Amtsrichter, die Eröffnung des Hauptver-fahrens abzulehnen, „wenn nach seiner Auffassung mit großer Wahrscheinlichkeit da-mit zu rechnen ist, daß die zu verhängende Strafe oder Maßregel der Sicherung undBesserung seine Strafgewalt" überschritt (§ 4 Abs. 2), war erst in allerletzter Minute alsnotwendig erkannt und in die Verordnung eingefügt worden. Als Gürtner den Ent-wurf dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung zur Verabschiedungübersandte, glaubte er dazu „die Zustimmung der beteiligten Stellen auch ohne ihrenochmalige Befragung annehmen zu können".164 Da der Richter nach dieser Bestim-mung seine Zuständigkeit im Einzelfall nur dann ausschlagen durfte, wenn die zu ver-

hängende Strafe seine Strafgewalt „mit großer Wahrscheinlichkeit" überschritt, ge-nügte die bloße Möglichkeit einer Überschreitung als Voraussetzung nicht. Das heißt

163 Vgl. R. Freisler, Die neue Methode der strafgerichtlichen Zuständigkeitsbestimmung (DJ 1940, S. 283).164 Vgl. Sehr. Gürtners v. 22.1.40 (s. Anm. 158).

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1. Reformpläne und Gesetzgebung zur Gerichtsverfassung 979

aber, daß auch der Richter schon vor der Hauptverhandlung eine solide Prognose überdas Strafmaß stellen mußte. Wie Freisler besorgt feststellte, sollte das aber nicht be-deuten, „daß der Richter sich bei seiner Prognose etwa selbst schon weitgehend festle-gen müsse in der Richtung, daß nach seiner Voraussicht seine Zuständigkeit nichtüberschritten werde": auf keinen Fall sollte er aus diesem Grunde etwa „ein niedrige-res Strafmaß auswerfen, als ihm erforderlich erscheint. Und er darf erst recht nicht aus

diesem Grunde auf eine erforderliche Sicherungsverwahrung oder Entmannung ver-

zichten".163 Deshalb sah die Verordnung vor, daß ein Gericht auch noch im Laufe derHauptverhandlung die Sache durch Beschluß an das zuständige Gericht verweisenkonnte, wenn es „nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung die sachliche Zuständig-keit eines Gerichts höherer Ordnung für begründet" hielt (§ 8); diese Verweisung war

für das höhere Gericht bindend (§ 269 StPO), und zwar nach einer Reichsgerichtsent-scheidung auch dann, wenn sie sachlich nicht gerechtfertigt war. Dagegen durfte sichdie Strafkammer nicht für unzuständig erklären und die Eröffnung des Hauptverfah-rens vor dem Amtsrichter beschließen; sie konnte ihre sachliche Unzuständigkeit nur

dann aussprechen, wenn die ausschließliche Zuständigkeit des Sondergerichts oderdes Volksgerichtshofs gegeben war, der in gegebenen Fällen (§ 5 Abs. 2) eine Sache an

das Oberlandesgericht weiterverweisen konnte.Mit dieser Verordnung vom Februar 1940, die am 15. März in Kraft trat und zusam-

men mit ihren Bestimmungen über die Zuständigkeiten der Sondergerichte und desVolksgerichtshofs166 eine geschlossene Zuständigkeitsregelung für die Strafgerichteim ersten Rechtszug aufstellte, sei die Darstellung der Gesetzgebung zur Gerichtsver-fassung in der Ära Gürtner abgeschlossen. Sie sollte zugleich die letzte gesetzliche Re-gelung auf diesem Gebiet bleiben, die Reformpläne verwirklichte. Alle nachfolgendengesetzlichen Änderungen der Gerichtsverfassung waren nur noch reine Kriegsmaß-nahmen zur Behebung des Kräftemangels bei den Gerichten: Sie ermöglichten dieHeranziehung von Referendaren zur selbständigen Wahrnehmung der Geschäfte ei-nes Richters oder Staatsanwalts schon nach einer Vorbereitungszeit von einem Jahrund drei Monaten167; sie erweiterten die Strafgewalt des Amtsrichters auf fünf JahreZuchthaus und ermächtigten den Vorsitzenden der Strafkammer, des Sondergerichtsund des Strafsenats beim Oberlandesgericht, mit Zustimmung des Staatsanwalts alleEntscheidungen

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einschließlich des Urteils-

allein zu treffen, „wenn er wegen dereinfachen Sach- und Rechtslage die Mitwirkung der Beisitzer für entbehrlich" hielt168;sie übertrugen diese Entscheidungsgewalt unter denselben Voraussetzungen schließ-lich sogar auf einen Beisitzer, bestimmten, daß auch in schwierigeren Fällen Entschei-dungen der genannten Gerichte in der Besetzung von nur zwei Richtern einschließ-lich des Vorsitzers getroffen werden konnten, und ermöglichten diese Besetzung auchfür jene Beschlüsse der Strafsenate und des Besonderen Senats des Reichsgerichts, dieaußerhalb der Hauptverhandlung ergingen169; schließlich gestatteten sie sogar eine

163 Vgl. Freisler, a.a.O. (Anm. 163), S. 284, 285.166 Vgl. die Anm. 45 u. 125 in diesem Kapitel. Zu den Vorschriften der VO über das Strafverfahren vgl. Kapi-

tel VIII.2.f, S. 1083 ff.167 Vgl. § 1 der VO zur weiteren Vereinfachung der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege und des

Kostenrechts v. 16.5.42 (RGBI. I, S.333), dazu AV des RJM v. 4.7.42 (DJ 1942, S.454, 455).168 Vgl. Art. 2 u. 4 der VO zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 13.8.42 (RGBI. I, S. 508).169 Vgl. Art. 1 der VO zur weiteren Kräfteersparnis in der Strafrechtspflege (3. VereintVO) v. 29.5.43 (RGBI. I,

S.436).

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980 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeverminderte Besetzung des Volksgerichtshofs und der Strafsenate des Reichsgerichtsin der Hauptverhandlung.170 Mit der Einrichtung der dreiköpfigen Standgerichte fürfeindbedrohte Reichsgebiete im Februar 1945

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die aus einem Strafrichter als Vorsit-zer sowie einem politischen Leiter der NSDAP oder Führer einer ihrer Gliederungenund einem Offizier der Wehrmacht bzw. Waffen-SS oder der Polizei bestanden undvom zuständigen Reichsverteidigungskommissar (Gauleiter) gebildet wurden171

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soll-ten die Aushöhlung der Strafgerichtsorganisation und die Beseitigung der gerichtsver-fassungsrechtlichen Garantien für den Angeklagten ihren Höhepunkt erreichen.

2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren

a. Die Beratungen der „kleinen" Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums1933-1936: Erarbeitung der Grundsätze und Entwurfder Strafverfahrensordnung

vom Februar 1936

Das Strafprozeßrecht steht mit den ideologischen und politischen Grundlagen derstaatlichen Gemeinschaftsordnung in besonders engem Zusammenhang: „AndererStaat

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anderer Strafprozeß".1 Da Gestalt, Einrichtung und Begriffe des Verfahrens-rechts von der geschriebenen und ungeschriebenen Verfassung des jeweiligen Staatesgeprägt werden, werden seine Bestimmungen von den Strafrechtswissenschaftlern ver-

schiedentlich als „angewandtes Verfassungsrecht" angesehen.2 Es war daher nicht ver-

wunderlich, daß die überkommene Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 (StPO),die im Oktober 1879 in Kraft getreten war und 1933 in der Fassung der Bekanntma-chung vom 22. März 1924 (RGBI. I., S.322) galt, schon zeitig in den Sog nationalsozia-listischer Reformbestrebungen geriet. Obwohl diese StPO

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die Carl Schmitt als „ge-treues Abbild" des „liberal-autoritären Kompromisses" der Reichsverfassung von 1871bezeichnete3

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der liberalen Anschauung vom Strafverfahren nicht so weit gefolgt war,daß sich der Staat in der Person des Staatsanwalts als Strafverfolger und der Verfolgtevor Gericht gleichberechtigt gegenüberstanden und mit „Waffengleichheit" ausge-stattet wie im angelsächsischen Strafverfahren einen „Parteiprozeß" führten, gewährtedieses Verfahrensrecht in den Augen der Nationalsozialisten dem Beschuldigten ge-genüber dem Gemeinschaftsinteresse zu weitgehende Rechte. Wie der Mitarbeiter anden Reformarbeiten des Justizministeriums, der bayerische Ministerialdirektor Dürr,1934 unmißverständlich ausführte, werde die kommende StPO „dem Gedanken desParteiprozesses die letzte Grundlage entziehen und volle Klarheit darüber schaffen

170 Vgl. §§ 1 u. 2 der VO zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krie-ges v. 13.12.44 (RGBI. I.S.339).

171 Vgl. VO über die Errichtung von Standgerichten v. 15.2.45 (RGBI. I, S. 30).1 F. Exner, Richter, Staatsanwalt und Beschuldigter im Strafprozeß des neuen Staates (ZStrWiss. Bd. 54,

1934/35, S.4).2 Vgl. dazu u.a. H. Henkel, Das Deutsche Strafverfahren, Hamburg 1943. Carl Schmitt nennt in seiner Stel-

lungnahme v. 15.9.1936 zum Entw. einer Strafverfahrensordnung der amtlichen Strafprozeßkommission(vgl. Kapitel VIII.2.b., S. 994 ff.) das Strafverfahrensrecht schlechthin „ein Stück Verfassungsrecht".

3 C. Schmitt, a.a.O.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 981

müssen, daß der Angeklagte nur Objekt des Strafverfahrens, der Staatsanwalt aber wiedas Gericht Vertreter der staatlichen Strafgewalt ist".4

Gleichzeitig mit der Reform des Strafrechts hatte Gürtner auf der Sitzung desReichskabinetts am 22. April 1933 „die Umgestaltung des Strafgerichtsverfahrens" alsvordringliche Aufgabe gekennzeichnet.5 Anders als bei der Strafrechtsreform wurdediese Aufgabe jedoch nicht sofort einer „großen" Kommission unter Beteiligung von

Strafrechtslehrern, sondern zunächst einer „kleinen" Strafprozeßkommission unterdem Vorsitz des Leiters der Abteilung II (Strafgesetzgebung) Ministerialdirektor Schä-fer anvertraut, die ihre Arbeit am 2. November 1933 im Reichsjustizministerium auf-nahm. Ihr gehörten neben dem späteren Leiter der Abteilung III (Strafrechtspflege)Ministerialdirektor Crohne die Mitarbeiter des Reichs- bzw. preußischen Justizmini-steriums Landgerichtsrat Doerner, die Ministerialräte Dörffler und Lehmann, Regie-rungsrat Schafheutle, ferner der bayerische Ministerialdirektor Dürr und als Straf-rechtspraktiker der preußische Generalstaatsanwalt Parey in Celle, der sächsische Ge-neralstaatsanwalt Weber in Dresden (bis zu seinem Tode am 19. Juni 1935)

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seitEnde November 1933 auch der württembergische Landgerichtsrat Cuhorst und derhamburgische Landgerichtsdirektor Detlefs

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sowie als Beauftragter des Reichsjustiz-kommissars Frank Oberregierungsrat Schraut an. Anfang 1935 wurde als zusätzlichesMitglied Präsident Bahr aus Kassel berufen.

Aufgabe der Kommission war es, neben dem Entwurf zu einem neuen Gerichtsver-fassungsgesetz6 „zunächst Richtlinien für die Reform des Strafprozeßrechts vorzule-gen und sodann auf Grund dieser Richtlinien einen ersten Entwurf auszuarbeiten"7,der die Grundlage zu weiteren Entschließungen bilden sollte. Dabei mußte die Kom-mission anfänglich im wesentlichen auf sich selbst gestellt arbeiten: sie konnte sichkaum auf frühere Entwürfe aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik stützen,da diese Vorlagen für die gestellte Aufgabe bei weitem zu „liberalistisch" und höch-stens für technische Einzelfragen verwendbar waren: So hatte z.B. der von dem Berli-ner Strafrechtslehrer James Goldschmidt stammende Entwurf eines „Gesetzes überden Rechtsgang in Strafsachen", der 1920 vom Reichsjustizminister Schiffer demReichsrat vorgelegt und dort steckengeblieben war, immerhin schon Gedanken wiedie Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung und des Eröffnungsbeschlussesenthalten.8 Im Jahre 1933 traten anderweitig noch keine nennenswerten Reformvor-schläge zum Strafprozeß an die Öffentlichkeit; selbst der von der Akademie für Deut-sches Recht gebildete Unterausschuß für Strafprozeßrecht unter Prof. Oetker (Würz-burg) begann seine Beratungen erst Mitte Oktober 19349, so daß dessen Ergebnisse fürden in erster Lesung fertiggestellten Kommissionsentwurf vom Dezember 1934 nochnicht verwertet werden konnten.

4 Vgl. den in Druckfahnen für die Zeitschrift DR vorliegenden, aber dort nicht veröffentlichten Artikel vonMinDir. Dürr, Die Privatklage und die Nebenklage im künftigen Strafrecht (1934, Akten des RJM, BA, Sign.R 22/1034).

5 Vgl. Niederschr. über die Sitzung des Reichskabinetts am 22.4.1933 vormittags 11.45 Uhr (Akten derReichskanzlei, Die Regierung Hitler, Teil 1:1933/34, Band 1 [s. Anm. 3 in Kapitel I], Dok.Nr. 103, S. 365).

6 Vgl. dazu Kapitel VIILl.a. Zur Arbeit der Kommission generell: Schubert, Quellen III, Bd. 1, S. VIII ff.7 Auch zur personellen Besetzung vgl. Bek. des RJM v. 9. u. 29.11.33 (DJ 1933, S.622, 728).8 Vgl. dazu A. Schöllkopf, Die Versuche einer Reform der Strafgerichtsverfassung in den Jahren 1919-1923,

(Diss.) Tübingen 1937, S. 23, 54.' Vgl. Bericht über die Sitzung v. 12./13.10.34 (ZAkDR 1934, S. 203f.).

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982 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeWährend sich Gürtner laufend berichten ließ, arbeitete die Kommission sonst in al-

ler Stille; eine Veröffentlichung des Entwurfs war vorerst ohnehin nicht beabsichtigt.Schließlich bat der „Völkische Beobachter" im Juni 1934 den Justizminister um einInterview zur Unterrichtung der Öffentlichkeit über den Stand der Arbeiten, da seitder Mitteilung über ihre Berufung „über die Arbeit dieser Kommission in der Öffent-lichkeit nichts mehr bekanntgeworden" sei. In dieser Unterredung umriß Gürtner ei-nige Probleme der Strafprozeßreform und bezeichnete es als oberstes Ziel, „ein Straf-verfahren zu schaffen, das eine straffe und schnellarbeitende Strafjustiz gewährleistet,eine gerechte Rechtsprechung sichert und in Aufbau und Durchführung verständlichund volkstümlich ist".10 In der Tat hatte die Kommission seit ihrer ersten Sitzung imNovember 1933 das in Gürtners Aussage enthaltene „Vierfache Ziel der Reform" ver-

folgt: Schnelle Justiz, Gerechte Justiz, Autoritäre Justiz und Volksverbundene Justiz.11Die Kommission ging die geltende StPO auf diese Gesichtspunkte durch, wobei je-weils für einen Abschnitt aus dem Kreis ihrer Mitglieder ein Referent und ein Korre-ferent bestimmt wurden. Bei der Verfolgung des Zieles „Schnelle Justiz" drehten sichdie Erörterungen darum, im Vorverfahren die gesamte Ermittlungstätigkeit in derHand des Staatsanwalts zu vereinigen, ihn in engere Verbindung mit der Kriminalpo-lizei zu bringen und mit erweiterten Befugnissen auszustatten, insbesondere die ge-richtliche Voruntersuchung und die Anrufung des Gerichts gegen Maßnahmen derStaatsanwaltschaft sowie vor allem den gerichtlichen Eröffnungsbeschluß abzuschaf-fen. Zur Beschleunigung des Hauptverfahrens wurde erwogen, die Stellung des Vorsit-zenden zu stärken, ihn u.a. über Beweisanträge allein entscheiden zu lassen, dieGrundsätze der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit des Verfahrens einzuschrän-ken, die Verlesung von Zeugenaussagen in erweitertem Maße zuzulassen und auch dasBeweisverfahren beim Urkundenbeweis zu vereinfachen. Auch eine erweiterte An-wendung des Abwesenheitsverfahrens gegen Angeklagte, die der Verhandlung fernge-blieben waren, und des Schnellverfahrens sowie Sondervorschriften für Monstrepro-zesse wurden erörtert. Erwogen wurde außerdem, die dem Angeklagten zur Verfügungstehenden Rechtsmittel (Berufung, Revision) abzubauen, zu diesem Zweck bei der Be-rufung den Begründungszwang einzuführen und das Verbot der reformatio in peius,d.h. den Grundsatz abzuschaffen, daß die höhere Instanz nicht zum Nachteil des An-geklagten entscheiden durfte, wenn der Rechtsbehelf zu seinen Gunsten eingelegtworden war; durch dieses Risiko sollte der Angeklagte vom Gebrauch des Rechtsmit-tels tunlichst abgehalten werden. Auch eine Einschränkung der Wiederaufnahme desVerfahrens zugunsten des Verurteilten wurde in Betracht gezogen.12

Für die Realisierung einer „Gerechten Justiz" beschränkte sich die Kommission an-

fänglich auf die Erörterung des Rechtsmittelverfahrens gegen erstinstanzliche Urteile:auf die zusätzliche Einführung der Berufung in Strafkammer- und Schwurgerichtssa-chen neben der Revision, die Nachprüfung auch der Strafzumessung in der Revisions-instanz, die Mitwirkung von Laienrichtern an den Berufungsgerichten, eine stärkereBesetzung der kleinen Berufungsstrafkammer und der Strafsenate der Oberlandesge-10 Reichsjustizminister Dr. Gürtner über den Stand der Strafprozeßreform, VB, Süddt. Ausgabe v. 6.6.34,S. 1 f.; mit geringen Abweichungen nachgedruckt in DJ 1934, S. 721 ff." Vgl. Niederschr. über die erste Sitzung am 2.11.33 (Arch, des IfZ, Sign. MA 108), Material der Strafprozeß-

kommission 1933 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1041).12 Vgl. Referate für die Generalaussprache über die Neuordnung des Strafverfahrens (Akten des RJM, a.a.O.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 983

richte sowie die Schaffung besserer Garantien für die Rechtseinheit durch entspre-chende Ausgestaltung der Revision an das Reichsgericht. Auch eine Erleichterung derWiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten wurde erwogen.13 Erstin ihrer zweiten Lesung 1935 sollte sich die Kommission

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ganz in Parallele zu derLockerung der formstrengen Tatbestände und der Einführung der Analogie auf demGebiet des materiellen Strafrechts^- mit einer „Auflockerung" der Verfahrensregelnfür die Hauptverhandlung selbst beschäftigen, um der „materiellen Gerechtigkeit"zum Siege zu verhelfen: Neben der Einschränkung des Grundsatzes, daß der Ange-klagte anwesend sein mußte, erörterte sie die Möglichkeit, die Abgrenzung des Gegen-stands der Urteilsfindung freier zu gestalten, d.h. die Ausdehnung der Anklage aufnachträglich bekannt gewordene Straftaten, aber auch den Ausschluß unwesentlicherAnklagepunkte zu erleichtern. Es wurde ferner geprüft, den Umfang der Beweisauf-nahme weitgehend in das freie Ermessen des Vorsitzenden zu stellen und die Anord-nung von Beweiserhebungen bzw. die Ablehnung von Beweisanträgen ihm allein zu

übertragen.14Die Gestaltung einer „Autoritären Justiz" war durch die bloße Übernahme des im

NS-Staat vorherrschenden Führerprinzips nicht möglich, wenn der unabhängigeRichter nicht von vornherein zum weisungsgebundenen Exekutivbeamten gemachtwerden sollte. Die Kommission erwog aber, so weit wie möglich allein verantwortlicheEinzelrichter einzuführen und deren Befugnisse sowie die Befugnisse der Vorsitzen-den von Kollegialgerichten außerhalb und in der Hauptverhandlung zu erweitern, umdie prozeßrechtlichen Pflichten der Beteiligten (Erscheinen, Zeugnisablegung, Eides-leistung) wirksamer erzwingen und die Verfahrenszwecke besser erreichen zu können,ferner ihre Sitzungspolizeigewalt zu stärken und ihnen die sofortige Aburteilung straf-barer Handlungen zu ermöglichen, die in der Hauptverhandlung begangen wurden.Die gänzliche Beseitigung des Laienrichtertums15 oder zumindest eine strengere Aus-wahl der Schöffen und Geschworenen und ihre Ernennung durch die Gerichtspräsi-denten nach bloßer Anhörung eines Vertrauensmännerausschusses sowie der Aus-schluß von Frauen aus diesen Ämtern wurde geprüft. Beraten wurden ferner Möglich-keiten, die Rechte des Angeklagten und der Verteidigung zu verkürzen, die Öffent-lichkeit in stärkerem Maße von der Hauptverhandlung auszuschließen sowie die An-wendung der Untersuchungshaft zu erweitern, sie insbesondere bei schweren Tatenzwingend vorzuschreiben.16

Als Mittel für die Gestaltung einer „Volksverbundenen Justiz" stand abermals dasLaienrichtertum

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nunmehr aber mit dem umgekehrten Vorzeichen seiner Verstär-kung

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zur Debatte, ferner eine Rückkehr zum alten Schwurgerichtsverfahren, beidem der Vorsitzende Berufsrichter die Prüfung der Schuldfrage den Geschworenenüberließ und sich auf die Festsetzung der Strafe beschränkte, sowie ein Ausbau der eh-renamtlichen Friedensrichter- und Schiedsmannverfahren für Ordnungswidrigkeitenund Friedensstörungen. Zur Hebung der Volkstümlichkeit wurde die Zulassung des

13 A.a.O.14 Vgl. MinDir. E. Schäfer (Vors. der Kommission), Die Auflockerung des Verfahrens im künftigen Strafprozeßund der Gedanke der materiellen Gerechtigkeit (DStR 1935, S. 247 ff), S. 252 f.13 Mit dem Argument, daß der künftige Berufsrichter selbst volksverbunden genug sei, vgl. die AusführungenCrohnes, Dörfflers u. Webers in der Kommissionssitzung v. 4./5.12.33 (Niederschr., Akten des RJM, a.a.O.).16 Vgl. Referate für die Generalaussprache (a.a.O.).

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984 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Adhäsionsprozesses erörtert: dem durch die Straftat Verletzten sollte die Möglichkeiteröffnet werden, seine Schadensersatzansprüche im Strafverfahren selbst mit geltendmachen zu können, ohne dafür noch einen besonderen Zivilprozeß anstrengen zu

müssen. Die Kommission erwog auch die Einführung einer eigenen Feststellungs-klage in Beleidigungssachen, die durch Feststellung über die Unwahrheit einer ehren-rührigen Behauptung dem Verletzten auch dann zur Wiederherstellung seines gutenRufes verhelfen sollte, wenn aus irgendeinem Grund (Schuldunfähigkeit des Ange-klagten, Amnestie) ein Strafverfahren nicht durchgeführt werden konnte. Fernerwurde die Einführung der alternativen Schuldfeststellung erwogen, um Freisprüche zu

vermeiden, die dem Volke bisher stets schwer verständlich erschienen seien.17 Volks-verbunden sollte die Justiz nicht zuletzt durch die Beseitigung unsozialer Bevorzu-gung für Begüterte gemacht werden, wie sie z. B. bei der Verschonung mit Untersu-chungshaft gegen Sicherheitsleistung oder der Ungleichheit bei Hinzuziehung von

Wahlverteidigern und Sachverständigen gegeben war.18Nachdem die Kommission im Dezember 1933 „Leitsätze" für die kommende Straf-

prozeßordnung aufgestellt hatte19, legte sie am 15. Dezember 1934 den in erster Le-sung beratenen Entwurf einer Strafverfahrensordnung vor, in dem zwar eine „autori-täre Justiz" als Ziel nicht mehr ausdrücklich genannt war20, aber die zur Verwirkli-chung dieses Zieles erhobenen Forderungen dennoch weitgehend enthalten waren.

Nur die Stellungnahme zur Frage der Abschaffung oder Beibehaltung der Laienrichterbehielt sich die Kommission bis zur Beratung des vorläufig zurückgestellten neuen

Gerichtsverfassungsgesetzes vor.21 Auch die damit zusammenhängende Frage der Ein-führung des Führerprinzips bei den Kollegialgerichten blieb offen. Als Reichsinnen-minister Frick dieses Problem anläßlich der Regelung der Arbeitsweise des Rech-nungshofes im Dezember 1933 im Reichskabinett zur Sprache gebracht hatte, hatteGürtner dargelegt, daß es für seine Lösung zwei Möglichkeiten gebe: „Entweder derVorsitzende entscheidet nach Anhörung der Beisitzer selbständig. Dagegen habe er

...erhebliche Bedenken, weil damit der beisitzende Richter aus der Verantwortung ent-lassen werde; das werde sich nicht zu Gunsten der Rechtsprechung auswirken"; dieandere Möglichkeit sei die, dem Vorsitzenden ein Einspruchsrecht zu geben, damit er

nicht überstimmt werden könne. Gürtner bat aber seine Kabinettskollegen ausdrück-lich, „vorläufig in dieser Frage keine grundsätzliche Entscheidung zu treffen".22 Auchjetzt

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ein Jahr später-

vermied die Strafprozeßkommission in dieser vor allem von

Frank und dem BNSDJ forcierten Frage eine Entscheidung. Sie hatte ihren Entwurf

17 Zur Wahlfeststellung vgl. Kapitel VIU.b., S.852.18 Vgl. Referate für die Generalaussprache, a.a.O. Zum voranstehenden Überblick über die Kommissionsbera-

tungen s. im einzelnen vor allem die Sitzungsniederschriften v. 4., 5. und 11. bis 13.12.33 (a.a.O.).19 Vgl. Leitsätze für den Entw. der StPO, Ergebnisse der Beratungen vom Dezember 1933 (a.a.O.).20 Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1034. Vgl. dazu schon die Vorschläge Schafheutles für den Einleitungsab-

schnitt v. 26.10.34 (Umdruck Nr. 55 der Strafprozeßkommission, Bibl. des BGH, Sign. F 7446). Wie der Be-griff des „autoritären Staates" aus der staatsrechtlichen Diskussion verschwand, so wurde auf ihn nach demAufsatz von Gerland, Der Strafprozeß im autoritären Staat (DRiZ 1933, S.233), auch in strafrechtswissen-schaftlichen Veröffentlichungen nicht mehr Bezug genommen.

21 Vgl. Einführung zum Entw. (a.a.O.), im übrigen dazu Kapitel VIII.l.a., S. 932.22 Das Kabinett nahm daraufhin das G. über die zweite Änderung der Reichshaushaltsordnung und die zehnte

Änderung des BesoldungsG. v. 13.12.33 (RGBI. II, S. 1007) mit der Bestimmung an, daß die Senate desRechnungshofs durch Mehrheitsbeschluß entschieden (vgl. Niederschr. über die Sitzung des Reichskabi-netts am 8.12.33, nachmittags 4.15 Uhr, Akten der Reichskanzlei, Die Regierung Hitler, Teil I: 1933/34,Band 2 [s. Anm. 3 in Kapitel I], Dok.Nr. 264, S. 1011 f.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 985

noch nicht in allen Teilen mit dem Entwurf des neuen Strafgesetzbuches abstimmenkönnen, den die amtliche Strafrechtskommission in erster Lesung erst im Januar 1935fertigstellte23 und der ihr noch nicht vollständig vorgelegen hatte. So waren z. B. dieBestimmungen der Strafverfahrensordnung noch nicht durchgehend an die Bezeich-nung der strafbaren Handlungen und an die Strafdrohungen im StGB-Entwurf ange-glichen, dort vorausgesetzte Verfahrensvorschriften wie z. B. über die Verwarnung mitStrafvorbehalt u.a. noch nicht eingearbeitet.

Bei der zweiten Lesung des Entwurfs, die im Frühjahr 1935 begann, konnte dieKommission die Ergebnisse der laufenden Arbeiten des Strafrechtsausschusses derAkademie für Deutsches Recht und die veröffentlichten Beiträge zum Thema berück-sichtigen, die vor allem seit 1935 augenfällig zunahmen.24 Die neu hervorgetretenenVorschläge deckten sich jedoch weitgehend mit den Beschlüssen der Kommission.Nunmehr konnte auch eine Angleichung an den vorläufigen Entwurf des neuen StGBerfolgen, dessen zweite Lesung im Januar 1936 abgeschlossen wurde.25 Ein Teil derKommissionsvorschläge wurde sogar schon für die praktische Gesetzgebung genutztund durch die Novelle vom 18. Juni 193526 verwirklicht, die einige wesentliche Ge-sichtspunkte der Gesamtreform vorwegnahm.

Der Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung, den die Kommission zusammenmit den beiden Entwürfen einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und ei-nes Gerichtsverfassungsgesetzes dem Justizminister am 27. Februar 1936 vorlegte27,wurde mit einem „Ersten Buch" eingeleitet, das in zwölf Paragraphen die Haupt-grundsätze, sozusagen „die zwölf Gebote des neuen deutschen Strafprozesses" ent-hielt. Der erste Paragraph bezeichnete es als Aufgabe der Strafrechtspflege, „das Ver-brechen zu bekämpfen, die Rechts- und Friedensordnung des Volkes zu schützen undso dem Gemeinwohl zu dienen". Die nächsten drei Paragraphen betrafen die bereitsbehandelten Grundsätze der Gerechtigkeit, der Schnelligkeit und der Volksverbun-denheit, wobei für alle Organe der Strafjustiz

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denen bezeichnenderweise auch derVerteidiger zugerechnet wurde

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die Pflicht galt, „nach Wahrheit und Recht zu for-schen, den Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, den Unschuldigen aber vor

ungerechter Verfolgung zu bewahren" (§ 2), während Richter und Staatsanwalt „dasgesunde Volksempfinden zur Richtschnur ihres Handelns machen und ihr Amt in en-

ger Verbundenheit mit dem Volke ausüben" sollten (§ 4). Im Grundsatzparagraphenüber den Staatsanwalt wurde bestimmt, daß Straftaten nur „von Amts wegen" verfolgtwurden. Zur Strafverfolgung war ausschließlich der Staatsanwalt berufen: er „führt dasVorverfahren und ist der öffentliche Ankläger", wobei er „unparteiisch und ohne An-sehen der Person" vorzugehen hatte (§ 5). Damit waren der Anklagegrundsatz und-

da Privatklage und Klageerzwingungsverfahren künftig wegfielen-

das Anklagemo-nopol des Staatsanwalts im Strafverfahren festgelegt. Über die Anklage sollte der Rich-

23 Vgl. dazu Kapitel VII.2.a, S.766.24 Zu den Tagungen des Strafprozeßausschusses der AkDR vom Dezember 1934 bis Februar 1936 vgl.ZAkDR 1935, S.33, 135, 206, 670; 1936, S. 187, 215, 292. Das Anwachsen des Schrifttums geht aus der Zu-

sammenstellung des RJM für die Kommission über die einschlägigen Veröffentlichungen von 1933-36 her-vor (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1035, 1037).25 Vgl. dazu Kapitel VII.2.a, S. 770, 772.

26 Vgl. G. zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GerichtsverfassungsG v. 28.6.1935(RGBI. I, S. 844). Dazu auch Kapitel VIII.2.e., S. 1060 ff.

27 Vgl. zum folgenden: Text des Entw. bei Schubert, Quellen III, Bd. 1 (1991), S.3ff.

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986 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeter „nach Recht und Gerechtigkeit als unabhängiges Organ der Strafrechtspflege" ent-

scheiden; er hatte dabei von Amts wegen die „Wahrheit zu erforschen und, unabhän-gig von Anträgen, alles Erforderliche zu tun, um das Recht zu finden" (§ 6). Dem Be-schuldigten wurde das Recht auf Gehör zugesichert und „die erforderliche Verteidi-gung gewährleistet" (§ 7). Der Verteidiger „als Organ der Strafrechtspflege" hatte „denRichter bei der Findung der Wahrheit und eines gerechten Urteilsspruchs zu unter-stützen". Bezeichnenderweise sollte er die Sache seines Klienten nur „im Rahmen die-ser Aufgabe" (!) führen (§ 8). Dem Verletzten, dem durch die Abschaffung der Privat-und auch der Nebenklage kaum noch selbständige Verfahrensrechte verblieben, solltedurch das Strafverfahren Genugtuung und auch Wiedergutmachung verschafft wer-

den, „soweit das im Strafverfahren ohne Beeinträchtigung seines Hauptzieles gesche-hen" konnte (§ 9). Die restlichen drei Paragraphen des „Ersten Buches" legten die Ver-fahrensgrundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (§ 10), der Öffentlichkeit(§ 11) sowie des Ernstes und der Würde der Hauptverhandlung (§ 12) fest.

Im „Zweiten Buch" mit dem Titel „Gang des Verfahrens"28 wurde zunächst dasVorverfahren (§§ 13-39) insofern völlig neuartig geregelt, als die „Gewaltenteilung" imStrafprozeß, d.h. die gegenseitige Bindung und Überwachung von Staatsanwalt undRichter beseitigt und der Staatsanwalt zum „Herrn des Vorverfahrens" gemachtwurde, der den Gang der Ermittlungen allein bestimmte (§ 16): Eine gerichtliche Vor-untersuchung sollte nur noch in Ausnahmefällen aus besonderen Gründen29 und aus-

schließlich auf Antrag des Staatsanwalts stattfinden (§ 351), etwa um bei heiklen politi-schen Fällen vor der Öffentlichkeit den Verdacht auszuräumen, daß die Ermittlungendes weisungsgebundenen Staatsanwalts von unsachlichen Erwägungen beeinflußt seinkönnten. Der Staatsanwalt durfte dann jedoch an allen richterlichen Untersuchungs-handlungen teilnehmen und auch Anträge stellen (§ 355). Mit Ausnahme der eidli-chen Vernehmung30, die weiterhin dem Richter vorbehalten blieb, erhielt der Staats-anwalt alle Befugnisse und Zwangsmittel, die bisher nur der Richter besaß: er konnteHaftbefehl erlassen (§ 213) und Durchsuchung, Beschlagnahme sowie körperliche Un-tersuchung nunmehr selbst anordnen (§ 245). Nur gegen den Haftbefehl konnte derBeschuldigte die richterliche Entscheidung anrufen31, aber auch erst dann, wenn seitBeginn der Untersuchungshaft mindestens zwei Wochen verstrichen waren (§214);

28 Die Bestimmungen des „Dritten Buches" mit der Überschrift „Gemeinsame Verfahrensvorschriften"(§§ 94-272), die in der damals geltenden StPO als .Allgemeine Bestimmungen" am Anfang standen, werden

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soweit in unserem Zusammenhang von Interesse-

an dieser Stelle mitbehandelt.29 Im Kommissionsentw. 1. Lesung v. 15.12.34 war noch eindeutig von „politischen Gründen" die Rede.30 Die Übertragung der Beeidigungsbefugnis auf den StA wurde im Schrifttum wiederholt gefordert. Vgl. W.

Busch, Die Staatsanwaltschaft im nationalsozialistischen Staat (DR 1934, S.62, hier übrigens auch die Über-tragung des Strafbefehls an den StA), E. Schäfer, Die Auflockerung des Verfahrens im künftigen Strafprozeßund der Gedanke der materiellen Gerechtigkeit (DStR 1935, S.250), Schwarz, Bausteine zum Strafprozeßim nationalsozialistischen Staat (Der Gerichtssaal 1935, S. 361), Niederreuther, Gedanken zur Reform desStrafverfahrens (DJ 1936, S.771), Peters, Zur Neuordnung des Strafverfahrens (ZStrWiss. 1937, S.40). Ge-gen die Übertragung sprach sich der StPO-Ausschuß der AkDR aus (Denkschrift a.a.O. [Kapitel VIII.2.c,S. 1016, Anm. 20]).

31 Im Entw. 1. Lesung v. 15.12.34 war die Anrufung des Richters noch gegen alle Zwangsmaßnahmen des StAvorgesehen gewesen. Freisler hingegen wollte auch in der Haftfrage einen Appell „nur an eine Instanz in-nerhalb des staatsanwaltschaftlichen Apparates" zugelassen sehen, vgl. seine Ausführungen auf der Sitzungdes Ausschusses für Strafprozeßrecht der AkDR am 18./19.1.35 (Schubert, Akademie, Bd. VII (1998), S. 12).Dieser Ausschuß sprach sich jedoch für die Anrufung des Gerichts zumindest bei Haftbefehl und Beschlag-nahme aus (vgl. Denkschrift, a.a.O., S. 22).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 987

diese Zeitspanne wurde für die Ermittlungen als ausreichend angesehen, um den vor-

aussichtlichen Ausgang des Verfahrens zu übersehen. Innerhalb dieser Frist war ledig-lich Beschwerde beim Vorgesetzten des Staatsanwalts möglich, die generell auch ge-gen alle anderen seiner Maßnahmen zulässig war (§ 288). Der Staatsanwalt blieb zwar

an das Legalitätsprinzip gebunden, hatte also grundsätzlich Anklage zu erheben, wenn

ein genügender Verdacht auf eine Straftat vorlag (§ 25); jedoch war der Verfolgungs-zwang für kleine Sachen aufgehoben und galt auch für die mittlere Kriminalität nur

noch eingeschränkt (§ 26). Letztlich entschied aber allein der Staatsanwalt über die Er-hebung der Anklage: wollte er von einer Anklage absehen, so brauchte er dazu nichtmehr die Zustimmung des Richters (§ 23); auch der Verletzte konnte dann die Klagenicht mehr gerichtlich erzwingen. Der Staatsanwalt durfte auch eine bereits erhobeneAnklage bis zum Beginn der Hauptverhandlung zurücknehmen (§ 38).

Erhob der Staatsanwalt Anklage, so ging die Herrschaft über das Verfahren auf dasGericht über: mit Einreichung der Anklageschrift begann das Hauptverfahren(§§ 40-93). „Herr des Hauptverfahrens" war von nun an „das Gericht unter Führungdes Vorsitzers" (§ 53). Der Führergrundsatz war beim Kollegialgericht insoweit ver-wirklicht worden, als der Vorsitzende alle in der Hauptverhandlung zu treffenden An-ordnungen wie die Entscheidung über Beweisanträge und Vereidigung, über Verbin-dung und Trennung von Strafsachen, über Haftbefehle, Durchsuchungen, Ordnungs-strafen usw. nunmehr allein traf, und die mitwirkenden Richter ihn dabei lediglich be-rieten. Gegen seine Maßnahmen konnte das Gericht nicht angerufen werden. Nurbeim Urteilsspruch selbst und einigen diesem Spruch gleichwertigen Entscheidungenwie z. B. der Verweisung einer Sache an ein anderes Gericht wegen Unzuständigkeit,der Verwerfung eines eingelegten Rechtsmittels wegen Unzulässigkeit oder der Zulas-sung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde die verpönte „demo-kratische" Methode der Abstimmung, die dem Führerprinzip widersprach, beibehal-ten: hier bedurfte der Vorsitzer der Zustimmung mindestens der Hälfte der beisitzen-den Richter.32

Eine entscheidende Neuerung des Entwurfs, die das Verhältnis zwischen Staatsan-walt und Richter betraf, war die ersatzlose Beseitigung des Zwischenverfahrens unddes Eröffnungsbeschlusses: Erhob der Staatsanwalt Anklage, so mußte der Vorsitzendedes Gerichts ohne Vorprüfung den Termin zur Hauptverhandlung anberaumen. Bis-her hatte das Gericht vorher geprüft, ob der Beschuldigte nach den Ermittlungsergeb-nissen auch „hinreichend verdächtig" erschien, und daraufhin entweder die Eröffnungdes Hauptverfahrens beschlossen oder abgelehnt (§§ 203, 204 StPO). Dieser Prüfungwar ein besonderes Verfahren vorausgegangen, bei dem der Angeschuldigte zugleichmit der Mitteilung der Anklage aufgefordert wurde, seine Einwendungen vorzubrin-gen und Beweiserhebungen vor der Hauptverhandlung zu beantragen, über die

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not-falls nach vorheriger Beweisaufnahme

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dann ein Gerichtskörper entschied (§ 201StPO), der in der Regel mit dem für die Hauptverhandlung zuständigen Gericht nichtidentisch war. Dieses Zwischenverfahren war nach 1933 mit den Argumenten ange-

32 In den gleichzeitig vorgelegten Entw. eines GVG hatte die Kommission den von Freisler vertretenen Vor-schlag aufgenommen, daß der Vorsitzer vom Erlaß des Urteils absehen und die Sache an ein Gericht mit an-derer Besetzung überweisen konnte, wenn die Mehrheit der Beisitzer seiner Meinung nicht entsprach. Da-mit sollte „die Stärke seiner Führerstellung" betont werden (vgl. dazu Kapitel VIII.l.a., S. 934, 937).

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988 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

griffen worden33, es ermögliche dem Angeklagten lediglich, das Strafverfahren durchunsachliche Anträge zu verzögern; der Eröffnungsbeschluß aber sei in der überwie-genden Mehrzahl der Fälle zu einer bloßen Formalität geworden, die unnötigeSchreibarbeiten verursache. Vor allem aber störe die Kontrolle des Staatsanwaltsdurch den Richter grundsätzlich die gewünschte klare Abgrenzung der jeweiligen Zu-ständigkeit und Verantwortlichkeit für das Vor- und das Hauptverfahren.34 Eine rich-terliche Überprüfung der Entschließung der Staatsgewalt

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die sich im Staatsanwaltverkörpere

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über die Notwendigkeit eines Richterspruches sei überdies mit derneuen Auffassung von der Einheit aller staatlichen Gewalt unvereinbar. Künftig sollteder Staatsanwalt allein die Verantwortung dafür tragen, ob eine Sache zur Hauptver-handlung kam; tat er das ohne ausreichende Ermittlungsergebnisse und genügendetatsächliche und rechtliche Grundlagen, so nahm er das Risiko auf sich, daß ein Frei-spruch erfolgte. Die Strafprozeßkommission hatte die strittige Frage einer eventuellenfehlenden Strafbarkeit vor allem auch deshalb in der Hauptverhandlung entschiedensehen wollen, da sie nach der Strafrechtsnovelle vom 29. Juni 193533 häufig mit derFrage analoger Gesetzesanwendung zusammenfallen konnte, über die nicht in einemformlosen Zwischenverfahren entschieden werden sollte. Die in der Praxis verhältnis-mäßig selten auftretenden Verfahrenseinstellungen wegen Unzulässigkeit der Anklageoder Unzuständigkeit des Gerichts konnten nach Meinung der Kommission durcheine formlose Kontaktaufnahme zwischen dem Gerichtsvorsitzenden und dem Staats-anwalt geregelt werden, der die Anklage dann normalerweise zurücknehmen werde.War die unterschiedliche Ansicht über eine Verfahrenseinstellung nicht auszuräumen,so mußte die Klärung eben durch eine Hauptverhandlung erfolgen. Mit dieser Rege-lung ging der Entwurf über das vor den Sondergerichten und dem Volksgerichtshof(bzw. den Oberlandesgerichten in den vom Volksgerichtshof abgegebenen Sachen) be-reits geltende Verfahren hinaus, bei dem zwar der (positive) Eröffnungsbeschluß auchschon abgeschafft war, der Vorsitzende bei Bedenken gegen eine Anordnung derHauptverhandlung aber immerhin noch eine (negative) Entscheidung des Gerichtsherbeiführen konnte.36

Im Vergleich zum bisher geltenden Recht war im Entwurf das Verfahren weitge-hend gelockert. So waren z. B. die Verhandlung gegen einen ferngebliebenen Ange-klagten (§ 58), die Ausdehnung der Anklage auf weitere Straftaten (§ 63) und die An-wendung eines anderen als des in der Anklageschrift bezeichneten Strafgesetzes (§ 75)wesentlich erleichtert worden. Das Recht, in der Hauptverhandlung schriftliche Erklä-rungen und Beweisaufnahmen zu verlesen, war erweitert worden (§§67-71), das Er-messen des Vorsitzers bei der Behandlung von Beweisanträgen war freier gestaltet

33 Vgl. u.a. E. Noack, Formalismus im Strafprozeß (DR 1934, S.358), E. Kern, Das neue Gerichtsverfassungs-und Strafprozeßrecht, Freiburg 1934, S. 21, R. Freisler, Grundzüge des kommenden Strafverfahrensrechts(DStR 1935, S.244), E. Schäfer, Die Auflockerung des Verfahrens im künftigen Strafprozeß und der Ge-danke der materiellen Gerechtigkeit (a.a.O., S. 251), G. Dahm, Der Staatsanwalt im neuen Strafverfahren(a.a.O., S. 265).

34 Diese klare Abgrenzung war jedoch zugunsten des StA schon dadurch durchbrochen worden, daß dieser dieAnklage auch nach Anberaumung der Hauptverhandlung durch den Vorsitzenden bis zu deren Beginn zu-rücknehmen durfte (vgl. voranstehenden Text).

33 Vgl. dazu Kapitel VII.3.b., S. 851 ff.36 Vgl. § 12 der VO über die Bildung von Sondergerichten v. 21.3.33 (RGB1.I, S.136) und Art. IV § 5 des G.

zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens v. 24.4. 34 (RGBI. I, S. 341).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 989

(§ 65) und die Verurteilung aufgrund einer Wahlfeststellung zugelassen (§ 89) wor-

den.37 Auch war das Gericht für bestimmte Prozeßhandlungen nicht mehr förmlichan die Zustimmung des Angeklagten gebunden. Die Voraussetzungen für die notwen-

dige Verteidigung, d. h. die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen, wur-

den eingeschränkt (§§ 131, 132), ebenso das Recht, von der Vereidigung eines Zeugenabzusehen; denn die Gerichte machten nach Ansicht des Reichsjustizministeriumsvon dieser Möglichkeit zu ausgiebigen Gebrauch, wenn die Hauptbeteiligten am Pro-zeß einvernehmlich auf die Vereidigung verzichteten (§61 Nr. 6 StPO). Grundsätzlichwar jeder Zeuge zu vereidigen (§ 171). Untersuchungshaft sollte künftig nicht nur beiFlucht- und Verdunkelungsgefahr verhängt werden, sondern automatisch bei Ver-dacht auf bestimmte schwere Verbrechen eines Täters, oder „wenn es nach seinemVerhalten in Freiheit geboten ist, um die Volksgemeinschaft vor ihm zu schützen".Bei weniger schweren Taten sollte die Untersuchungshaft in der Regel angeordnetwerden, wenn eine Freiheitsstrafe von wenigstens einem Jahr zu erwarten war (§ 119).Neu war, daß von der Untersuchungshaft außer bei Leistung einer finanziellen Sicher-heit auch dann abgesehen werden konnte, wenn schwächere Zwangsmittel wie Paß-sperre, Aufenthaltsgebot und andere Überwachungsmaßnahmen ausreichten (§ 205).Neu war auch die Zulassung einer „Feststellungshaft"

-

zur Identifizierung der Person

-

gegen einen Unbekannten, der im Verdacht stand, als Beschuldigter oder Verurteil-ter gesucht zu werden (§ 222).

Das „Vierte Buch" des Entwurfs befaßte sich mit den Rechtsmitteln, mit denen ge-richtliche Entscheidungen angefochten werden konnten. Danach war für die großeGruppe der kleinen und mittleren Kriminalität, d.h. gegen Urteile des Amtsrichters(Einzelrichters) und des Schöffengerichts (Amtsgerichts) wahlweise die Berufung oderdie Revision

-

nunmehr „Rechtsrüge" genannt-

zugelassen. Um das Verfahren„volksnah" zu gestalten, sollte die Berufung

-

d. h. die Neuprüfung eines Urteils in tat-sächlicher und rechtlicher Hinsicht - in diesen Fällen beibehalten werden, da „inStrafsachen für das Volk der Schwerpunkt in der Tatsachenfeststellung und nicht inder rechtlichen Würdigung liegt". Dagegen war aus Zweckmäßigkeitsgründen gegenUrteile des Schwurgerichts und erstinstanzliche Urteile der Strafkammer (Landgericht)lediglich „das dem Volk ziemlich fremde Rechtsmittel der Rechtsrüge" vorgesehen(§ 290). Während sie bei ihrer Einlegung begründet werden mußte, war die Begrün-dung bei der Berufung nicht zwingend, sondern nur als Sollvorschrift formuliert. Überdie Berufung sollte wie bisher das Landgericht in einer neuen Hauptverhandlung ent-scheiden, über die Rechtsrüge das Oberlandesgericht dagegen nur noch im Falle einesUrteils des Amtsrichters (Einzelrichters), in allen anderen Fällen ausschließlich dasReichsgericht (§291). Dabei war die Rechtsrüge erheblich lockerer gestaltet worden:Sie konnte nicht nur auf einen Fehler im Verfahren oder bei der Anwendung desRechts, sondern auch auf einen Fehler bei der Anwendung „eines Wertmaßes auf diefestgestellten Tatsachen" gestützt werden (§ 309), d. h. auf die fehlerhafte Anwendungvon Merkmalen, die einer wertenden Ausfüllung durch den Strafrichter bedurften.Das bedeutete, daß das Rechtsrügegericht auch die Ausübung des richterlichen Er-

Die Bestimmungen waren z.T. mit jenen des G. zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und desGerichtsverfassungsG v. 28.6.35 (RGB1.I, S.844) im Wortlaut identisch.

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990 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganemessens nachprüfen durfte, soweit das Urteil wertende Begriffe wie „gesundes Volks-empfinden", „wichtige öffentliche Interessen", „besonders schwerer Fall" u. a. verwen-

dete, die für das neue materielle Strafrecht in reichem Maße vorgesehen bzw. schoneingeführt waren. Bislang hatte das Revisionsgericht hier seine Ohnmacht bekennenund erklären müssen, diese Entscheidung sei „im wesentlichen Tatfrage" und daherder Nachprüfung entzogen.38 Darüber hinaus konnte das Rechtsrügegericht ein Urteilnunmehr auch dann aufheben, wenn sich „ernste Bedenken gegen die Richtigkeit derdem Urteil zugrunde gelegten tatsächlichen Feststellungen [!] ergeben" (§ 322); nur

durfte die Einlegung der Rechtsrüge vom Beschwerdeführer damit allein nicht be-gründet werden. Damit sollte allerdings der Unterschied zwischen Rechtsrüge undBerufung nicht beseitigt werden, vielmehr war beabsichtigt, die Fessel zu lockern, mitder das bisherige Recht das Revisionsgericht auf die Prüfung der Rechtsanwendungbeschränkte und es zwang, gegebenenfalls ein formalrechtlich einwandfreies, aber we-

gen fehlerhafter tatsächlicher Feststellungen sachlich ungerechtfertigtes Urteil bestäti-gen zu müssen. Der Entwurf wollte dadurch das Rechtsrügegericht vom Odium ab-strakt-lebensferner Denkweise befreien und ihm ermöglichen, den konkreten Fall zu

einer gerechten Entscheidung zu bringen. Zweck der Revision sollte nicht mehr aus-

schließlich die Wahrung der Rechtseinheit, sondern auch die gerechte Entscheidungdes Einzelfalles sein. Der Entwurf setzte somit den Weg fort, den auch die Rechtspre-chung des Reichsgerichts schon längst beschritten hatte, um die strenge Trennungzwischen Tat- und Rechtsfrage bei der Revision zu überbrücken. Die Grenze der vom

Entwurf vorgesehenen Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen durch dasRechtsrügegericht mußte allerdings dort liegen, wo sich der Fehler nicht den Gründendes angefochtenen Urteils entnehmen ließ, sondern nur durch eine wiederholte Be-weisaufnahme in unmittelbarer und mündlicher Verhandlung des Tatsachenstoffesfestgestellt werden konnte : die oberen Gerichte hätten diese Aufgaben des Tatrichtersschon wegen der praktischen Schwierigkeiten und der damit verbundenen Arbeits-überlastung nicht übernehmen können; vor allem das Reichsgericht wäre dadurch sei-ner Aufgabe, die Rechtseinheit zu wahren, entfremdet worden.

Da im materiellen Strafrecht künftig bei einer Mehrheit von Straftaten die Einheits-strafe vorgesehen war, beseitigte der Entwurf die Teilanfechtung eines Urteils: auchwenn nur einzelne Punkte des Urteils durch Berufung oder Rechtsrüge angefochtenwurden, war die Rechtskraft des ganzen Urteils gehemmt (§ 289 Abs. 3) und auch eineVollstreckung der nicht angefochtenen Teile unmöglich. Denn die Rechtsmittelge-richte sollten ihre Prüfung auch auf nichtgerügte Fehler erstrecken und alle Tatteilesowie die Schuld- und Straffrage in ihre Erörterungen einbeziehen können. Um aberzu vermeiden, daß sie den gesamten Anklagestoff nochmals erörtern mußten, warensie andererseits berechtigt, Feststellungen und Wertungen des ersten Urteils, gegendie keine Einwendungen erhoben worden waren, zu verwerten. Neu war, daß dasRechtsmittelgericht einen Mitangeklagten, gegen den im selben erstinstanzlichen Ur-teil entschieden worden war

-

für den aber keine Berufung bzw. Rechtsrüge eingelegtund dieses Urteil daher rechtskräftig geworden war -, in das Verfahren einbeziehenkonnte, wenn der Grund für eine Aufhebung des Urteils auch für ihn zutraf

-

gleich,38 Vgl. die bei F. Schaffstein, Revision und Berufung im künftigen Strafverfahren (DStR 1935, S.465 ff.) S.475

angegebenen Entscheidungen des RG.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 991

ob sich das zu seinen Gunsten oder Ungunsten auswirkte (§§ 305, 344). Dadurch solltedie ungerechte Auswirkung vermieden werden, daß der Anfechtende besser bzw.schlechter gestellt werden sollte als der wegen der gleichen Tat verurteilte Mitange-klagte. Das geltende Recht (§ 357 StPO) kannte diese Einbeziehung nur bei der Revi-sion und zwar nur zugunsten des Angeklagten und nur bei Aufhebung des Urteils we-

gen einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung des Strafrechts.Grundsätzlich sollten dem Angeklagten (bzw. seinem gesetzlichen Vertreter) und

dem Staatsanwalt nur ein Rechtsmittel und damit zwei Instanzen zur Verfügung ste-

hen; gegen Berufungsurteile war lediglich die Rechtsrüge zulässig, die nur demjenigenzustand, der nicht Berufung eingelegt hatte. Nur zur Fortbildung des Rechts oder zur

Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung durfte der Staatsanwalt die Rechtsrügeauch dann einlegen, wenn er selbst vorher eine Berufung veranlaßt hatte (§ 326). Ausdem gleichen Anlaß konnte er gegen Beschwerdeentscheidungen des Landgerichts-

die über Beschlüsse und Verfügungen des Amtsrichters oder Schöffengerichts er-

folgten-

ausnahmsweise weitere Beschwerde einlegen, über die das Oberlandesgerichtentschied (§ 325). Besondere Vorschriften eröffneten auch die Möglichkeit, Rechtsfra-gen von grundsätzlicher Bedeutung, die in einer Rechtsrüge- oder Beschwerdesacheauftauchten, dem Reichsgericht zur Entscheidung vorzulegen (§ 327). Das Verbot derreformado in peius war im Entwurf beseitigt (§ 278), denn seine Aufhebung durch dasGesetz vom 28. Juni 1935 hatte sich unterdessen „bewährt": durch das Risiko für denAngeklagten waren die „unerwünschten" Rechtsmittelsachen zurückgegangen.

Schließlich wurde auch die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil ab-geschlossenen Verfahrens erheblich lockerer gestaltet: die Wiederaufnahme zuungun-sten des Verurteilten

-

die nach dem geltenden Recht neben praktisch wenig bedeut-samen Voraussetzungen hauptsächlich bei einem glaubwürdigen Geständnis des Frei-gesprochenen in Frage kam (§ 262 StPO)

-

sollte nicht mehr an schwerere Vorausset-zungen geknüpft sein als diejenige zu seinen Gunsten. Sie sollte stets dann zulässigsein, wenn neue Tatsachen und Beweismittel die Bestrafung eines Freigesprochenenoder die wesentlich schwerere Bestrafung eines Verurteilten ermöglichten (§ 335).

Im „Fünften Buch" des Entwurfs waren die „Besonderen Verfahrensarten" geregelt.Zu ihnen gehörte die in Einzelheiten ihrer Ausgestaltung geänderte richterliche Vor-untersuchung (§§ 351 ff.), die

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wie bereits erwähnt-

nur noch in Ausnahmefällen aufAntrag des Staatsanwalts stattfinden sollte, ferner das Schnellverfahren vor dem Amts-richter und dem Schöffengericht mit mündlicher Anklage gegen den auf frischer TatErtappten oder vorläufig Festgenommenen, das künftig bei einfachem Sachverhalt inerweitertem Umfang angewendet werden sollte (§§ 360 ff.), sowie der Strafbefehl, zudessen Erlaß trotz gegenteiliger Überlegungen nicht der Staatsanwalt befugt wurde,sondern dessen Handhabung

-

mit unverändertem Strafrahmen-

beim Richter ver-blieb. In diesem Abschnitt war auch das Verfahren gegen Flüchtige und Abwesende(§§ 373 ff.) geregelt, das der Staatsanwalt beantragen sollte, „wenn das Rechtsempfin-den des Volkes die alsbaldige Aburteilung der Tat verlangt". Seine Anwendung warnicht auf bestimmte Tatbestände oder Höchststrafen beschränkt und erfolgte nach öf-fentlicher Ladung. Ließ sich allerdings wegen der Abwesenheit des Angeklagten dieStraftat nicht vollständig aufklären und weder seine Schuld noch seine Unschuld fest-stellen, so wurde anstelle des normalerweise in solchen Fällen üblichen Freispruchsdas Verfahren vorläufig eingestellt. Immerhin wurde dem Flüchtigen nach seiner

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992 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeRückkehr oder Ergreifung die Möglichkeit erleichtert, gegen ein Urteil mit der Wie-deraufnahme des Verfahrens vorzugehen. Neben dem Verfahren gegen Wehrpflich-tige, die sich der Wehrpflicht entzogen hatten (§§380 ff.), regelte dieser Abschnittauch das „Sicherungsverfahren" (§§ 385 ff.): da der neue StGB-Entwurf für einen Be-schuldigten, gegen den wegen Schuldunfähigkeit (Zurechnungsunfähigkeit) oder aus

anderen Gründen kein Strafverfahren durchgeführt werden konnte, eine Reihe si-chernder Maßregeln

-

neben der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt39eine solche in einer Trinkerheilanstalt, Erziehungsanstalt, Arbeitshaus, Asyl sowieEntmannung

-

vorsah, mußte dafür ein selbständiges Verfahren ermöglicht werden, indem auf Antrag des Staatsanwalts diese Maßregeln angeordnet werden konnten. Ne-ben einer weiteren Ausgestaltung des Einziehungsverfahrens (§§390 ff.) zur Einzie-hung oder Unbrauchbarmachung von Diebeswerkzeug, Falschgeld, Schriften strafba-ren Inhalts usw. führte der Entwurf das bereits erwähnte Feststellungsverfahren(§§ 397 ff.) neu ins Strafverfahren ein, um die Wahrheit oder Unwahrheit ehrenrühri-ger Behauptungen zu klären, wenn ein Strafverfahren aus irgendeinem Grunde nichtdurchgeführt werden konnte; es wurde vom Staatsanwalt beantragt, „wenn es vom

Standpunkt der Volksgemeinschaft aus geboten" war. Als Neuerung wurde auch dieschon erwähnte Entschädigung des Verletzten im Strafverfahren (§§401 ff.) geschaf-fen: innerhalb der Wertgrenze der amtsgerichtlichen Zuständigkeit konnte über dievermögensrechtlichen Ansprüche des Verletzten auf seinen Antrag hin im Strafurteilmit entschieden werden. Diese Möglichkeit sollte jedoch nur bei Strafverfahren vor

dem Amtsrichter und dem Schöffengericht bestehen, da die Bedeutung der Sachen,die vor den höheren Gerichten verhandelt wurden, eine gleichzeitige Erörterung bür-gerlichrechtlicher Ansprüche nicht vertrug. Im Gegensatz zum Verurteilten konnteaber der Verletzte gegen diese Entscheidung keine Rechtsmittel einlegen, ihm standin diesem Falle

-

übrigens auch für Restansprüche, die die amtsgerichtliche Zustän-digkeit überstiegen

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der Weg an das Zivilgericht offen.Das „Sechste Buch" des Entwurfs enthielt die Kostenvorschriften.Wenngleich manche der einzelnen Verfahrensänderungen, die in diesem Entwurf

vorgeschlagen wurden, schon bei früheren Debatten um eine Strafprozeßreform eineRolle gespielt hatten und insofern durchaus in der Kontinuität der Reformentwick-lung lagen, mußte ihre

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auf eine einseitige Tendenz ausgerichtete-

Summierung ei-nen Abbau der rechtsstaatlichen Funktion des Strafverfahrens bewirken, indem sie dieStellung des Staatsanwalts gegenüber dem Beschuldigten

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aber auch gegenüber demGericht

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stärkte, das Verfahren auflockerte, verschiedene seiner schützenden Garan-tien beseitigte und die Möglichkeit der Verteidigung einschränkte.

Zugleich mit diesem Entwurf legte die Kommission den in zweiter Lesung berate-nen Entwurf einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung40 vor, die die neue

Strafverfahrensordnung ergänzen sollte. Da mit dem Wegfall der Privatklage die bis-her nur auf Antrag von Privatpersonen geahndeten Delikte, die Verletzungen persön-

39 Für die Unterbringung des zurechnungsunfähigen Beschuldigten in einer Heil- und Pflegeanstalt war dasSicherungsverfahren schon durch das Ausf.G v. 24.11.33 (RGBI. I, S. 1000) zum GewohnheitsverbrecherGin die StPO (§§ 429 a-e) eingeführt worden. Für die sichernden Maßregeln des StGB-Entw. (§§ 64 ff.) vgl.Kapitel VII.2.b,S. 777 f.

40 Schubert, Quellen III, Bd. 1 (1991), S. 77ff.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 993

licher Natur darstellten, künftig durch den Staatsanwalt verfolgt wurden, sollten diekleineren Delikte wie leichte Körperverletzung, Beleidigung, Hausfriedensbruch,Sachbeschädigung u.a., für die vom Standpunkt der Volksgemeinschaft aus keinSchutz- und Sühnebedürfnis durch Kriminalstrafe bestand, „entkriminalisiert", d. h. ineinem friedensrichterlichen bzw. Schlichtungsverfahren erledigt werden, das nur aufAntrag des Verletzten in Gang kam. Scheiterte eine Aussöhnung der Parteien in derSühneverhandlung vor dem vorgeschalteten ehrenamtlichen Schiedsmann und kamauch kein Vergleich in der Verhandlung vor dem Friedensrichter (Amtsrichter) zu-

stande, so konnte dieser einen Friedensspruch fällen, der auf Verwarnung, Auferle-gung besonderer Pflichten oder einer „Friedensbuße" in Geld lautete. Der Friedens-richter konnte dabei auch die mit der Tat zusammenhängenden vermögensrechtlichenStreitigkeiten entscheiden, soweit sie die Wertgrenze nicht überschritten, innerhalbderer nach der Zivilprozeßordnung auch die Urteile des Amtsrichters nicht angefoch-ten werden konnten; diese Entscheidung hatte die Wirkung eines rechtskräftigen Zi-vilurteils und war vollstreckbar. Da es nicht die Aufgabe des Friedensrichters war, zu

strafen, sondern den gestörten Rechtsfrieden wieder herzustellen, kamen die von ihmangeordneten Maßnahmen und Auflagen in kein Strafregister und in kein polizeili-ches Führungszeugnis. Allerdings war durch besondere Vorschriften dafür gesorgt,daß Fälle krimineller Art zur Kenntnis des Staatsanwalts gelangten. Hielt dieser diestrafrechtliche Ahndung der Tat für geboten und erhob Anklage, so konnte das Ge-richt einen vom Friedensrichter verkündeten Spruch ohne weiteres aufheben oder ab-ändern.

Die beiden Entwürfe der Strafverfahrensordnung und der Friedensrichter- undSchiedsmannsordnung wurden vom Reichsjustizministerium Anfang April 1936 alsgedruckte „streng vertrauliche" Manuskripte

-

aus denen bei der publizistischen Erör-terung von Reformfragen nicht zitiert werden durfte

-

zunächst nur den Mitgliedernder Strafprozeßkommission und der Strafrechtskommission zur Verfügung gestellt.41Als die Akademie für Deutsches Recht am Monatsende den Entwurf der Strafverfah-rensordnung für die Beratungen ihres eigenen Ausschusses für Strafprozeßrecht erbat,entschloß sich das Ministerium, den Entwurf nunmehr schon vor der intensivenDurcharbeitung im eigenen Hause anderen Stellen mitzuteilen42, um deren Meinun-gen möglichst frühzeitig einzuholen und damit die Gesetzgebungsprozedur zu be-schleunigen. Am 9. Mai wurde daher der Entwurf außer an die Akademie für Deut-sches Recht an die Reichskanzlei, an sämtliche Reichsminister, den Stellvertreter desFührers, an das Reichsrechtsamt und das Amt für Rechtspolitik in der Reichsleitungder NSDAP, an das Oberste Parteigericht, den BNSDJ, das Hauptamt für Volkswohl-fahrt, ferner an das Geheime Staatspolizeiamt, das Reichsgericht, den Volksgerichtshofund die Reichsanwaltschaft bei diesen Gerichten mit der Bitte gesandt, etwaige Vor-schläge und Änderungswünsche bis zum 1. Juli 1936 mitzuteilen. In seinem Begleit-schreiben führte der Justizminister aus, daß er sich selbst auch vorbehalte, den Ent-

41 Vgl. die Sehr. v. 3.4.36. Gürtner sprach den Mitgliedern der „kleinen" Strafprozeßkommission, die damitihre Arbeit beendet hatte, mit Sehr. v. 22.4.36 Dank und Anerkennung aus (Akten des RJM, BA, Sign. R22/1035).

42 Vgl. Sehr, der AkDR an das RJM v. 25.4.36 (a.a.O.). Die darin gleichzeitig erbetene Übersendung des neuenStGB-Entw. zweiter Lesung wurde der AkDR jedoch verweigert, da er zunächst „nur zu innerdienstlichemGebrauch bestimmt" sei.

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994 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganewurf zu ändern, wenn er in seinem Ministerium durchgeprüft worden sei.43 Zu diesemZweck hatten die bisher noch nicht beteiligten Abteilungen I, IV, V und VI des Mini-steriums einige Tage vorher den Entwurf mit der Maßgabe erhalten, Änderungsvor-schläge gleichfalls bis zum 1. Juli vorzubringen.44 In der Abteilung III (Strafrechts-pflege) begann die Durcharbeitung am 26. Mai mit einem einführenden Vortrag vorihren sämtlichen Mitarbeitern durch die Ministerialräte Dörffler und Lehmann vonder Strafgesetzgebungsabteilung (Abteilung II)43, die beide Mitglieder der Kommis-sion gewesen waren.

b. Die Opposition Franks und des NS.-Rechtswahrerbundes: Carl Schmitts „Stellung-nahme" vom September 1936 und die Denkschrift des NSRB vomJanuar 1937

Unmittelbar nach Eingang des vom Reichsjustizministerium zugesandten Entwurfs ei-ner Strafverfahrensordnung, den die „kleine" Strafprozeßkommission ausgearbeitethatte, beauftragte „Reichsrechtsführer" Hans Frank als Leiter des Reichsrechtsamtesder NSDAP die Wissenschaftliche Abteilung des „NS.-Rechtswahrerbundes" (NSRB)-

wie sich der Bund Nationalsozialistischer Juristen (BNSDJ) ab Juni 1936 nannte -,

zu einigen grundsätzlichen Fragen, die sich aus dem Entwurf ergaben, die Stellung-nahmen der Gaubeauftragten des NSRB und anderer Sachkenner einzuholen. Außer-dem ordnete Frank am 19. Juni 1936 die Bildung eines eigenen Ausschusses für Straf-verfahrensrecht bei der Reichsführung des NSRB an, von dem noch die Rede seinwird.1 Bei der Rivalität zwischen Frank und dem Justizministerium, die sich auch beider Erneuerung des materiellen Strafrechts äußerte2, war von vornherein scharfe Kri-tik zu erwarten. In diesen Sommermonaten 1936 hatte Frank besonderen Anlaß, sichgegenüber dem Justizministerium hervorzutun, da im Stab des Stellvertreters des Füh-rers erwogen wurde, Gürtner nach dem Reichsparteitag abzulösen und durch Frank zuersetzen.3

Die Stellungnahme der wissenschaftlichen Abteilung des NSRB arbeitete als derenLeiter Carl Schmitt aus, der sich Hoffnungen machte, im Falle einer Umbesetzung desReichsjustizministeriums unter Frank anstelle von Schlegelberger Staatssekretär zuwerden.4 Schmitt stellte seine Äußerung unter Verwendung des aus den NSRB-Gaueneingegangenen Materials bis zum 15. September fertig und trug sie der AbteilungEnde September in einem Referat vor.3

43 Vgl. Sehr, des RJM an die genannten Stellen v. 9.5.36 (a.a.O., Sign. R 22/1035); ihm lagen auch der Entw.der Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung sowie der Teilentw. eines neuen GVG (nur für die Straf-rechtspflege) bei.

44 Vgl. Sehr. Min.Dir. Schäfer (Abt. II) an die genannten Abteilungen v. 5.5.36 (a.a.O.).43 Vgl. Hausmitteilung MinDir. Crohnes (Abt. III) v. 15.5.36 (a.a.O.).1 Vgl. im folgenden S. 1002.2 Vgl. S.755ff, 767«., 793ff.,810ff.3 Vgl. Meldung des Leiters der Zentralabt. H/2 (Deutsche Lebensgebiete) im Amt II (SD-Inland), SS-Sturm-

bannf. Höhn, zur Vorlage an den Chef des Sicherheitshauptamtes Heydrich (dort eingegangen am 2.9.36)über entspr. Äußerungen Stuckarts v. 26.8.36, Lammers' und Franks (Peronalakte Karl [Carl] Schmitt beimSD des RFSS/SD-Hauptamt. Arch, des IfZ, Sign. Fa 503/1).

4 A.a.O. In seiner Meldung hielt Höhn diese Entwicklung „bei der Mentalität Franks" für „leicht möglich".3 Vgl. zum folgenden „Stellungnahme der Wissenschaftlichen Abteilung des National-Sozialistischen Rechts-wahrerbundes zu dem von der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums aufgestelltenEntwurf einer Strafverfahrensordnung" (Arch, des IfZ, Sign. F 134/2). Von ihr wurden im März 1937, gleich-

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 995

Im ersten Abschnitt dieser Stellungnahme kritisierte Schmitt Aufbau und Gliede-rung des Entwurfs.6 Vor allem gehöre „ein weltanschauliches Bekenntnis"

-

das die an

den Anfang gestellten zwölf Grundsätze abgeben sollten-

„seinem Wesen nach nichtin ein einzelnes ,Buch' vor anderen Büchern, sondern in einen dem Gesamtwerk seinGepräge gebenden Vorspruch". Aber in Wahrheit könnten diese Grundsätze schondeshalb kein weltanschauliches Bekenntnis darstellen, weil sie keine klare Entschei-dung über den Zweck des künftigen Strafverfahrens brächten: Die Verbrechensbe-kämpfung als oberstes Ziel der Strafrechtspflege aufzustellen

-

wie es § 1 des Entwurfstue

-

treffe die spezifische Aufgabe der Justiz gerade nicht, da auch Maßnahmen derVerwaltung und der Polizei diesem Zweck dienten. Bei einer solchen zweckhaftenAuffassung des obersten Zieles der Justiz werde das künftige Strafverfahren „in ersterLinie eine wenn auch teilweise gerichtsförmig durchgeführte Polizeiaktion" sein. Demwiderspreche aber wiederum der § 2, der die Gerechtigkeit als „unerschütterlicheGrundlage" der Strafjustiz bezeichne. Der Entwurf fälle daher mit seinen „Grundsät-zen" keine klare Entscheidung zwischen einem „Sicherungsstrafrecht" und einem„echten Sühnestrafrecht". Indem § 3 den rein technischen Gesichtspunkt der größtenBeschleunigung des Verfahrens, der die Erwägungen der Gerechtigkeit relativiere, denbeiden Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Volksverbundenheit gleichberechtigtan die Seite stelle, werde auch hier ein unklarer Kompromiß getroffen. Der § 4 deute„auf die im Volk verwurzelte Auffassung des Strafrechts, also wohl auf ein Sühnestraf-recht" hin. Auch die folgenden acht Grundsätze lägen „in der Richtung eines von demGedanken gerechter Sühne beherrschten Verfahrens, wobei sich allerdings der § 12über Ernst und Würde der Hauptverhandlung wegen seiner Selbstverständlichkeitnicht zur Aufnahme in ein weltanschauliches Bekenntnis eigne.

„An keiner Stelle nehmen die .Grundsätze' des Entwurfs auf eine weltanschauliche Entschei-dung unserer Zeit Bezug. Sie ziehen auch keine Folgerung aus einer vorausgesetzten weltan-schaulichen Entscheidung, etwa in der oben erörterten Frage des Sicherungs- oder des Sühne-strafrechts

...

Statt dessen bewegen sie sich einerseits in Verhaltungsmaßregeln einer allgemein-menschlichen Sittlichkeit und andererseits in Gedankengängen reiner Zweckhaftigkeit. Siekönnten sämtlich ebensogut der Prozeßordnung irgendeines ,staatsbetonten' autoritären Ge-meinwesens zugrunde liegen. Das weltanschauliche Bekenntnis ist zwar als notwendig erkanntund gefordert, aber in diesen .Grundsätzen' nicht verwirklicht."

Nicht die Kritik Schmitts, sondern andere Überlegungen sollten später zur Strei-chung der zwölf Grundsätze durch das Justizministerium führen.7

Im zweiten Abschnitt seiner Stellungnahme griff Schmitt den Leitgedanken der.Auflockerung" des Verfahrens an, von dem verschiedene der vorgeschlagenen Rege-lungen des Entwurfs beherrscht wurden: er stelle „keinen neuen Gestaltungsgrund-satz" dar, da jede Auflockerung „die Weitergeltung der bestehenden Regelung und ih-

falls ohne Nennung Schmitts als Autor, nur die Vorbemerkung, der dritte und der vierte Abschnitt sowie die„Schlußfolgerungen" veröffentlicht als Anhang zu: Neuordnung des Strafverfahrensrechts. Denkschrift desNS-Rechtswahrerbundes zum Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schieds-mannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsju-stizministeriums, Berlin 1937. In diesen veröffentlichten Teilen wurden jedoch alle Passagen weggelassen,die auf den „streng vertraulichen" Entw. des RJM konkret Bezug nahmen.

6 Auf die detaillierte und umfangreiche Kritik Schmitts an Aufbau, Reihenfolge der behandelten Vorschriften,Sprachgebrauch, Begriffen usw. braucht in diesem Zusammenhang nicht eingegangen zu werden.

7 Vgl. Kapitel VIII.2.d., S. 1032 f.

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996 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganerer wesentlichen Grundlagen in sich" schließe. Der Entwurf übernehme „im wesentli-chen unverändert die Grundlagen des bisherigen Strafverfahrens" und führe lediglichüberkommene Institutionen weiter. Das im Entwurf zum Ausdruck kommende Stre-ben nach kontinuierlicher Entwicklung sei zwar verständlich, dürfe aber nicht dazuführen, „die Macht des nationalsozialistischen Reiches für spät-liberale Erneuerungs-wünsche [!] einzusetzen". Da jede Verfahrensordnung nur ein begrenztes Maß an Auf-lockerungen vertrage, gefährde ihre Summe die innere Einheit des Verfahrens. DieseMethode sei ungeeignet, „eine in sich folgerichtige Verfahrenseinheit zu gestalten",die „sowohl mit der politischen Gesamtverfassung, wie mit der weltanschaulich be-dingten Auffassung der Strafe in Einklang stehe".

Im dritten Abschnitt vertrat Schmitt die Anwendung des Führerprinzips als des tra-

genden Grundsatzes der „Gesamtverfassung unseres völkischen Lebens" auch in derRechtspflege, und zwar in der Form des „richterlichen Führertums". Er kritisierte denKompromiß, durch den der Entwurf versuche, Führergrundsatz und Kollegialsystemder Gerichte miteinander zu verbinden. Die Wissenschaftliche Abteilung der NSRBvertrete demgegenüber die Auffassung, „daß ein Gestaltungsgrundsatz wie der desFührertums eine Verbindung mit Abstimmungsmethoden überhaupt nicht verträgt" :

er könne entweder ganz oder gar nicht angewendet werden. Schmitt mußte zugeben,daß mehr als die Hälfte der befragten Gaue des NSRB Bedenken geäußert hatten, beider Aburteilung schwerer Straftaten das Kollegialsystem aufzugeben. Aber die Auffas-sung, daß der Führergrundsatz zwar für die Prozeßleitung, dagegen nicht für die Ur-teilsfindung als der für die Justiz wesentlichen Tätigkeit gelten solle, lehnte er mit demArgument ab, daß gerade die reine Erkenntnistätigkeit „viel eher Sache einer verant-wortlichen Persönlichkeit, als eines nach Mehrheit abstimmenden Kollegiums" sei.Dem Argument, daß die Stellung des nicht mehr abstimmenden und nur noch bera-tenden Beisitzers vom Richter zum Rechtsberater herabgemindert werde, hielt er ent-

gegen, daß die Beratung ebenso wertvoll und verantwortungsvoll sei wie eine Abstim-mung, die nicht begründet zu werden brauche. Schmitt schob auch die Argumenta-tion zur Seite, daß bisher alle wichtigen nationalsozialistischen Gesetze auf diesem Ge-biet

-

wie z. B. die Gesetze über das Reichserbhofgericht und den Volksgerichtshof-den Kollegialgrundsatz beibehalten hätten, folglich also die Zeit für die Einführung

des Führerprinzips bei der gegenwärtigen Richterschaft noch nicht reif sei : wenn dasstimme, dann sei die Zeit auch zur Neuordnung des Strafverfahrens noch nicht reif.Nichts sei gefährlicher, als eine unreife, einen Kompromiß darstellende neue Strafver-fahrensordnung zu erlassen, da sie unweigerlich „als abschließende Regelung im natio-nalsozialistischen Sinne aufgefaßt werden muß und wird". Deshalb sei heute eine Ent-scheidung unumgänglich, und zwar handele es sich um eine politische Entscheidung,da das Strafverfahren ein besonders wichtiger Verfassungsbestandteil sei.

„Will die Neuordnung nationalsozialistische Grundsätze nicht verwirklichen, so muß man sichfragen, welche anderen Grundsätze sie zu verwirklichen gedenkt. Eine Rückkehr zum Abstim-mungs- und Mehrheitsprinzip kommt nicht in Betracht." Denn: „Wenn in Fragen, in denen essich um Leben, Ehre und Freiheit des Volksgenossen handelt, der Abstimmungs- und Mehr-heitsgrundsatz im Vergleich zum Führergrundsatz als die bessere Sicherung des wahren Rechtsanerkannt wird, so ist der Führergedanke auch im politischen Gesamtleben in seiner klaren undeindeutigen Geltung betroffen. Das ganze öffentliche Leben wäre von einem Zwiespalt be-herrscht, die [sie] der einfachen Folgerichtigkeit nationalsozialistischer Grundsätze in auffälligerWeise widersprechen würde."

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 997

Auch als durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit 1934 der Führer desBetriebes geschaffen und durch die Deutsche Gemeindeordnung 1935 der Bürgermei-ster zum alleinverantwortlichen Leiter der Gemeinde gemacht worden sei, sei mit die-ser Anwendung des Führerprinzips ein Wagnis verbunden gewesen. Das Bewußtseineines Wagnisses dürfe daher „gerade nach nationalsozialistischen Grundsätzen keinausschlaggebender Hinderungsgrund sein". Damit implizierte der Opportunist CarlSchmitt, daß eine wirkliche Erneuerung des Strafverfahrens nur durch ein aus ent-

scheidungsfreudigen „Nationalsozialisten" bestehendes Reichsjustizministerium zu-stande gebracht werden könne. Auch die Folgerungen, die Schmitt aus der Anwen-dung des Führergrundsatzes im Strafverfahren zog, mußten in diese Richtung weisenund wirkten geradezu als Empfehlung an die politische Führung: Da der Führer„oberster Gerichtsherr der Nation" sei, sollten die von ihm beauftragten Richter nichtmehr im Namen des Volkes, sondern „Im Namen des Führers" Recht sprechen, undihre Urteile, soweit sie „auf die schwersten Strafen, Todesstrafe und Ächtung, erken-nen, der Bestätigung durch den Führer bedürfen". Denn die bisherige indirekte Me-thode der Nichtausübung des Gnadenrechts stelle nur „eine liberalistische Verle-gung" der Rechtswirklichkeit dar. In diesem Zusammenhang kritisierte Schmitt dieBestimmung über die Unabhängigkeit der Gerichte im Entwurf eines neuen Gerichts-verfassungsgesetzes, die den § 1 des geltenden GVG: „Die richterliche Gewalt wirddurch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt" durch die For-mulierung aufgelockert hatte, daß die Richter unabhängig, „nur an Recht und Gesetzgebunden und ihrem Gewissen unterworfen" seien.8 Durch diese Nebeneinanderstel-lung der Begriffe werde der im Führerstaat unerträgliche „Gedanke einer möglichenKollision von Recht und Gesetz und die Möglichkeit eines rechtswidrigen Gesetzesnahegelegt"; ferner lasse sie die Auffassung zu, daß das Gewissen des Richters als ei-gene Größe notfalls gegen das „im Führer sichtbar und öffentlich gewordene leben-dige Gewissen der Nation" ausgespielt werden könne: Die Unabhängigkeit des Rich-ters bedeute aber „nicht Unabhängigkeit von der politischen Führung, sondern Unab-hängigkeit von Verwaltung und Polizei".

Den in seiner Wirkung auf die Justiz wohl einschneidendsten Vorschlag machteSchmitt bei der Behandlung der Rechtsmittel, indem er die Abschaffung von Beru-fung und Revision und ihre Ersetzung durch die Nachprüfung der richterlichen Ent-scheidungen durch eine politische Instanz empfahl: In ihrer gegenwärtigen Form seidie Berufung ohnehin lediglich eine Wiederholung der ersten Verhandlung, ohne einegerechtere Entscheidung zu garantieren, da die „richtigere" zweite Rechtsauffassunglediglich dadurch gewährleistet sei, „daß das Kollegium der entscheidenden Richtergrößer wird oder ein Kollegium statt eines Einzelrichters entscheidet", also auf einemWege gewonnen werde, der im Gegensatz zum Gedanken des richterlichen Führer-tums stehe. Da die Beteiligten des ersten Verfahrens von vornherein damit rechneten,daß die Sache bei genügender Wichtigkeit in die Berufung gehe, werde das erste Ver-fahren „zu einem weniger gründlichen Vorverfahren, das Rechtsmittelverfahren zum

eigentlichen Hauptverfahren", d.h. „in einen normalen Verfahrensbestandteil ver-wandelt". Da bei der Revision die künstliche Trennung von Rechtsprüfung und Tat-

8 Vgl. Kapitel VIII.l.a.,S.935.

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998 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Sachenfeststellung völlig beseitigt werden solle, werde sie der Berufung angeglichen.Selbst wenn hier eine Begründung zwingend vorgeschrieben, oder die Revision unterAusschluß der „materiellen Rüge" nur auf Verfahrensmängel beschränkt werde

-

um

zu verhindern, daß das Revisionsverfahren zu einer bloßen Wiederholung des erstenVerfahrens wird -, bliebe es noch immer bei der bisherigen Vorstellung des Rechts-mittels mit seinen Unzuträglichkeiten. Schmitt empfahl daher, „für den Fall einer of-fensichtlichen Rechtsverletzung die Anrufung einer Stelle der politischen Führung [!]zuzulassen. Das würde dem Wort .Berufung' seinen ursprünglichen

...

Sinn wiederge-ben".

Da das Ziel des Strafverfahrens künftig in erster Linie eine gerechte Entscheidungund erst in zweiter Linie die Wahrung der Rechtseinheit sein solle, könne auch dieVerklammerung der Revisionsfrage mit letzterem Ziel durch die Anwendung desFührergedankens überwunden werden: eine einheitliche und bindende Rechtsausle-gung könne auf bessere Weise als durch ein Revisionsgericht dadurch erreicht werden,„daß ein Beauftragter des Führers zur Wahrung der Rechtseinheit in der Praxis auftau-chende Widersprüche der Gesetzesauslegung beseitigt".

Im vierten Abschnitt beschäftigte sich Schmitt mit der Stellung des Anklägers, desVerletzten und des Beschuldigten im künftigen Strafverfahren. Diese Stellung geratesowohl im geltenden wie in dem vom Entwurf vorgesehenen Verfahren in ein „unkla-res Zwielicht", da es von keinem einheitlichen Gestaltungsgrundsatz beherrscht sei,sondern eine klare Entscheidung zwischen gegensätzlichen Verfahrenssystemen ver-

meide: Indem der Staatsanwalt zwar der Form nach Anklage erhebe, werde der rich-terliche Inquisitionsprozeß abgelehnt. Da der Staatsanwalt nur durch die Geltendma-chung eines Verdachts die Sache beim Gericht anhängig mache, aber keineswegs demBeschuldigten als anklagende Partei vor Gericht entgegentrete, um seine Überzeugungvon der Schuld des Angeklagten als richtig zu beweisen

-

also eine „Anklageformohne Anklageprinzip" herrsche -, sei das Verfahren auch kein Parteiprozeß. ImGrunde sei es „ein Inquisitionsverfahren, in dem die inquirierende Tätigkeit zwischeneinem weisungsgebundenen Staatsanwalt und einem unabhängigen Richter verteiltwird". Nur „ein das ganze Strafverfahren beherrschendes richterliches Führertumkönnte auf neuem Boden ein Strafverfahren schaffen", das keines der beiden Verfah-renssysteme noch einen Kompromiß verkörpere, „sondern dem Ankläger, dem Ver-letzten und den Beschuldigten eine der heutigen völkischen Lebensordnung entspre-chende Stellung im Strafverfahren" gebe.

Die unterscheidende Kennzeichnung, daß der Staatsanwalt im Gegensatz zum un-

abhängigen Richter weisungsgebunden sei, erfasse nicht die sach-inhaltliche Beson-derheit seiner Tätigkeit, die vielmehr in drei Aufgaben liege: in der staatlichen Ermitt-lungstätigkeit, in der Vertretung der öffentlichen Anklage und der „verantwortlichenVertretung der Staatsführung". Da die Ermittlungstätigkeit

-

im Gegensatz zur An-klage

-

ihrer Natur nach polizeiliche Tätigkeit darstelle, erhebe sich die Frage, ob sienicht ganz einer anderen Stelle übergeben werden könne. Obwohl Schmitt dieseFrage selbst nicht beantwortete, kam er damit den Bestrebungen der SS- und Polizei-führung entgegen, die seit Jahren zur Auseinandersetzung mit dem Justizministeriumüber die Abgabe von ermittelten Strafsachen an die Justiz geführt hatten.9 Die dritte

9 Vgl. dazu Kapitel VI.3.a.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 999

Aufgabe, die Vertretung der Staatsführung im Strafverfahren „und die damit verbun-dene größere Nähe zur politischen Führung in einem Führerreich", werde „eine ganzaußerordentliche verfahrensrechtliche Machtsteigerung des Staatsanwalts" bewirken,die weit über die vermehrten Befugnisse hinausgehe, die ihm die Gesetzgebung seit1933 und der Entwurf gäben. „Nur eine Ausgestaltung des neuen Strafverfahrens nachden Grundsätzen wirklicher richterlicher Führung" könne verhindern, daß der Staats-anwalt dem Richter im Strafverfahren überlegen werde. Es frage sich, ob

-

neben derErmittlungstätigkeit

-

nicht auch die Vertretung der Staatsführung eher zum Ressortdes Innenministeriums gehöre. In diesem Zusammenhang machte Schmitt einen Vor-schlag, dessen Verwirklichung die Unabhängigkeit der Gerichte in hohem Maße er-

schüttert hätte: die Gesichtspunkte der Staatsführung sollten im Strafverfahren „durcheinen besonderen Beauftragten (Kommissar) wahrgenommen werden können, der so-

wohl von einer staatlichen Zentralstelle wie von der Partei [!] entsandt werdenkönnte". Dabei sei zu beachten, daß nicht nur die Anklage, „sondern auch die Vertei-digung [!] durch Gesichtspunkte der Staatsführung bestimmt" sein konnte. Eine sol-che Regelung, die beim Justizministerium die Erinnerung an das unselige Regime derSA-Sonderkommissare in den Jahren 1933/3410 wachrufen mußte, hätte eine massive,nunmehr verfahrensmäßig legalisierte Einwirkung der politischen Führung auf jeneProzesse ermöglicht, bei denen sie entweder an der Bestrafung von Gegnern oder am

Freispruch ihrer Anhänger interessiert war.

Was die Stellung des Verletzten im Strafverfahren betraf, so wurde dessen Rolle als„natürlicher Ankläger" im Entwurf des Justizministeriums laut Schmitt völlig unter-drückt. Bei jeder Straftat erscheine vielmehr der Staat selbst als Verletzter, dessen Ge-nugtuungsanspruch der Staatsanwalt geltend mache. Diese Auffasung vom rein staatli-chen Strafanspruch und dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft bewirke, „daßder Verletzte schließlich überhaupt nicht mehr als Beteiligter des staatlichen Strafver-fahrens erscheint", sondern nur noch als bloßer Gläubiger eines Entschädigungsan-spruchs. Werde aber „der Begriff des Verletzten von den überkommenen individuali-stischen Vorstellungen gelöst", so sei „die in der Straftat enthaltene Verletzung eineAngelegenheit der neuen Lebensordnungen, die sich in einem nationalsozialistischenGemeinwesen bilden: Volksgemeinschaft, Partei, Stand, Gemeinde, Sippe und Fami-lie". Statt aus der Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes müsse die Anklagedaher „aus dem Bruch einer wirklichen Lebensordnung" abgeleitet werden. Deshalbmüsse das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft aufgelockert werden, vor allemdann, wenn der Verfolgungszwang

-

wie im Entwurf vorgesehen-

nur noch so weitaufrechterhalten werde, daß der Staatsanwalt in eigenem Ermessen entscheide, ob dieVerfolgung vom Standpunkt der Volksgemeinschaft aus geboten sei: hier müsse „derVerletzte, sei es der Volksgenosse, sei es die verletzte weitere oder engere Gemein-schaft (Partei, Stand, Gemeinde, Sippe, Familie), wieder in das Strafverfahren einge-führt werden, um sein verletztes Recht wahren zu können". Schien der Entwurf dem-gegenüber nur an ein verletztes Individuum zu denken, so sah Schmitt einen Ansatzzu einer neuen Auffassung des „Verletzten" in den Bestimmungen des Heimtückege-setzes von 1934, wonach der Stellvertreter des Führers zur Strafverfolgung einer Tat,

Vgl. dazu Kapitel IV.4.C

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1000 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedie sich gegen höhere Parteiführer richtete, seine Zustimmung geben mußte11 : sobaldalso die NSDAP als Verletzte auftrete, passe sie „nicht mehr in die überkommene Re-gelung der verfahrensrechtlichen Stellung des Verletzten" hinein. „Die frühere Kon-struktion, nach der die Straftat ausschließlich den Staat verletzt", sei hier an einer zen-

tralen Stelle bereits aufgehoben. Schon heute ließe sich das „verfahrensrechtlich dahinausgestalten, daß in solchen Fällen

...

durch einen der Anklage oder auch der Verteidi-gung beigegebenen Verfahrensbeauftragten der Partei deren Recht als Verletzterwahrgenommen wird". Schmitt mußte allerdings zugeben, daß andere neue Gemein-schaftsbildungen als die NSDAP „in ihrer verfassungsrechtlichen Stellung noch nichtso gesichert" seien, daß sie in diese verfahrensrechtliche Institutionalisierung einbezo-gen werden könnten.

Wie Schmitt hinsichtlich der Stellung des Beschuldigten ausführte, dürfe eine ge-setzliche Regelung des Strafverfahrens „weder ausdrücklich noch stillschweigend, all-gemeine Schuld- oder Nicht-Schuldvermutungen aufstellen"; sie könne „ebensowenigdavon ausgehen, daß der Beschuldigte im allgemeinen wahrscheinlich ein Schädlingist, wie davon, daß er wahrscheinlich ein Ehrenmann ist". Damit lehnte Schmitt denVerfahrensgrundsatz der Unschuldsvermutung ab. Gleich, ob sich das Strafverfahren„gegen einen vielfach vorbestraften Berufsverbrecher" richte, oder „gegen einen ehren-haften Volksgenossen ..., der zum erstenmal mit einer Strafverfolgungsbehörde in Be-rührung kommt", müsse das Verfahren nach denselben gesetzlichen Regeln vor sichgehen. Schmitt wandte sich gegen den Vorschlag

-

der allerdings nicht im Entwurfdes Justizministeriums, aber verschiedentlich im Schrifttum geäußert worden war12

-die Beschuldigten in Kategorien mit verschieden gestalteter verfahrensrechtlicherStellung einzustufen, etwa dem vorbestraften Berufsverbrecher, dem erklärten Volks-und Staatsfeind usw. geringere strafprozessuale Rechte zu geben, d.h. analog demneuen Täterstrafrecht ein Täter-Strafverfahren zu schaffen. Eine solche Abstufungwürde eine gesetzliche Schuldvermutung darstellen, mit der ein auf Gerechtigkeit ab-zielendes Strafverfahren nicht belastet werden dürfe. Die Zuständigkeitsregelungenund Bestimmungen des geltenden Strafverfahrens über die besonderen Verfahren fürdie Sondergerichte und den Volksgerichtshof trügen „dem Bedürfnis nach Unter-scheidungen" bereits mittelbar Rechnung und ermöglichten, „den notorischen Ver-brecher ohne unangebrachte Rücksichten schnell der verdienten Strafe zuzuführen".Durch die Einführung unterschiedlicher Strafverfahren aber würde „sowohl diegrundsätzliche Einheit des deutschen Strafverfahrensrechts wie des Begriffs des deut-schen Volksgenossen" aufgehoben: „Solange der Beschuldigte als Angehöriger derVolks- oder Schutzgemeinschaft anerkannt ist, muß ihm in einem Strafverfahren dieAchtung erwiesen werden, die in der Einhaltung der Formen eines Strafverfahrensliegt." Schmitt stellte fest, daß der Entwurf solche Unterscheidungsvorschläge nichtaufgegriffen und sich von Schuldvermutungen bis auf die Formulierung ferngehaltenhabe, daß es auch Zweck der Untersuchungshaft sein könne, „die Volksgemeinschaftvor weiteren Taten des Beschuldigten zu schützen": hier werde das Ergebnis derHauptverhandlung vorweggenommen und „eine unzulässige Schuldvermutung" auf-gestellt. Bezeichnenderweise spielte aber das Problem der Schuldvermutung in

" Vgl. Kapitel VIL3.a,S. 833.12 So z.B. bei U. Stock, Zur Strafprozeßerneuerung, Leipzig 1935.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1001

Schmitts Ausführungen über den Dualismus von Justiz und Polizei bei der Strafverfol-gung im NS-Staat keine Rolle: „Gegenüber Verbrechern, bei denen kein Strafverfah-ren, sondern nur noch Sicherung und Unschädlichmachung am Platze ist, müssen dieSicherungsmaßnahmen rücksichtlos angewandt werden. Die Polizei hat außerhalb desStrafverfahrens [!] genügend Machtmittel." Damit erkannte er aber auch unausgespro-chen an, daß die Entscheidung darüber, ob der Beschuldigte als „Volksgenosse" einesStrafverfahrens würdig, oder bei ihm als „Verbrecher" kein Strafprozeß „am Platze"war, nicht der verfahrensrechtlichen Regelung unterlag, sondern von der Polizei ge-troffen werde. Das erklärt auch, warum Schmitt in das künftige Strafverfahrensrechtkeine Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten aufgenommen wissenwollte: sie brauchte dann auch nicht erst durch ein Gerichtsverfahren widerlegt zu

werden, wenn der Beschuldigte den Maßnahmen der Polizei zur Verbrechensbekämp-fung unterworfen wurde. Schmitts Ausführungen zur Stellung des Beschuldigten er-

weisen sich in dieser Hinsicht als bloße Anerkennung der bestehenden Verhältnisseund standen damit in ausgeprochenem Gegensatz zu dem noch zu schildernden13 Be-streben des Justizministeriums, durch eine neue, im nationalsozialistischen Staat all-seitig anerkannte Strafverfahrensordnung die eigenmächtige Verfolgung strafbarerHandlungen durch die Polizei auszuschalten. Mit der Anerkennung eines jederzeitmöglichen außernormativen Vorgehens gegen den Beschuldigten konnte Schmittleicht kritisieren, daß der Entwurf die Stellung des beschuldigten „Volksgenossen"durch die Stärkung der Position des Staatsanwalts

-

Wegfall der vom Beschuldigtenbeantragten richterlichen Voruntersuchung, Anrufung des Gerichts gegen den Haft-befehl erst nach Ablauf einer bestimmten Frist usw.

-

verschlechtere. Schmitt schrieb,es müsse demgegenüber auch nur „der Anschein vermieden werden, als sei ein Volks-genosse zum bloßen Objekt eines Strafverfahrens herabgewürdigt". Gerade „ein star-kes und in sich gefestigtes Führerreich" sei „weit mehr als ein liberalistisch ge-schwächter Staat in der Lage ..., einen ungerechterweise Verdächtigten und Beschul-digten mit allen wirksamen Verteidigungsrechten auszustatten". Wie diese Rechtekonkret aussehen sollten, erläuterte Schmitt allerdings nicht.

In den „Schlußfolgerungen" seiner Stellungnahme führte Schmitt aus, daß es nichtgenüge, die bestehende Strafverfahrensordnung technisch zu verbessern, aufzulockernoder nach den Erfahrungen der Praxis zu ergänzen. Da das nationalsozialistischeReich „mehr als nur ein .autoritärer Staat' " sei, sei auch die Aufgabe nicht dadurch zu

lösen, „daß die liberalen Elemente des bisherigen Strafprozesses ausgemerzt und dieautoritären übriggelassen werden". Es sei jedenfalls besser, das überkommene Systembeizubehalten, als „einen bloßen Übergangs- und Zwischenzustand" neu zu kodifizie-ren, „weil dadurch vermieden würde, daß nicht-nationalsozialistische Begriffe undEinrichtungen sich mit neuen Bezeichnungen umkleiden". Denn alle wesentlichenInstitutionen und Begriffe des neuen Strafverfahrensrechts müßten mit jenen überein-stimmen, „die sich in der Gesamtverfassung des nationalsozialistischen Deutschlandin Partei, Staat und Stand" entwickelten. Die Beantwortung der Frage, „ob das Zielbesser durch eine zunächst nur an wesentlichen Punkten, etwa in der Frage des Füh-rergrundsatzes, vorstoßende besondere Regelung oder bereits durch eine umfassendeneue Kodifikation erreicht werden" könne, hänge von den praktischen Notwendigkei-13 Vgl. Kapitel VIII.2.C, S. 1018ff, 1021 ff, 1025ff.

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1002 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeten ab. Die Zeit für eine umfassende Neuregelung des Strafverfahrensrechts sei danngekommen, wenn die nationalsozialistischen Gedanken „auf diesem besonders wichti-gen Rechtsgebiet eindeutig und entschieden zur Geltung" gebracht werden könnten.

Schmitts Stellungnahme enthielt nur wenige praktische Vorschläge, die allerdings-

wie die Einführung des Führerprinzips mit seinen Konsequenzen, z. B. Abschaffungder Rechtsmittel

-

sämtlich im Gegensatz zu den im Entwurf des Justizministeriumsvorgesehenen Regelungen standen. Auch sonst blieb sie, vor allem im Abschnitt überdie Stellung der am Strafverfahren Beteiligten, äußerst unbestimmt. Nichtsdestoweni-ger bedeutete sie eine glatte Ablehnung des Entwurfs, da sie ihm unverblümt die Qua-lität einer „nationalsozialistischen" Kodifikation absprach. Als das Reichsjustizmini-sterium Schmitts Ausarbeitung

-

als Stellungnahme der Wissenschaftlichen Abteilungdes NSRB firmiert

-

im Oktober zugestellt erhielt, erkannte das Ministerium darinFranks Entschluß, seinen Entwurf niemals Gesetz werden zu lassen. Diese ReaktionFranks kam allerdings nicht überraschend, hatten doch die Beziehungen zwischenGürtner und Frank wegen der Auseinandersetzung über die Zuständigkeit bei der Er-neuerung des materiellen Strafrechts im Herbst 1936 einen Tiefpunkt erreicht.14

Wenn Frank und der NSRB bei der Schaffung einer neuen Strafverfahrensordnungdie Führung behaupten wollten, konnten sie allerdings nicht bei der negativen Kritikund der Äußerung vager Vorstellungen stehenbleiben. Daher übernahm der bereits er-

wähnte, von Frank am 19- Juni 1936 eingerichtete .Ausschuß für Strafverfahrensrecht,Gerichtsverfassung und Strafvollzug"15 die Ausarbeitung praktischer Vorschläge. Sei-nen Vorsitz bekam wiederum Carl Schmitt, ihm gehörten als stellvertretender Vorsit-zender der Beauftragte für die wissenschaftliche Arbeit in Groß-Berlin RechtsanwaltRilk, ferner Landgerichtsdirektor i.R. Töwe, Oberstaatsanwalt (ab September General-staatsanwalt) Lautz, Rechtsanwalt Seydel, Ministerialdirektor a.D. Senatspräsident Jä-ger, Rechtspfleger Liese und Oberamtsanwalt Brederek

-

sämtlich Parteigenossen-

an. An seinen Sitzungen, die am 24. Juli begannen, nahmen verschiedentlich auchVertreter der nach Berufen gegliederten „Reichsgruppen" sowie der Reichswalter desNSRB Raeke teil. Der Ausschuß hatte die Aufgabe, „zu dem justizamtlichen Entwurfvon dem Gesichtspunkt nationalsozialistischer Weltanschauung und nationalsozialisti-scher Rechtserneuerung eingehend Stellung zu nehmen" und sie auf die im „Entwurfbehandelten Einzelprobleme zu übertragen". Dabei wurden Weisungen Franks unddie „Stellungnahme" Schmitts berücksichtigt. Nach Beendigung der Beratungen am

4. November 1936 wurden die Ergebnisse Frank vorgetragen und bis zum Jahresendein schriftliche Form gebracht, wobei ursprünglich wie beim Entwurf des Justizministe-riums an eine Einteilung in Paragraphen gedacht war. Carl Schmitt allerdings solltedie Früchte seiner ehrgeizigen Bemühungen nicht mehr ernten: er war in die Schußli-

14 Vgl. für Oktober: Kapitel VII.2.a., S.773, für Franks Störaktionen im Dezember: Kapitel VII.2.C, S. 793 ff.Gürtner nahm auch nicht an der 3.Jahrestagung der AkDR v. 21.-24.10.36 in München teil. Noch am23.10. ließ Frank telefonisch im RJM sondieren, „für den Fall, daß eine Verständigung zwischen den beidenMinistern" erzielt werden könne, werde er Gürtner telegraphisch bitten, am nächsten Tag den Grundsteindes Hauses des Deutschen Rechts zu legen. Seine Vermittler wurden beschieden, „daß Herr StaatssekretärSchlegelberger heute in aller Stille seinen 60. Geburtstag feiere und der Herr Minister heute nicht im Hauseanwesend sei" (Verm. persönl. Ref. Schlegelbergers v. 23.10.36, Akten des RJM, BA, Sign. 22/4723). DieGrundsteinlegung nahm RM Rust vor. Im Mitteilungsbl. des NSRB v. 15.10.36 (S.222) war Gürtner nochals Redner beim Festakt am 24.10.36 angekündigt.

15 Vgl. Anordnung 22/1936 (Mitteilungsbl. des NSRB 1936, S. 161).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1003

nie der SS-Führung geraten, die ihm nach intensiver Durchleuchtung seiner wissen-schaftlichen und politischen Karriere durch den SD das Recht absprach, sich als Ver-fechter nationalsozialistischer Ideen aufzuspielen und von einflußreichen Positionenaus auf die Rechtslehre des Nationalsozialismus einzuwirken, nachdem er bis 1932den politischen Katholizismus und in der anschließenden Papen-Schleicher-Ära denGedanken des totalen Staates vertreten habe. Die SS-Führung warnte Frank und an-

dere führende Persönlichkeiten zunächst vertraulich vor Schmitt und griff ihn schließ-lich Anfang Dezember im „Schwarzen Korps" offen an.16 Aufgrund dieser Einwirkun-gen sah sich Frank

-

wenn auch widerstrebend-

veranlaßt, seinen intelligenten undbislang ungemein nützlichen Mitarbeiter im November sämtlicher Ämter im NSRBund in der Akademie für Deutsches Recht

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nach außen hin „aus gesundheitlichenGründen" und mit Wirkung vom 1. Januar 1937

-

zu entheben.17 Die Denkschrift desNSRB, in der die Ergebnisse des Strafverfahrensausschusses vom nunmehrigen „ge-schäftsführenden Vorsitzenden" Rilk zusammengefaßt wurden, erwähnte Schmitt beider Aufzählung der Persönlichkeiten, die sich um die Arbeit verdient gemacht hatten,folglich mit keinem Wort mehr. Die Justizverwaltung reagierte auf die Entmachtungdieses Kontrahenten prompt: Schmitt wurde vom Reichsjustizprüfungsamt von derListe der Prüfer für die am 15. Dezember stattfindende Prüfung gestrichen.18

Bei den Gegenvorschlägen, die die Denkschrift des NSRB zum Entwurf der Justiz-kommission aufstellte, ging der NSRB-Ausschuß nicht mehr von der geltenden StPOaus. Sie wurden in vierunddreißig neuerarbeiteten „Grundsätzen" formuliert19, dienach Meinung des Ausschusses zusammen mit der gegebenen Gliederung ein so kla-res Gerüst abgaben, daß eine Niederlegung in Paragraphen nur noch „technischeKleinarbeit" darstelle, um den Inhalt praktisch anwendbar zu machen. Im Gegensatzzu Schmitts Stellungnahme befürwortete die Denkschrift die Auflockerung des Straf-verfahrens und erkannte auch die „größte Beschleunigung des Strafverfahrens" als einZiel des neuen Strafverfahrens an, das allerdings nicht auf Kosten des zweiten Zielesder größtmöglichen „Gerechtigkeit im einzelnen Fall" erreicht werden sollte; beidewurden vielmehr zu dem „höchsten Ziel" kombiniert, auf das alle aufgestellten„Grundsätze" ausgerichtet sein sollten: „das gerechteste Urteil in kürzester Frist" zufällen. Die Denkschrift vertrat die Durchführung des Führerprinzips mit allen seinenKonsequenzen. Sie forderte die ausdrückliche Anerkennung des Führers als oberstenGerichtsherrn in der Strafverfahrensordnung; deshalb sollten die Gerichte ihre Urteilekünftig „im Namen des deutschen Volkes und im Auftrag des Führers" aussprechen.Als seine Beauftragten sollten die weiterhin „unabhängigen" und nur an das Gesetzgebundenen Richter nunmehr bei der Rechtsprechung auch seinen Einzelanweisun-gen unterworfen sein; ihre Unabhängigkeit sollte also künftig nur darin bestehen, daß

16 Vgl. die Artikel „Eine peinliche Ehrenrettung" und „Es wird noch peinlicher!" im SK v. 3. und 10.12.36.17 Vgl. die Sehr. Franks an Himmler und an den Hauptschriftleiter des SK, Gunter d'Alquen, v. 11.12.36 (Per-

sonalakte Schmitt beim SD, s. voranstehende Anm. 3). Im Mitteilungsbl. des NSRB 1936, S.248, hieß es da-gegen, Schmitt habe „aus gesundheitlichen Gründen" selbst um Ablösung gebeten.18 Vgl. Personalakte Schmitt, a.a.O.

19 Vgl. zum folgenden die als vertrauliches Manuskript gedruckte „Denkschrift des NationalsozialistischenRechtswahrer-Bundes zum Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schieds-mannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsju-stizministeriums" vom 30.1.37 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1037). Da in ihr versehentlich zwei Grund-sätze mit der Ziffer 27 bedacht wurden, kommt sie in der Numerierung nur auf 33 Grundsätze.

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1004 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeihnen kein anderer als der Führer selbst Weisungen erteilen durfte : „Der unzweideu-tig zum Ausdruck gekommene Wille des Führers" sei für das deutsche Volk verbind-lich, „mag er nun abstrakt eine Vielheit von Fällen regeln oder eine Entscheidung, undsei sie über Tod und Leben, in einem einzelnen Falle treffen". Der Vorsitzende desGerichts fällte das Urteil und traf alle Entscheidungen, die mit der unmittelbaren Ur-teilsfindung in Zusammenhang standen, nach Beratung mit den Beisitzern allein, alleanderen Entscheidungen sogar ohne diese Beratung. Seine sitzungspolizeilichen Be-fugnisse waren so gestärkt, daß er sogar den Verteidiger und den Staatsanwalt unterVertagung von der Verhandlung ausschließen konnte.

Den in der „Stellungnahme" Schmitts anklingenden Gedanken, die Staatsanwalt-schaft „durch Ankläger aus den einzelnen Lebensordnungen, die von den verschiede-nen Straftatbeständen erfaßt werden (Stand, Sippe, Wehrmacht usw.), zu ersetzen",lehnte die Denkschrift ab, desgleichen Schmitts Vorschlag, staatliche Ermittlungstä-tigkeit und Anklagevertretung institutionell zu trennen. Im Gegenteil sollte nunmehrvorgeschrieben werden, daß der ermittelnde Staatsanwalt die von ihm bearbeitete Sa-che auch vor Gericht zu vertreten habe. Er sollte im Vorverfahren weiterhin weisungs-gebunden sein, jedoch nicht mehr, „soweit es sich um die Feststellung des Ergebnissesder Hauptverhandlung handelt": damit sollte verhindert werden, daß der Staatsanwalteine vor der Verhandlung gegebene Anweisung seiner vorgesetzten Stelle

-

etwa überdie Höhe der zu beantragenden Strafe

-

befolgen mußte, obwohl er aufgrund der Klä-rung des Sachverhalts in der Hauptverhandlung erkannte, daß eine Befolgung unsin-nig war und die Vertretung von Unrecht bedeuten mußte. Der Ausschuß konnte diesegrundlegende Änderung um so unbedenklicher anregen, als die einzige praktischeRechtfertigung der bisherigen Regelung, daß ein Freispruch aufgrund eigenmächtigenAntrags des Anklagevertreters die Staatsanwaltschaft hinsichtlich der eventuell einzu-legenden Rechtsmittel präjudizieren konnte, durch seinen Vorschlag einer Abschaf-fung der Rechtsmittel wegfiel.

Die Denkschrift führte aus, daß dem beschuldigten Volksgenossen, dem gegenüber„weder die Vermutung seiner Schuld noch seiner Unschuld besteht", der „größtmög-lichste Rechtsschutz" zu gewähren sei. Welcher konkrete Gehalt diesem allgemeinenGrundsatz angesichts der verstärkten Stellung des Staatsanwalts, des Wegfalls derRechtsmittel usw. zuzumessen war, hing von den weiteren Ausführungen über dieVerteidigung ab. Dem Beschuldigten eine gesetzliche Pflicht zur wahrheitsgemäßenAussage aufzuerlegen und sie durch Strafandrohung erzwingen zu wollen

-

wie es

zwar nicht im justizamtlichen Entwurf, aber verschiedentlich in der Reformliteraturgefordert worden war20 -, lehnte die Denkschrift ab; angesichts der menschlichen Na-tur sei eine solche Wahrheitspflicht des Beschuldigten, dem es im Verfahren gegebe-nenfalls um Leben oder Tod gehe, eine „leere Formel": vielmehr sei es ,Aufgabe desStaates, den Beweis für die Tat zu liefern".

Die Denkschrift verneinte sowohl einen Anwaltszwang wie auch das Recht des Be-schuldigten auf Beiordnung eines Verteidigers in jedem Strafverfahren; die notwendigeBestellung eines Verteidigers sollte nicht

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wie in der geltenden StPO-

nach der

20 Vgl. den Vorschlag von „Lügestrafen" bei K. Siegert, Richter, Staatsanwalt und Beschuldigter im Strafprozeßdes neuen Staates (ZStrW Bd.54, 1934/35, S.24), U. Stock, Zur Strafprozeßerneuerung, Leipzig 1935, S. 17.Der Ausschuß für Strafprozeßrecht der AkDR lehnte diesen Gedanken ab (vgl. Denkschrift, a.a.O. [KapitelVIH.2.c,S. 1016, Anm. 20J.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1005

Höhe der zu erwartenden Strafe geregelt werden, sondern dann erfolgen, „wenn es in-folge der Sach- oder Rechtslage" oder aus Gründen, die in der Person des Beschuldig-ten lagen, erforderlich war. Dabei hatte die Bestellung zum frühesten Zeitpunkt zu er-

folgen, nämlich „sobald ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen einebestimmte Person eingeleitet wird", damit der Verteidiger schon möglichst frühzeitigan der Klärung des Sachverhalts mitwirken konnte, die u.U. die Anrufung des Ge-richts überhaupt entbehrlich machen konnte. Deshalb sollte er auch grundsätzlichschon mit seiner Einschaltung Akteneinsicht und das Recht erhalten, bei der Verneh-mung des Beschuldigten, der Zeugen und Sachverständigen durch den Staatsanwaltanwesend zu sein. Allerdings konnte ihm eine Schweigepflicht gegenüber dem Be-schuldigten auferlegt und das Anwesenheitsrecht durfte ihm ausnahmsweise verwei-gert werden, wenn der Staatsanwalt darin eine Gefährdung des Untersuchungszweckserblickte. Gegen diesen Entschluß des Staatsanwalts konnte ein besonderer „Verfah-rensrichter" angerufen werden, der als besondere Kontrollinstanz gegen Maßnahmendes Staatsanwalts vorgesehen war. Denn wie im Entwurf des Justizministeriums wurdeder Staatsanwalt zum „Träger des Vorverfahrens" gemacht und mit weitreichendenBefugnissen ausgestattet, die nach der geltenden StPO nur dem Richter zustanden.Gegen drei besonders einschneidende Maßnahmen des Staatsanwalts

-

Haftbefehl,Unterbringung in eine Heil- und Pflegeanstalt und Vermögensbeschlagnahme

-

er-

klärte die Denkschrift eine Beschwerde für zulässig. Über sie sollte jedoch nicht daserkennende Gericht oder dessen Vorsitzender, sondern eben jener „Verfahrensrichter"entscheiden, der als besonders qualifizierter Einzelrichter das Vertrauen der Staatsan-waltschaft und des Anwaltstandes besitzen und nach den Grundsätzen der Geschäfts-verteilung jeweils auf ein Jahr bestellt werden sollte.

Nach heftiger Diskussion fand sich auch im NSRB-Ausschuß schließlich eineMehrheit für die Beseitigung des Klageerzwingungsverfahrens: zwar sollte laut Denk-schrift dem Beschuldigten auf seinen Antrag hin vom Staatsanwalt die Einstellung desVerfahrens nebst Begründung mitgeteilt werden, aber weder er noch der Verletztesollten dagegen ein Beschwerderecht besitzen. Auch die richterliche Voruntersuchungsollte abgeschafft werden. Dagegen hatte der Staatsanwalt mit dem Beschuldigten un-mittelbar Fühlung zu nehmen und ihn vor Einreichung der Akten an das Gericht ab-schließend zu vernehmen, um sich von der Persönlichkeit des Täters ein Bild zu ma-chen und damit den Erfordernissen des angestrebten Täter- und Willensstrafrechts zu

genügen. Da die Anklage der Staatsanwaltschaft-

wie schon Schmitt in seiner „Stel-lungnahme" hervorgehoben hatte

-

auch nach Ansicht des Ausschusses „keine An-klage im echten Sinne des Wortes" sondern nur noch „ein Mittel der Prozeßtechnik"darstellte, sollte die Überleitung zur Hauptverhandlung nicht mehr durch die Ankla-geerhebung, sondern durch die Zustellung des Berichts über das Ermittlungsergebnisan das Gericht erfolgen. Eine Abschrift dieses Berichts sollte der Staatsanwalt schonvorher an den Beschuldigten übersenden, der sich binnen ein bis zwei Wochen gegen-über dem Staatsanwalt dazu zu äußern hatte, so daß dem Gericht zugleich mit demBericht des Staatsanwalts auch schon eine Stellungnahme des Beschuldigten zuging.Damit sollte dann die Herrschaft über das Verfahren vom Staatsanwalt auf das Gerichtübergehen. Im Gegensatz zum Entwurf des Justizministeriums behielt aber die Denk-schrift den Eröffnungsbeschluß in abgewandelter Form de facto bei: das Gerichtkonnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnen oder Termin anberaumen. Hielt

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1006 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganees vor dieser Entscheidung noch weitere Ermittlungen für notwendig, so durfte es sienicht selbst anstellen, sondern mußte sie durch den Staatsanwalt einziehen. Vom bis-herigen Eröffnungsbeschluß unterschied sich die neue Regelung nicht nur dadurch,daß sie äußerlich von ,Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung"sprach, sondern vor allem dadurch, daß die an den Eröffnungsbeschluß geknüpftenprozessualen Rechtsfolgen fortfielen: das Gericht sollte sich hinsichtlich des Umfan-ges der Urteilsfindung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht mehr vorherselbst binden. In der Ladung an den Beschuldigten zur Hauptverhandlung wurde mitder Mitteilung des Verhandlungsgegenstandes nur der vorläufige Rahmen abgesteckt,in dem er zur Verantwortung gezogen werden sollte; der Beschuldigte mußte damitrechnen, daß das Gericht die Verhandlung auch auf weitere auftauchende Taten aus-

dehnte und ihn aufgrund eines anderen als des in der Ladung angeführten Strafgeset-zes verurteilte, ohne daß es dazu wie bisher der Einhaltung besonderer sichernderVorschriften bedurfte. Andererseits sollte der Angeklagte nach der Ladung zur Haupt-verhandlung auch ein Recht auf Verhandlung und Entscheidung in der Sache haben:eine Einstellung des Verfahrens

-

auch aufgrund eines Amnestiegesetzes-

sollte ohneseine Zustimmung nicht mehr möglich sein, damit er die durch das Gerichtsverfahreneingetretene öffentliche Diffamierung durch die gerichtliche Feststellung seiner Un-schuld ausräumen konnte. Die Denkschrift griff Schmitts Vorschlag auf, daß jedes To-desurteil vom Führer bestätigt werden sollte, um „das Richterrecht des Führers beson-ders offen und positiv in Erscheinung treten" zu lassen. Gegen die Absicht des Aus-schusses, sämtliche Rechtsmittel abzuschaffen, trat bezeichnenderweise der Leiter der„Reichsgruppe Rechtsanwälte" im NSRB, Reichsgruppenwalter Droege, mit den Ar-gumenten auf, daß Irrtümer bei der menschlichen Unvollkommenheit unvermeidbarseien und „häufig lokale Schwingungen bei Urteilen kleinerer Gerichte ein gerechtesUrteil nicht finden" ließen. Wie 1935, als sich diese Fachgruppe für die Zulassung von

Rechtsanwälten in Schutzhaftangelegenheiten ausgesprochen hatte21, dürften hier be-rufsständische Interessen mitgespielt haben, da mit dem Wegfall von Berufung undRevision

-

bei denen die Mitwirkung von Anwälten teilweise sogar vorgeschriebenwar

-

ein erheblicher Verdienstausfall zu erwarten war. Obwohl sich auch bei der er-

wähnten Umfrage sämtliche Gaue des NSRB für die Gewährung von Rechtsmittelnausgesprochen hatten, entschied sich der Ausschuß einstimmig, dem Beispiel der„Stellungnahme" Schmitts und der Auffassung Franks zu folgen, der in der Hauptver-handlung „einen einmaligen, unwiederholbaren Lebensvorgang" erblickte. Anstelleder Revisionsinstanz sollte künftig „eine politische oder wissenschaftliche Stelle" füreine einheitliche Rechtsauffassung und -anwendung sorgen, die „vom Führer oder sei-nem Stellvertreter" ernannt werden sollte und in der sich „Vertreter der obersten Ge-richte und der Partei, vielleicht auch der Stände befinden, die auf Anrufung des Rich-ters, des Staatsanwalts oder des Verurteilten entscheiden" sollten. Diese Stelle sollteeventuell auch der Akademie für Deutsches Recht angegliedert werden.

Entgegen der von ihr vertretenen Auffassung, daß das Strafverfahren ein „einmaligerund unwiederholbarer Lebensvorgang" sei, sah die Denkschrift dennoch die Wieder-aufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens vor. Diesen

21 Vgl. dazu Kapitel VI.2.b, S. 565 ff.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1007

Widerspruch suchte sie durch das Argument zu entkräften, daß sich dieses Verfahren„auf erhebliche neue Tatsachen, die erst nach dem Strafurteil aufgefunden oder zur

Kenntnis des Verurteilten gelangt sind", stütze. Auch mangels Beweises Freigespro-chene

-

denen nach geltendem Recht kein Rechtsmittel zustand-

sollten die Mög-lichkeit erhalten, im Wiederaufnahmeverfahren einen Freispruch wegen erwiesenerUnschuld zu erlangen. Da es sich nicht um ein Verfahren handeln sollte, in dem dieNichtigkeit des früheren Urteils geltend gemacht wurde, sondern um ein neues selb-ständiges Strafverfahren, sollte auch der Staatsanwalt eingeschaltet werden: lehnte er

den Wiederaufnahmeantrag ab, da sich trotz seiner Ermittlungen keine neuen Ge-sichtspunkte ergaben, so war ein Rechtsmittel dagegen nicht gegeben. Stimmte er

aber dem Antrag zu, so sollte die Sache nicht wie bisher jenem Gericht zur Entschei-dung gegeben werden, das das erste Urteil gefällt hatte, sondern „an eine besondereWiederaufnahmekammer bzw. einen besonderen Wiederaufnahmesenat bei einemdem ursprünglich mit der Sache befaßten ranggleichen Gericht" gehen. Diesen Wie-deraufnahmekammern bzw. -Senaten sollten auch nichtrichterliche Beisitzer (Laien-richter) angehören.

Der Vorschlag in Schmitts „Stellungnahme", anstelle von Berufung und Revisiondie Anrufung „einer Stelle der politischen Führung" vorzusehen, wurde in der Denk-schrift aufgegriffen und weiter ausgebaut. Die „Wiedergutmachung" eines in einemrechtskräftigen Urteil enthaltenen „offenkundigen, für das gesunde Volksempfindenunerträglichen Unrechts"

-

gleich ob formeller oder materieller Natur-

war danach„einer politischen Stelle zu übertragen, die in den einzelnen Gauen der NSDAP, er-

richtet und mit Vertretern des Staates, der Bewegung und der Stände besetzt" werdensollte, die „fachlich und politisch besonders qualifiziert sein" sollten: „Der Vorsit-zende, den die NSDAP, bestellt, muß die Befähigung zum Richteramt haben; fernermuß je ein Vertreter des Richterstandes, der Staatsanwaltschaft, des Rechtsstandes unddes Standes, dem der Verurteilte angehört, in dieses Gremium entsandt werden". DasWiedergutmachungsverfahren, das ausdrücklich kein Rechtsmittelverfahren darstellensollte, sollte nur zugunsten des Beschuldigten zulässig sein. Obwohl sich der Ausschußdarüber einig war, daß diese Stelle „eine Entscheidung politischer Art" traf, sollte sie„nach Recht [!], nicht nach Gnade", d.h. nicht als Gnadeninstanz entscheiden, son-

dern „dem Betroffenen zu seinem wirklichen Recht" verhelfen: sie sollte jedoch au-

ßerdem auch die Aufgaben einer Gnadenbehörde übernehmen. Mit dieser Einrich-tung trug der Ausschuß nach seinen Ausführungen „dem Volkswillen Rechnung, wieer in der Anrufung der Kanzlei des Führers ständig zum Ausdruck kommt, wenn einVolksgenosse der Ansicht ist, daß ihm durch einen Urteilsspruch offenbares Unrechtangetan ist". Dieser Vorschlag, der die Justiz der Kontrolle justizfremder Stellen aus-

liefern und die Unabhängigkeit der Rechtspflege nicht nur gegenüber Hitler selbst,sondern auch gegenüber politischen Partei- oder Verwaltungsstellen aufheben mußte,sollte im Reichsjustizministerium schärfste Ablehnung erfahren.

Die Denkschrift ging schließlich noch auf einige besondere Verfahrensarten ein.Dabei lehnte sie die im justizamtlichen Entwurf vorgeschlagene Einführung des Ad-häsionsverfahrens wegen der rechtlichen Verschiedenheit des Straf- und Zivilprozes-ses ab. Dagegen bejahte sie die Einrichtung eines friedensrichterlichen Verfahrens undim wesentlichen auch die in diesem Entwurf dafür vorgeschlagenen Regelungen. Ent-sprechend der bei der Erneuerung des materiellen Strafrechts vorgesehenen Trennung

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1008 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganevon kriminellem und Ordnungsstrafrecht22 sah sie ein eigenes Verfahren bei Verwal-tungs- und Ordnungswidrigkeiten vor, die von der zuständigen Verwaltungsbehördegeahndet werden sollten. Nur wenn in diesem Verwaltungsverfahren ein besondersschweres Übel verhängt worden war, sollte ein Rechtsmittel gewährt werden. Ent-scheiden sollte dann aber nicht wie bisher der ordentliche Strafrichter, sondern einEinzelrichter (Amtsrichter), der nicht auf Strafe, sondern nur auf „Rüge" (Warnung,Geldbuße, Haft) erkennen konnte. In diesem Verfahren sollte der Staatsanwalt nichtmitwirken können.

Mit Ausnahme des Einzelrichters als Rechtsmittelinstanz gegen Maßnahmen desStaatsanwalts und im Verwaltungsverfahren sowie als Friedensrichter vertrat dieDenkschrift interessanterweise bei allen Strafgerichten die Abschaffung des Einzel-richters. Um eine volkstümliche Rechtspflege zu erlangen, forderte sie generell dieEinrichtung von Kollegialgerichten23, an denen stets neben richterlichen Beisitzernauch Laienrichter beteiligt sein sollten, die aber statt dieser „zurücksetzenden Bezeich-nung" nunmehr „nichtrichterliche Beisitzer" heißen sollten. Durch die Abschaffungder Rechtsmittelinstanzen im Strafverfahren, so argumentierte die Denkschrift, seiendie bisherigen Bedenken gegen die

-

im übrigen nur noch beratende-

Mitwirkungnichtrichterlicher Beisitzer weggefallen.

Die Denkschrift des NSRB, die mit ihren radikalen Forderungen des Führerprin-zips, der Abschaffung aller Rechtsmittel, der Einrichtung einer außergerichtlichenStelle zur Wahrung der Rechtseinheit und von „Wiedergutmachungsstellen" außer-halb der Justiz die Einwirkungswünsche der politischen Führung und der Partei inumfassender Weise berücksichtigte und somit das Muster einer „nationalsozialisti-schen" Strafverfahrensordnung darstellte, wurde dem Reichsjustizministerium vom

Reichswalter des NSRB Raeke am 8. Februar 1937 übersandt und auf seine Bitte hinauch den Mitgliedern der Großen Strafprozeßkommission zur Verfügung gestellt, diezu dieser Zeit gerade in Schwarzburg tagte. Obwohl Raeke in seinem Begleitschreibendarauf hinwies, daß die Denkschrift „in der vorliegenden Form vorläufig noch nichtzur Veröffentlichung und auch nicht zur Erörterung in der Fach- oder Tagespresse be-stimmt" sei24, wurde sie bereits einen Monat später vom NSRB unverändert

-

nur miteinem neuen Vorwort versehen

-

veröffentlicht.25 Wenn diese Vorbemerkung aucherklärte, daß die Veröffentlichung „weder dem Reichsrechtsführer noch dem NS.-Rechtswahrerbund in künftigen Entscheidungen vorgreifen" wolle

-

also noch nichtdas letzte Wort des NSRB zur Sache darstelle -, brachte sie andererseits unmißver-ständlich die Absicht zum Ausdruck, „vor übereilten nationalsozialistischen Kodifika-tionen'" zu warnen, d.h. die Inkraftsetzung des justizamtlichen Entwurfs zu verhin-dern.

Der mit der Publikation der Denkschrift nun auch an die Öffentlichkeit gelangteVorschlag des NSRB, Berufung und Revision abzuschaffen und dafür „Wiedergutma-chungsstellen" außerhalb der Justiz einzurichten, der im Justizministerium auf ent-

22 Vgl. dazu Kapitel VII.2.b.,S. 780.23 Zu den Vorschlägen des NSRB bez. Besetzung der Gerichte s. Kapitel VIII. 1 .a., S. 938 f.24 Vgl. Sehr, des NSRB (Raeke) an Gürtner v. 8.2.37 und Gürtners Antw. v. 21.2.37 (Akten des RJM, BA,

Sign. R 22/1037).23 Vgl. S. 994, Anm. 5. In der neuen „Vorbemerkung" wurde nunmehr wenigstens erwähnt, daß Schmitt Mit-

glied (nicht Vorsitzender) des NSRB-Ausschusses gewesen war.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1009

schiedene Ablehnung stieß, erforderte nunmehr gleichfalls eine öffentliche Zurück-weisung durch das Ministerium. Sie besorgte kein anderer als Freisler; er benutzte da-für einen Beitrag in einer Gemeinschaftsarbeit über die Reform des Ehrenschutzes imStrafverfahren, die im April 1937 gerade zur Veröffentlichung anstand. Darin führteFreisler aus, daß sich „die gesamte bisherige nationalsozialistische Rechtsentwicklung"sowohl bei der neuen staatlichen Bauern- und Erbgesundheitsgerichtsbarkeit wie auchbei der Parteigerichtsbarkeit dazu bekannt habe, Rechtsmittel zuzulassen. Wenn derNSRB nunmehr Rechtsmittel im Strafverfahren ablehne, bemerkte Freisler süffisant,so sei „es anziehend zu beobachten, daß die ganz neue Regelung des Ehrenverfahrensim NSRB. einen zweiten Tatsachenrechtszug für fast alle Ehrenverfahren" kenne. DerVorschlag einer nichtgerichtlichen Nachprüfstelle, zu dem er „ablehnend und vor denWirkungen seiner Verwirklichung warnend Stellung nehme", leide an „auffallendenMerkwürdigkeiten": Er schaffe eine Stelle,„die nach Recht, nicht nach Gnade urteilen soll, und hebt hervor, daß es sich nicht um einRechtsmittelverfahren handle; obgleich es doch zweifellos eines wäre, freilich eines, dessen Bear-beitung die Rechtspflege als solche

...

nicht würdig befunden werden soll!... Als ob der deutscheRechtswahrer und Schöffe so schlecht arbeite, daß das .offenkundige' Unrecht einer Wiedergut-machung außerhalb der Rechtspflege bedürfe

-

während nicht .offenkundige' Irrtümer, die dochviel häufiger sein werden, bisher von der Rechtspflege im Rechtsmittelzuge nicht erst ,wieder gutgemacht', sondern vor Rechtskraft durch den Rechtsmittelzug verhindert wurden!"

Aber nicht diese „Unmöglichkeiten", sondern etwas anderes sei für die Ablehnungentscheidend:

„Die Verwirklichung des Vorschlages würde eine durch nichts gerechtfertigte Entmündigungder deutschen Rechtspflege bedeuten. Man nähme ihr selbst die Möglichkeit, Fehler im Beru-fungs- und Urteilsrügeverfahren zu beseitigen; man würde künstlich den Fehler zu einem end-gültigen (durch Rechtskraft der Entscheidung des einzigen Rechtszuges) machen, der dann alsoffenkundiger Fehler der Rechtspflege durch eine Stelle außerhalb der Rechtspflege bewertetwürde, man würde als einzige Hoheitsverwaltung des Reiches die Rechtspflege als derart fehler-haft arbeitend bezeichnen, daß ihr eine besondere ,Wiedergutmachungsstelle' vorgesetzt werdenmuß ... Jeder Spruch der .Wiedergutmachungsstelle' wäre die autoritative Behauptung, das deut-sche Gericht... hätte .offenkundig Unrecht' getan; der dem gegenüber schutzlose Richter könntedas mit seiner Ehre nicht vereinen, und das Ansehen der Rechtspflege

...

würde untergraben. Je-der Verurteilte würde behaupten, ihm sei .offenkundig Unrecht' geschehen, so daß die deutschenGerichte zusehen müßten, wie unter diesem Gesichtspunkt fast jedes ihrer Urteile überprüftwürde."

Freisler bekräftigte seine Ausführungen mit dem Appell: „Möge der Vorschlagkeine Befürworter finden!"26

Es ist bezeichnend, daß bei Freisler die eigentliche Ungeheuerlichkeit des Vorschla-ges

-

daß nämlich politische Stellen rechtskräftige Gerichtsurteile ohne weiteres korri-gieren sollten

-

nicht im Mittelpunkt der Argumentation stand, sondern daß er denVorschlag aus Gründen des Ressortegoismus ablehnte: Freisler war geradezu beleidigt,daß dem Justizministerium nicht zugetraut wurde, selbst für ein Funktionieren der Ju-stiz im Sinne der politischen Führung sorgen zu können. Rechtsstaatliche Überlegun-26 Vgl. R. Freisler, Allgemeines zur Ehrenwahrung im Strafverfahren, in: Der Ehrenschutz im neuen deut-

schen Strafverfahren. Beiträge zur Rechtserneuerung. Gemeinschaftsarbeiten aus der deutschen Rechts-pflege. Herausg. von R. Freisler, Heft 4, Berlin 1937, S.23f. Freisler wiederholte seine Ablehnung im Mai1937 in dem Aufsatz: Rechtspolitische Gedanken zur Wiederaufnahme des Verfahrens (DJ 1937, S.730ff).Nichtsdestoweniger hielt der NSRB-Ausschuß an seiner Auffassung fest, vgl. O. Rilk, Zum neuen Strafver-fahrensrecht (JW September 1937, S. 2333 ff.).

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1010 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

gen klangen demgegenüber bei einigen ablehnenden Äußerungen aus den Reihen derJustizverwaltung an. Im Juni 1937 richtete nämlich das Reichsjustizministerium ver-

traulich einige Fragen über wichtige Probleme der Strafverfahrenserneuerung an dieOberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte mit dem Ersuchen, in klei-nen, von ihnen persönlich geleiteten Arbeitsgemeinschaften die Stellungnahmen von

Praktikern zu diesen Fragen herbeizuführen. Während jeweils einzelne der zwölf Fra-gen an mehrere Oberlandesgerichtsbezirke gesandt wurden, wurde die Frage betref-fend den Vorschlag des NSRB als einzige sämtlichen Bezirken übermittelt.27 Er wurde

-

was nach Freislers öffentlicher Zurückweisung vom April um so weniger verwunder-lich war

-

von allen Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten einhel-lig abgelehnt. Im Gegensatz zur Argumentation Freislers wurde dabei verschiedentlichauf die Unvereinbarkeit des Vorschlags mit den Prinzipien eines Rechtsstaates hinge-wiesen, so z.B. in folgender Stellungnahme:

„Die Einschaltung von Verwaltungsbehörden und politischen Stellen in den Rechtsgang in ir-gendeiner Form ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Wenn nun noch [!] den Wiedergutma-chungsstellen die Nachprüfung der ganzen richterlichen Entscheidung, wenn auch nur in Aus-nahmefällen, übertragen werden solle, so bedeutet der Vorschlag nichts weniger als die Beseiti-gung der richterlichen Unabhängigkeit und damit auch der Idee des Rechtsstaates, gerade auf ei-nem der wichtigsten Lebensgebiete, ein Weg, den Deutschland unter allen Kulturstaaten alleingehen würde."28

Solche sachlichen Feststellungen wurden teilweise mit starken emotionalen Reak-tionen verknüpft wie: es wäre konsequenter gewesen, „die Gerichte überhaupt abzu-schaffen und die Entscheidung aller Verfahren politischen Stellen zu übertragen",oder: „Kein Rechtswahrer von Charakter und von einigem Selbstbewußtsein würdesich dann noch der Strafrechtspflege widmen".29

Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, daß in diesen Stellungnahmen auch dievom NSRB vorgeschlagene Einholung von Rechtsgutachten einer politischen oderwissenschaftlichen Stelle zur Wahrung der Einheit bei der Rechtsprechung abgelehntwurde. Diese „Wiedereinführung einer mittelalterlichen Aktenversendung an die Fa-kultäten" werde eine „lebensfremde Begriffsjurisprudenz" heranzüchten, da dieRechtsauskunftsstelle ohne unmittelbare Fühlung mit dem Leben des Volkes arbeite.Sollte die Entscheidung dieser Stelle nach dem Urteilsspruch eingeholt werden undnoch auf den konkreten Fall Wirkung haben, so sei

-

jedenfalls in dieser Hinsicht-kein Unterschied zur bestehenden Revision zu sehen; sollte sie dagegen vor dem Ur-

teil angefordert und mit bindender Wirkung ausgestattet werden, so würde das „prak-tisch auf ein weisungsgebundenes Richtertum hinauslaufen".30

27 Vgl. Sehr, des RJM an die OLGPräs. und GStAe v. 9.6.37 sowie Aufstellung über die Verteilung der Fragenan die OLGe (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1038). Die Ergebnisse sollten in der 2. Lesung der GroßenStrafprozeßkommission verwertet werden.

28 Vgl. Ber. über die Ergebnisse einer Rundfrage bei den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsan-wälten über wichtige Fragen der Strafverfahrenserneuerung (Anhang zu : Das kommende deutsche Strafver-fahren. Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission. Herausg. v. F. Gürtner, Berlin 1938, S. 559 ff.), S.620.

29 A.a.O., S.617, 615.30 A.a.O., S.623Í. Schon im Dezember 1935 hatte F. Schaffstein, Revision und Berufung im künftigen Straf-

verfahren (DStR 1935, S.473), eine solche Lösung abgelehnt: „Die Ersetzung des Revisionsgerichts durcheine Ministerialabteilung, eine Gesetzeskommission oder eine ähnliche Stelle würde einen Rückfall in dieLage vor 1933 und damit in ein unserer Zeit nicht gemäßes obrigkeitsstaatliches Denken bedeuten."

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1011

In dieser Situation beschritt das Reichsjustizministerium den einzig möglichenAusweg, die extremen Vorschläge des NSRB bei der Ausarbeitung des endgültigenEntwurfs einer neuen Strafverfahrensordnung durch die Große Strafprozeßkommis-sion zu ignorieren. Landgerichtsdirektor i.R. Töwe, der dem NSRB-Ausschuß ange-hörte, brachte als nunmehriges Kommissionsmitglied diese Vorschläge auch lediglich„pflichtgemäß" zur Sprache, ohne sich mit ihnen zu identifizieren oder sie gar zu ver-

teidigen.31 Die Rechtsmittel Berufung und Revision („Urteilsrüge") wurden als solchebei den Beratungen nie in Frage gestellt; für die Probleme der Wahrung der Rechts-einheit und des

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in der zweiten Lesung eingeführten-

„außerordentlichen Rechtsbe-helfs" gegen rechtskräftige Urteile wurde die Lösung in der Einrichtung besondererSenatskörperschaften beim Reichsgericht bzw. Volksgerichtshof, d. h. in der Möglich-keit von Entscheidungen innerhalb der Justiz gesehen. Die Justizleitung konnte dieVorschläge des NSRB um so leichter ignorieren, als sie diese Äußerungen formal nichtals solche der Partei zu dem Entwurf anzusehen brauchte; hatte doch Heß die Reichs-ministerien gerade im Februar 1937 erneut darauf hingewiesen, daß in Gesetzge-bungsangelegenheiten nur der Stellvertreter des Führers für die Gesamtbewegung-

NSDAP, ihre Gliederungen und angeschlossenen Verbände-

verbindliche Stellung-nahmen abgeben dürfe.32 Allerdings ließ auch die Reaktion von Heß' Dienststelle aufdie Zusendung des Entwurfs keine rasche und problemlose Erledigung erwarten:nachdem sie zunächst gebeten hatte, die Frist für ihre Rückäußerung bis 1. Novemberzu verlängern, teilte sie nach Ablauf dieses Termins mit, sie denke, „die vorläufigeStellungnahme der Partei Mitte Dezember unterbreiten zu können".33 Auch zu die-sem Zeitpunkt unterblieb die Stellungnahme

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offensichtlich deshalb, weil Heß stattdessen in den am 14. Dezember beginnenden Sitzungen der Großen Strafprozeßkom-mission den Grafen von der Goltz als Vertreter der NSDAP mitwirken ließ. DerReichsjustizminister als der von Hitler mit der Ausarbeitung einer neuen Strafverfah-rensordnung betraute Mann konnte nur darauf hoffen, daß der unter seiner Verant-wortung erarbeitete „amtliche" Entwurf die Zustimmung der politischen Führung zuseiner Inkraftsetzung schließlich erhalten werde. Diese Hoffnung aber sollte sich zer-

schlagen.

c. Die Tätigkeit der Großen Strafprozeßkommission 1936-1938: Hauptprobleme undAuseinandersetzung mit der Polizeiführung

Als Material für die weitere Beratung der neuen Strafverfahrensordnung standen demReichsjustizministerium im Herbst 1936 die Stellungnahmen der anderen Reichsmi-nisterien1, des Reichsgerichts und des Volksgerichtshofs zur Verfügung, die in den

31 Vgl. Töwes Ausführungen als Berichterstatter in der Großen StP-Kommission am 17.12.36 (Protokolle derGroßen Strafprozeßkommission, 4. Sitzung (Schubert, Quellen III, Bd. 2.1, S.65ff.).

32 Vgl. Heß' RdSchr. v. 13.2.37 an alle Reichsminister betr. Vertretung der Partei in politischen Angelegenhei-ten gegenüber der Reichs-, sowie der Preußischen und Bayerischen Staatsregierung (Akten des RJM, BA,Sign. R 22/21).

33 Vgl. die Sehr, des Stabs des St.d.F. an das RJM v. 29.6. und 2.11.36 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1037).1 Außer den im Text erwähnten hatten sich folgende Ministerien bis Okt. 1936 zum Entw. geäußert: RPostM,

Ausw. Amt, RuPrM für die kirchlichen Angelegenheiten, PrFinanzM, RFinanzM, RuPrM für Ernährung undLandwirtschaft und RPropM (vgl. Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1035).

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1012 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

vorangegangenen Monaten auf die Übersendung des Februar-Entwurfs der „kleinen"Strafprozeßkommission hin eingegangen waren. Sie enthielten neben einer Reihetechnischer Änderungswünsche auch grundsätzliche Kritik an den vorgeschlagenenNeuerungen, die eine deutliche Besorgnis um die Rechtssicherheit spüren ließ. Soforderte das Reichsinnenministerium

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das angesichts der Verselbständigung der Po-lizei von seinem Ressort allerdings alle polizeilichen Fragen aus seiner Stellungnahmeausklammerte und auf eine kommende eigene Stellungnahme Himmlers verwies -,

daß alle dem Staatsanwalt zugewiesenen Zwangsmittel sofortiger richterlicher Nach-prüfung unterstehen sollten. Insbesondere sollte der staatsanwaltschaftliche Haftbefehlnicht erst nach zwei Wochen, sondern innerhalb von drei Tagen durch den Richternachprüfbar gemacht werden.2 Noch weiter ging das Reichsarbeitsministerium mitseiner Anregung, den Erlaß des Haftbefehls sowie die Anordnung von Untersuchun-gen und körperlichen Eingriffen überhaupt beim Richter zu lassen.3 Der Reichs-kriegsminister trat für die Beibehaltung der Abstimmung in Kollegialgerichten einund kündigte an, daß in der Militärjustiz „unter allen Umständen daran festgehaltenwerden" müsse. Er forderte die Aufnahme des Satzes „in dubio pro reo" in die einlei-tenden zwölf Grundsätze des Entwurfs und lehnte eine Auflockerung des Verfol-gungszwangs ab, da gerade die Aufgabe der Militärgerichtsbarkeit, „an der Erhaltungder militärischen Manneszucht mitzuwirken, das Legalitätsprinzip fordert". Er äußerteferner Bedenken gegen die Erweiterung der Gründe für das Wiederaufnahmeverfah-ren, da durch sie „die Rechtskraft für die Staatsanwaltschaft praktisch so gut wie besei-tigt" werde. Die Bestimmung, das nur derjenige Rechtsrüge einlegen könne, der nichtBerufung eingelegt hatte, werde er für das militärgerichtliche Verfahren nicht über-nehmen, gleichfalls nicht das Adhäsionsverfahren zur Entschädigung des Verletzten.4

Auch das Reichsgericht, das für die Beratung des Entwurfs einen eigenen Ausschußgebildet hatte3, schlug zahlreiche Änderungen vor, die eine konservative Einstellungund die Tendenz aufwiesen, die Macht des Staatsanwalts zurückzudrängen. Von sei-nen Vorschlägen seien nur die folgenden erwähnt: „Im Interesse des Ansehens derRechtspflege" sollte das Klageerzwingungsverfahren wieder vorgesehen werden. Eheder Gerichtsvorsitzende nach Eingang der Anklageschrift die Hauptverhandlung an-

setzte, sollte er „zur besseren Aufklärung einzelne Beweiserhebungen anordnen undmit ihnen einen Richter beauftragen" können: das bedeutete, daß der Hauptverhand-lung also doch eine sachliche Prüfung der Anklage durch den Vorsitzenden vorange-hen sollte.6 War die Hauptverhandlung bereits angeordnet, sollte der Staatsanwalt

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der dann nicht mehr „Herr des Verfahrens" sei-

die Anklage nur mit Zustimmung2 Vgl. Sehr, des RuPrMdl (i.V. Pfundtner) an das RJM v. 24.7.36 (a.a.O.).3 Vgl. Sehr, des RuPrArbeitsM an das RJM v. 30.6.36 (a.a.O.).4 Vgl. Sehr, des ReichskriegsM an das RJM v. 5.10.36 (a.a.O.).3 In diesem Ausschuß arbeiteten mit: die RGRäte Goedel, Härtung, Raestrup, Scheurlen, Schmitz, Schultze,

Tittel, Vogt, Willhöfft, Zeiler, Zoeller, Senatspräs. Witt, ReichsA Schneidewin und LGDir. am RG Wein-kauff (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1054). Um sich persönl. beteiligen zu können, bat RGPräs. Bumke dasRJM um Fristverlängerung bis 15.7.36 (Sehr. v. 27.5.36; a.a.O., Sign. R 22/1036). Zum folgenden vgl. „Stel-lungnahme des Reichsgerichts und des Volksgerichtshofs zum Vorentwurf einer Strafverfahrensordnung, ei-ner Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes" (1936) (a.a.O., Sign.R 22/1037).

6 Für das Schweigen des RG-Ausschusses zum Wegfall des Eröffnungsbeschlusses sind folgende Ausführun-gen bezeichnend, die RGRat Niethammer später in der Großen Strafprozeßkommission machte: Die Stel-lungnahme des Ausschusses ging „davon aus, daß die Preisgabe des Eröffnungsbeschlusses

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die man eigent-

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des Gerichts zurücknehmen können. Die Zurücknahme sollte in Form einer Einstel-lung des Verfahrens durch das Gericht erfolgen und wie ein rechtskräftiges freispre-chendes Urteil gelten, damit der Staatsanwalt die Einreichung der Anklage nicht belie-big vor einem anderen Gericht wiederholen konnte, dessen personelle Zusammenset-zung ihm für seine Zwecke günstiger erschien. Vor allem sprach sich der Reichsge-richtsausschuß bis auf Reichsgerichtsrat Schmitz gegen den Führergrundsatz in derRechtsprechung aus, teils aus der grundsätzlichen Erwägung, daß „ein wesentlicherUnterschied zwischen der Arbeit des Richters und der des Führers in der Politik, imHeer und in der Wirtschaft" bestehe, teils aus dem praktischen Grund, daß es „nochan der erforderlichen Zahl der Führerpersönlichkeiten" unter den Richtern fehle. Essei überdies „ein alter germanischer Rechtsgedanke [!], der heute noch im Volke herr-sche, daß die Wahrheit am besten durch eine Mehrheit unabhängiger Richter gefun-den" werde. Die im Entwurf vorgeschlagene Regelung

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daß alle Entscheidungen, diedem Urteil vorausgingen, vom Vorsitzer allein und nur das Urteil vom „Gericht" ge-fällt werden sollte - wurde abgelehnt: auch diese Vorentscheidungen z.B. über denUmfang der Beweisaufnahme, die Vereidigung von Zeugen oder die Ablehnung von

Fragen könnten „vielfach erst auf Grund der Urteilsberatung gefällt werden; sie seiensachlich meist nicht von der Hauptentscheidung zu trennen".7 Der Präsident desVolksgerichtshofs Thierack sprach sich gleichfalls gegen das Führerprinzip bei Kolle-gialgerichten aus: wenn sich die beisitzenden Richter nicht „aus letzter und tiefster Ei-genverantwortung zum schuldig oder nichtschuldig bekennen", sondern nur einenRat erteilen könnten, so schöben sie dem Vorsitzer „die Verantwortung der letztenEntscheidung über die Schuld zu, die jeder Richter eines Kollegialgerichts für sich al-lein zu tragen hat, wenn er Richter genannt werden soll".8 Das Reichsgericht lehnteferner die Möglichkeit einer Verhandlung gegen einen abwesenden Angeklagten ab,der nur öffentlich geladen worden war; auch sollte eine Ausdehnung der Anklage nur

gegen einen anwesenden Angeklagten zulässig sein. Es bemängelte auch die Vor-schriften über die Wahrung der Rechtseinheit (§§325 ff. Entw.): sie gewährleistetennicht, daß das Reichsgericht mit dem neuen Strafrecht in ausreichendem Maße befaßtwerde, um diese Aufgabe erfüllen zu können. Soweit nämlich die Befassung desReichsgerichts von einer Entschließung des Staatsanwalts abhänge, sei dieser durchdas Vorverfahren viel zu stark belastet, um auch noch die in dieser Hinsicht erforderli-chen Maßnahmen sorgfältig prüfen zu können. Es sei vorzuschreiben, daß die Rechts-rüge zumindest dann stets an das Reichsgericht gegeben werden solle, wenn es sichum analoge Gesetzesanwendung handele.

Im Reichsjustizministerium hatten unterdessen die einzelnen Abteilungen gegen-über der Strafgesetzgebungsabteilung zu den Auswirkungen des Entwurfs auf ihreSachgebiete Stellung genommen und Anspassungswünsche vorgebracht. Am intensiv-sten wurde der Entwurf naturgemäß in der Abteilung III (Strafrechtspflege) durchbe-raten, wo seine Abschnitte jeweils einzelnen Referenten zur Prüfung zugewiesen wur-den. Von den zahlreichen Vorschlägen dieser Abteilung seien einige charakteristische

lieh nicht billigte—

als notwendiges Übel in Kauf genommen werden müsse. Es geht daher nicht an, aus jenerStellungnahme des Reichsgerichts den Schluß zu ziehen, daß es gegen die Beibehaltung des Eröffnungs-beschlusses gewesen sei" (Schubert, Quellen III, Bd. 2.2, S. 310f.).7 Vgl. Zusammenfassung der Beratungen v. RGRat Schultze (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1054).8 Vgl. Sehr. Thieracks an den RJM v. 26.6.36 (a.a.O., Sign. R 22/1035).

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1014 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

herausgegriffen: So sollte als Grund für die Untersuchungshaft (§ 199 Entw.) die „Er-regung der Öffentlichkeit" über die Tat, die durch das Gesetz vom 28. Juni 1935 be-reits als Haftvoraussetzung in die geltende StPO eingefügt worden war, auch in denEntwurf aufgenommen werden9, andernfalls werde „die Schutzhaft noch häufiger ver-

hängt werden als jetzt schon". Gegen den Haftbefehl des Staatsanwalts (§ 241 Entw.)sollte dem Häftling nur entweder die Dienstaufsichtsbeschwerde oder die richterlicheNachprüfung gewährt werden, denn es sei ungut, wenn z. B. ein vom Generalstaatsan-walt bestätigter Haftbefehl vom Richter in einem Stadium aufgehoben werden könne,in dem dieser noch gar nicht zum „Herrn des Verfahrens" geworden sei. Bei der Be-schlagnahme von Gegenständen, die von einem Amtsträger dienstlich verwahrt wur-

den, sei nicht die Zustimmung der vorgesetzten Dienststelle (§ 230 Entw.), sondernder „obersten vorgesetzten Dienststelle" vorzusehen, da z. B. von einem Kreisleiter derNSDAP „den Notwendigkeiten der staatlichen Rechtspflege manchmal nicht das er-

forderliche Verständnis entgegengebracht" (!) und die Zustimmung mit der Begrün-dung versagt werde, eine „vermeintlich drohende Schädigung des Ansehens der Parteiusw. zu verhindern".10 Ferner müsse der unbedingte Beeidigungszwang bei der Ver-nehmung von Zeugen (§§ 171 ff. Entw.) durch ein weites richterliches Ermessen auf-gelockert werden, da sonst in „Fällen der belanglosen Aussage die Gefahr einer erheb-lichen Steigerung der Meineide" heraufbeschworen werde.11 Gleicher Ansicht war

auch die Abteilung IV (Bürgerliche Rechtspflege), die übrigens für die Beibehaltungdes Kollegialprinzips bei den Zivilgerichten eintrat. Erhebliche Bedenken erhob dieseAbteilung gegen die vorgeschlagene Regelung des Rechtsmittelwesens, vor allem we-

gen der Komplikationen, die sich aus der „Wahl des Rechtsmittels" ergeben würden,sowie gegen den im § 309 des Entwurfs unternommenen Versuch, „den Umfang derRevisibilität in einer kurzen Gesetzesbestimmung mit auch nur annähernder Sicher-heit zu begrenzen". Vor allem werde die Ausdehnung der Rechtsrüge auf die Prüfungtatsächlicher Feststellungen (§322 Entw.) „zu einer erheblichen Belastung der Revi-sionsgerichte führen". Ferner sei zweifelhaft, ob die Rechtsrügegerichte bei den ein-schlägigen Bestimmungen „dem Rechtseinheitsgedanken noch in gebotenem Maßewerden gerecht werden können". Mit dem Adhäsionsverfahren erklärte sich die Abtei-lung einverstanden, sprach sich jedoch dagegen aus, daß auch der Friedensrichter überbürgerlichrechtliche Ansprüche entscheiden sollte.12

Die Abteilung V (Öffentliches Recht) meldete u. a. gleichfalls Bedenken gegen eineEinführung des Führerprinzips bei Kollegialgerichten an: falls es für die Dienststrafge-richte und ständischen Ehrengerichte übernommen werden sollte, sei mit dem Wider-stand der Fachressorts und vor allem der berufsständischen Organisationen zu rech-nen.13

Von der Abteilung I (Personal- und Organisationssachen) schlug das „ReferatRechtsanwälte" vor, daß der Entzug der Verteidigungsbefugnis durch das Gericht we-

gen Verstoßes gegen die Anwaltspflichten (§ 138 Entw.) zu begründen und der zustän-digen Rechtsanwaltskammer mitzuteilen war, deren Präsident ein Beschwerderecht

9 Das forderte auch der StPO-Ausschuß der AkDR (vgl. Stellungnahme, folgende Anm. 21).10 Vgl. Stellungnahme des Ref. der Abt. III v. 27.8.36 (a.a.O., Sign. R 22/1036).11 Vgl. gemeinsame Stellungnahme der beiden Ref. der Abt. Ill v. 12./13.8.36 (a.a.O.).12 Vgl. Verm. über die Bespr. der Ref. der Abt. IV mit Abteilungsleiter MinDir. Volkmar v. 1.7.36 (a.a.O.).13 Vgl. Stellungnahme des mit der Leitung der Abt. V beauftragten MinRat Quassowski v. 24.6.36 (a.a.O.).

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dagegen erhalten sollte. Ferner sollte das Verfahren gegen Flüchtige unter die Fälleaufgenommen werden, für die die Bestellung eines Verteidigers zwingend vorgeschrie-ben war. Auch bei der Ladung zum Schnellverfahren sollte „der Beschuldigte stets Ge-legenheit haben, einen Verteidiger zu wählen und sich mit ihm sachgemäß zu bera-ten".14

Der Leiter der Strafgesetzgebungsabteilung Ministerialdirektor Schäfer erörterte alleFragen, die den Geschäftsbereich der anderen Abteilungen berührten, nochmals mitderen Leitern und Sachbearbeitern, bevor die neue Strafprozeßkommission Mitte De-zember 1936 zusammentrat. Er sorgte auch nach Beginn der Kommissionsberatungendafür, daß ihm die Referenten des Ministeriums eigene Anträge zur Behandlung in derKommission vorlegten.15

Gürtner berief die neue „amtliche Strafprozeßkommission"-

die zur Unterschei-dung von ihrer „kleinen" Vorgängerin auch die „Große Strafprozeßkommission" ge-nannt wurde -, nachdem die amtliche Straf rarètakommission ihre Beratungen über einneues Strafgesetzbuch Ende Oktober 1936 abgeschlossen hatte. Den Vorsitz über-nahm Gürtner selbst; zu Mitgliedern ernannte er Freisler als den zuständigen Staatsse-kretär, Ministerialdirektor Schäfer und den Leiter der Strafrechtspflegeabteilung Mini-sterialdirektor Crohne, ferner die drei Professoren der Rechtswissenschaft Dahm(Kiel), Graf Gleispach (Berlin) und seinen bewährten konservativen Mitstreiter Kohl-rausch (Berlin), die schon in der Strafrechtskommission mitgearbeitet hatten, sowiesieben Praktiker: den Präsidenten des Volksgerichtshofs Thierack, ReichsgerichtsratNiethammer, den Oberlandesgerichtspräsidenten von Kiel Martin, Landgerichtsdirek-tor von Vacano (Köln, ab Februar 1937 Landgerichtspräsident in Bochum), ErsterStaatsanwalt Lichtenberger, ferner den Generalstaatsanwalt beim Landgericht BerlinLautz (ab Juli 1937 Generalstaatsanwalt in Karlsruhe) und Landgerichtsdirektor i.R.Töwe (Bremen), die beide Mitglieder im NSRB-Ausschuß gewesen waren. Das Pro-blem der Vertretung der NSDAP löste Gürtner durch die erneute Einladung des Gra-fen von der Goltz, der schon in der amtlichen Strafrechtskommission als Bevollmäch-tigter der Partei fungiert hatte, und die nachträgliche Einholung einer Bestätigungdurch Heß und Bormann, daß von der Goltz der Kommission „im Auftrag des Stell-vertreters des Führers" angehöre. Da die Neugestaltung des Strafverfahrens auch fürdie Militärgerichtsordnung von Bedeutung war, entsandte das Reichskriegsministe-rium auf Einladung Gürtners abwechselnd die Ministerialräte Dietz und Sack.16 Nach-dem Gürtner in einer Unterredung mit dem Präsidenten der Reichs-Rechtsanwalts-kammer Neubert generell den Mangel an geeigneten Praktikern für die Beratungenbeklagt hatte, erklärte sich Neubert zur persönlichen Mitarbeit an den Bestimmungenüber die Rechte und Pflichten des Verteidigers bereit. Er nahm erstmals am 10. März1937 an den Sitzungen teil, beschränkte aber in der Folge seine Mitwirkung nicht aufdas Thema Strafverteidigung.17 Der Referent für Strafprozeßrecht im Reichsjustizmi-14 Vgl. Stellungnahme des Ref. für Anwaltsangelegenheiten in der Abt. I v. 15.9.36 (a.a.O.).15 Vgl. Sehr. MinDir. Schäfers an die Leiter der anderen Abt. im RJM v. 14./16.11.36 und Rundschr. an die

Sachbearbeiter v. 5.1.37 (a.a.O.).16 Zum Voranstehenden vgl. die Sehr. Gürtners an die Kommissionsmitglieder und den ReichskriegsM v.

21.11. bzw. 1.12.36, ferner den Verteilungsplan v. 1/7.12.36 (a.a.O., Sign. R 22/1037). Zu v. d. Goltz vgl.Verm. Gürtners v. 2.2.37 über seine Bespr. mit Heß und Bormann (a.a.O., Sign. R 22/1039).17 Vgl. Sehr. Neuberts an Gürtner v. 8.1.37 u. Antwortschr. Gürtners v. 12.2.37 (a.a.O., Sign. R 22/1037); Prot.der Großen StP-Kommission, 16. Sitzung v. 10.3.37 (Bibl. des BGH, Sign. F 7446).

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1016 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganenisterium, Ministerialrat Lehmann, der den Beratungen kommissarisch beiwohnte,nahm nach seiner Ernennung zum Senatspräsidenten beim Reichskriegsgericht aufErsuchen Gürtners ab Oktober 1937 auch in seiner neuen Eigenschaft weiter alsKommissionsmitglied teil.18

Als die Kommission ihre Tätigkeit am 14. Dezember 1936 im Berghof Raupennestin Altenberg (Erzgebirge) begann, standen ihr außer dem Entwurf vom 27. Februar1936, den erwähnten Stellungnahmen und zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentli-chungen zum Thema noch die Beratungsergebnisse des Ausschusses für Strafprozeß-recht der Akademie für Deutsches Recht zur Verfügung. Diese Ergebnisse lagen alsEinzelberichte vor, die Thierack als Mitglied des Akademieausschusses und Prof. Oet-ker (Würzburg) als Vorsitzender in der Zeitschrift der Akademie veröffentlicht hat-ten.19 Zusammenfassend äußerte sich der Akademieausschuß zu den Grundfragen desneuen Strafverfahrensrechts erst durch eine im Juli 1937 veröffentlichte Denkschrift,die vom neuen Vorsitzenden Prof. Schoetensack - der den Ende April verstorbenenOetker ersetzt hatte

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zusammen mit Töwe verfaßt worden war. Sie ging von denGrundvorstellungen des überkommenen Strafverfahrens aus und atmete einen ver-

hältnismäßig konservativen Geist: Beibehaltung der Abstimmung im Kollegialgericht,der richterlichen Nachprüfung des Haftbefehls usw., Beibehaltung des Eröffnungsbe-schlusses zumindest in seiner negativen Funktion sowie der Berufung und der Revi-sion in etwas freierer Gestaltung. An Änderungen vertrat sie u. a. die Abschaffung desKlageerzwingungsverfahrens und der gerichtlichen Voruntersuchung.20 Diese gemä-ßigte Einstellung des Akademieausschusses erklärt auch, warum ihn Hans Frank alsPräsident der Akademie 1936/37 nicht zum Angriff gegen den justizamtlichen Ent-wurf benutzen konnte, sondern sich dazu mit dem NSRB-Ausschuß ein eigenes In-strument schaffen mußte : die weitgehende „Versachlichung" der Arbeit der Akademiemachte sie zur Verfolgung persönlicher und politischer Ziele für Frank untauglich.Der Akademieausschuß nahm zum Februar-Entwurf des Justizministeriums von 1936in zwei Etappen erst im September 1937 bzw. Februar 1938 Stellung, so daß seineVorschläge von der Großen Strafprozeßkommission während der ersten Lesung nochnicht berücksichtigt werden konnten. Auch diese Stellungnahme, die fast zu allen Pa-ragraphen des Entwurfs aus prozeßtechnischen und sachlich-praktischen Gründen de-taillierte Änderungen vorschlug, stimmte mit den grundsätzlichen Vorstellungen desJustizministeriums überein.21 Bei der Darstellung der inhaltlichen Entwicklung des ju-stizamtlichen Entwurfs kann in unserem Zusammenhang nur auf einige der Akade-mie-Vorschläge hingewiesen werden.

18 Vgl. Sehr. Gürtners an Lehmann v. 24.9.37 (a.a.O., Sign. R 22/1038), Prot., a.a.O., 44. Sitzung v. 19.10.37.19 Es handelte sich um folgende Artikel, die das RJM den Kommissionsmitgliedern zustellte: G. Thierack,

Grundzüge eines nationalsozialistischen Strafprozesses unter besonderer Berücksichtigung des Ergebnissesder Arbeiten des Ausschusses für Strafprozeßrecht der Akademie für Deutsches Recht (ZAkDR 1935,S.94ff.); F. Oetker, Zur Reform der Strafprozeßordnung (a.a.O., S.670, ZAkDR 1936, S. 215 ff., 292 ff.,590ff.,625ff, 1010).

20 Vgl. Grundfragen des neuen Strafverfahrensrechts. Denkschrift des Ausschusses für Strafprozeßrecht derStrafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht, vorgelegt von Prof. Dr. jur. A. Schoetensack undLandgerichtsdirektor a.D. W. Töwe, Stuttgart 1937; dazu die Bespr. von G. Dahm, Zur Erneuerung desdeutschen Strafverfahrens (DJ 1937, S. 1608 ff.).

21 Vgl. Sehr, der AkDR an das RJM v. 27.9.37 nebst Stellungnahme zu den §§ 1 bis 389 des Entw. und Sehr. v.

17.2.38 nebst Stellungnahme zu den §§ 390 bis 429 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1038, Schubert, Akade-mie, Bd. VII, S. 284 ff., 329 ff.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1017

Die Große Strafprozeßkommission beriet die Strafverfahrensordnung und die Frie-densrichterordnung in erster Lesung bis zum 23. Oktober 1937 in sechs mehrtägigenZusammenkünften, die in Altenberg, Schwarzburg, Bad Schwalbach und Zinnowitzstattfanden. Wie seinerzeit bei der Erneuerung des Strafrechts wurden die Ergebnisseder ersten Lesung im April 1938 der Öffentlichkeit in einem Bericht unterbreitet, deraus Aufsätzen zu wichtigen behandelten Fragen bestand.22 Da sich die Polizeiführungzum Februar-Entwurf von 1936 noch immer nicht geäußert hatte, übermittelte Gürt-ner dem Reichsinnenministerium im Dezember 1937 den neuen Entwurf und bat fürdie weiteren Beratungen um die Entsendung eines Vertreters, um die „zahlreichen Be-rührungspunkte, die das Strafverfahrensrecht mit den polizeilichen Belangen hat", zuklären. Auf Vorschlag Himmlers schickte der Innenminister den PolizeipräsidentenKlaiber (Stuttgart), der auch im Akademieausschuß für Strafprozeßrecht saß, und Mi-nisterialrat Zindel in die Kommission.23 Als die zweite Lesung am 4. Mai 1938 in BadSchwalbach begann, waren außerdem noch zwei neue Mitglieder hinzugekommen:Sektionschef Suchomel und Staatsanwalt Sturm aus Wien, die nach dem Anschluß dieösterreichische Justizverwaltung in der Kommission vertraten.24 Von der Wehrmacht-rechtsabteilung war dagegen nur noch Oberregierungsrat Hülle beteiligt.

Um die Arbeiten zu beschleunigen, übersandte Gürtner am 2. Juli 1938 den Reichs-ministern, dem Stellvertreter des Führers und anderen interessierten Stellen den Ent-wurf erster Lesung mit der Bitte um baldige Mitteilung von Änderungswünschen, dadie Kommission ihre Beratungen bis Jahresende beenden werde.25 Als die zweite Le-sung nach zwei weiteren Tagungsabschnitten in Zinnowitz und Bad Brückenau am

10. Dezember 1938 abgeschlossen wurde, waren die eingegangenen Vorschläge nachMöglichkeit berücksichtigt worden26: In zweijähriger Arbeit und insgesamt 79 Sitzun-gen hatte die Große Strafprozeßkommission den Entwurf einer neuen Strafverfahrens-ordnung nebst einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung fertiggestellt, dessenendgültige Fassung mit eingehender Begründung am 1. Mai 1939 vorlag.27

Als Grundvoraussetzung für die inhaltliche Gestaltung des Entwurfs hatte es Freis-ler schon in der ersten Sitzung der Kommission für notwendig gehalten, die extremenForderungen des NSRB, die überwiegend auf eine Beschneidung der Justizzuständig-22 Das kommende deutsche Strafverfahren. Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, herausg. von Dr.

Franz Gürtner, Berlin 1938.23 Vgl. Sehr. Gürtners an den RuPrMdl v. 23.12.37 und Antwortschr. Fricks von 20.1.38 (Akten des RJM,BA, Sign. R 22/1038). Die dort für die Teilnahme bei bestimmten Themen vorgesehenen Vertreter MinRat

Hoche und Reichskriminaldirektor Nebe tauchen in den Protokollen der StP-Kommission nicht auf. In ei-nem Sehr. v. 9.11.39 an das RJM sprach Himmler von Klaiber und Zindel ausdrücklich als von „meinenReferenten" (Akten der RK, BA, Sign. R 43/111513 a).

24 Vgl. Sehr. Gürtners an den österreichischen JM v. 21.3.38 u. Referentenverm. v. 25.4.38 (Akten des RJM,a.a.O.).25 Vgl. Sehr. Gürtners v. 2.7.38 an die RM, St.d.F., NSRB, AkDR, RG, VGH u.a. Zur gleichen Zeit bekamen

auch die Professoren des Strafrechts und Strafprozeßrechts im Altreich den Entw. übersandt, allerdings mitder Maßgabe, „in literarischen Arbeiten von der Anführung des Wortlauts einzelner Vorschriften abzuse-hen" (a.a.O.). Auf die Rückäußerungen der beteiligten Stellen vom Sommer und Herbst 1938 (a.a.O., BA,Sign. R 22/1038 u. 1039, sowie Akten der RK BA Sign. R 43/11 1536) wird in der Folge nur soweit einge-gangen, wie die inhaltliche Entwicklung des Entw. während der Beratungen der Großen StP-Kommissionbehandelt wird.

26 Vgl. die Sehr, des RJM auf Rückfragen verschiedener RM u.a. beteiligter Stellen v. Mai/Juni 1939 (Aktendes RJM, BA, Sign. R 22/1039).

27 Akten des RJM, a.a.O. Die letzten zurückgestellten Fragen waren auf einer Bespr. v. 27.3. bis 1.4.39 in Hah-nenklee erörtert worden.

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1018 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganekeiten abzielten, durch Sachargumente zurückzuweisen.28 Freisler

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der übrigens dieseSitzung anstelle des grippekranken Gürtner leitete und mit einem „ ,Sieg Heil' auf denFührer" eröffnete

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trat der von Carl Schmitt in seiner „Stellungnahme" geäußertenThese entgegen, mit der die extremen Forderungen begründet worden waren: „daßdas Strafverfahrensrecht Verfassungsrecht sei". Diese These stimme nur dann, wenn

man vom liberalen Staatsbegriff ausgehe; dann handele es sich bei der Strafverfahrens-ordnung in der Tat hauptsächlich darum, „in welchen Formen der Staat in die Persön-lichkeitssphäre des einzelnen Bürgers am tiefsten eingreift". Unter dem Gesichtspunktder staatsbürgerlichen Garantien betrachtet, erscheine das Strafverfahrensrecht aller-dings als „magna charta und damit als Staatsgrundrecht" und stehe im Kern des Ver-fassungsrechts. Nicht so im nationalsozialistischen Staat: hier habe das Strafverfah-rensrecht keine eigenwertige verfassungsmäßige Bedeutung mehr, es diene vielmehr„der zweckmäßigen Durchsetzung des materiellen Strafrechts und seiner Aufgabe imEinzelfalle bis zur rechtskräftigen Entscheidung". Es sei eine zweckbestimmte, ratio-nelle Arbeitsordnung der Strafrechtspflege zur Durchsetzung der Gerechtigkeit im na-

tionalsozialistischen Sinn, d. h. zum Schutz der Volksgemeinschaft und der Sicherungdes nationalsozialistischen Staates

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allerdings eine nationalsozialistische Arbeitsord-nung, denn Zweckgebundenheit bedeute keineswegs Grundsatzlosigkeit. Sie müssedaher auf den beiden Grundsätzen „klarer Aufgabenbestimmung unter eindeutigerVerantwortungszuweisung" ohne „Kompetenzverschwommenheiten" einerseits undder Gewährung des notwendigen Vertrauens und der nötigen Freiheit zur eigenver-antwortlichen Erfüllung der Aufgabe andererseits aufbauen.

Wenn Freisler in diesem Zusammenhang ausführte, „die Arbeitsfreiheit und der da-mit verbundene Vertrauensbeweis an das mit der Aufgabe betraute Organ der Rechts-pflege" müsse „auch gegenüber den anderen Organen des Staates (gelten), die an derRechtspflege unmittelbar oder mittelbar mitwirken", so war die Verwirklichung dieses„nationalsozialistischen Grundsatzes" auf einem Gebiet äußerst problematisch: bei derAbgrenzung der Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen Justiz und Polizei. Ein zen-

trales Reformproblem stellte in dieser Hinsicht das künftige Verhältnis der Staatsan-waltschaft zur Polizei dar. Um das Strafverfahren effektiver zu gestalten, sollte derStaatsanwalt nach den Intentionen der Reformer nicht nur gegenüber dem Gericht,sondern auch gegenüber der Polizei zum „Herrn des Vorverfahrens" gemacht werden.Dabei hegte die Justiz anfänglich sogar die Illusion, der Staatsanwaltschaft die Krimi-nalpolizei organisatorisch unterstellen und ihrer Weisungsgewalt unterwerfen zu kön-nen. Nach geltendem Recht waren beide Behörden organisatorisch getrennt und ver-

schiedenen Ministerien unterstellt. Nach dem Gerichtsverfassungsgesetz wurden je-doch im Strafverfahren bestimmte Polizeibeamte zu „Hilfsbeamten der Staatsanwalt-schaft" bestellt und waren in dieser Eigenschaft verpflichtet, den Anordnungen derStaatsanwälte Folge zu leisten.29 Auch beim „ersten Angriff" aus eigener Initiative ge-

28 Zum folgenden vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 1. Sitzung v. 14.1.36 (Schubert, Quellen III,Bd.2.1, S.4ff.), ferner Freislers spätere Ausführungen in: Der Volksrichter in der neuen deutschen Straf-rechtspflege, Berlin 1937, S.7ff., und im Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, a.a.O. (voranste-hende Anm. 22), S. 12 ff.

"' § 152 GVG. Die Bestellung der entsprechenden Gruppen von Polizeibeamten erfolgte gemeinsam durchden RJM und den RMdl, vgl. AV des RJM v. 18.12.34 anläßlich der „Verreichlichung" der StAschaft (DJ1934, S. 1608).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1019

gen Straftaten waren die Polizeibehörden verpflichtet, die Staatsanwaltschaft „ohneVerzug" zu benachrichtigen und die Vorgänge zu übersenden (§ 163 StPO). Sie hatteneinen Festgenommenen „unverzüglich"

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nach der Auslegung des Reichsgerichts spä-testens an dem auf die Festnahme folgenden Tag

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dem Amtsrichter zwecks Entschei-dung über einen Haftbefehl bzw. die Freilassung vorzuführen (§ 128 StPO). Über diesegesetzlichen Regelungen hatte sich die Polizei schon bald nach der nationalsozialisti-schen Machtübernahme hinweggesetzt und die Verfolgung strafbarer Handlungen ingegebenen Fällen in eigener Regie gehandhabt.30 Da die „Hilfsbeamten" der Staatsan-waltschaft als Polizeibeamte ihren Vorgesetzten unterstellt blieben, war die Staatsan-waltschaft, die ihnen gegenüber keine Befehlsgewalt besaß und ihre Anordnungen nur

in Form von „Ersuchen" äußern konnte, gegen diese Entwicklung machtlos geblieben.Bei der grundlegenden Neuregelung des Strafverfahrens sah die Justiz offensichtlicheine Gelegenheit, die Dinge wieder in den Griff zu bekommen. Anfang Dezember1933 führte Generalstaatsanwalt Weber in der „kleinen" Strafprozeßkommission aus,wenn die Verwirklichung des Ideals einer „Unterstellung der gesamten Kriminalpo-lizei unter die Staatsanwaltschaft" in vergangenen Epochen auch verpaßt worden sei,so sei sie in der Zeit der grundlegenden Neuordnung nunmehr möglich geworden;durch eine entsprechende Fortbildung müßten die Staatsanwälte dann nur befähigtwerden, die Ermittlungen der Kriminalpolzei durch klare Weisungen selbst zu leiten.Dieser Vorschlag einer „Unterstellung" der Kriminalpolizei unter die Staatsanwalt-schaft war allerdings in zweierlei Hinsicht problematisch: Einmal hätte es die Über-nahme der kriminalpolizeilichen Aufgabe der Verbrechensverhütung

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neben derAufgabe der Verbrechensaufklärung

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auf die Staatsanwaltschaft und damit eine nichtohne weiteres verkraftbare Ausdehnung ihres Wirkungskreises bedeutet; zum anderenhätte auch nur eine teilweise Herauslösung der Kriminalpolizei aus dem Aufbau derGesamtpolizei mit ihrer Aufspaltung in organisatorischer, räumlicher und personellerHinsicht wegen des engen Zusammenhangs ihrer verhütenden und aufklärenden Ar-beit nicht ohne Schaden erfolgen können, da allein die technischen Einrichtungen wieKarteien, Sammlungen, das der Verwaltungspolizei unterstehende Melde- und Legiti-mationswesen usw. unteilbar und für beide Funktionen unentbehrlich waren.31 Des-halb hielt auch das Kommissionsmitglied Generalstaatsanwalt Parey in realistischerBetrachtung die Eingliederung der Kriminalpolizei in die Staatsanwaltschaft für uner-

reichbar, sah es andererseits jedoch für unbedingt notwendig an, daß die Polizei ihreKenntnis von Straftaten unverzüglich mitteile und „den Weisungen der Staatsanwalt-schaft unterworfen werde".32 Die Kommission faßte die Ergebnisse der Beratungenvom Dezember 1933 in zwei „Leitsätze" zusammen:

1. Die Kriminalpolizei sei „in möglichst enge Verbindung mit der Staatsanwaltschaftzu bringen", sie habe „in allen wichtigen Straffällen die Staatsanwaltschaft unverzüg-lich von der Einleitung der Ermittlungen zu verständigen" und unterstehe „denWeisungen der Staatsanwaltschaft", die ihr „möglichst bestimmte Aufträge erteilen"sollte.

30 Vgl. dazu Kapitel VI.2.a, S. 547 ff, und VI.3.a, S. 584ff.31 Zu den theoretischen Lösungsmöglichkeiten und ihrer Problematik vgl. H. Henkel, Das deutsche Strafver-

fahren, Hamburg 1943, S. 220 ff. Auch der StPO-Ausschuß der AkDR lehnte eine Herauslösung der Krimi-nalpolizei ab (vgl. Denkschrift, S. 13, voranstehende Anm. 20).

32 Ähnlich MinDir. Dürr, vgl. Sitzung der StP-Kommission v. 4./5.12.33 (Akten des RJM, BA, Sign. R22/1041).

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1020 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane2. Die Polizei behalte das Recht der vorläufigen Festnahme, habe aber „den vorläufig

Festgenommenen unverzüglich, spätestens binnen drei Tagen bei Vergehen undbinnen fünf Tagen bei Verbrechen, dem Staatsanwalt zur Entscheidung über denErlaß des Haftbefehls vorzuführen".33Im Entwurf der Strafverfahrensordnung vom Februar 1936 war dann der Gedanke

einer organisatorischen Unterstellung bereits fallengelassen und nur bestimmt wor-

den, daß die Polizei den Staatsanwalt bei der Aufklärung des Sachverhalts und derVerfolgung des Täters „unterstützt". Es hieß aber ausdrücklich weiter, daß sie „Wei-sungen [!] des Staatsanwalts" zu entsprechen und ihn bei selbständigen Maßnahmen„sofort zu benachrichtigen und ihn über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufen-den zu halten" habe. Nur in Strafsachen von geringer Bedeutung sollte sie

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falls keinbesonderer Anlaß vorliege

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mit der Benachrichtigung „bis zum Abschluß der Ermitt-lungen warten" dürfen.34 Die Bestimmung über die Vorführung des vorläufig Festge-nommenen war inhaltlich aus den „Leitsätzen" übernommen worden.

Derartige gesetzgeberische Absichten mußten bei der auf Machterweiterung erpich-ten Polizei Himmlers, deren Neuorganisation sich gerade während dieser Zeit vollzogund mit dem Gestapo-Gesetz vom Februar und der Ernennung des Reichsführers-SSzum Chef der Deutschen Polizei im Juni 1936 einen ersten Abschluß fand33, auf Wi-derstand stoßen. Als das Reichsinnenministerium im Juli 1936 auf die Übersendungdes Februar-Entwurfs hin eine gesonderte Stellungnahme des neuen Polizeichefs an-

kündigte, wies es ausdrücklich darauf hin, „daß vor Erlaß der Strafverfahrensordnungdie Stellung der Polizei im Dritten Reich grundsätzlich zu klären sein" werde.36 MitteJuni hatte das Geheime Staatspolizeiamt das Justizministerium wegen der Bedeutungder Verfahrensvorschriften für die Arbeit der Gestapo, „insbesondere soweit sie dasErmittlungsverfahren betreffen", um eine Abschrift des Entwurfs und Beteiligung an

etwaigen Besprechungen der Ressorts gebeten.37 Als sich die Polizeiführung in dendarauffolgenden zehn Monaten noch immer nicht äußerte, mahnte das Justizministe-rium den Innenminister Ende April 1937, „die Vorschläge, soweit sie die Polizei be-treffen, möglichst bald einer Prüfung unterziehen zu lassen".38 Daraufhin kam es am

25. Mai zwischen Himmlers Sachbearbeiter Oberregierungsrat Zindel und dem Refe-renten für Strafprozeßrecht des Justizministeriums zu einem ersten telefonischen Mei-nungsaustausch, bei dem die Gegensätze bereits klar zutage traten. Zindel teilte mit, inder Polizeiführung hätten sich „starke Bestrebungen geltend gemacht, das gesamte Er-mittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft abzunehmen und die Polizei zum Herrndes Ermittlungsverfahrens [!] zu machen. Der Staatsanwaltschaft würde dann nur dieAnklagetätigkeit verbleiben." Nur unter zwei Voraussetzungen könne darauf verzich-tet werden:

33 Vgl. Ergebnisse der Beratungen v. 4. bis 13.12.33 (a.a.O.). Die Forderung Dürrs, daß die Polizei den Verhaf-teten weiterhin binnen 24 Stunden vorführen sollte, lehnte MinDir. Crohne ab, da sie „ein Mißtrauen gegendie Polizei bedeute" (vgl. Sitzung v. 13.12.33, a.a.O.).

34 Vgl. die §§ 17 u. 221 des genannten Entw. (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S. 22, 49).35 Vgl. Kapitel VI.2.a., S. 553 ff., 559.36 Sehr, des RuPrMdl an das RJM v. 24.7.36 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1035).37 Vgl. Sehr, des Gestapa (i.V. Best) an das RJM v. 16.6.36 u. zustimmendes Antwortschr. des RJM v. 23.6.36

(a.a.O., Sign. R 22/1036).38 Sehr, des RJM an den RuPrMdl v. 29.4.37 (a.a.O., Sign. R 22/1038).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1021

„1. Es müsse sichergestellt werden, daß die Strafverfahrensordnung die präventiv-polizeilichenBefugnisse der Polizei völlig unberührt lasse. Diese Befugnisse müßten auch in einem schweben-den Strafverfahren ausgeübt werden können. Beispiel: Schutzhaft über Freigelassene

...2. Die Kriminalpolizei müsse in der Strafverfahrensordnung eine ihrer Bedeutung angemes-sene Stellung erhalten. Unerträglich sei der Gebrauch des Wortes ,Hilfsbeamte der Staatsanwalt-schaft'; ebenso unerträglich sei die Möglichkeit, daß die Staatsanwaltschaft einen Auftrag einemvon ihr selbst ausgesuchten Polizeibeamten erteile

...

Aus diesen Gründen erscheine die Be-zeichnung ,Herr des Verfahrens' für den Staatsanwalt als unerwünscht."

Die Polizeiführung habe es als besonders „unangenehm" empfunden, daß der Ent-wurf und die Beschlüsse der Großen Strafrechtskommission ohne Mitwirkung einesPolizeisachverständigen zustande gekommen seien.

Der Referent des Justizministeriums entgegnete, daß die Strafverfahrensordnungkeineswegs dazu bestimmt sei, „das Schutzhaftproblem zu regeln oder sonst in diepräventiven Befugnisse der Polizei einzugreifen. Diese Regelung sei Sache eines Poli-zeiverwaltungsgesetzes." Er sähe daher keine unüberwindlichen Hindernisse für eineVerständigung: über die Einzelfragen könne verhandelt werden, sobald die Stellung-nahme der Polizeiführung vorliege. .Auf die zu wiederholten Malen gemachte Bemer-kung, das Justizministerium könne doch Polizeifragen nicht allein regeln", antworteteer, daß sein Ministerium gerade durch die mehrmalige Übersendung seiner Vorschlägezu erkennen gegeben habe, daß ihm eine solche Absicht fernläge. Gegenüber seinenVorgesetzten zog der Referent aus diesem Gespräch den Schluß, daß die Lage wesent-lich vereinfacht würde, wenn der Innenminister und der Reichsführer-SS ein oderzwei Vertreter in die Strafprozeßkommission schicken könnten.39 Sein Vorschlag be-wirkte schließlich die erwähnte Beteiligung Zindels und des Polizeipräsidenten Klai-ber als Vertreter Himmlers an der zweiten Lesung des Entwurfs in der Großen Straf-prozeßkommission.

Auf Anregung Gürtners fanden im Februar 1938 schon vor Beginn der zweiten Le-sung Besprechungen der gegenseitigen Sachbearbeiter statt, in denen die Wünscheder Polizeiführung in Form konkreter Anträge zu den Bestimmungen des Entwurfsformuliert wurden.40 Dabei zeigte sich das generelle Bestreben der Polizei, sich durchdie Vorschriften einer neuen Strafverfahrensordnung in ihrer Tätigkeit auf keinen Fallbinden zu lassen. Schon am ersten Tag seines Auftritts in der Strafprozeßkommissionforderte Klaiber, daß in der Strafverfahrensordnung folgende „Grundsätze" berück-sichtigt werden müßten41:

1. Die Vorschriften der Strafverfahrensordnung sollten nur für das Strafverfahren,d. h. für jene polizeiliche Tätigkeit gelten, die sich aus dem Verdacht einer Straftat ent-

wickelte, sie sollten jedoch die gesamte vorbeugende Tätigkeit der Polizei-

etwa diekriminelle Vorbeugungshaft und die politische Schutzhaft -, die sich aus dem (gesetz-lich noch gar nicht kodifizierten!) Polizeirecht herleitete, keinesfalls berühren: es seivon allen Bestimmungen abzusehen, die „den Eindruck erwecken, als ob das Polizei-recht im Strafverfahren beschränkt werden" solle. Das bedeutete, daß die außernorma-

39 Vgl. Verm. MinRat Lehmann v. 26.5.37 über das Ferngespräch (a.a.O.).40 Vgl. Sehr. Gürtners v. 23.12.37 an den RuPrMdl, nachrichtlich an den RFSSuChdDtPol, sowie die Ref.-

Verm. über die Bespr. v. 1., 9. und 10.2.38, an denen von Seiten des RFSSuChdDtPol. außer Zindel undKlaiber u.a. Reichskriminaldirektor Nebe, von Seiten des RMdl MinRat Hoche teilnahmen. Eine weitereBespr. fand am 24.6.38 statt (a.a.O.).

41 Zum folgenden vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 49. Sitzung v. 4.5.38 (Schubert, Quellen III,Bd. 2.2, S. 473 ff.

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1022 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganetiven Befugnisse der Polizei auch durch die neue Strafverfahrensordnung nicht einge-dämmt werden durften.

2. Während es zur Zeit der Entstehung der geltenden StPO keine selbständige Kri-minalpolizei gegeben habe und die Polizei im Ermittlungsverfahren nur als Summevon einzelnen Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft in Erscheinung getreten sei, gäbees nunmehr eine selbständig arbeitende, gut organisierte Reichskriminalpolizei, derneben der Aufdeckung strafbarer Handlungen vor allem die vorbeugende Verbre-chensbekämpfung obliege und die als Teil der Gesamtpolizei organisatorisch und dis-ziplinär eine in sich geschlossene Einrichtung der Innenverwaltung sei. „Hilfsbeamteder Staatsanwaltschaft im bisherigen Sinne gibt es nicht mehr." Daraus folge, daß derStaatsanwalt sein Ersuchen nur an die Kriminalpolizeibehörde richten könne, abernicht mehr einzelnen bestimmten Beamten Weisungen erteilen dürfe, die die Vorge-setztenstellung im Behördenaufbau der Kriminalpolizei beeinträchtigten: er könnezwar der Kriminalpolizei Aufgaben stellen, müsse aber die Lösung im einzelnen ihrüberlassen.

3. Zwar werde seitens der Polizei anerkannt, daß der Staatsanwalt Träger des Er-mittlungsverfahrens und damit berechtigt sei, sich in jedem Stadium des Verfahrenseinzuschalten und den polizeilichen Ermittlungen die gewünschte Richtung zu geben.Er sollte sich dabei aber „auf das unbedingt Notwendige beschränken", um die Aus-nutzung der taktischen und technischen Erfahrungen der Kriminalpolizei nicht zur

Unzeit durch unzweckmäßige Anordnungen zu stören. Das bedeutete, daß die Krimi-nalpolizei ihr selbständiges, vom Staatsanwalt nicht abgeleitetes Recht auf Ermittlun-gen möglichst unabhängig und selbstherrlich ausüben wollte.

Man kam überein, die grundsätzliche Feststellung-

daß die allgemeinen Befugnisseder Polizei zu vorbeugenden Maßnahmen außerhalb des Strafverfahrens durch dieVorschriften der Strafverfahrensordnung nicht beeinträchtigt werden sollten

-

nicht inder Strafverfahrensordnung selbst, sondern in einem späteren, besonderen Einfüh-rungsgesetz niederzulegen.42 Dagegen strebte die Polizeiführung im Entwurf die Ab-änderung verschiedener Einzelbestimmungen an, die auf die Durchsetzung der ge-nannten „Grundsätze" abzielten und den Vorstellungen der Justiz zuwiderliefen. Sowandte sie sich z. B. gegen die Vorschrift

-

die die wichtigste Voraussetzung für einenicht erst nachträgliche Einschaltung der Staatsanwälte darstellte -, daß die Polizeinach Kenntnis von einem Tatverdacht den Staatsanwalt „sofort" benachrichtigen solle.Um diesen Zeitpunkt weitgehend selbst bestimmen zu können, schlug sie vor, daß diePolizei „von sich aus den Sachverhalt aufzuklären" und „alsbald" den Staatsanwalt zu

benachrichtigen habe. Wie Klaiber in der Strafprozeßkommission ausführte, würdeder Ausdruck „sofort" den Bedürfnissen der Praxis nicht gerecht: er würde den Zwangbedeuten, die Vorgänge zu einem Zeitpunkt abgeben zu müssen, „in dem das für diePolizei häufig gar nicht möglich" sei. Deshalb sei es „richtiger, den allgemeinen Aus-druck ,alsbald' zu wählen". Der zuständige Generalreferent der Strafrechtspflegeabtei-lung trat in der Sitzung für die Beibehaltung der vorliegenden Fassung ein, da nachden Beobachtungen seiner Abteilung die Unzuträglichkeiten gerade darin bestünden,

42 Vgl. schon Verm. v. 12.2.38 über die Bespr. zwischen Vertretern der Justiz und der Polizeiführung am

10.2.38 (Akten des JM, BA, Sign. R 22/1038), ferner die Ausf. MinDir. Schäfers in der Sitzung der GroßenStP-Kommission v. 6.12.38 (Schubert, Quellen III, Bd.2.3, S. 500ff.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1023

daß der Staatsanwalt „die Ermittlungsvorgänge zu spät oder gar nicht" erhalte undseine Ermittlungsaufträge „gelegentlich verzögerlich durchgeführt" würden. Ministe-rialdirektor Schäfer wollte deshalb eine ausdrückliche Vorschrift aufgenommen wis-sen, daß die Polizei nicht von sich aus die Akten weglegen und zu einer Einstellungdes Verfahrens befugt sein dürfe. Freisler und andere Vertreter der Justiz schlugen fer-ner eine Bestimmung vor, daß die Benachrichtigung des Staatsanwalts nicht in beliebi-ger Form, sondern durch Übersendung der Akten zu erfolgen habe, damit er entschei-den könne, ob er die Ermittlungen selbst übernehmen oder die Polizei mit der weite-ren Aufklärung betrauen wolle. Nachdem die Vertreter der Polizei zugesagt hatten,daß „alsbald" von der Kenntnis der Straftat an rechnete und nicht erst den Zeitpunktbedeutete, an dem der Sachverhalt klar, d.h. anklagereif war, lautete der entspre-chende Paragraph in seiner endgültigen Fassung:

„Die Polizei...

ist verpflichtet, den Ersuchen [nicht: den Weisungen!] des Staatsanwalts zu

entsprechen. Erfährt die Polizei von dem Verdacht einer mit Strafe bedrohten Tat, so befaßt-siesich sofort von sich aus mit den Ermittlungen und unterrichtet alsbald den Staatsanwalt, regel-mäßig durch Mitteilung ihrer Unterlagen. Sie hält ihn über den Stand der Ermittlungen auf demLaufenden. In Strafsachen von geringerer Bedeutung genügt es, den Staatsanwalt erst beim Ab-schluß der Ermittlungen zu unterrichten. Bei Gefahr im Verzug trifft die Polizei die erforderli-chen Maßnahmen von sich aus, auch wenn der Staatsanwalt die Ermittlungen führt."

Die Reichsminister des Innern und der Justiz bestimmten einvernehmlich, „welcheDienststellen und Beamten als Polizei im Sinne dieses Gesetzes gelten".43

Mit diesen Vorschriften hatte sich die Polizei im Strafverfahren in keiner Hinsichtstärker gebunden als nach der geltenden StPO. Noch deutlicher zeigte sich das bei derBestimmung über die Vorführung des vorläufig Festgenommenen zwecks Entschei-dung über den Haftbefehl. Der Entwurf des Reichsjustizministeriums sah die „unver-zügliche" Vorführung vor den zuständigen Staatsanwalt vor, sie sollte nur dann umdrei Tage

-

bei einer mit Zuchthaus oder schweren Strafen bedrohten Tat um fünfTage

-

hinausgeschoben werden dürfen, wenn weitere Ermittlungen notwendig wa-

ren, um über die Haft entscheiden zu können. In der Strafprozeßkommission44 lehnteKlaiber den auch im betreffenden § 128 der StPO enthaltenen Ausdruck „unverzüg-lich" ab, da er durch höchstrichterliche Rechtsprechung und die Praxis43 als eine Fristvon höchstens zwei Tagen ausgelegt worden sei. Auch die vorgesehenen drei bzw. fünfTage seien für die Polizei zu wenig, um „Material zu sammeln, das einen Haftbefehlrechtfertigt". Eine starre Frist könne „bei der Verschiedenartigkeit der Fälle überhauptnicht eingeführt werden". Die Polizeiführung schlug daher vor, die Vorführung erfol-gen zu lassen, „sobald der Stand der kriminalpolizeilichen Ermittlungen dies zuläßt".Dabei sollte eine Überschreitung der Frist von drei Tagen nur mit Zustimmung deszuständigen Staatsanwalts möglich sein und insgesamt drei Wochen nicht übersteigen

43 Vgl. § 8 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1039). Für eine möglichst schnelle Be-nachrichtigung des StAs durch die Polizei trat auch der StPO-Ausschuß der AkDR ein (vgl. Denkschrift,S. 13, voranstehende Anm. 20, sowie Stellungnahme, a.a.O., voranstehende Anm. 21).

44 Zum folgenden vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 59. Sitzung v. 23.8.38 (Schubert, Quellen III,Bd.2.3,S.166ff.).43 Das RG hatte entschieden, daß „unverzüglich" im § 128 StPO „ohne schuldhaftes Zögern" wie im § 121 des

BGB bedeute (Entsch. des RG in Zivilsachen v. 19.1.32, Bd. 135, S. 161). Auch in der AV des RJM „Richtli-nien für das Strafverfahren" v. 13.4.35 (Amtl. Sonderveröffentlichung der DJ Nr. 7) war unter Nr. 74 festge-legt, „daß die Vorführung regelmäßig spätestens am Tage nach der vorläufigen Festnahme zu erfolgen hat".

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1024 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedürfen: dann müsse spätestens Haftbefehl oder Freilassung erfolgen. ReichsgerichtsratNiethammer lehnte diesen Vorschlag ab, da dem von der Polizei Festgehaltenen wäh-rend der ganzen Zeit bis zur Anordnung des Haftbefehls dann nicht einmal die Be-schwerde an den vorgesetzten Staatsanwalt zustehe, „so daß er tatsächlich zunächstrechtlos wäre. Das ist rechtlich unmöglich." Generalstaatsanwalt Lautz verneinte aus

seinen langjährigen Erfahrungen das Bedürfnis für die vorgeschlagene Änderung undführte aus, als Staatsanwalt möchte er nicht die Verantwortung auf sich nehmen, „dieFestnahme eines Beschuldigten durch die Polizei zu bestätigen, ohne gleichzeitig ei-nen Einfluß auf den weiteren Gang der Ermittlungen ausüben zu können". Trotz desbezeichnenden Hinweises von Ministerialdirektor Schäfer, eine Ablehnung des Vor-schlages der Polizei könne die Folge haben, daß dort „andere Wege als die gesetzli-chen gegangen werden" (!), forderte die Mehrheit der Kommissionsmitglieder, die Po-lizei zur Einhaltung einer klaren Frist zu verpflichten. Ministerialrat Zindel trat dieserAuffassung mit grundsätzlichen Ausführungen entgegen:

,Als wir die Änderungen ... vorschlugen, wußten wir, daß wir bei der Justiz eine geschlosseneGegnerschaft finden würden. Dennoch bin ich überrascht, daß mir immer nur Gegengründe ge-nannt werden, die in der Hauptsache das Wohl des Beschuldigten, nicht aber den Schutz der All-gemeinheit berücksichtigen. Der Gedanke, daß die Allgemeinheit hinreichend geschützt werdenmüsse, ist aber allein der Ausgangspunkt für unsere Vorschläge gewesen

...

Die ursprünglicheFassung im

...

Entwurf würde uns aber völlig untragbar erscheinen. Eine Neufassung ist für uns

eine grundsätzliche Frage."46Schließlich erklärten sich die Polizeivertreter dennoch mit der Festlegung einer

Frist von einer Woche für „Ausnahmefälle" einverstanden. Im Entwurf wurde die Be-stimmung so gefaßt, daß die Zuführung des Festgenommenen durch die Polizei er-

folge, „sobald der Stand der Ermittlungen es zuläßt"; die Frist durfte „jedoch nur aus-

nahmsweise und in besonderen Fällen mehr als drei Tage und niemals mehr als siebenTage betragen".47 Da der Entwurf des Justizministeriums vorgesehen hatte, daß derBeschuldigte zwei Wochen nach Erlaß des Haftbefehls durch den Staatsanwalt denRichter anrufen konnte, sollte diese Frist nunmehr schon mit dem Zeitpunkt „eineretwa vorausgegangenen vorläufigen Festnahme" zu laufen beginnen, um dem Beschul-digten dieses Recht nicht zu schmälern.48 In der Frage der Zuführung von Festge-nommenen im Strafverfahren hatte die Polizeiführung um so leichter nachgeben kön-nen, als ihren Organen im konkreten Fall jederzeit die Möglichkeit blieb, den Betrof-fenen aus

-

eventuell nur vorgegebenen49-

präventiven Gründen weiter in polizeili-cher Vorbeugungshaft oder Schutzhaft zu halten. Gerade das Argument, daß „häufig... der Freigelassene aus Gründen, die die ursprüngliche Festnahme nicht veranlaßthaben, in Haft gehalten werden müsse", hatten die Vertreter der Polizei bei ihrer ur-

sprünglichen Forderung nach Aufnahme einer Bestimmung ins Feld geführt, daß dervorläufig Festgenommene bei Ablehnung eines Haftbefehls freigelassen „oder aufWunsch der Polizei dieser überstellt" werden sollte. Sie hatten jedoch sofort darauf

« Prot., a.a.O., S. 169.47 § 218 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S. 327).48 Vgl. §215 (a.a.O.).49 Zu dieser Praxis vgl. Kapitel VI.3.a., besonders S. 589, auch im folgenden S. 1027 f.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1025

verzichtet, als die Vertreter der Justiz argumentierten, daß es sich in diesen Fällen nur

um Verhaftungsgründe handeln könne, die mit dem konkreten Strafverfahren nicht inZusammenhang stünden, und folglich eine solche Vorschrift in der Strafverfahrens-ordnung keinen Platz habe; eine Bestimmung über die Benachrichtigung der Polizeibei Haftentlassung gehöre vielmehr in die Verwaltungsrichtlinien für die Justizbehör-den.50

In besonderem Maße entzündeten sich die Gegensätze zwischen Justiz und Polizeian dem im Entwurf des Justizministeriums vorgesehenen gerichtlichen „Sicherungs-verfahren", durch das bestimmte sichernde Maßnahmen auf Antrag des Staatsanwaltsgegen Straftäter angeordnet werden konnten, gegen die wegen Schuldunfähigkeit oderanderer Verfahrenshindernisse keine Anklage möglich war oder das Verfahren einge-stellt werden mußte.51 Als dieser Komplex am 2. Dezember 1938 in Bad Brückenauvon der Strafprozeßkommission behandelt wurde52, erklärte Zindel, er sei „mit demausdrücklichen Auftrag gekommen, in diesem Kreis einmal offen zu erklären, daß diePolizei dieses Ansichziehen' von polizeilichen Aufgaben durch die Justiz als einenganz großen Einbruch in ihre Zuständigkeit betrachtet

...

Es ist nicht daran zu den-ken, daß die Polizei ihre angestammten Rechte zugunsten der Justiz aufzugeben beab-sichtigt." Die Polizei habe seinerzeit, als die gerichtlichen Sicherungsmaßnahmen imGewohnheitsverbrechergesetz von 1933 und später im Entwurf eines neuen Strafge-setzbuches festgelegt worden seien, „ihre Belange gegenüber der Justiz nicht entspre-chend vertreten" können, da sie noch in der organisatorischen Umgestaltung zur

Überwindung ihrer föderativen Zersplitterung begriffen gewesen sei. Dieser „Über-gangszustand" sei nunmehr überwunden und die Polizei habe vom Führer die Auf-gabe der „Sicherung der Volksgemeinschaft" eindeutig übertragen bekommen; folg-lich sei es nunmehr an der Zeit, „die Grenzen der Zuständigkeit abzustecken". Dasvon jeglichem Strafurteil losgelöste, selbständige Sicherungsverfahren, bei dem Justizund Polizei „der Öffentlichkeit ein Bild sich widersprechender Entscheidungen" ge-ben könnten, fordere „eine Erörterung dieser grundsätzlichen Fragen geradezu her-aus". Die Justizvertreter machten demgegenüber geltend, daß auch die Rechtspflegeneben der Aufgabe, Straftaten zu sühnen, ausdrücklich den Auftrag erhalten habe, dasdeutsche Volk zu schützen; das gehe u.a. sowohl aus dem Gedanken der Generalprä-vention wie auch aus dem vom Führer gebilligten Wortlaut des Vorspruchs zum Ent-wurf des neuen Strafgesetzbuches hervor.53 Gürtner machte über seine Einschätzungder außernormativen, konkurrierenden Tätigkeit der Polizei die folgenden bemerkens-werten Ausführungen:

„Man muß sich hierbei darüber klar sein, daß der augenblickliche Rechtszustand gewissenVorstellungen nicht nur in Kreisen der Justiz, sondern auch im Volk nicht entspricht. Der ge-genwärtige Zustand kommt besonders scharf zum Ausdruck in zwei Verordnungen für Öster-

50 Vgl. Verm. über die Bespr. der Vertreter von RJM, RMdl und RFSSuChdDtPol. v. 24.6.38 (Akten des RJM,BA, Sign. R 22/1038). Zum Problem der Benachrichtigung der Polizei bei Aufhebung der Untersuchungs-haft vgl. Kapitel VI.3.a„ S. 587 ff.

51 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.a., S.992.52 Zum folgenden vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 73. Sitzung v. 3.12.38 (Schubert Quellen IIIBd. 2.3, S. 467 f.).53 Bei den Beratungen im Kabinett hatte Hitler sogar veranlaßt, im Vorwort die Aufgabe „Schutz des Volkes"

vor „Sühne für Unrecht" zu stellen; vgl. Kapitel VII.2.C, S.798.

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1026 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganereich und die Sudetenländer54, die Übergangscharakter haben und meines Erachtens auch nie-mals den Dauerzustand darstellen könnten. Durch diese Verordnungen ist die Polizei ermäch-tigt, ohne Rücksicht auf die Gesetze für die öffentliche Sicherheit in den genannten Gebieten zu

sorgen. Ich kann mir nicht denken, daß dieses .Freistellen' der Polizei von allen gesetzlichen Vor-schriften in Zukunft ein Dauerzustand sein könnte [!]. Denn wenn dem so wäre, hätte das Straf-gesetzbuch seinen Sinn verloren [!]; man könnte vielmehr aus freiem Entschluß heraus alles tun,was zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit notwendig erscheint."

Innerhalb der übergeordneten gemeinsamen Schutzaufgabe gebe es eine klare Zu-ständigkeitsabgrenzung: Sei in der Welt des Sichtbaren ein Verbrechen begangen, d.h.der Tatbestand einer strafbaren Handlung verwirklicht worden, dann habe die Justizzu handeln und diesen Fall „anzusprechen". Sei dagegen ein Verhalten, das keinestrafbare Handlung darstelle, eine so starke Gefahr für die Allgemeinheit, daß die öf-fentliche Sicherheit die Festnahme erfordere, so habe die Polizei zu handeln, um dieGesellschaft vor demjenigen zu schützen, der einer künftigen Straftat fähig sei; „in die-sem Fall hat die Justiz nicht .anzusprechen'". Oberlandesgerichtspräsident Martin er-

gänzte diese Ausführungen mit der Erklärung, die Maßregeln zur Sicherung seien „sostarke Eingriffe in die Freiheit des Menschen, daß man wohl die Frage aufwerfen darf,ob es in einem geordneten Staatswesen möglich und zulässig sein darf, daß ein solcherEingriff ohne ein rechtlich geordnetes Verfahren erfolgt": die Freiheit dürfe keinesfalls„ ,willkürlich' sondern nur in einem geordneten Verfahren entzogen werden". Staats-minister Hueber aus Wien führte aus, daß der Polizei derartige Kompetenzen nur „inKrisenzeiten" eingeräumt werden sollten; je mehr sich z.B. das Leben in Österreichnach dem Anschluß normalisiere, müsse auch dort über den Entzug der Freiheit wie-der „in einem normal geordneten und gründlichen Verfahren entschieden werden":dort sei „deutlich zu spüren, wie stark die öffentliche Meinung nach Rechtsklarheitund Gründlichkeit verlangt". Den aus rechtsstaatlichem Denken entspringenden An-spruch der Justizvertreter auf ein gerichtliches Sicherungsverfahren suchte Zindeldurch den Hinweis zu erschüttern, daß die Polizei die weniger gefährlichen Fälle von

Einweisungen in Heilanstalten, Arbeitshäuser usw. ohnehin ohne Beteiligung derGerichte erledige und daß es aus ihrer Sicht „ein etwas merkwürdiges Ergebnis" sei,wenn ihr für die gefährlichen Schädlinge diese Zuständigkeit entzogen und diesen

-

nur weil „der äußere Tatbestand einer strafbaren Handlung verwirklicht wurde"-ein bevorzugtes „Verfahren mit richterlichen Kautelen" zugestanden werden solle.

Aber die Mitarbeiter des Justizministeriums begründeten die Notwendigkeit des Si-cherungsverfahrens nicht nur mit rechtstheoretischen Argumenten, sondern auch da-mit, daß der von Hitler gebilligte Entwurf eines neuen StGB gerichtliche Sicherungs-maßnahmen vorsähe und folglich die neue StPO dafür ein entsprechendes Verfahrenenthalten müsse. Die Notwendigkeit ergebe sich aus folgendem: Wenn sich z.B. ineinem Strafverfahren wegen einer Tat, die in der Öffentlichkeit starkes Aufsehen er-

regt habe, herausstelle, daß der Täter geisteskrank sei, so müsse das Volk in einem sol-chen Falle zugleich mit dem Freispruch oder der Einstellung des Verfahrens in der ab-

54 Vgl. § 1 der Zweiten VO zum G. über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich v.18.3.38 (RGB1.I, S. 262): „Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium desInnern kann die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung notwendigen Maßnahmen auch außer-halb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen treffen." Fast gleichlautend § 1 der Dritten VOzum Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Verwaltung der sudetendeutschen Gebiete v. 22.10.38(RGBI. I, S. 1453).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1027

schließenden gerichtlichen Entscheidung erfahren, was mit dem Täter geschehe, um

die Allgemeinheit vor ihm zu schützen. Zindels Einwurf, daß doch die Wirkung diegleiche sei, ob in der Presse stehe, daß das Gericht den Angeklagten zugleich mit derEinstellung des Verfahrens in eine Sicherungsanstalt eingewiesen habe, oder ob dortverkündet werde, es habe ihn der Polizei überstellt, zeugt von einer völligen Verständ-nislosigkeit gegenüber den Gedankengängen der Justiz. Er wurde von Hueber auchmit dem Argument zurückgewiesen, daß dies „mit dem Prestige der Justiz unverein-bar" sei, „da sich aus einer solchen Mitteilung ergeben würde, daß die Justiz die Polizeibraucht, um den Täter in eine Anstalt einweisen zu können".

Als das Thema in Bad Brückenau drei Tage später abermals auf der Tagesordnungstand33, schlug Klaiber vor, die de facto bestehende konkurrierende Zuständigkeit derPolizei durch folgende Bestimmung auch im Gesetz zum Ausdruck zu bringen, die imStGB-Entwurf hinter den Paragraphen über die selbständige Anordnung von sichern-den Maßregeln eingefügt werden sollte:

„Eine gerichtliche Entscheidung über sichernde Maßregeln schließt nicht aus, daß die Ver-waltungsbehörden nach den für sie geltenden Vorschriften die zum Schutz der Volksgemein-schaft gebotenen Maßnahmen treffen."

Zindel unterstützte diese Forderung mit dem Argument, daß es schließlich nichtehrlich sei, „wenn man das, was beiderseits anerkannt wird, nicht auch im Gesetz nie-derlegt". Tatsache sei, „daß, wenn die Polizei mit einem Urteil nicht zufrieden ist, siedie Vorbeugungshaft verhängen kann, um ihre Rechtsansicht zur Geltung zu brin-gen". Freisler

-

der an diesem Tage anstelle des nach Berlin gefahrenen Gürtner denVorsitz führte

-

erwiderte, eine solche Bestimmung könne überhaupt nur unter derVoraussetzung aufgenommen werden, „daß auf dem Gebiete des Polizeirechts dasEntsprechende über die Zuständigkeit der Justiz gesagt" werde; die Zuständigkeitenmüßten „in den beiderseitigen Bestimmungen zum Ausdruck" kommen. „Sonstwürde sich das falsche Bild ergeben : Was Du, Richter aussprichst, ist ganz gleichgültig,denn die Polizei kann es nachträglich abändern." Gegen diese Forderung konnte Klai-ber das allerdings durchschlagende Argument ins Feld führen, daß „noch [!] keine ge-setzliche Kodifikation des Polizeirechts" existiere; es gebe für die Polizei „kein Gesetz,in dem wir die Grundsätze verankern können". Daraufhin erklärte Freisler, daß die ge-forderte Bestimmung über den Rahmen des behandelten Themas weit hinausgehe:

„Wenn jemand, der seine Strafe verbüßt hat, und gegen den eine Sicherungsverwahrung nichtausgesprochen worden ist, am Gefängnistor von der Polizei in Vorbeugungshaft genommen wird,so tritt damit ein Problem auf, das von unseren Richtern außerordentlich ernst genommen wird.Verzahnen sich die Zuständigkeiten derart ineinander, so tut man nicht gut, in einer Einzelfrageeine solche Vorschrift aufzustellen. Auf die Richter würde das sehr schwerwiegende Rückwir-kungen haben. Das von ihnen erkannte Strafmaß würde von vornherein als fragwürdig erschei-nen

...

Die Richter müssen bei einer gesetzlichen Fixierung das Gefühl haben, daß das, was sieim Urteil aussprechen, nicht nur eine Ermöglichung, sondern auch eine Begrenzung der Straf-vollstreckung ist."

Klaiber entgegnete, er könne es nicht verstehen, daß der Richter verstimmt werde,„wenn im Gesetz etwas ausgesprochen wird, was bereits tatsächlich rechtens" (!) sei. Eskönne „aber doch gar kein Zweifel bestehen, daß die Polizei das Recht hat, präventiv35 Zum folgenden vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 75. Sitzung v. 6.12.38 (Schubert, Quellen III,Bd. 2.3, S. 500ff.).

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1028 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganemit sichernden Maßregeln vorzugehen". Außer der aus politischen Gründen verhäng-ten Schutzhaft, die „völlig außerhalb des jetzt erörterten Bereichs" stehe, könne diePolizei nun einmal „die Vorbeugungshaft auch verhängen, wenn keine Straftat began-gen ist. Es ist daher schwer einzusehen, warum diese Möglichkeit erschwert sein soll,wenn eine Straftat vorausgegangen ist." Demgegenüber hielt Freisler eine gesetzlicheFestlegung der „gemeinsam anerkannten Grundsätze" erst nach „einer Zeit langer Er-fahrungen und gegenseitiger Zusammenarbeit" für möglich. Er schlug vor, den von

der Polizei vorgeschlagenen Gedanken in der amtlichen Begründung zur neuen Straf-verfahrensordnung zum Ausdruck zu bringen56 und für die Praxis den Ausnahmecha-rakter des selbständigen gerichtlichen Sicherungsverfahrens in den entsprechendenVerwaltungsrichtlinien niederzulegen sowie „den Staatsanwälten entsprechende Wei-sungen" zu geben.

Oberlandesgerichtspräsident Martin betonte, daß auch bei der praktischen Rege-lung die Zuständigkeit der Polizei genau abgegrenzt werden müsse. Es gehe nicht an,daß die Justiz im konkreten Fall ihren ,Auftrag, das deutsche Volk zu schützen,... er-

füllt und ihr Verfahren mit einer bestimmten Entscheidung abschließt, und daß danndie andere Stelle kommt und erklärt, sie mache die nämliche Sache anders. Ein sol-ches Verfahren ist das Gegenteil von Recht und Ordnung." Deshalb dürfe die Polizeinur dann zu Maßnahmen befugt sein, wenn sich neue Umstände ergeben hätten, dieeine andere Einschätzung des künftigen Verhaltens des Täters begründeten. Freislerbetonte, darin liege in der Tat „der Kern der Krisis, die auf diesem Gebiet besteht":Wenn die Polizei für sich beanspruche, „über denselben Sachverhalt, den der Richterauch unter dem Gesichtspunkt sichernder Maßnahmen geprüft hat, entgegengesetztzu entscheiden", so läge eine nachträgliche Korrektur der richterlichen Entscheidungvor, und die Justizleitung könne „nicht anders als erklären, daß dies ein Eingriff ineine Aufgabe ist, die der Justiz gegeben ist". Demgegenüber vertrat Klaiber den„Standpunkt, daß eine kompromißlose Zuständigkeit der Polizei zur Verhängung von

Sicherungsmaßnahmen" bestehe: es brauche „kein neuer Sachverhalt [!] vorzuliegen,ehe die Polizei eingreift". Zindel bekräftigte diesen Standpunkt mit den Worten, diePolizei nehme „tatsächlich die Zuständigkeit in Anspruch, die die Justiz uns bestrei-tet". Die hier offen beanspruchte nachträgliche Korrektur richterlicher Entscheidun-gen nannte Landgerichtspräsident von Vacano „für den Richter eine Demütigung undunerträgliche Belastung", die „das Rechtsgefühl des Volkes und sein Vertrauen zur

Rechtspflege und damit zum Recht überhaupt auf das schwerste erschüttern" werde.Schließlich verzichtete Klaiber auf seine Forderung, die vorgeschlagene Bestimmungin das Gesetz aufzunehmen, in der Erkenntnis, „daß der Versuch einer abstrakten For-mulierung unserer Standpunkte zu theoretischen Schwierigkeiten" führe, „die nurdurch die praktische Zusammenarbeit der Behörden überwunden werden können".Die Polizeiführung begnügte sich mit der Fortsetzung ihrer bisherigen Praxis; ihr Ver-such, ihre außernormative Tätigkeit wenigstens an dieser Ecke gesetzlich verankert zu

sehen, war gescheitert. Dagegen wurde Klaibers Vorschlag angenommen, dem Staats-anwalt die Möglichkeit zu geben, seinen Antrag auf sichernde Maßregeln noch in der

36 Der Hinweis auf die konkurrierende Zuständigkeit der Polizei bei der Anordnung von Sicherungsmaßnah-men erfolgte in der Begr. zum §411 (Voraussetzungen für das Sicherungsverfahren) des StVO-Entw. v.

1.5.39 (a.a.O., Bd. 1, S. 567).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1029

Hauptverhandlung (!) zurückzunehmen37, wenn er sah, daß er damit beim Gerichtnicht durchkam. Dadurch werde „ein etwaiges Auseinanderklaffen der Entscheidungdes Gerichts und der Anordnung der Polizei vermieden", wenn diese eine entspre-chende Maßnahme für notwendig halte. Da die Staatsanwälte seit März 1938 gehaltenwaren, zumindest vor dem Antrag auf gerichtliche Sicherungsverwahrung mit der Po-lizei Verbindung aufzunehmen38, und daher deren Ansicht zum konkreten Fall kann-ten, war die Annahme dieses Vorschlages ein deutlicher Rückzieher vor der Polizei.

Vermochte die Polizeiführung am vorgesehenen gerichtlichen Sicherungsverfahrennicht zu rütteln, so erreichte sie die Streichung der Vorschrift über die „Feststellungs-haft" zur Identifizierung mutmaßlicher Beschuldigter oder Verurteilter, die gewisserechtliche Kautelen zugunsten der Betroffenen enthielt.39 Wie Klaiber in der Kom-mission ausführte, sei die Feststellungshaft „eine rein polizeiliche Aufgabe", die diePolizei auch außerhalb der Sphäre des Strafverfahrensrechts gegen jeden wahrnehmenkönne, dessen Persönlichkeit unbekannt sei und festgestellt werden müsse. Sie seidurch den nicht veröffentlichten Erlaß des Reichsinnenministers vom 14. Dezember1937 geregelt60 und damit „bereits geltendes Recht". Wenn der Paragraph im Entwurfnicht gestrichen werde, entstehe der falsche Eindruck, daß die Polizei dieses Rechtnur beim Vorliegen einer strafbaren Handlung habe und nur mit den dort vorgesehe-nen Einschränkungen vorgehen dürfe.61 Eine weitere Änderung setzte die Polizei beider Vorschrift über eine vorübergehende Ausschließung des Angeklagten von derHauptverhandlung

-

und zwar bei Vernehmungen über geheimzuhaltende Angele-genheiten

-

durch. Nach dem Entwurf durfte die Ausschließung dann erfolgen, wenn

die Anwesenheit des Angeklagten bei der Vernehmung eines Mitangeklagten, Zeugenoder Sachverständigen die Wahrheitsforschung erschwerte oder wenn die Erörterun-gen über seinen körperlichen und geistigen Zustand für ihn nachträgliche Folgen ha-ben konnten. Der Gerichtsvorsitzende hatte den Angeklagten anschließend von dem„wesentlichen Inhalt" des in seiner Abwesenheit Verhandelten zu unterrichten. In derStrafprozeßkommission forderte Klaiber62 die zusätzliche Möglichkeit einer Aus-schließung für den Fall, daß „ein Vertrauensmann der Polizei vernommen werden[sollte], dessen Persönlichkeit aber dem Angeklagten nicht zur Kenntnis gebracht wer-

den" dürfe, ferner dann, wenn ein Sachverständiger über Neuerungen auf dem Gebietkriminaltechnischer Verfahren aussage, die tunlichst nicht „sofort dem Angeklagtenund seinen Kreisen bekannt" werden sollten. Er schlug daher vor, im Entwurf dieEntfernung des Angeklagten zusätzlich dann vorzusehen, wenn seine Anwesenheit„das Wohl des Reiches gefährden würde". In der Tat stellte die Geheimhaltung von

Gestapoagenten-

sogenannten „V-Männern"-

für die Gerichte ein so schwierigesProblem dar, daß selbst der Volksgerichtshof oftmals auf deren Aussagen als Beweis-

37 Vgl. § 412 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (a.a.O., S.352).38 Zur AV des RJM v. 3.3.38 vgl. Kapitel VI.8.b., S. 729f.59 Vgl. Kapitel VIII.2.a., S. 989.«> Vgl. Kapitel VI.8.a.,S. 725 f.61 Vgl. die Ausf. Klaibers in der Großen Strafprozeßkommission, Prot. der 49. Sitzung v. 4.5.38 und der

59.Sitzung v. 23.8.38 (Schubert, Quellen III, Bd.2.2, S.469ff„ Bd.2.3, S. 161 ff.).62 Vgl. Ausf. Klaibers in der 53.Sitzung v. 9.5.38 und 61. Sitzung v. 25.8.38 (a.a.O., Bd.2.3, S.27ff., 213 ff.).

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1030 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganemittel verzichtete.63 Deshalb erwiderte Gürtner, der „anonyme Zeuge" passe über-haupt nicht in das Strafverfahren hinein, und selbst Freisler hielt es „für völlig unmög-lich", den als Zeugen aussagenden Agenten vor dem Angeklagten geheimzuhalten,denn der Angeklagte werde „häufig in der Lage sein, über den Zeugen Angaben zu

machen, die seine mangelnde Glaubwürdigkeit in das rechte Licht rücken". Um aberden zweiten von Klaiber angeführten Fall zu berücksichtigen, schlug er vor, für dieAusschließung des Angeklagten zusätzlich den Grund aufzunehmen, daß „die Auf-nahme des Beweises in seiner Gegenwart die öffentliche Sicherheit gefährden würde"64;der von Klaiber verwendete Begriff „Wohl des Reiches" werde sonst „durch die Praxiszu sehr abgegriffen".

Bei der Vorschrift über die Akteneinsicht des Verteidigers wollte Klaiber eine Be-stimmung eingefügt sehen, die es ermöglichte, dem Verteidiger und dem Beschuldig-ten die Kenntnisnahme bestimmter Akten zu verwehren, die die Geheime Staatspo-lizei dem Staatsanwalt mit einem entsprechenden Vermerk übergab. Gürtner lehnteeine solche Regelung ab, da sie „nur zu leicht die Vorstellung von Geheimdossiers" er-

wecke: alle Akten, die dem Gerichtsvorsitzenden zur Kenntnis kämen und im Verfah-ren verwertet würden, müßten auch dem Verteidiger zugänglich gemacht werden. DieGeheime Staatspolizei müsse sich „daher vorher genau überlegen, welche Akten siedem Gericht überlassen kann oder nicht".65

Eine Vorschrift des Entwurfs, gegen die Klaiber im Auftrag Himmlers besondersintensiv Sturm lief, war das Zeugnisverweigerungsrecht für Geistliche, die nicht überTatsachen vernommen werden sollten, „über die sie als Seelsorger Verschwiegenheitzu wahren" hatten. Dieses Recht „könne nach den in den Sittlichkeitsprozessen ge-machten Erfahrungen nicht mehr anerkannt werden". Zumindest sollte seine Geltungdann aufgehoben werden, „wenn überwiegende Staatsinteressen in Betracht" kämen.Gürtner lehnte diese Forderung mit dem Hinweis ab, daß das Reichskonkordat vom

20. Juli 1933 den staatlichen Behörden verbot, Geistlichen Auskünfte abzuverlangen,„die ihnen bei Ausübung der Seelsorge anvertraut worden" waren.66 Auch das Reichs-kirchenministerium hatte die Notwendigkeit der Vorschrift anerkannt und nur gebe-ten, dabei die Formulierung aus dem Konkordat zu wählen, die auch im § 53 der gel-tenden StPO verwendet worden war: sie sei enger und decke z.B. nicht Tatsachen, dieein Geistlicher nur gelegentlich eines seelsorgerischen Besuchs wahrgenommen habe.Die im Entwurf vorgesehene Fassung schließe überdies innerkirchliche Vorgänge undFragen des Kirchenrechts ein, für die z. B. dem katholischen Geistlichen das kanoni-sche Recht Verschwiegenheit auferlegen könne. Es bestehe dann die Gefahr, daß siedahingehend ausgelegt werde, der Staat erkenne „das Recht der Kirche an, den Rah-

63 Zum Problem der Verwertung von Aussagen anonymer Gestapospitzel durch die Gerichte vgl. KapitelVI.7.b, S.714L

64 Vgl. § 55 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, a.a.O., Bd. 1, S.307).65 Zum Voranstehenden vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 56. Sitzung v. 12.5.38 (a.a.O., Bd.2.3,

S. 108 f.). Auch der StPO-Ausschuß der AkDR vertrat diese Ansicht: seien Akten nur unter der Bedingung zu

erhalten, „daß sie dem Verteidiger nicht vorgelegt werden, so sind sie auch dem Gericht nicht zugänglich zumachen" (vgl. Denkschrift, S. 18, voranstehende Anm. 20).

M Vgl. Verm. über die Bespr. am 9.2. und 24.6.38 (Akten des RJM, B A, Sign. R 22/1038), Prot. über die 56. Sit-zung v. 12.5.38 und 61. Sitzung v. 25.8.38 der Großen Strafprozeßkommission (a.a.O., S.120f, 214). DasZeugnisverweigerungsrecht für Geistliche wurde auch von der AkDR vertreten (vgl. Denkschrift, S.36,a.a.O.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1031

men der Verschwiegenheitspflicht für Seelsorger zu bestimmen".67 Deshalb wurde dieVorschrift im endgültigen Entwurf in der Weise präzisiert, daß der Geistliche Aus-kunft über Tatsachen verweigern dürfe, „die ihm bei Ausübung der Seelsorge anver-

traut worden sind und über die er deshalb als Seelsorger Verschwiegenheit zu wahrenhat".68

Wie hier bei der Vernehmung von Geistlichen wollte sich die Polizei-

die mit der„verschärften Vernehmung" ihre eigenen Methoden entwickelt hatte - generell beider Vernehmung von Zeugen durch die Vorschriften des Entwurfs nicht binden las-sen. Für die Justiz wiederum waren die Aussagen nur dann von Wert, wenn die Ver-nehmungen, die die Polizei auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft anstellte, unter Ein-haltung dieser Bestimmungen zustande gekommen waren.69 Deshalb sah der Entwurfvor, daß die Vorschriften über die Ladung, über die verschiedenen Gründe des Zeug-nisverweigerungsrechts, über die Pflicht zur Belehrung der Zeugen bezüglich diesesRechts usw. „sinngemäß" auch für die polizeiliche Vernehmung gelten sollten. DieStreichung dieser Bestimmung hatte schon der Ausschuß für Strafprozeßrecht derAkademie für Deutsches Recht gefordert70, in der Klaiber Mitglied war. Wie Klaibernunmehr in der Großen Strafprozeßkommission ausführte, stellte allein schon diePflicht zur Belehrung des Zeugen über sein Recht zur Verweigerung der Aussage eineso „starke Erschwerung" der Aufgabe der Polizei dar, daß diese Vorschrift für sie keineAnwendung finden sollte. Viele strafbare Handlungen könnten überhaupt nur da-durch aufgeklärt werden, daß Zeugen in Unkenntnis ihres Verweigerungsrechts (!) vor

der Polizei aussagten. Es sei einfach „unmöglich, daß die vernehmenden Polizeibeam-ten die schwierigen Abwägungen" vornehmen könnten, um zu beurteilen, welcheAuskunft den Zeugen oder einen seiner Angehörigen der Gefahr aussetzen könnte,wegen einer Straftat verfolgt zu werden. Demgegenüber wiesen die Vertreter der Justizdarauf hin, daß die polizeilichen Vernehmungsprotokolle

-

die nach den Bestimmun-gen des Entwurfs nunmehr sogar in der Hauptverhandlung verlesen werden durften,wenn der Zeuge dort die Aussage verweigerte

-

für die Gerichte nur dann verwertbarseien, wenn die Belehrung vor der Vernehmung erfolgt war. Gürtner brachte die Not-wendigkeit der

-

schließlich auch beibehaltenen-

Vorschrift über die Belehrungs-pflicht für die Polizei auf die kurze Formel: Entweder „Belehrung und Verwertbarkeitoder Nichtbelehrung und Nichtverwertbarkeit" der Vernehmungsprotokolle.

Im Entwurf war ferner vorgesehen, daß die Polizei das Erscheinen vorgeladenerZeugen durch Zwangsstrafen in Geld, durch Zwangshaft und Vorführung erzwingenkonnte. Klaiber kritisierte, daß diese Bestimmung einen Eingriff in das eigentliche Po-lizeirecht und einen Vorgriff auf dessen künftige Regelung darstelle, und schlug stattdessen den Satz vor: „Zwangsmaßnahmen gegen Zeugen richten sich nach Polizei-recht." Da diese Formulierung bedeutet hätte, daß die Polizei auch andere Mittel hätte

67 Vgl. Sehr, des RuPrM für die kirchlichen Angelegenheiten an das RJM v. 2.7.36 (Akten des RJM, BA, Sign.R 22/1035). Der Vorschlag nach Aufnahme des Satzes: „Dies gilt nicht, wenn sie von der Pflicht zur Ver-schwiegenheit befreit worden sind", wurde abgelehnt, da weder das Konkordat noch das kanonische Rechteine solche Entbindung kennt.

68 Vgl. § 163 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S.320).69 Zum Problem der Verwertung erpreßter Aussagen durch die Gerichte vgl. Kapitel VI.7.b., S. 703 ff.70 Vgl. Stellungnahme, a.a.O., voranstehende Anm. 21, vorsichtiger in der vorangegangenen Denkschrift, S.36,

voranstehende Anm. 20, in der die Ausdehnung der Belehrungspflicht auf Polizeibeamte noch als „zu prü-fen" bezeichnet wurde.

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1032 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeanwenden können, hielt die Justiz an den im Entwurf für die Polizei vorgesehenenZwangsmitteln fest; nur das bei ihrer Anwendung zu beobachtende Verfahren, insbe-sondere hinsichtlich der Rechtsmittel, sollte sich nach Polizeirecht richten. Das Motivfür die Ablehnung des Klaiberschen Vorschlags und für eine genaue Festlegung derzulässigen Mittel umriß Ministerialdirektor Schäfer mit den Worten: „Die Polizei darfnur das Erscheinen der Zeugen erzwingen, aber nicht die Aussage", d.h. die Polizeisollte durch die Strafverfahrensordnung keine Zwangsmittel zur Erpressung von Aus-sagen erhalten. Alle im Entwurf vorgesehenen Mittel gegen eine unberechtigte Ver-weigerung der Aussage sollten in der Hand des Staatsanwalts bzw. des Richters ver-

bleiben.71Abschließend sei noch erwähnt, daß die Polizeiführung die im Entwurf vorgesehene

Möglichkeit gestrichen sehen wollte, gegen eine finanzielle Sicherheitsleistung vom

Vollzug der Untersuchungshaft absehen zu können: es „entspreche nicht den An-schauungen des heutigen Staates" und „werde als höchst unsozial empfunden, daßderjenige, der über genügend Geld verfüge, die Untersuchungshaft abwenden könne".Die Justiz behielt jedoch die

-

den jeweiligen Vermögensverhältnissen des Beschul-digten angepaßte

-

Sicherungsleistung bei, da sie sich in verschiedenen Fällen, z. B. beiVerkehrsunfällen von Ausländern, als äußerst praktisch erwiesen hatte.72

Aus den angeführten Beispielen73 der Verhandlungen in der Großen Strafprozeß-kommission geht deutlich hervor, daß sich die Justiz weitgehend mit Erfolg bemühte,jene Vorschriften des Entwurfs aufrechtzuerhalten, die die Tätigkeit der Polizei imRahmen des Strafverfahrens regeln sollten, daß sie aber trotz dieser Bestimmungen dieeigenmächtigen Praktiken der Polizei auf diesem Gebiet nicht verhindern konnte: diemit einer neuen Strafverfahrensordnung verfolgten Ziele, den Staatsanwalt auf die po-lizeilichen Ermittlungen stärker Einfluß nehmen zu lassen und damit auch gegenüberder Polizei zum „Herrn des Vorverfahrens" werden zu lassen, und die außernormati-ven Aktivitäten der Polizei wenigstens im Arbeitsbereich der Justiz auszuschließen,hatte die Justizleitung nicht erreicht.

d. Die Fertigstellung des Entwurfs der Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 und seinSchicksal: das Scheitern der Strafprozeßreform

Von den Änderungen, die der Entwurf vom 1. Mai 1939 gegenüber dem Februar-Ent-wurf von 1936 nach seiner Beratung durch die Große Strafprozeßkommission aufwies,können hier nur einige wichtige behandelt werden. Dazu gehörte die Streichung derbisher im „Ersten Buch" zusammengefaßten zwölf Grundsätze

-

der „zwölf Gebote"-für das Strafverfahren und seine Beteiligten. Die Kommission kam zu dem vom Aus-

71 Zum Voranstehenden vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 57. Sitzung v. 13.5.38, ferner 49. Sit-zung v. 4.5.38 (Schubert, a.a.O., Bd.2.3, S.134, 135, Bd.2.2, S.469ff.) und § 188 des StVO-Entw. v. 1.5.39(a.a.O., Bd. 1.S.323).

" Vgl. Verm. über die Bespr. v. 24.6.38 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1038), ferner Prot. der Großen Straf-prozeßkommission, 58. Sitzung v. 22.8.38 (a.a.O., Bd.2.3, S.156L), und § 208 des StVO-Entw. v. 1.5.39(a.a.O., Bd. 1,S. 326).

73 Weitere Verhandlungsgegenstände zwischen Justiz und Polizei waren u.a. die Vorschriften des Entw. überdie Unterbringung polizeilich Festgenommener in Justizgefängnissen, über die Vorführung der Beschuldig-ten zur Vernehmung, über Maßnahmen der Post- und Fernsprechüberwachung sowie über die Gleichstel-lung der Angehörigen von SS-Verfügungstruppe und SS-Totenkopfverbänden mit den Angehörigen derWehrmacht.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1033

schuß der Akademie für Deutsches Recht ebenfalls befürworteten1 Ergebnis, daß dieseGrundsätze nicht in Paragraphen gefaßt werden, sondern an geeigneter Stelle in dieVerfahrensvorschriften eingebaut werden sollten. Auch von der Idee, sie durch einenVorspruch zu ersetzen, wurde schließlich abgesehen, da er zwangsläufig einen Teildessen wiederholt hätte, was bereits der Vorspruch zum Entwurf des neuen StGB ent-hielt.2

Nach dem Wegfall der Grundsätze begann das „Erste Buch" nunmehr mit den Be-stimmungen über den „Gang des Verfahrens" (§§ 1-97). Beim Vorverfahren wurde ge-ändert, daß der Beschuldigte nicht nur gegen den vom Staatsanwalt erlassenen Haftbe-fehl, sondern auch gegen die von ihm angeordnete Vermögensbeschlagnahme

-

dieeine im Urteil zu erwartende Vermögenseinziehung sichern sollte

-

den Richter anru-

fen konnte. Diese Lösung stellte einen Kompromiß dar zwischen der von Kohlrauschin der Kommission vorgetragenen Forderung, eine solche schwerwiegende, die Exi-stenzgrundlage der Familie des Betroffenen gefährdende Maßnahme grundsätzlich nur

in die Hand des Richters zu geben, und der Position Freislers, der für diese Ansicht„kein Verständnis" aufbrachte.3

Die im Februar-Entwurf von 1936 geplante ersatzlose Streichung des Zwischenver-fahrens wurde

-

übrigens im Einklang mit den Vorschlägen der Akademie für Deut-sches Recht4

-

dahingehend geändert, daß zwar die positive Eröffnung des gerichtli-chen Verfahrens

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der Eröffnungsbeschluß-

beseitigt blieb, dagegen die negativeMöglichkeit zur Ablehnung der Hauptverhandlung vorgesehen wurde: Hatte der Vor-sitzer keine Bedenken, so beraumte er die Hauptverhandlung an, andernfalls führte erdie Entscheidung des Gerichts herbei (§ 34). Speziell für diese Entscheidung konnte er

weitere Ermittlungen-

aber nur durch den Staatsanwalt-

veranlassen (§ 33). Das Ge-richt konnte die Anberaumung ablehnen, wenn aus tatsächlichen und rechtlichenGründen, d. h. wegen mangelnden Tatverdachts, fehlender Strafbarkeit der Tat, Unzu-lässigkeit der Anklage wegen Verfahrenshindernisses, Unzuständigkeit des Gerichtsusw. „mit Sicherheit zu erwarten" war, daß der Angeklagte nicht verurteilt wurde(§ 35). Gegen diese Ablehnung sollte der Staatsanwalt Beschwerde einlegen können,über die das Beschwerdegericht

-

bei Beschluß des Amtsrichters die Strafkammer desLandgerichts, sonst das Reichsgericht

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abschließend entschied (§ 36); bei einer end-gültigen Ablehnung sollte er die Anklage dann nur aufgrund neuer Tatsachen oderBeweismittel erneuern können (§ 37). Dieser Kompromiß war von einer Unterkom-mission ausgearbeitet worden, der Graf von der Goltz, Thierack, Kohlrausch, Lautzund Lehmann angehörten, nachdem die Strafprozeßkommission in mehreren Sitzun-gen versucht hatte, den Gegensatz zwischen den Vertretern einer Alleinverantwort-lichkeit des Staatsanwalts iür die Durchführung der Hauptverhandlung und den Ver-teidigern des Eröffnungsbeschlusses

-

zu denen vor allem die Praktiker Lautz, Niet-hammer, Töwe, von Vacano und von der Goltz gehörten

-

durch Ersatzmittel beizule-gen, die eine aussichtslose Hauptverhandlung wenigstens durch vorher ermöglichte

1 Vgl. Stellungnahme des StPO-Ausschusses der AkDR, a.a.O. (Kapitel VIII.2.C., S. 1016, Anm.21).2 Vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 43. Sitzung v. 1.9.37 (Schubert, Quellen III, Bd. 2.2, S. 359 ff.).

Zum Vorspruch des StGB-Entw. vgl. Kapitel VII.2.C., S.798.3 Vgl. a.a.O., 23. Sitzung v. 18.3.37, und § 250 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, a.a.O., Bd. 2.1, S.430, Bd. 1,

S.331).4 Vgl. Stellungnahme des StPO-Ausschusses der AkDR, a.a.O. (Kapitel VIII.2.C, Anm.21).

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1034 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Stellungnahmen des Beschuldigten bzw. Verteidigers zu den Ermittlungsergebnissenvermeidbar machen sollten.3 Wie Ministerialrat Lehmann als Berichterstatter der Un-terkommission in der Sitzung vom 27. August 1937 ausführte, sprachen vor allem„prozeßökonomische Gesichtspunkte" für diese Lösung, bei der den Bedürfnissen derStaatsführung nach Klärung des Anklagevorwurfs durch das Gericht „mit einer nicht-öffentlichen gerichtlichen Nachprüfung genügend Rechnung getragen" würde.6 In derBegründung zum Entwurf wurde dann allerdings das von Lehmann auch erwähnteArgument in den Vordergrund gestellt, die „Beibehaltung eines gewissen Zwischen-verfahrens" diene der „Vermeidung einer nutzlosen Rufgefährdung des Angeklagten",denn jede öffentliche Hauptverhandlung berge „die Gefahr in sich, daß der Beschul-digte, auch wenn er freigesprochen wird, eine Minderung seines Ansehens erleidet".7Das Justizministerium wurde durch die gefundene Lösung zugleich vor einer unange-nehmen Begleiterscheinung bewahrt, die Generalstaatsanwalt Lautz in der erwähntenSitzung an die Wand malte: werde dem Gericht die Entscheidung über eine Ableh-nung genommen, so werde gegen die Anklageerhebung des Staatsanwalts in verstärk-tem Maße mit der Dienstaufsichtsbeschwerde bis zum Reichsjustizministerium vorge-gangen werden, so daß künftig zunehmend „Strafprozesse nach Vorabentscheidungdes Ministeriums geführt werden" würden. Gürtner kommentierte diese drohendeEntwicklung mit den Worten, er „würde es für ein Unglück halten, wenn das Justizmi-nisterium in weitem Umfang unmittelbar in Strafverfahren hineingezogen würde".8

Der neue Entwurf hielt unverändert an der Lösung fest, daß in der Hauptverhand-lung das Führerprinzip nur so weit verwirklicht werden sollte, daß der Vorsitzer alleEntscheidungen

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auch über die Beweisanträge9-

allein traf, nicht jedoch diejenigen,die unmittelbar die Urteilsfällung berührten. Im Gegensatz zum Vorentwurf von 1936wurden zu letzteren nunmehr auch die Entscheidungen über Beschränkung oder Aus-dehnung der Verhandlung auf einzelne Straftaten des Angeklagten gerechnet (§§ 61,62). Nach wie vor sollte insbesondere das Urteil selbst von einer Mehrheit des Kolle-gialgerichts getragen sein (§ 50). Die Kommission hatte jedoch Freislers bezeichnen-den Vorschlag angenommen, über die verketzerte Abstimmung und ihre Modalitätenin der Strafverfahrensordnung kein Wort zu verlieren.10 In Freislers Vorstellung war

5 Vgl. Leitsätze der Unterkommission v. 27.8.37 (Schubert, Quellen III, Bd. 2.2, S. 733 f.), ferner die Behand-lung des Zwischenverfahrens in den Sitzungen der Großen Strafprozeßkommission v. 15./16.12.36 und8.2.37 (Prot., a.a.O., S.24ff, 42 ff., 164 ff.). Auch bei der in Kap. VIII.2.b., S. 1010, erwähnten Umfrage an dieOLGPräs. und GStAe vom Juni 1937 hatte sich nur ein Gutachten für die völlige Beseitigung des Eröffnungs-verfahrens ausgesprochen (vgl. den dort Anm. 28 nachgewiesenen Bericht S. 561 f.).

6 Vgl. die Ausf. Lehmanns in der 39. Sitzung v. 27.8.37. Gegen diese Lösung trat vor allem Dahm auf: „Wir ha-ben den Eröffnungsbeschluß verworfen, um klare Verantwortungen zu schaffen

...

Jetzt dagegen sind wir imBegriff, zum Verfahren der Strafprozeßordnung von 1877 zurückzukehren" (a.a.O., S.275ff., 281). Demge-genüber plädierten von der Goltz, Kohlrausch, Lautz, Niethammer, Töwe und von Vacano weiterhin für denpositiven Eröffnungsbeschluß (vgl. 40. Sitzung v. 28.8.37, 41. Sitzung v. 30.8.37). Diskutiert wurde das Zwi-schenverfahren noch in der 42. Sitzung v. 31.8.37 und in der 51. Sitzung v. 8.5.38 (sämtlich Schubert, a.a.O.,Bd. 2.2).

7 Vgl. Begründung zum StVO-Entw. v. 1.5.39 (a.a.O., Bd. 1, S.401).s Vgl. 39. Sitzung v. 27.8.37 (a.a.O., Bd. 2.2, S. 283).9 Hier wie bei der Entscheidung über die Zeugenvereidigung befürwortete die AkDR einen Beschluß durch

das Gericht, da es sich um „eine Vorentscheidung sachlicher Art" handele (vgl. Stellungnahme des StPO-Aus-schusses der AkDR, a.a.O., Kapitel VIII.2.C., Anm.21).

10 Vgl. die Ausf. Freislers in der 3. Sitzung v. 16.12.36, in der er wegen Grippeerkrankung Gürtners den Vor-sitz führte: „Nun bleiben noch die Fragen über das Mehrheitsverhältnis und über die Art der Abstimmung.Soll über das letztere etwas in das Gesetz? Die Abteilung ist der Ansicht: nein. Ist jemand anderer Ansicht?Ich stelle fest, daß dies nicht der Fall ist" (Schubert, a.a.O., Bd.2.1, S. 59).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1035

„die Urteilsfindung grundsätzlich ein natürlicher Schöpfungsakt..., der keiner organi-satorischen Regelung bedarf", und folglich die Abstimmung nur ein „Notmittel", daserst „in kranken Fällen" Bedeutung gewann: der Vorsitzer müsse darauf achten, daßseine Führereigenschaften „und nicht Abstimmungszahlenspiel Grundlage des Ur-teils" werde.11 Seinen von der „kleinen" Strafprozeßkommission unter starken Beden-ken angenommenen Vorschlag, „daß der Vorsitzende sich nicht überstimmen zu las-sen braucht, sondern in diesem Falle die Entscheidung eines anderen Gerichts herbei-führen kann", hatte Freisler schon in der 3. Sitzung der Großen Kommission wiederzurückgenommen, nachdem ihn bereits am Vortage Berichterstatter Dahm als „völligunmöglich" bezeichnet hatte.12 Töwe wies darauf hin, „der Eindruck auf das Volkmüßte niederschmetternd" sein und das Ansehen des Gerichts und seines Vorsitzen-den erst recht geschädigt werden, „wenn das Gericht sich nach einer vielleicht tagelan-gen Verhandlung nicht einigen konnte und wenn daher die Verhandlung vor einer an-

deren Kammer wiederholt wird": erst dadurch wäre ja nach außen erkennbar, daß derVorsitzer sich nicht habe durchsetzen können. Außerdem wäre eine Wiederholungdes Vorgangs nicht auszuschließen.13 Freislers in der zweiten Lesung vorgebrachtemVorschlag, daß der überstimmte Vorsitzende die Sache einem besonderen Senat desReichsgerichts unter Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten zur Entscheidung sollteüberweisen können, um in seiner Führerstellung nicht ein Urteil verkünden und ver-antworten zu müssen, das gegen seine Überzeugung zustande gekommen war, sprachOberlandesgerichtspräsident Martin mit folgenden bemerkenswerten Worten jeglicheNotwendigkeit ab:

„Was heißt es nun ,die Verantwortung übernehmen'? Es kann doch nur bedeuten, daß dieStaatsführung einen Richter im Dienstaufsichts- oder Disziplinarwege anfassen will. Wir würdendamit die Richter wegen des Inhalts ihres Spruches unter die Dienststrafgewalt ihrer Vorgesetz-ten stellen. Das wäre das Ende der richterlichen Unabhängigkeit."14

Kohlrausch ergänzte diese Ausführungen mit dem Hinweis, daß die vorliegendeFrage „zunächst technischer Natur" sei: die Unabhängigkeit des Richters stehe erstdann in Frage, „wenn er sich für den Inhalt des Urteils vor der politischen Führungverantworten soll". Es könne dem Vorsitzer als Sprecher des Richterkollegiums

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derbei der Urteilsfindung nur primus inter pares sei

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aber durchaus zugemutet werden,ein ihm unrichtig erscheinendes Urteil zu verkünden, das dieses Kollegium beschlos-sen habe. Bei einer Nichtverkündung wäre dagegen der Anschein kaum vermeidbar,daß sie politische Gründe habe und der Vorsitzer auf höhere Anordnung handele. Fürdie Beisitzer sei die Zumutung, ein von ihnen für ungerecht angesehenes Urteil zu un-

terschreiben, schließlich nicht geringer, es sei aber unmöglich, auch ihnen ein solchesVeto zuzubilligen. Die Grenze, innerhalb deren ein ungerechtes Urteil verhindert wer-den könne, sei einzig und allein die Rechtsbeugung: hier hätten sämtliche Mitgliederdes Gerichts die Pflicht, das Schweigegebot zu brechen und den Fall sofort anzuzei-

11 Vgl. R. Freisler, Einführung S. 20, und: Das Führertum in der Rechtspflege-

ein Schlußwort, S. 156, in: DerVolksrichter in der neuen deutschen Strafrechtspflege, Berlin 1937.

12 Vgl. Prot. der 2. Sitzung v. 15.12.36 und 3. Sitzung v. 16.12.36 (Schubert, a.a.O., S.27, 59). Auch der AkDR-Ausschuß lehnte eine solche Lösung ab (vgl. Denkschrift [Kapitel VIII.2.c., S. 1016, Anm. 20], S.8).

13 Vgl. Prot. der 64. Sitzung v. 29.8.38 (Schubert, a.a.O., Bd.2.3, S.272). Ähnliche Kritik an diesem Vorschlaghatte schon H. Henkel in seinem Aufsatz: Die Hauptverhandlung im kommenden Strafverfahren (DStR1935, S. 423 ff.) geübt.

14 Prot. a.a.O., S. 270.

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1036 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

gen. Gegen die Überstimmung des Vorsitzenden gebe es nur ein Mittel: den Übergangzum Führerprinzip auch bei der Urteilsfällung.15 Aber vor diesem Schritt, den derNS.-Rechtswahrerbund forderte, schreckte die Justizleitung zurück: auch im Entwurfvom Mai 1939 blieb die Urteilsfindung bei den Kollegialgerichten auf Mehrheitsent-scheidung und Abstimmung gegründet, selbst wenn der Vorsitzende überstimmtwurde.

Wichtige, durch die Strafprozeßkommission vorgenommene Änderungen enthieltdas „Dritte Buch" des neuen Entwurfs, das die Rechtsbehelfe gegen Gerichtsentschei-dungen regelte.16 Bei der Rechtsrüge (Revision)

-

nunmehr „Urteilsrüge" genannt-sollte sich die Prüfung nicht mehr nur darauf erstrecken, ob das angefochtene Urteil

auf einem Fehler im Verfahren beruhte oder wegen eines Fehlers in der Anwendungdes Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht war, sondern ausdrücklich auchdarauf, ob es wegen eines Fehlers „bei Ausübung des richterlichen Ermessens, insbe-sondere der Bemessung der Strafe [!], ungerecht" war (§ 331 Nr. 2). Ferner durfte derBeschwerdeführer nunmehr auch geltend machen, daß „ein so schweres Bedenken ge-gen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen besteht, daß eine neue Entschei-dung notwendig ist" (§ 331 Nr.3).17 Im Entwurf von 1936 war zwar dem Rügegerichtdie Ausdehnung der Prüfung auf Tatsachenmängel schon gestattet worden, aber derBeschwerdeführer sollte sie noch nicht als Rügegrund anführen dürfen. Mit der Neu-regelung sollte der durch das geltende Recht erzwungene „unehrliche" und „unwür-dige" Zustand beseitigt werden, daß der Beschwerdeführer und das RevisionsgerichtMängel bei der Rechtsanwendung „erfinden" mußten, um die Aufhebung eines Ur-teils erreichen zu können, das in der Tatsachenfeststellung bedenklich war. Schwierig-keiten bereitete der Kommission dabei allerdings die Abgrenzung der Urteilsrüge ge-genüber der Berufung. Deshalb forderte Reichsgerichtsrat Niethammer, daß sich dieBedenken gegen tatsächliche Feststellungen ohne Beweisaufnahme aus den Urteils-gründen selbst ergeben müßten

-

soweit sie Widersprüche, Verstöße gegen Denkge-setze, Erfahrungssätze oder offenkundige Tatsachen aufwiesen, die dem Urteilsrügege-richt ohne weiteres erkennbar waren -, allenfalls aus dem sonstigen Akteninhalt, wenn

er mit den Feststellungen des Urteils in Widerspruch stand. Demgegenüber forderteFreisler, daß das Rügegericht ermächtigt werden müsse, in Ausnahmefällen auchselbst leicht beizubringende Beweise erheben zu können, um gegebenenfalls ein Ver-fahren durch eigene Entscheidung

-

etwa einen glatten Freispruch-

zu Ende führenzu können, statt die Sache unter Aufhebung des Urteils an den Tatrichter zurückzu-verweisen; nur damit werde einer raschen und volkstümlichen Durchsetzung der ma-

teriellen Gerechtigkeit gedient. Gegen diese Beweiserhebung zur Feststellung von Tat-sachen wandten sich außer Niethammer

-

der den „Widerspruch von sämtlichen

15 A.a.O., S. 276.16 Über die Einfügung des § 105 in das „Zweite Buch" (Gemeinsame Verfahrensvorschriften) s. im folgenden

S. 1044. Auf die Änderungen im „Vierten Buch" (Besondere Verfahren) und „Fünftem Buch" (Kosten) kannin diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.

17 Die Formulierung des Februar-Entw. von 1936, daß die Rechtsrüge auf die fehlerhafte Anwendung „einesWertmaßes" auf die festgestellten Tatsachen gestützt werden konnte (vgl. Kapitel VIII.2.a., S.989), war hin-gegen gestrichen worden, da sie die Kommission durch den Urteilsrügegrund der fehlerhaften „Anwendungdes Rechts" auf die Tatsachen gedeckt sah (vgl. die Ausf. Dahms, Freislers u.a. in der Sitzung v. 5.5.37 undBegründung zum Entw. v. 1.5.39 (Schubert, a.a.O., Bd.2.2, S.3ff., Bd.l, S.341, 527ff.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1037

Reichsgerichtsräten" vorbrachte-

vor allem Kohlrausch, Töwe und von der Goltz mitdem Argument, daß das Urteilsrügegericht damit Aufgaben des Tatrichters an sich zogund der Unterschied zur Berufung aufgehoben wurde.18 Wie Töwe ausführte, würdedadurch nunmehr für die Strafkammersachen eine zweite Tatsacheninstanz geschaf-fen; zudem müsse „diese Berufungsverhandlung am Sitz des Reichsgerichts, also inder Regel weit weg vom Tatort stattfinden" und damit die Schwierigkeit der Wahr-heitsermittlung und „die Gefahr, daß durch die Wiederholung ein falsches Urteil zu-stande kommt", noch größer werden als im Fall einer bloßen Zurückverweisung.19Schäfers Gegenargument, das Reichsgericht werde „selbst in der Anwendung desneuen Rügegrundes Zurückhaltung üben und damit verhindern, daß die Urteilsrügezu einer Berufung verwischt" werde, entkräftete Niethammer mit dem Hinweis, daßsich das Reichsgericht selbst nicht schützen könne: bei einer gesetzlichen Zulassungder Beweisaufnahme müsse „das Urteilsrügegericht die vom Verteidiger angebotenenBeweise erheben" und dadurch zwangsläufig „in eine berufungsähnliche neue Ver-handlung" hineingeraten. Auch Gürtner fand diesen „Weg, auf dem das Reichsgerichtzum Instanzgericht gemacht wird", bedenklich. Das Argument, daß das Reichsgerichtdamit eine unerträgliche Mehrbelastung erfahren werde, die es seiner Hauptaufgabeder Wahrung der Rechtseinheit entzöge20, wischte Freisler mit der Bemerkung vomTisch: wenn die Einführung des „vorgeschlagenen neuen Urteilsrügegrundes mehrArbeit verursacht, dann müssen eben neue Senate gebildet werden". Schäfer unter-stützte Freisler mit der Feststellung, das Rechtsmittel der Revision solle überdieskünftig gar nicht „den ausschließlichen Zweck haben ..., die Einheit des Rechts zu si-chern, sondern auch den einzelnen Fall zu seiner gerechten Entscheidung" zu brin-gen.21 Das in mehreren Sitzungen der Kommission diskutierte Problem, die Möglich-keit einer Beweisaufnahme für das Urteilsrügegericht „durch die denkbar schärfsteAusdrucksweise als Ausnahmebestimmung" (Kohlrausch) zu formulieren, wurdeschließlich durch den Vorschlag Niethammers gelöst, „daß eine Beweisaufnahme vordiesem Gericht nur auf Antrag des Oberreichsanwalts" stattfinden sollte22, damit dieJustizverwaltung auf eine einschränkende und einheitliche Handhabung der Bestim-mung hinwirken konnte. Obwohl diese Regelung gegen den Grundsatz verstieß, daßder Gerichtsvorsitzende in diesem Abschnitt „Herr des Verfahrens" sein sollte, wurdesie in die Vorschriften des endgültigen Entwurfs über die Rechtsrüge aufgenommen (§340).

Neu in den Entwurf eingefügt wurden die Rechtsbehelfe der „Nichtigkeitsbe-schwerde" und des „außerordentlichen Einspruchs" gegen bereits rechtskräftig gewor-dene Urteile (§§ 370 ff.). Derartige Bestimmungen waren im Entwurf von 1936 noch

'8 Vgl. 28. Sitzung v. 7.5.37 (Schubert, a.a.O., Bd.2.2, S. 22 ff., 42). Auch der AkDR-Ausschuß für Strafprozeß-recht lehnte eine eigene Beweisaufnahme des Revisionsgerichts mit dem Argument ab, daß dadurch eine„Berufung unter stark verschlechterten Bedingungen für die Wahrheitsfindung geschaffen werden würde"(S. Denkschrift [Kapitel VIII.2.C, Anm. 20], S.42). Die Antworten auf die Umfrage des RJM an die OLG-Präs. und GStAe vom Juni 1937 waren uneinheitlich (vgl. Bericht, a.a.O. [S. 1010, Anm. 28], S.587f.).

« Vgl. 71. Sitzung v. 1.12.38 (Schubert, a.a.O., Bd.2.3,S. 428).20 Vgl. dazu auch die Stellungnahme des RG-Ausschusses, die dem RJM durch Sehr, des RGPräs. und OReiA

v. 3.8.38 übermittelt wurde (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1038). Die Rechtseinheit war durch die vorge-sehene Funktion der 26 OLGe als Urteilsrügegerichte ohnehin gefährdet.21 Zum Voranstehenden vgl. 66. Sitzung v. 31.8.38 (Schubert, a.a.O., S.320ff., 330).22 Vgl. 71. Sitzung v. 1.12.38 und 72. Sitzung, 2.12.38 (a.a.O., S. 427, 429 f.).

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1038 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganenicht enthalten gewesen: bereits im Dezember 1933 hatte es die „kleine" Strafprozeß-kommission grundsätzlich abgelehnt, Rechtsmittel gegen „im ordentlichen Rechtswegnicht mehr anfechtbare Entscheidungen der Strafgerichte" einzuführen.23 Der Ge-danke wurde erst in der zweiten Lesung des Entwurfs durch die Große Strafprozeß-kommission aufgenommen, und zwar deutlich erkennbar als Reaktion auf die Forde-rung des NSRB, die Abänderung rechtskräftiger, aber nach „gesundem Volksempfin-den" ungerechter Urteile justizfremden politischen Stellen zu übertragen.24 Wie Mini-sterialdirektor Schäfer in der Kommissionssitzung am 29. August 1938 ausführte,reichten die der Justiz zur Verfügung stehenden Mittel gegen derartige Fehlurteilenicht aus: Die Begnadigung konnte nur zugunsten, aber nicht zuungunsten des Be-troffenen ergehen; die Wiederaufnahme des Verfahrens konnte sich nur gegen Irrtü-mer in der Tatsachenfeststellung, nicht aber gegen bloße Rechtsfehler richten und sichzudem nur auf neue Tatsachen oder Beweismittel stützen. Es müsse daher für die Ab-änderung von Fehlurteilen ein Weg gesucht werden, „der es ermöglicht, unter allenUmständen bei einem Rechtsspruch zu bleiben und zu verhindern, daß die letzte inder Sache ergehende Entscheidung einen Machtspruch [!] darstellt". Da es sich meistum Fälle handeln werde, „bei denen gerade die höchste Stelle Anlaß hat, mit demrechtskräftig gewordenen Spruch unzufrieden zu sein", müsse ihre Erledigung „inhohe Hand" gelegt werden: auf Verlangen des weisungsgebundenen Oberreichsan-walts sollte ein „Oberster Senat" beim Reichsgericht über die Sache nochmals ent-

scheiden, der aus dem Reichsgerichtspräsidenten als Vorsitzenden, dem Volksge-richtshofspräsidenten als sein Stellvertreter und sieben vom Führer ernannten, zum

Richteramt befähigten Mitgliedern bestehen sollte. Bei seiner Verhandlung sollte er

von den normalen Verfahrensvorschriften für den ersten Rechtszug abweichen kön-nen, wenn er es für angemessen hielt.25

Gegen diesen vorgeschlagenen Einbruch in die Rechtskraft der Urteile äußerten vor

allem Reichsgerichtsrat Niethammer und Prof. Kohlrausch grundsätzliche Bedenken.Der zum Berichterstatter über die unterbreiteten Vorschläge bestellte Niethammerleitete seine Ausführungen in der Sitzung vom 9. Dezember 1938, in der Freisler an-

stelle des abwesenden Gürtner den Vorsitz führte, mit folgenden Worten ein:„Ehe ich auf die Anträge eingehe, gebe ich noch einmal der ernsten Sorge Ausdruck, die mich

angesichts der geplanten Einrichtung bewegt. Wer als Richter an diese Fragen herangeht, demdrängt sich die Überzeugung auf, daß hier eine große Gefahr für die Unabhängigkeit der Straf-rechtspflege heraufbeschworen wird. Denn die vorgesehenen Vorschriften bringen als wichtigsteNeuerung die Macht der Justizverwaltung, ein rechtskräftiges Urteil umzustoßen, obwohl nichts

23 Vgl. Niederschr. über die Sitzungen der Strafprozeßkommission vom 11. bis 13. Dezember 1933 (Akten desRJM, BA, Sign. R 22/1041).

24 Vgl. dazu Kapitel VIH.2.b, S. 1007 ff.25 Vgl. 64. Sitzung v. 29.8.38 (Schubert, a.a.O., S.277 f, 280). Für den Ehrgeiz des an der Beratung teilnehmen-

den VGH-Präs. Thierack ist bezeichnend, daß er sich drei Wochen später hinter dem Rücken Gürtners undFreislers in einer Denkschrift an die Reichskanzlei gegen die Betrauung des geplanten „Obersten Senats" mitdieser Aufgabe wandte: der Senat werde „recht bald in die für das Reichsgericht jetzt beurteilte Linie einmün-den", und die von Hitler in ihn berufenen Vertrauensmänner würden zu bloßen „Marionetten" werden. DieNachprüfung rechtskräftiger Urteile solle vielmehr dem VGH übergeben werden, der „allerdings, wie dasauch heute schon richtig wäre, aus dem Ressort der Justiz gelöst" (!) und Hitler direkt unterstellt werdensollte (vgl. persönl. Sehr. Thieracks an Lammers v. 17.9.38 nebst Denkschr, Nürnbg. Dok. NG-208, Arch,des IfZ).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1039

Neues zur Urteilsgrundlage hinzugekommen ist. Diese Macht und ihr Einfluß auf die Gerichtekönnen die Rechtspflege einer schweren Erschütterung aussetzen."26

Wenn aber die Staatsführung eine solche Maßnahme verlange, dann dürfe sie kei-nesfalls gegen die Urteile der oberen Gerichte

-

der Oberlandesgerichte, des Volksge-richtshofs und des Reichsgerichts

-

zugelassen werden. Da der vorgesehene besondereSenat des Reichsgerichts nach dem vorliegenden Vorschlag nicht die Freiheit hätte,den Antrag des Oberreichsanwalts gegebenenfalls als unbegründet abzulehnen, solleman im Gesetz „offen zugeben, daß der Antrag des Oberreichsanwalts einen Macht-spruch enthält", der von sich aus die Vernichtung des beanstandeten Urteils bewirkt.Deshalb solle auch die vorgeschlagene Voraussetzung für den Eingriff des Oberreichs-anwalts - „wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils"

-

imGesetz gar nicht erst erwähnt werden : es solle offen und klar zum Ausdruck kommen,daß er den Einspruch aufgrund besonderer Weisung einer politischen Stelle erhebe.Immerhin komme bei der in Aussicht genommenen Regelung wenigstens abschlie-ßend wieder das Gericht zu Wort. Dieses Gericht dürfe aber auf keinen Fall ein Son-dergericht mit der vorgeschlagenen Zusammensetzung sein, da sonst in dieser Rege-lung eine „äußerst bedenkliche und in ihren Folgen gefährliche Kundgebung man-

gelnden Vertrauens zum obersten Gerichtshof" läge: es müsse ein Senat des Reichsge-richts sein, dem neben dem Reichsgerichtspräsidenten als Vorsitzer vier erfahreneMitglieder dieses Gerichts

-

die vier dienstältesten Reichsgerichtsräte oder Senatsprä-sidenten

-

angehören sollten.27 Für das Verfahren dürften keinesfalls Sondervorschrif-ten, sondern müßten die strengen Anforderungen gelten, die die Strafverfahrensord-nung für die Verhandlung der ordentlichen Gerichte im ersten Rechtszug vorsah.

Niethammers Gegenvorschläge wurden bei den Bestimmungen über die beiden au-ßerordentlichen Rechtsbehelfe im Entwurf vom Mai 1939 nur zum Teil berücksich-tigt. Danach sollten beide lediglich gegen Urteile des Amtsrichters, des Schöffenge-richts und der Strafkammer des Landgerichts

-

und zwar nur binnen sechs Monatennach Eintritt der Rechtskraft

-

eingelegt werden dürfen. Den „außerordentlichen Ein-spruch" sollte der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht erheben können, „wenn er

wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils eine neue Ver-handlung und Entscheidung in der Sache für notwendig" hielt (§ 373). Der Einspruchbewirkte den Wegfall des Urteils, gegen das es sich richtete; wurde er gegen ein Beru-fungsurteil eingelegt, fiel auch das Urteil des ersten Rechtszuges weg (§ 374). Mit demEingang der Akten wurde die Sache beim Reichsgericht anhängig, ohne daß diesesGericht die Hauptverhandlung darüber ablehnen konnte. Befand sich der Verurteilteaufgrund des weggefallenen Urteils in Strafhaft, so konnte der Oberreichsanwalt an-

ordnen, daß er weiter festgehalten wurde, bis der Vorsitzende des Gerichts über die

26 Vgl. auch zum folgenden das Prot. der 78. Sitzung v. 9.12.38 (Schubert, a.a.O., S. 580). Seine Bedenken hatteNiethammer schon am Ende der 74. Sitzung v. 5.12.38 geäußert, als mit der Erörterung dieses Themas be-gonnen wurde. Die Behandlung dieses wichtigen Themas wurde zunächst ausgesetzt, da Gürtner am folgen-den Tag nach Berlin zurückfahren mußte, jedoch am 9.12..38 unter Freislers Vorsitz fortgesetzt, nachdemfeststand, daß Gürtner verhindert war, an den weiteren (letzten) Sitzungen der Großen Strafprozeßkommis-sion in Bad Brückenau teilzunehmen.

27 Der Entw. eines neuen GVG sah auch bei einem gewöhnlichen Senat des RG 5 Mitglieder vor. Vor einerbesonderen Zusammensetzung des „Obersten Senats" warnte auch Gürtner in der 74. Sitzung v. 5.2.38(a.a.O., S.499): „Ich glaube, wir fordern damit die Kritik geradezu heraus: das sind die der Justizverwaltunggefügigen Männer."

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1040 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Frage der Untersuchungshaft entschieden hatte (§ 375). Auf den Einspruch wurde inder Sache durch einen „Besonderen Senat" des Reichsgerichts neu verhandelt undentschieden, der aus dem Reichsgerichtspräsidenten als Vorsitzenden und vier Mit-gliedern bestand, die auf Vorschlag des Reichsjustizministers von Hitler für je zweiJahre bestellt werden sollten und von denen zumindest zwei Senatspräsidenten oderRäte des Reichsgerichts sein mußten. Das Verfahren richtete sich nach den Vorschrif-ten über das Hauptverfahren des ersten Rechtszuges, von denen der Senat allerdingsabweichen konnte, „wenn er es den Umständen nach für angemessen" hielt (§ 376): er

war somit an die Formvorschriften über die Vernehmung und Vereidigung von Zeu-gen oder die Verlesung von Urkunden usw. nicht unbedingt gebunden.

Die „Nichtigkeitsbeschwerde" konnte der Oberreichsanwalt beim Reichsgerichteinlegen, wenn das Urteil „wegen eines groben Fehlers bei der Anwendung des Rechtsauf die festgestellten Tatsachen ungerecht "

war (§ 370). Durch die Einlegung alleinwar hier die Rechtskraft des angefochtenen Urteils noch nicht aufgehoben. Vielmehrkonnte das Reichsgericht

-

und zwar durch einen gewöhnlichen Strafsenat-

dieNichtigkeitsbeschwerde verwerfen oder das Urteil aufheben. Das sollte aufgrund einerHauptverhandlung geschehen, für die die Bestimmungen über das Urteilsrügeverfah-ren maßgebend waren

-

mit der Ausnahme, daß eine eigene Beweiserhebung desReichsgerichts in diesem Falle nicht stattfinden durfte. Hob es das Urteil auf, so

konnte es in der Sache selbst entscheiden, wenn die tatsächlichen Feststellungen desangefochtenen Urteils dazu ausreichten. Andernfalls sollte es die Sache zur Entschei-dung an das Gericht, dessen Urteil aufgehoben wurde, oder an ein anderes Gericht zu-

rückverweisen (§ 371). Dieses Gericht sollte dann in der Sache neu verhandeln, dabeiaber bei seiner Entscheidung an die rechtliche Beurteilung gebunden sein, auf die dasReichsgericht die Aufhebung des Urteils gestützt hatte (§ 372).

Im Gegensatz zum Gesamtentwurf der Strafverfahrensordnung, der nie in Kraft ge-setzt wurde, sollten die beiden in ihm enthaltenen Rechtsbehelfe gegen rechtskräftigeUrteile 1939 bzw. 1940 in etwas veränderter Form realisiert werden. Angesichts derAuswirkungen, die ihre Anwendung im Kriege zeitigte28, kam der Warnung Nietham-mers in der Sitzung der Strafprozeßkommission vom 5. Dezember 1938 prophetischeBedeutung zu:

.Jetzt, da das Werk in Angriff genommen wird, herrscht freilich der Wille, das Machtmittelnur sparsam, mit Vorsicht, nur dann zu gebrauchen, wenn es dringend geboten ist. Doch vermagniemand eine Gewähr für die künftige Entwicklung zu übernehmen."29

In der letzten Sitzung der Großen Strafprozeßkommission am 10. Dezember 1938,in der abermals Freisler den Vorsitz führte, kam es wegen zweier Vorschläge zu Mei-

28 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.f., S. 1080L, 1087f.29 Vgl. Prot. der 74. Sitzung v. 5.12.38 (a.a.O., S.497). Freisler ließ in seiner späteren Veröffentlichung anläßlich

der Einführung des außerordentlichen Einspruches (Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des all-gemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuches und seine Stellung in derStrafverfahrenserneuerung, DJ 1939, S. 1565 ff., 1597ff.), in der er zeigen wollte, wie ernsthaft die Kommis-sion „um die Gestaltung der Regelung in sich selbst gerungen" habe (S. 1571), und daher Stücke aus demProtokoll zitierte, alle geäußerten grundsätzlichen Bedenken gegen die von der Staatsführung geforderteMaßnahme wohlweislich weg. Richtiger war schon seine Feststellung: „Die Sitzungsniederschriften werdendies freie [?] Ringen um die rechtliche Regelung einmal dartun" (a.a.O.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1041

nungsverschiedenheiten30, die gleichfalls die Zuständigkeiten des „Besonderen Straf-senats" betrafen und von denen einer in das „Zweite Buch" (Gemeinsame Verfahrens-vorschriften) des endgültigen Entwurfs aufgenommen wurde. Die Vorschläge stamm-ten von Niethammer, der mit ihrer Ausarbeitung beauftragt worden war und verzwei-felt versuchte, die von der Staatsführung geforderte Regelung in eine für die Justiz er-

trägliche Form zu bringen. Der Grundgedanke dieser beiden Vorschläge war, die fürdie Rechtspflege so mißliche Aufhebung und Abänderung rechtskräftiger „Fehlur-teile" dadurch zu vermeiden, daß schon ihr Zustandekommen nach Möglichkeit ver-

hindert wurde:1. Wenn sich schon vor dem Eintritt in das Hauptverfahren die Gefahr abzeichnete,

daß das an sich für die Entscheidung zuständige Gericht einer schwierigen, eventu-ell politischen Sache nicht gewachsen und daher ein „Fehlurteil" zu erwarten war,sollte der Oberreichsanwalt

-

allerdings nur in Sachen, die nicht zur Zuständigkeitder Oberlandesgerichte oder des Volksgerichtshofs gehörten

-

aufgrund besondererWeisung die Anklage vor dem „Besonderen Strafsenat" des Reichsgerichts erhebenkönnen.

2. Zeichnete sich die Gefahr eines solchen „Fehlurteils" erst im Laufe der Verhand-lung vor dem zuständigen Gericht ab, so sollte das betreffende Gericht die Sachevon sich aus an den Besonderen Strafsenat verweisen können; es sollte dazu sogarverpflichtet sein, wenn der Oberreichsanwalt aufgrund besonderer Weisung einenentsprechenden Antrag stellte.Bei Freisler stieß nur die Bestimmung des Vorschlages auf Bedenken, daß ein unte-

res Gericht von sich aus die Befugnis zur Verweisung an das Reichsgericht habensollte, „die sonst allein der Führer hat", denn die Weisung an den Oberreichsanwaltwerde „der Reichsjustizminister in solchen Fällen nur als Beauftragter des Führers"geben. Die vorgeschlagene Regelung könne von einem Richter lediglich dazu ausge-nutzt werden, sich der Verantwortung zu entziehen und eine Sache an den Besonde-ren Strafsenat abzuschieben, „die wir dort gar nicht haben wollen". Dagegen wurdedieser zweite Vorschlag von den meisten anderen Mitgliedern der Kommission in sei-ner Gesamtheit abgelehnt. So betonten Töwe, Sturm und Neubert, es werde „die Öf-fentlichkeit aufs Höchste befremden, wenn ein solcher Antrag des Oberreichsanwaltsin eine Hauptverhandlung hineinplatzt": durch einen solchen Eingriff in ein schwe-bendes Verfahren werde das Vertrauen des Volkes in die Rechtspflege erheblich er-

schüttert werden. Das Volk werde hierin eine Kritik an dem zuständigen Richter se-hen und die Meinung gewinnen, daß die Justiz die Volksgenossen nicht gleich be-handle. Darauf erwiderte Freisler, die Justizverwaltung sehe diese Bedenken wohl, aberes könne „Situationen geben, in denen das unschöne Bild, das ein solcher Antrag desOberreichsanwalts bietet, weniger schwer wiegt als die politischen Nachteile, die ohnediesen Antrag in solchen Fällen entstehen" könnten. Kohlrausch leitete seinen Wider-spruch mit den resignierenden Worten ein : „Ich glaube nicht, daß meine Stimme we-sentliches Gewicht haben wird, aber ich möchte doch meiner Meinung dahin Aus-

Zum folgenden vgl. das vollständige Erstprotokoll der 79. Sitzung v. 10.12.38 (Schubert, Quellen III, Bd.2.3,S. 602 ff.). In dem für den Dienstgebrauch gedruckten Prot. (a.a.O., S. 585 ff.) wurde die von verschiedenenKommissionsmitgliedern geäußerte Kritik an den Vorschlägen wesentlich gekürzt und entschärft.

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1042 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedruck geben, daß ich beide Vorschläge restlos ablehne. Ich glaube, daß wir hier etwasschaffen würden, was

...

die allerschwersten Bedenken gegen die weitere Gestaltungunserer Justiz überhaupt auslösen wird." Wenn tatsächlich für eine Übergangszeit einBedürfnis nach einer solchen Regelung bestehen sollte, so solle sie in einem Zeitge-setz niedergelegt werden: „in die auf lange Sicht berechnete Strafverfahrensordnung"gehöre sie nicht. Sie werde vor allem deshalb „das Ansehen der Justiz unheilvoll schä-digen", weil „die Gründe, die dem Vorschlag zugrunde liegen, aus dem Gesetz nichterkenntlich" seien; er jedenfalls „halte eine derartige Vorschrift für ein Unglück".Kohlrauschs Feststellung, daß das vorgeschlagene Verfahren nach seiner „vollen Über-zeugung im Führerstaat nicht notwendig" sei, konterte Freisler mit der Bemerkung,daß man „mit demselben Verantwortungsbewußtsein" zu dem „entgegengesetzten Er-gebnis gelangen" könne. Die anschließende Diskussion ist für das generelle Phäno-men, wie sich die Justiz auch bei innerem Widerstreben den Forderungen der natio-nalsozialistischen Führung beugte, charakteristisch. Niethammer gab zu verstehen,daß er das Problem ebenso ernst nehme wie Kohlrausch; auch ihm falle „die vorge-schlagene Regelung sehr schwer". Als er den ihm gegebenen Auftrag ausführte, hättenihn jedoch „folgende Gedanken bewegt: Die Staatsführung verlangt eine Regelung dervorgeschlagenen Art. Wir müssen sie schaffen, und zwar als das beste was wir bietenkönnen."31 Das glaube er mit seinen Vorschlägen erreicht zu haben. Oberlandesge-richtspräsident Martin unterstrich diese Gedankengänge mit folgenden bezeichnen-den Worten:

„Den Anschauungen, in denen wir groß geworden sind, widerspricht der zur Aussprache ste-hende Vorschlag. Das steht fest. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die staatsrechtlichen undpolitischen Verhältnisse anders geworden sind. Sie, Herr Professor Kohlrausch, haben ausge-führt, daß wir eine solche Regelung, wie wir sie hier besprechen, im Führerstaat nicht benötigen.Damit haben Sie das zum Ausdruck gebracht, auf das wir bauen [!]. Aber es handelt sich darum,Sachen, die mit den regelmäßigen Formen nicht in Erledigung gebracht werden können, zu be-handeln und einen gesetzlichen Weg hierher zu finden. Für Fälle ganz besonderer Art, mit not-

wendig besonderer Behandlungsweise wollen wir ein Organ schaffen. Dieses Organ kann nur inder Hand einer verantwortungslosen Führung [!] eine Gefahr sein. Aber an diesen Fall darf derGesetzgeber nicht denken [!]. Wir müssen die beste Form Gesetz werden lassen, die wir finden;das ist unsere Aufgabe."

Auch Ministerialdirektor Schäfer verteidigte die vorgeschlagene Regelung mit demArgument, eine Gefahr würde nur dann entstehen, wenn gesetzlich festgelegt würde,daß gewisse Strafsachen „durch ein Veto irgendeiner Stelle der Justiz weggenommenwerden" könnten. Gerade das geschehe durch den Vorschlag aber nicht: „Wir nehmendie Sache zwar einem Richter weg, aber entziehen sie nicht der Justiz. Wir geben sievielmehr dem besten Gericht [!], über das wir überhaupt verfügen." Damit sei die„bestmöglichste [sie] Lösung" gefunden.

In das gleiche Horn stieß Landgerichtspräsident von Vacano: Wenn „maßgebendestaatliche Stellen eine solche Regelung" im Hinblick auf vorgekommene Fälle für not-

wendig hielten, dürfe die Justiz sie nicht einfach als „untragbar" ablehnen :

31 Im redigierten Protokoll (s. voranstehende Anm.) heißt es statt dieses Satzes: „Es wäre sinn- und zwecklos,dem Verlangen mit einem bloßen .Nein' zu begegnen, die Erfüllung des Auftrags abzulehnen. Vielmehr giltes, einen Vorschlag auszuarbeiten, der jenem Verlangen Rechnung trägt und für die richterliche Gewaltdoch das wahrt, was ihr gebührt."

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1043

„Es wäre uns ja doch gar nichts damit gedient, wenn außerhalb der Justizgesetzgebung Rege-lungen geschaffen würden, bei denen die Mitwirkung der Gerichte überhaupt in Wegfall käme.Es besteht für uns vielmehr ein ganz großes Interesse daran, hier im Gesetz etwas festzulegen,was

...

unseren Gerichten die Möglichkeit gibt, solche Dinge sachgemäß zu erledigen. Wenn wirvon solchen Gedanken ausgehen, bin ich der Meinung, daß die hier vorgeschlagene Regelung diebeste ist;... denn die Sache kommt ja bei der vorgesehenen Regelung nicht an eine außergericht-liche Behörde, sondern an unser höchstes Gericht, das Reichsgericht

...

Wir müssen uns viel-mehr überwinden und uns dazu durchringen, solche Fälle durch ein Gericht so erledigen zu las-sen, daß damit die Staatsführung zufrieden ist."

Hier äußerte sich eine Einstellung, die unter den leitenden Männern der Justizver-waltung am stärksten bei Freisler hervortrat32: die Bereitschaft, der Rechtspflege im-manente Grundsätze über Bord zu werfen, nur um von der politischen Führung ge-stellte Aufgaben in der Zuständigkeit der Justiz zu halten und sie damit als tauglichesInstrument des Regimes auszuweisen.

Dieser Einstellung trat Kohlrausch mit Ausführungen entgegen, die die Gefahren,die von ihr für die Zukunft der Justiz im nationalsozialistischen Staat ausgingen, unddie grundsätzliche Gegenposition der Rechtsstaatlichkeit deutlich zum Ausdruckbrachten. Es schien gleichsam, als ob sich in dieser letzten Kommissionssitzung die an

die Wand gedrückten konservativen Kräfte-

durch ihren entschiedensten Vertreterverkörpert - noch einmal verzweifelt aufbäumten. Kohlrausch erklärte, seine Vorred-ner plädierten für die vorgeschlagene Regelung mit dem Argument, sie wollten„nur dafür sorgen, daß solche Dinge mit und durch die Organe der Rechtspflege erledigt werdenkönnen. Die Erledigung solcher Dinge durch die Organe der Rechtspflege ist aber nicht der obersteGrundsatz; dies würden wir zwar erreichen. Aber wir würden nicht erreichen, daß diese Dingemit den Grundsätzen der Rechtspflege erledigt würden; letztere würden dadurch im Gegenteilgefährdet werden

...

Für den Unterschied, daß die Gerichte für den Rechtsgeàanken, nicht fürden /«¿/izgedanken kämpfen bzw. kämpfen sollen, ist das Volk sehr feinhörig. Ich kämpfe beimeiner Arbeit und an meinem Platz für den /ter/jfogedanken, meine Aufgabe ist aber nicht, fürden Justizgedanken zu kämpfen. Ich bin immer dafür eingetreten, daß in ein schwebendes Ver-fahren mit Rücksicht auf den Rechtsgedanken nicht eingegriffen werden darf.

Die Rechtsfragen sind nicht nur Generationenfragen, das läßt sich vielmehr von den Justizfra-gen sagen. Die Rechtsfragen stehen viel höher als die Justizfragen. Aus meiner Beschäftigung mitder studierenden Jugend habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Jugend eine Einrichtung, wiesie hier geplant ist, als etwas dem Rechtsgedanken Fremdes ablehnen wird. Der Rückgang desRechtsstudiums im Deutschen Reich hat, neben der schlechten Bezahlung und der begrenztenVerwendungsmöglichkeit des Juristen, seinen Hauptgrund darin, daß die Jugend sich fragt,warum sie Rechtswissenschaft studieren soll, wo doch der Rechtsgedznke, um deswillen sie sichder Rechtswissenschaft widmen möchte, so sehr gefährdet ist; die Jugend will aber dem Recht,nicht der Justiz dienen."33

Nur der erste Vorschlag Niethammers - daß der Oberreichsanwalt eine Sache vonvornherein vor dem Besonderen Senat anklagen könne

-

sei annehmbar, dagegenstehe der zweite Vorschlag „in scharfem Widerspruch zum Rechtsgedanken".

Der von diesem Generalangriff überraschte Freisler überging diese grundsätzlicheKritik an der Politik der Justizverwaltung geflissentlich. Vielmehr suchte er den Sinn

32 Vgl. z.B. Freislers Haltung zur Übernahme der NN-Fälle durch die Justiz (L. Gruchmann, „Nacht- und Ne-bel"-Justiz. Die Mitwirkung deutscher Strafgerichte an der Bekämpfung des Widerstandes in den besetztenwesteuropäischen Ländern 1942-1944, VfZ 1981, S. 342 ff., S.360).

33 Hervorheb. im Original. Die voranstehend zitierten Ausführungen Kohlrauschs wurden im „bereinigten"Protokoll auf drei Sätze zusammengestrichen.

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1044 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeder vorgebrachten Äußerungen dahingehend umzubiegen, er „habe alle Herren, [dievon der Notwendigkeit der vorgeschlagenen Regelung gesprochen hatten,]

...

so ver-

standen, daß sie damit sagen wollten, sie seien der festen Überzeugung, diese Rege-lung sei die beste und sicherste Art um eine Gerichtsentscheidung herbeizuführenund damit dem Recht [!] zu dienen, daß sie damit also sagen wollten, sie seien davonüberzeugt, daß dies die richtigste Art ist, um ein gerechtes Urteil zu bekommen unddadurch auch letzten Endes dem deutschen Volk zu dienen [!]". Er habe allerdings„nicht die Absicht, ein Ergebnis der Debatte festzustellen"; vielmehr ordnete er an, fürGürtner

-

und offensichtlich noch andere Stellen34-

aus der Debatte einen Auszugmit allen vorgebrachten Gründen und Gegengründen anzufertigen und das unge-kürzte Protokoll beizufügen. Die Mentalität seines Ministers kannte er allerdings gutgenug, um am Ende der Aussprache die Vermutung zu äußern, daß der von Nietham-mer vorgetragene zweite Vorschlag wohl fallengelassen werden würde.

In der Tat sollten die in der Kommission geäußerten Bedenken und vor allemKohlrauschs entschiedener Widerspruch nicht ohne Wirkung bleiben: in den Entwurfvom Mai 1939 wurde nur die dem ersten Vorschlag entsprechende Bestimmung auf-genommen, daß der Oberreichsanwalt in Strafsachen, für die nicht das Oberlandesge-richt oder der Volksgerichtshof zuständig waren, die Anklage vor dem BesonderenStrafsenat des Reichsgerichts erheben konnte, „wenn er das wegen der Bedeutung derSache für angezeigt" hielt (§ 105).

Der Entwurf der Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 glich bis auf die behandel-ten Änderungen und Ergänzungen durch die Große Strafprozeßkommission inhaltlichim wesentlichen dem Entwurf vom Februar 1936 und braucht deshalb nicht noch ein-mal referiert zu werden.35 Der Justizverwaltung brachte er insofern einen erheblichenMachtzuwachs, als er richterliche Handlungen vielfach durch verwaltungsmäßige er-

setzte. Vor allem hatte sie im Vorverfahren nunmehr die Möglichkeit, den Verdächti-gen durch den weisungsgebundenen Staatsanwalt für zwei Wochen ohne Einschaltungdes Richters in Haft zu nehmen

-

eine Befugnis, die auch unter dem Gesichtspunktder Konkurrenz zur Geheimen Staatspolizei gesehen werden muß: Gerade die Ableh-nung von Untersuchungshaft durch den Richter gab der Geheimen Staatspolizei im-mer wieder den Vorwand, den Beschuldigten in Schutzhaft zu nehmen und ihn da-durch manchmal der Justiz sogar völlig zu entziehen. Nunmehr konnte die Justizver-waltung der Polizei in einem solchen Falle zuvorkommen bzw. den Betreffenden ausder schon verhängten Polizeihaft in die Untersuchungshaft überführen.36

34 Freisler sprach von der Anfertigung von „fünf Stücken und fünf Gegenstücken". Diese auf die weitere Pro-zedur bezugnehmenden Passagen wurden im „bereinigten" Protokoll gestrichen. Die von Schäfer gezeich-nete Zusammenstellung der vorgebrachten Gründe und Gegengründe v. 16.12.38 findet sich in den Aktendes RJM (BA, Sign. R 22/1038).

35 Insoweit wird auf die Darstellung im Kapitel VIII.2.a., S.985ff., was Änderungen beim Gerichtsaufbau undRechtsmittelzug betrifft, auf Kapitel VIII.l.a., S. 942 ff., verwiesen. Knappe Inhaltsangaben des Entw., die of-fensichtlich auf zeitgenössischen Veröffentlichungen beruhen, finden sich bei E. Kern, Geschichte des Ge-richtsverfassungsrechts, München und Berlin 1954, S.251 f., und E. Schmidt, Einführung in die Geschichteder deutschen Strafrechtspflege, Göttingen 1965, S.451 f. Eine Kritik an Sprache, Aufbau und Gliederungdes Entw. vom fachlich-juristischen Blickpunkt aus gibt W.-P. Koch, Die Reform des Strafverfahrensrechtsim Dritten Reich unter besonderer Berücksichtigung des StVO-Entwurfs 1939, (jur. Diss.) Erlangen 1972,S. 210 ff.

36 Zu diesem Problem vgl. Kapitel VI.3.a., S. 548 ff.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1045

Ansonsten ging der Entwurf-

im Gegensatz zum Entwurf des NS.-Rechtswahrer-bundes

-

gedanklich vom geltenden Recht aus und ließ die überkommene Verfah-rensstruktur im Grunde unberührt. Dadurch blieben zwar gewisse Sicherungen erhal-ten, die dem Beschuldigten rechtliches Gehör und seinem Verteidiger eine angemes-sene Mitwirkung garantierten. Aber Auflockerung und Beschleunigung des Verfah-rens wirkten sich zugunsten der Staatsmacht und zum Nachteil des einzelnen aus. Pa-radoxerweise schloß gerade die ,Auflockerung" das Verfahrensnetz um den Beschul-digten so dicht, daß er nirgends mehr entschlüpfen konnte. Vor allem öffneten ver-

schiedene-

teilweise unter dem Druck der Führung und der Partei-

in den Entwurfaufgenommene Bestimmungen der politischen Führung „außerordentliche" Kanäle,durch die sie in das Strafverfahrenssystem hineinwirken und die besondere verfah-rensmäßige Behandlung einzelner Fälle herbeiführen konnte. Somit bot die vorge-schlagene Strafverfahrensordnung keine Garantie mehr gegen Urteile, die nicht demMaß der Schuld entsprachen, d.h. „ungerecht" waren. Insofern war der Entwurf eingeeignetes Instrument, um „eine von nationalsozialistischem Geist getragene Rechts-anwendung" zu gewährleisten.37

Am 1. Mai 1939 lag die von der Strafgesetzgebungsabteilung des Reichsjustizmini-steriums auf der Grundlage der Kommissionsbeschlüsse ausgearbeitete Fassung desEntwurfs nebst eingehender Begründung als Manuskript gedruckt vor, um den betei-ligten Ressorts für eine letzte Prüfung vor der Verabschiedung durch das Reichskabi-nett zugestellt zu werden. Die zugehörigen Anschreiben an die Reichsminister undden Stellvertreter des Führers mit der Bitte um Rückäußerung bis 1. August 1939 wa-

ren vorbereitet, um auf „besondere Anordnung" hin abzugehen38-

sie sollten niemalsabgesandt werden.

Bis Ende August 1938 hatte sich der auf Seiten der NSDAP für die staatliche Ge-setzgebung zuständige Stellvertreter des Führers, der sich schon über den Entwurfvom Februar 1936 ausgeschwiegen hatte39, zum Entwurf erster Lesung der GroßenStrafprozeßkommission noch nicht geäußert, der ihm Anfang Juli zugesandt wordenwar. Diese Tatsache brauchte das Justizministerium insofern nicht zu beunruhigen, alsRechtsanwalt Graf von der Goltz als Vertreter von Heß „auf ausdrücklichen Befehl desFührers die Partei in den Arbeiten der Strafprozeßkommission" vertrat40 und folglichin der Lage gewesen wäre, besondere Wünsche der Parteiführung vorzubringen. Umso überraschter war das Justizministerium, als ihm Ende August 1938 durch den Lei-ter der zuständigen Abteilung im Stabe Heß' eine zwar allgemein gehaltene, nichtsde-stoweniger aber entmutigende Beurteilung des Entwurfs zuging: die vorgeseheneStrafverfahrensordnung erfülle nicht die Forderungen der Partei, „die sich mit demWunsche des Führers decken, ein ganz einfaches und volkstümliches Strafverfahrenzu schaffen".41 Es erwies sich, daß Graf von der Goltz mit der Parteiführung, der er

37 Vgl. Begründung zum StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, Quellen III, Bd.l, S.372).38 Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1039.3' Vgl.Kapitel VIII.2.b„ S. 1011.40 So die Einführung von der Goltz' durch Freisler auf der 1. Sitzung der Großen StP-Kommission am 14.12.36

(Schubert, a.a.O., Bd.2.1, S.3).41 Vgl. Sehr, des Stabes des St.d.F. (MinDir. Sommer) an Freisler v. 24.8.38 (Akten des RJM, BA, Sign. R

22/1038).

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1046 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeselbst nicht angehörte, in viel zu loser Verbindung stand, um deren wirkliche Intentio-nen in der Kommission vertreten zu können: aus den überlieferten Unterlagen des Ju-stizministeriums geht hervor, daß er Heß beispielsweise über die Beratungen in der er-

sten Lesung überhaupt erst ein halbes Jahr nach deren Beginn unterrichtete.42 Aberwesentlicher als diese organisatorische Schwäche war offenbar die Tatsache, daß sichim Herbst 1938 die Opposition der Parteiführung weniger gegen einzelne Bestim-mungen der Reformentwürfe zur Neuregelung der Strafrechtspflege, als gegen dieendgültige Kodifikation auf diesem Gebiet schlechthin zu richten begann, für die siedie Zeit als noch nicht reif ansah. Diese Tendenz wurde in einem Schreiben Heß' an

die Reichskanzlei deutlich, von der das Reichsjustizministerium Mitte Oktober 1938einen Durchschlag erhielt.43 Darin lehnte Heß die Verabschiedung des neuen Strafge-setzbuches

-

die die Voraussetzung für die Inkraftsetzung der neuen, auf dieses Ge-setzbuch zugeschnittenen Strafverfahrensordnung war

-

aus Gründen ab, „die in sei-ner Struktur" lagen: das vorgesehene StGB schütze das Rechtsgut des einzelnen,schlösse eine Strafverfolgung dessen, der in Erfüllung seiner Aufgabe der Partei in die-ses Rechtsgut eingreife, nicht aus und liefere folglich „wie unser heutiges Recht demeinzelnen Waffen, sich gegen die Partei zur Wehr zu setzen". Es sei aber schlechter-dings unannehmbar, daß auch das neue nationalsozialistische Recht die solcherart imSinne und Auftrag der Bewegung Handelnden „auf Verfahrenseinstellung und Frei-spruch am Ende langwährender Ermittlung und Verhandlung oder auf den Gnaden-weg" verweise. Da aber im Strafgesetzbuch „nicht gut eine Linie gezogen werden[könne] zwischen unerlaubter und ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt der Er-füllung der Parteiaufgaben erlaubter Rechtsgutverletzung", müsse eine Lösung aufdem Gebiet des Strafverfahrens gesucht werden. Heß schlug vor, nach der neuen

Strafverfahrensordnung solle der Reichsjustizminister „im Einvernehmen" mit demStellvertreter des Führers anordnen können, daß die Verfolgung einer Straftat im kon-kreten Fall unterbleibe, wenn „das öffentliche Interesse an Abstandnahme" über-

44wiege.Dieser Vorschlag war für die Justiz unannehmbar. Bei entsprechenden Anträgen der

Parteiführung mit anschließendem NichtZustandekommen eines „Einvernehmens"über die Verfolgung oder NichtVerfolgung von Straffällen hätte sich diese Regelung-

außer als Ursache ständiger Auseinandersetzungen-

de facto wie ein Veto der Par-teiführung in dieser Frage auswirken können. Aus denselben prinzipiellen Gründen,aus denen die Justizverwaltung die Forderung auf Abänderung eines rechtskräftigenUrteils durch eine politische Stelle zurückgewiesen hatte, konnte sie nicht zulassen,daß ein Strafverfahren überhaupt erst nach Genehmigung durch eine solche Stelle ein-

42 Im Mai 1937 bat von der Goltz das RJM um zusätzliches Material für diesen Vortrag vor Heß, der „nachPfingsten" stattfinden sollte (Verm. Lehmanns v. 11.5.37, a.a.O.). Zu der analogen Stellung von der Goltz' inder amtlichen Strafrechtskommission vgl. Kapitel VIL2.a., S. 769-

43 Zum folgenden vgl. Sehr. Heß' an den Chef der RK v. 30.9.38, mit Anschr. v. 9.10.38 Gürtner übersandt(a.a.O., Sign. R 22/856).

44 Akten des RJM, a.a.O., zum Voranstehenden vgl. auch Kapitel VII.2.d., S. 807 ff.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1047

geleitet werden durfte.45 Der Vorschlag wäre einer Entbindung der im Auftrag derPartei Handelnden von den Strafgesetzen gleichgekommen, und das Strafgesetzbuchhätte -wie Gürtner anläßlich der geforderten Loslösung der Polizei von den Vor-schriften des Strafrechts erklärte

-

dadurch „seinen Sinn verloren".46 Gürtner teilte da-her dem Chef der Reichskanzlei mit, daß die von Heß aufgeworfenen Fragen unbe-dingt „der Entscheidung des Führers" bedurften, und bat, ihn zu dem von Heß ge-wünschten Vortrag bei Hitler hinzuzuziehen. Zur Sache selbst äußerte er seine .Auf-fassung, daß die Organe der Partei an die Gebote des Strafrechts ebenso gebundensind wie die Beamten": es dürfe „nur ein einheitliches Strafrecht und seine einheitli-che Handhabung", und zwar durch die Justizorgane „in den dafür vorgesehenen For-men" geben. Bei Maßnahmen der Partei, die Straftatbestände erfüllten, könne durcheine Lockerung des Legalitätsprinzips geholfen werden: der Staatsanwalt könne in ge-eigneten Fällen von einer Einleitung des Verfahrens absehen. In der Tat erweiterte jader StVO-Entwurf die Befugnis des Staatsanwalts zum Verzicht auf eine Strafverfol-gung sogar auf die mittlere Kriminalität

-

wenn die Strafe voraussichtlich „höchstensauf Gefängnis, Festungshaft oder Haft von einem Monat oder Geldstrafe von dreißigTagesbußen" lautete

-

und befreite den Staatsanwalt dabei von der Zustimmung desRichters.47 Sofern nicht ein Straffreiheitsgesetz anzuwenden sei, schrieb Gürtner,könne der Justizminister derartige Fälle ferner Hitler zur Entscheidung über die Nie-derschlagung des Verfahrens vorlegen. Eine Ergänzung dieser bestehenden Möglich-keiten könne er nicht in Erwägung ziehen. Heß' Vorschlag, die Befugnis Hitlers zur

Niederschlagung auf eine andere Stelle zu übertragen, bedeute „die Aufspaltung eineswichtigen Staatshoheitsrechts", bei der Hitler die Entscheidung auch in „bedeutsa-men, im In- und Ausland Aufsehen erregenden Fällen aus der Hand geben" würde.Ob er diese Befugnis tatsächlich abtreten wolle, könne nur Hitler selbst bestimmen.48

Auf Vorschlag Gürtners kam es am 12. Dezember zu einer Aussprache mit Heß, inder die letzten Differenzen über einzelne Bestimmungen des StGB-Entwurfs ausge-räumt wurden, bei der Heß jedoch auf seiner Forderung hinsichtlich der Strafverfah-rensordnung bestand. Schon am nächsten Tag bekräftigte Heß nochmals schriftlich,daß er einer Inkraftsetzung des StGB-Entwurfs oder einzelner seiner Teile nur unterder Bedingung zustimme, daß in den Entwurf der Strafverfahrensordnung eine Be-stimmung über eine „politische Zentralinstanz" eingebaut würde, die „ohne Beschrän-kung auf Tatbestände oder auf einen Personenkreis" im öffentlichen Interesse dieNicht-Verfolgung einer Straftat anordnen könne.49 Damit hatte Heß nunmehr defini-tiv das Schicksal des Entwurfs der Strafverfahrensordnung mit dem des StGB-Ent-wurfs - über den ohnehin vorhandenen sachlichen Zusammenhang hinaus

-

verbun-den. In seiner Antwort versprach Gürtner zwar nicht, sich für die geforderte Bestim-

45 Die Zustimmung des St.d.F. zu einer Strafverfolgung nach verschiedenen Bestimmungen des HeimtückeG.v. 20.12.34 lag auf einer anderen Ebene: hier waren die Partei, ihre Gliederungen oder leitenden Funktio-näre in der Position von

-

durch die Straftat-

Verletzten.46 Vgl. Kapitel VIII.2.C, S. 1026.47 Voraussetzung war, daß die Verfolgung „nicht zur Sühne oder zum Schutz der Volksgemeinschaft geboten"

war, vgl. § 12 des Entw. 1. Lesung v. 28.10.37, ähnlich § 15 des Entw. 2. Lesung v. 1.5.39 (Schubert, QuellenIII, Bd. 1, S. 108, 302), ferner schon § 26 des Entw. v. 27.2.36 (Kapitel VIII.2.a., S.987).

48 Vgl. Sehr. Gürtners an Lammers v. 22.11.38 (a.a.O., Sign. R 22/856), zum Wortlaut s. auch Kapitel VII.2.d.,S.813f.

« Sehr. Heß' an Gürtner v. 13.12.38 (a.a.O.). Zum Wortlaut s. auch Kapitel VII.2.d., S.817.

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1048 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

mung einzusetzen, bestätigte aber, auch er gehe nunmehr „davon aus, daß bei der Ver-abschiedung der neuen Strafverfahrensordnung" oder bei einer früheren Inkraftset-zung auch nur von Teilen des StGB-Entwurfs „die Entscheidung des Führers über dievon Ihnen

...

für die Strafverfahrensordnung gewünschte Vorschrift herbeizuführensein" werde.30

Während in der Folge weder der gemeinsame Vortrag bei Hitler noch eine vom

Chef der Reichskanzlei für Mitte Januar angekündigte Kabinettssitzung über die wei-tere Behandlung des StGB-Entwurfs stattfand, kam es am 19- Januar 1939 zu einerUnterredung Gürtners mit Hans Frank, in der Frank seinen grundsätzlichen Wider-spruch gegen die Inkraftsetzung des StGB-Entwurfs

-

und damit schon automatischauch des amtlichen Entwurfs der Strafverfahrensordnung

-

beibehielt.31 Zur Lösungdes von Heß aufgeworfenen Problems erwog Frank zwei Vorschläge, die er im Februaröffentlich zur Diskussion stellte:

1. Analog der eigenen Strafgerichtsbarkeit für die Wehrmacht solle die strafrechtli-che Ahndung von Verstößen der Mitglieder der „Führungshierarchie" der NSDAP,d. h. der Parteifunktionäre, nicht mehr den allgemeinen Strafgerichten, sondern „einerausschließlichen Gerichtsbarkeit der Partei auf Grund eigener Rechtsordnung" zuste-hen. Dabei handele es sich „natürlich nicht um Sondervorrechte, sondern darum, dieerhöhte Verantwortung durch ein schärferes Strafgesetz oder durch eine strengereVerfahrensordnung [!] zum Ausdruck zu bringen".

2. Auch für die allgemeine Strafgerichtsbarkeit, der der einfache Parteigenosse wei-terhin unterstehen sollte, solle der Oberste Gerichtsherr der Nation Hitler „als ober-sten Sachwalter dieser seiner Zuständigkeiten einen ,Richter des Führers' bestimmen",der

-

mit allen Eigenschaften des Richteramtes ausgestattet-

„eine totale Zuständig-keit in allen Rechtsverfahren" (!) besitzen, „als unmittelbarer Urteilsvertreter des Füh-rers Recht sprechen" und auch die Wiederaufnahme des Verfahrens handhabensollte.32

Die Verwirklichung des ersten Vorschlages hätte das Ende einer einheitlichen zivi-len Strafrechtspflege und für die Justiz den Verlust ihrer Zuständigkeit für einen ent-scheidenden Personenkreis zugunsten der Parteigerichtsbarkeit bedeutet, die damitneben der Funktion einer Disziplinar- auch die einer Strafgerichtsbarkeit übernom-men hätte. Angesichts der Erfahrungen, die die Justiz bei der Verfolgung der in der„Reichskristallnacht" begangenen Straftaten gemacht hatte53, wäre dadurch künftigeine noch stärkere Erschütterung der Rechtsordnung durch die Parteiorgane zu erwar-

ten gewesen. Die weiterhin vorgeschlagene Einrichtung einer politischen Stelle für dieBehandlung „heikler" Fälle in der allgemeinen Gerichtsbarkeit und für die Korrekturihrer Urteile, die die Justizverwaltung schon einmal entschieden abgelehnt hatte,

30 Vgl. Sehr. Gürtners an Heß v. 16.12.38 (a.a.O.).31 Ob dabei ausdrücklich auch über den StVO-Entw. gesprochen wurde, geht aus den Verm. v. 24. u. 28.1.39

in den Akten des RJM nicht hervor (a.a.O. und Kapitel VII.2.d, Anm. 45).32 Vgl. H. Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, München 1939, S.15ff, 41 f., 44. Die Schrift stellte

eine erweiterte und konkretisierte Form seines Vortrages auf der ersten Tagung der Deutschen Strafrechts-gesellschaft am 28.10.38 in München dar, in der allerdings der Gedanke vom „Richter des Führers" nochfehlt (vgl. Manuskript der Rede, von Frank am 2.11.38 an Lammers übersandt, Akten des RK, BA, Sign. R43 11/1516 a). Die erste Meldung über Franks Vorschlag in der Frankfurter Zeitung v. 23.2.39 wurde Gürt-ner mit Ref.Verm. sofort vorgelegt (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/206).

33 Vgl. Kapitel V.2.,S. 492 f.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1049

mußte für sie auch dann unannehmbar bleiben, wenn deren Funktion von einemRichter

-

womöglich in der Person von Hans Frank selbst-

wahrgenommen wurde.Wegen der

-

nicht zuletzt durch solche in der Partei kursierende Vorstellungen-immer dringlicher werdenden Verabschiedung des neuen StGB bat Gürtner Mitte Fe-

bruar um einen Vortrag bei Hitler, um ihm diejenigen Fragen zu unterbreiten, die nur

durch Hitler persönlich entschieden werden konnten. Seine auf Wunsch der Reichs-kanzlei nachgereichte detaillierte Aufstellung jener Probleme, die er Hitler zur Ent-scheidung vorzulegen beabsichtigte54, enthielt u.a. Franks grundsätzlichen Wider-spruch: offensichtlich hoffte er, Franks Opposition durch ein Machtwort Hitlers aus-

räumen zu können.55 Die Aufstellung enthielt dagegen nicht die bewußte ForderungHeß' für die Strafverfahrensordnung, bezeichnenderweise aber den ausgearbeitetenVorschlag einer gesetzlichen Ermächtigung ausschließlich für den Reichsjustizmini-ster, den Tag zu bestimmen, an dem das StGB in Kraft trat, und „Übergangsvorschrif-ten über die Gerichtsverfassung und das Strafverfahren [!] für die Zeit bis zum Inkraft-treten des neuen Strafverfahrensrechts treffen" zu können. Offenbar beabsichtigteGürtner, zunächst unter allen Umständen mit Hitlers Zustimmung das neue StGB inKraft zu setzen, dadurch das von Heß geschaffene Junktim zu beseitigen und die Be-handlung der von Heß aufgeworfenen Frage bis zur Verabschiedung der neuen Straf-verfahrensordnung aufzuschieben, die überdies nicht mehr so dringlich gewesen wäre,wenn er die notwendigsten Bestimmungen schon als „Übergangsvorschriften" hätte inGeltung setzen können. Aber Gürtner sollte auf seinen Vortragstermin bei Hitler ver-

geblich warten: Hitler wich einer Entscheidung zwischen dem Drängen des Justizmi-nisters auf Realisierung seiner Entwürfe und deren Ablehnung durch die Parteifüh-rung bzw. Gegenforderungen aus, wozu ihm die außenpolitischen Ereignisse, die mili-tärische Vorbereitung und schließlich der Beginn des Krieges in den folgenden Mona-ten genügend Gründe boten. Mit dem Scheitern der grundlegenden Erneuerung desStrafrechts blieb auch die Gesamtreform des Strafverfahrensrechts stecken. Sie hatteallerdings 1939 ihre Dringlichkeit insofern verloren, als verschiedene Neuerungen desfertiggestellten Entwurfs im Laufe der Jahre bereits Gesetz geworden waren; weiteresollten nach Kriegsausbruch folgen.

e. Die Gesetzgebung zum Strafverfahrensrecht im Frieden: legislative Maßnahmen1933/34 und die Strafprozeßnovelle vom Juni 1935

Die Gesetzgebung zum Strafverfahren in der Friedensperiode läßt sich in zwei zeitli-che Abschnitte gliedern. In den ersten Jahren nach 1933 wurde eine Reihe vordringli-cher Änderungen parallel zur Ausarbeitung einer neuen Strafverfahrensordnung

-

ge-wissermaßen im Vorgriff auf die Gesamtreform

-

verwirklicht. Diese Phase war im we-

sentlichen mit der Novelle vom 28. Juni 1935 abgeschlossen. Als die Arbeit der Gro-ßen Strafprozeßkommission 1936 begann, waren bestimmte Verfahrensänderungen

54 Vgl. Sehr. Gürtners an Lammers v. 11. und Ergänzungsschr. v. 15.2.39 nebst Entw. eines G. über das In-krafttreten des Deutschen Strafgesetzbuchs (a.a.O., Sign. R 22/856).

55 Der Ablehnung von Franks Vorschlag einer eigenen Parteigerichtsbarkeit zur Verfolgung von Verstößen ge-gen die allgemeinen Strafgesetze konnte Gürtner nach seiner Unterredung mit Hitler und dessen grundsätz-licher Denkschrift zu diesem Thema vom September 1933 so gut wie sicher sein. Vgl. dazu Kapitel 1V.5,S.42H.

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1050 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganewie z. B. die Beseitigung der „notwendigen", d. h. obligatorischen gerichtlichen Vorun-tersuchung, die Einführung neuer Haftgründe, die Abschaffung des Haftprüfungsver-fahrens, die Aufhebung der reformatio in peius und vor allem die besonderen Verfah-rensvorschriften für die Sondergerichte und den Volksgerichtshof bereits eingeführt.Damit waren einmal für die Beratungen dieser Kommission gewisse Weichen gestellt,zum anderen aber die Dringlichkeit für weitere unmittelbare gesetzgeberische Maß-nahmen fortgefallen: zukünftige Änderungen konnten nunmehr der Kommissionüberlassen werden, die ihre Arbeit schließlich mit dem Entwurf einer Strafverfahrens-ordnung vom Mai 1939 abschloß. Deshalb war die Aktivität des Gesetzgebers auf die-sem Gebiet ab 1936 bis zum Kriegsbeginn zurückhaltender. Als der Entwurf aus dengeschilderten Gründen nicht in Kraft gesetzt wurde, der Krieg aber eine Reihe von

Verfahrensänderungen und -Vereinfachungen notwendig machte, wurde der Reform-entwurf als „Steinbruch" benutzt, aus dem je nach Bedarf Teile herausgebrochen undin geltendes Recht verwandelt wurden.

Das Strafverfahrensrecht wurde bereits durch eine Verordnung tangiert, die die Re-gierung Hitler am dritten Tage ihres Bestehens beriet1 und die zwei Tage später von

Hindenburg unterschrieben wurde: die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schützedes deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 (RGBI. I, S.35). Danach durften die in dieserVerordnung mit Strafe bedrohten Handlungen

-

Aufforderung zu Gewalttätigkeit,Teilnahme an verbotenen Versammlungen und Umzügen, Herstellung und Verbrei-tung verbotener Druckschriften u.a.

-

im Schnellverfahren ohne die einengenden Be-stimmungen abgeurteilt werden, die § 212 StPO für dieses Verfahren festlegte: es war

„auch dann zulässig, wenn der Beschuldigte sich weder freiwillig stellt noch infolge ei-ner vorläufigen Festnahme dem Gericht vorgeführt wird". Dasselbe galt für alle Straf-taten, die zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehörten, wenn sie „an öffentlichen Or-ten, in Versammlungen oder durch Verbreitung oder Anschlag von Schriften, Abbil-dungen oder Darstellungen begangen worden" waren (§ 24). Für das Schnellverfahren,das allerdings nur vor dem Amtsrichter oder dem Schöffengericht möglich war, be-durfte es keiner schriftlichen Anklage, keines Zwischenverfahrens und keines Eröff-nungsbeschlusses; die Hauptverhandlung wurde auf Antrag des Staatsanwalts sofortbzw. in kürzester Frist2 durchgeführt, die mündliche Anklage lediglich in die Ver-handlungsniederschrift bzw. die Ladung aufgenommen. Dieses Verfahren, das bislangaußer bei der Verurteilung von Bettlern, Landstreichern und Dirnen in den Großstäd-ten meist nur bei Verkehrsdelikten mit klarer Sachlage angewendet worden war,konnte nun in seiner erweiterten Form auch zur Verfolgung ausgesprochen politischerDelikte eingesetzt werden, um die Strafe auf dem Fuße folgen zu lassen. Da der Ver-teidiger erst zu dem Zeitpunkt Akteneinsicht bekam, in dem der Staatsanwalt denAntrag auf die Anberaumung der Hauptverhandlung stellte, konnte die Verteidigungunter Umständen erheblich beeinträchtigt werden. Es lag aber ganz im Ermessen desRichters, ob er die Sache aus diesem oder anderen Gründen zur Verhandlung imSchnellverfahren für ungeeignet befinden und ablehnen wollte.

1 Der von Frick dem Kabinett am 2.2.33 vorgelegte Entw. konnte wegen der Neuformulierung der Ände-rungswünsche Hitlers durch das RMdl und das RJM erst auf der Kabinettssitzung v. 3.2.33, 6.30 Uhr nachm.,verabschiedet werden (Akten der RK [vgl. Kapitel I, Anm. 3], Teil I. Bd. 1, Dok.Nr. 11, S.34).

2 Falls eine Ladung stattfand, betrug die Frist 3 Tage, sie konnte aber auf 24 Stunden herabgesetzt werden (vgl.§ 4 VO v. 6.10.31, RGBI. I, S. 537, der den § 212 StPO ergänzte).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1051

Noch im selben Monat wurde der erste Schritt zur Verwirklichung einer der haupt-sächlichsten Reformforderungen gemacht: zur Abschaffung der notwendigen gericht-lichen Voruntersuchung, die die StPO für alle Strafsachen vorschrieb, die zur Zustän-digkeit des Reichsgerichts, der Oberlandesgerichte und der Schwurgerichte gehörten;in anderen Strafsachen war sie fakultativ und fand nur dann statt, wenn sie der Staats-anwalt oder der Beschuldigte beantragte (§ 178). In der Verordnung des Reichspräsiden-ten gegen Verrat am Deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe vom 28. Februar1933 (RGBI. I, S.85) wurde nunmehr vorgesehen, daß in den Hoch- und Landesver-ratssachen, für die das Reichsgericht zu dieser Zeit noch zuständig war, die Vorunter-suchung entfiel, „wenn der Tatbestand einfach liegt und sie darum nach dem pflicht-gemäßen Ermessen des Oberreichsanwalts für die Vorbereitung der Hauptverhand-lung nicht erforderlich ist". Immerhin war die Entscheidung des Oberreichsanwaltsfür das Gericht nicht bindend, es konnte von sich aus oder auf Antrag des Angeschul-digten nachträglich die Voruntersuchung beschließen, „wenn ihm dies zur besserenAufklärung des Sachverhalts oder für die Vorbereitung der Verteidigung des Ange-schuldigten geboten" schien (§ 10). Die Verordnung führte eine weitere strafprozes-suale Neuerung ein: den Ermittlungsrichter für das Reichsgericht. Die Aufgabe, imVorverfahren die ersten richterlichen Untersuchungshandlungen vorzunehmen, hattebislang der örtlich zuständige Amtsrichter auf Antrag des Staatsanwalts (§ 162 StPO)-bei Gefahr im Verzüge als „Notstaatsanwalt" in eigener Initiative (§ 165 StPO)-auch in Hoch- und Landesverratssachen durchgeführt. Nunmehr wurden dafür jeweilsfür die Dauer eines Geschäftsjahres vom Reichsjustizminister ein oder mehrere Er-mittlungsrichter bestellt; auf diesen Posten konnte jedes Mitglied eines deutschen Ge-richts und jeder Amtsrichter berufen werden (§ 8). Die Maßnahme wurde damit be-gründet, daß schon der erste Zugriff einen Überblick über die politischen Zusammen-hänge, über eine eventuelle organisierte Opposition u.dgl. erfordern konnte oder fürdas ganze Reichsgebiet einheitlich erfolgen mußte. Da der Einsatz des Ermittlungs-richters im konkreten Fall eine Kann-Bestimmung war, blieb die Zuständigkeit desAmtsrichters daneben subsidiar bestehen; nur für die Beschlagnahme von Druck-schriften in Hoch- und Landesverratssachen wurde im Interesse der einheitlichenHandhabung der Ermittlungsrichter ausschließlich zuständig (§ 9).

Einen weiteren Schritt in Richtung auf die Reformziele machte die Verordnung desReichspräsidenten zur Beschleunigung des Verfahrens in Hochverrats- und Landesver-ratssachen vom 18. März 1933 (RGB1.I, S. 131): sie beseitigte den Eröffnungsbeschlußbei Hoch- und Landesverratssachen (Art. 3). An die Stelle des Antrags der Staatsan-waltschaft auf Eröffnung des Hauptverfahrens trat der Antrag auf Anordnung derHauptverhandlung. Alle in der StPO an die Eröffnung des Hauptverfahrens geknüpf-ten Wirkungen wie z. B. der unbeschränkte Verkehr zwischen Verteidiger und verhaf-teten Beschuldigten traten nunmehr mit der Einreichung der Anklageschrift ein; alleWirkungen, die an die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses gebunden waren, tratenmit dem Beginn der Vernehmung des Angeklagten ein, nach diesem Zeitpunktkonnte der Angeschuldigte z. B. keinen Richter mehr wegen Befangenheit ablehnen.3

3 § 25 StPO. Der Einwand wegen Unzuständigkeit des Gerichts (§ 16 StPO) und das Verlangen nach Ausset-zung der Verhandlung wegen Nichteinhaltung der Ladungsfrist (§ 217) kam bei Hoch- und Landesverratsfäl-len (Haftsachen) ohnehin kaum in Betracht.

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1052 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeBestehen blieb jedoch der „negative" Eröffnungsbeschluß: Hatte der Gerichtsvorsit-zende gegen die beantragte Anordnung der Hauptverhandlung Bedenken, da er diegesetzlichen Voraussetzungen nicht für gegeben ansah, so führte er die Entscheidungdes Gerichts darüber herbei. Sowohl der Wegfall des Eröffnungsbeschlusses wie auchdie geschilderte Einschränkung der Voruntersuchung galten in Hoch- und Landesver-ratssachen von nun an nicht nur für das Reichsgericht, sondern auch für die Oberlan-desgerichte in den Sachen minderer Bedeutung, die der Oberreichsanwalt zur Be-handlung durch diese Gerichte an die

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zu diesem Zeitpunkt noch-

„Landes"staats-anwaltschaften abgab (Art. 2). Hatten bislang nur Landesverratssachen an die Ober-landesgerichte überwiesen werden können, so dehnte die Verordnung die Überwei-sung nunmehr auch auf Hochverratssachen aus (Art. 1). Auch das Reichsgerichtkonnte diese Abgabesachen an ein Oberlandesgericht überweisen; in diesen Fällenordnete es zugleich die Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht an.

Die Einrichtung eines speziellen Strafverfahrens für die Sondergerichte durch dieVerordnung vom 21. März 1933, für die von vornherein die gerichtliche Voruntersu-chung völlig ausgeschlossen und der Eröffnungsbeschluß gleichfalls beseitigt war, istan anderer Stelle behandelt worden.4

Als am 8. Juni 1933 im Reichskabinett ein Gesetzentwurf beraten wurde, der dieAnzeige von Auslandsvermögen und Devisenbesitz zur Pflicht machen und derenVerletzung als „Wirtschaftsverrat" unter Strafe stellen sollte, bezeichnete es Hitler „alsnotwendig, in das Gesetz Bestimmungen über ein Verfahren gegen Abwesende aufzu-nehmen".5 Im Gesetz gegen Verrat der Deutschen Volkswirtschaft vom 12. Juni 1933(RGBI. I, S.360) wurde deshalb bestimmt, daß das in der StPO gegen Beschuldigte mitunbekanntem oder Auslandsaufenthalt vorgesehene Verfahren auf die neuen Tatbe-stände anwendbar sein sollte (§ 9). Nach der StPO war aber eine Hauptverhandlunggegen Abwesende nur bei Übertretungen und einigen Vergehen zulässig, nämlichdann, wenn die Tat mit Geldstrafe oder Einziehung bedroht war (§ 277 StPO). Da dieVerordnung die Verstöße gegen die Anzeigepflicht aber als Verbrechen ansah und mitZuchthaus von drei bis fünfzehn Jahren nebst Verlust der bürgerlichen Ehrenrechtebestrafte (§ 8), erweiterte sie insoweit die Bestimmungen der StPO und stand damitvöllig im Einklang mit den Reformabsichten, die das Abwesenheitsverfahren von je-der Beschränkung auf bestimmte Höchststrafen oder Tatbestände befreien wollten.6Beinahe hätte die Verordnung dieses Verfahren auch schon auf die Todesstrafe an-wendbar gemacht, deren Aufnahme in den Entwurf Reichsfinanzminister Graf Schwe-rin von Krosigk in der Kabinettssitzung befürwortete und die nur deshalb unterblieb,weil Hitler diese Strafe „für Verbrechen schwerster Art, insbesondere auch für solchepolitischer Natur" reserviert sehen wollte und auch Gürtner argumentierte, „daß dieTodesstrafe bei Vermögensdelikten in den Kulturstaaten nicht zur Anwendung käme,mit Ausnahme in Rußland".7 Natürlich wäre ein Todesurteil gegen einen abwesenden

4 Vgl. Kapitel VIII. Lb., S. 948 f.3 Vgl. Niederschr. über die Kabinettssitzung v. 8.6.33, nachm. 4.15 Uhr. Der Entw. war auch schon Beratungs-gegenstand in der Sitzung v. 31.5.33, wurde aber offensichtlich wegen der Meinungsverschiedenheiten über

das vorzusehende Strafmaß vertagt (Akten der Reichskanzlei, Die Regierung Hitler, Teil I: 1933/34, Band 1[s. Anm.3 in Kapitel I], Dok.Nr. 156, S.551 [8.6.33], und Dok.Nr. 150, S.536Í. [31.5.33]).6 Vgl. den StVOEntw. v. 27.2.36 (s. Kapitel VIII.2.a., S.991) und die Novelle v. 28.6.35 (im folgendenS.1066f).

7 Vgl. Niederschr. über die Kabinettssitzung v. 8.6.33 (Akten der Reichskanzlei, a.a.O.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1053

Angeklagten insofern lediglich ein „Phantomurteil" gewesen, als der Verurteilte

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wenn er ergriffen wurde oder sich freiwillig stellte-

das Gericht durch einen Antragzwingen konnte, die Erneuerung der Hauptverhandlung zu beschließen und den An-geklagten persönlich zu hören; schon mit diesem Beschluß war das frühere Urteil be-seitigt (§ 9). Es war eben in erster Linie Ziel des Abwesenheitsverfahrens, den Schuldi-gen durch Urteil öffentlich zu brandmarken und sein Inlandsvermögen durch dieStrafvollstreckung zu ergreifen. In der späteren Novelle vom Juni 1935 wurde danndie Durchführung der vom Verurteilten beantragten Erneuerung des Verfahrens nichtmehr zwingend vorgeschrieben, sondern an besondere Bedingungen geknüpft und da-mit weitgehend ins Ermessen des Gerichts gestellt.

Eine wichtige Änderung der StPO, die nicht bis zur Gesamtreform des Strafverfah-rens aufgeschoben werden konnte, betraf die Neuregelung der Vereidigung von Zeu-gen und Sachverständigen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, mußte nach gelten-dem Recht jeder Zeuge

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auch in weniger wichtigen Fällen-

vereidigt werden, auchdann, wenn die Prozeßbeteiligten von der Wahrheit der Aussage überzeugt waren. An-dererseits war der Richter häufig zur Vereidigung gezwungen trotz der klaren Er-kenntnis, daß der Zeuge die Unwahrheit sagte. Diese übermäßige, geschäftsmäßige Ei-desabnahme führte einmal dazu, daß das Gefühl für die Bedeutung des Eides verloren-ging, zum anderen aber zu einer erheblichen Zunahme von Verurteilungen wegenMeineids.8 Diesen Mißständen sollte das Gesetz zur Einschränkung der Eide im Straf-verfahren vom 24. November 1933 (RGBI. I, S. 1008) abhelfen, das u.a. die Paragraphen57 bis 66 der StPO erneuerte. Wie es in der Präambel hieß, war es das Ziel des Geset-zes, überflüssige Eidesleistungen zu verhindern, „um dem Eide die seinem Wesen undseiner Heiligkeit entsprechende Bedeutung wieder zu verleihen". Allerdings konnteim Strafprozeß

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in dem es unter Umständen um Leben und Freiheit des Angeklagtenging, und folglich Druckmittel zur Verfügung stehen mußten, um die Wahrheit an

den Tag zu bringen-

die Vereidigung nicht wie beim Arbeitsgerichtsverfahren in dasErmessen des Gerichts gestellt oder wie im Zivilprozeß vom Willen der Parteien ab-hängig gemacht werden.9 Deshalb hielt das Gesetz auch den Grundsatz aufrecht, daßder Eid des Zeugen die Regel, der Nichteid die Ausnahme war, nur sollte er nichtmehr vor, sondern nach der Vernehmung abgelegt werden (§ 59). Über die beibehalte-nen zwingenden Ausnahmen, d.h. Vereidigungsverbote10 (§ 60) hinaus wurden jedochnunmehr die Gründe erheblich vermehrt, aus denen das Gericht nach eigenem Er-messen von der Vereidigung absehen konnte (§ 61). Bisher durfte es davon nur Ge-brauch machen, wenn es sich um die Aussage des Verlobten, Ehegatten und bestimm-ter Verwandter des Beschuldigten handelte

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also von Personen, die das Zeugnis oh-nehin hätten verweigern dürfen. Nunmehr konnte auch bei Jugendlichen zwischen

8 Wegen Verletzung der Eidespflicht (§§ 153-156, 159, 160, 162, 163 StGB) wurden verurteilt: 1930=3465,1931 = 3635, 1932 = 4195, 1933 = 4434 Personen (vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg.52-54, Berlin 1933-35). Zum Gesamtproblem und über die Reformversuche vor 1933 vgl. A. Hegler, Die Ei-desreform, Stuttgart 1930.

9 Vgl. § 58 des ArbeitsgerichtsG v. 23.12.26 (RGBI. I, S. 507); femer § 391 ZPO i.d.F. des G. zur Änderung desVerfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten v. 27.10.33 (RGBI. I, S.780), wonach die Beeidigung unter-blieb, wenn beide Parteien auf sie verzichteten.

10 Alter des Zeugen unter 16 Jahre, mangelnde Verstandesreife, Verstandesschwäche; Aberkennung der Eides-fähigkeit wegen Meineids; Mitwirkung an der Tat.

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1054 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganesechzehn und achtzehn Jahren von der Vereidigung abgesehen werden, um den Gradihrer sittlichen Reife und ihrer Beeinflußbarkeit berücksichtigen zu können, fernerbeim Verletzten und seinen Angehörigen, die häufig voreingenommen waren und da-mit leicht in Versuchung gerieten, die Unwahrheit zu sagen. Zwar hielt das Gesetzden Verletzten keineswegs für eidesunwürdig; das Gericht sollte jedoch gewissenhaftprüfen, ob die Vereidigung geboten oder „die beeidigte Aussage wertlos sein würde".11Das Gericht konnte ferner auf die Vereidigung verzichten, wenn der Zeuge durch denInhalt der Aussage sich oder Angehörige einer strafbaren Verfolgung aussetzte oderdie Aussage ihnen zur Unehre gereichen konnte. Völlig neu war die Bestimmung, daßvon der Vereidigung abgesehen werden konnte, „wenn alle Mitglieder des Gerichts dieAussage für unerheblich oder für offenbar unglaubhaft" hielten und einstimmig derAnsicht waren, daß „auch unter Eid eine erhebliche oder wahre Aussage nicht zu er-

warten" war (§61 Nr. 5). Laut amtlicher Begründung war damit nicht beabsichtigt, „aufKosten der Wahrheitserforschung den Zeugen vor jedem Gewissenskonflikt zu be-wahren"; auch sollte nicht ermöglicht werden, „daß ein Zeuge sich dem Eide entzieht,indem er böswillig handgreifliche Unwahrheiten vorbringt". Die Eidesabnahme sollteaber dann unterbleiben, „wenn der Zeuge sich ohne eigentliche böse Absicht in seineAussage so verrannt hat, daß er nicht mehr den Weg zur Wahrheit findet".12 Maßstabfür die Beeidigung sollte immer der Wert der Aussage sein: wo der Eid ein Mittel war,mit dem die Wahrheit ans Licht gebracht werden konnte, sollte er angewendet wer-den. Neu war auch die Vorschrift, daß das Gericht von der Vereidigung absehenkonnte, „wenn die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und der Verteidiger auf sie ver-zichten" (§61 Nr. 6). Bei Verfahren wegen einer Übertretung und im Privatklagever-fahren wurde die uneidliche Vernehmung nunmehr sogar die Regel: Zeugen solltenhier nur vereidigt werden, „wenn es das Gericht mit Rücksicht auf die Bedeutung derAussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage für notwendig" hielt (§ 62); imvorbereitenden (Ermittlungs-)Verfahren war hier die Vereidigung überhaupt unzuläs-sig. Auch sonst sollte die Vereidigung der Zeugen grundsätzlich erst in der Hauptver-handlung erfolgen, die Ausnahmen für eine Eidesabnahme im Ermittlungsverfahrenund bei der gerichtlichen Voruntersuchung waren im wesentlichen wie bisher gere-gelt13 (§§ 65, 66). Die Vereidigung des Sachverständigen nach Erstattung seines Gut-achtens stand nunmehr gleichfalls im Ermessen des Gerichts, mußte aber erfolgen,wenn sie ein Prozeßbeteiligter beantragte (§ 79).

Da das Gesetz nur die religiöse Eidesformel vorsah (§ 66 c), wurde bereits vor sei-nem Inkrafttreten am 1. Januar 1934 in der Presse die Frage erörtert, ob damit das inder Weimarer Verfassung verankerte Recht des Schwörenden, zwischen der religiösenund der weltlichen Form des Eides zu wählen, beseitigt worden sei. Schon im Mai1933 hatte das preußische Justizministerium unter Kerrl verfügt, daß für „DeutscheGerichte" nur die religiöse Eidesform „den sittlichen Überzeugungen des deutschenVolkes entspricht"; die Eidesabnahme in weltlicher Form sei daher „auf die Fälle zu

" Vgl. amtl. Begründung (Reichsanzeiger Nr. 277 v. 27.11.33, S. 1 f.)12 A.a.O. Vgl. dazu auch MinRat R. Lehmann, Der Eid im Strafprozeß (DJ 1933, S.872ff.).13 Gefahr im Verzüge; Herbeiführung einer Aussage, die für das weitere Verfahren bzw. die Anklageerhebung

von wesentlicher Bedeutung war. Für die Voruntersuchung zusätzlich: voraussichtliche Verhinderung derZeugen am Erscheinen in der Hauptverhandlung; Erschwerung bzw. Unzumutbarkeit seines Erscheinenswegen Zeitverlusts oder Verkehrsverhältnisse.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1055

beschränken, in denen sie unvermeidlich" sei.14 Noch vor der Vorlage des Gesetzent-wurfs beim Kabinett hatte Gürtner deshalb dem Reichsinnenminister dargelegt, daßdiese auch für den Zivilprozeß, das arbeitsgerichtliche Verfahren und den Beamteneiderhebliche Frage

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„ob die Art. 136 und 137 der Reichsverfassung noch gelten, gege-benenfalls ob sie aufgehoben werden sollen"

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grundsätzlich und gesondert entschie-den werden müsse.15 Nachdem das Gesetz am 14. November vom Kabinett zunächstohne weitere Behandlung dieses Problems angenommen worden war, drang GürtnerMitte Dezember bei Lammers auf eine baldige Erörterung, da in der Praxis bereitsSchwierigkeiten aufgetreten waren, obwohl das Gesetz noch gar nicht in Kraft getre-ten war: in Berlin hatte ein Richter die Bitte eines Zeugen, in weltlicher Form verei-digt zu werden, als „jetzt unzulässig" abgelehnt. Daraufhin entschied Hitler, daß Gürt-ner die Angelegenheit in der nächsten Kabinettssitzung vortragen solle.16 Bei seinemVortrag am 12. Januar 1934 trat Gürtner für die Beibehaltung des Wahlrechts ein, „daes sich nicht empfehle, einen Dissidenten zu einem religiösen Eid zu nötigen". DasKabinett stimmte ihm bei

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allerdings mit der Maßgabe, „eine ausdrückliche Beleh-rung darüber, daß der Eid auch in der weltlichen Form geleistet werden darf", sollevom Richter nicht erteilt werden. Die Landesjustizverwaltungen wurden von diesemBeschluß informiert.17

Immerhin hatte das Gesetz beibehalten, daß Mitglieder einer Religionsgesellschaft,der der Gebrauch gewisser Beteuerungsformeln an Stelle des Eides gesetzlich einge-räumt war, ihre Erklärung unter dieser Beteuerungsformel abgeben durften (§ 66 e).Zwar forderte die Polizeiführung später, diese Sonderregelung zu streichen, da „dieseSekten teilweise Sitz staatsfeindlicher Elemente geworden" seien, so daß neben ihrerzahlenmäßigen Geringfügigkeit „auch aus diesem Grund kein Anlaß bestehe, für dieseSekten Privilegien vorzusehen". Doch scheiterte dieser Vorstoß der Polizei an der Ge-genvorstellung des Auswärtigen Amts, daß die geforderte Streichung geeignet sei, diezahlreichen Angehörigen dieser Sekten, die vor allem in den angelsächsischen Län-dern Einfluß ausübten, in ihrer Einstellung zu Deutschland ungünstig zu beeinflussenund in der Auslandspresse „den Vorwurf angeblicher religiöser Unduldsamkeit gegendas Dritte Reich zu erneuern". Die Ausnahmebestimmung war folglich auch im Re-formentwurf einer Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 enthalten.18

Einige Neuerungen, die das Gesetz vom November 1933 einführte, bewährten sichund sind noch heute Bestandteil der StPO: so der Nacheid, ferner die Möglichkeit desAbsehens von der Beeidigung bei Personen unter 16 Jahren, beim Verletzten und sei-nen Angehörigen, bei Aussagen von unwesentlicher Bedeutung, bei übereinstimmen-dem Verzicht der Prozeßbeteiligten sowie die Regelung der Vereidigung im Privatkla-geverfahren u.a.19 Bei anderen Vorschriften stellte sich jedoch heraus, daß die Justiz-14 AV des preuß. JMv. 11.5.33 (JMB1.1933, S. 154).13 Vgl. Sehr. Gürtners an den RMdl v. 23.10.33 (Akten der RK, BA, Sign. R 43 11/1531).16 Vgl. Sehr. Gürtners an Lammers v. 14.12.33 und Lammers'Antwortschr. v. 22.12.33 (a.a.O.).17 Vgl. Niederschr. über die Kabinettssitzung am 12.1.34, nachm. 3.45 Uhr (Akten der Reichskanzlei, a.a.O.,Band 2, Dok.Nr.284, S. 1073); Sehr, des RJM v. 15.1.34 an die Reichsstatthalter, nachrichtlich an die

LJVerw. (DJ 1933, S.77).18 Zum Voranstehenden vgl. Ber. des Ref. für die StPO-Reform im RJM, ORRat Doerner, in der Strafprozeß-kommission, 57. Sitzung am 13.5.38; § 181 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, Quellen III, Bd.2.3, S. 138),Bd. 1.S.322)." Vgl. §§ 59ff. der StPO i.d.F. der Bekanntmachung v. 7.4.1987 (BGB1. I, S. 1074) einschl. nachfolgender Än-

derungsgesetze.

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1056 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

leitung mit ihnen zu weit vorgeprellt war. Es zeigte sich nämlich, daß die Gerichte alsReaktion auf den bisherigen starren Eideszwang von der Ermächtigung, eine Vereidi-gung zu unterlassen, so umfassenden Gebrauch machten, daß mancherorts die Nicht-vereidigung die Regel und die Vereidigung zur Ausnahme wurde. Nach einer Erörte-rung dieses Problems in der Bezirksgruppe Köln des NS-Rechtswahrerbundes be-klagte Staatsanwaltschaftsrat Peters in einer Veröffentlichung vom Mai 193520, daß dieAnwendung des Gesetzes in der Praxis „weniger zu einer Einschränkung als vielmehrzu einer Beseitigung der Vereidigung geführt" habe: an den Kölner Gerichten blieben„mindestens 90-95% der Zeugen unbeeidigt", die Praxis an anderen Orten sei ähn-lich. Damit falle „eines der größten Hemmnisse gegenüber falschen Aussagen"

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dieals solche keiner Bestrafung unterlagen

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weg. Da aus dem verringerten Risiko für dieunwahre Aussage allein der Verbrecher Nutzen ziehe, erwachse aus dieser Praxis „eineernsthafte Gefahr für die Rechtsprechung". Als Ausgleich für die Einschränkung derEide forderte Peters Strafbestimmungen gegen die falsche uneidliche Aussage, die z. B.in den StGB-Entwürfen von 1925 und 1927 enthalten gewesen waren und die die ver-öffentlichte Denkschrift des preußischen Justizministers vom September 1933 erneut

vorgeschlagen hatte. Das beste Mittel aber bleibe die grundsätzliche Vereidigung desZeugen. Zur Bekräftigung zitierte Peters den Satz aus der erwähnten Denkschrift, daß„alle Versuche der Verwässerung der Rechtseinrichtung des Eides und einer zu weit-gehenden Einschränkung seiner prozeßrechtlichen Anwendung, wie es die Reformbe-strebungen liberalistischen Gepräges anregen, abzulehnen" seien.21 Diese Kritikwurde vom Reichsjustizministerium, das den Routineberichten der nachgeordnetenBehörden

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mit Ausnahme der einiger ländlicher Gegenden Bayerns-

bislang über-wiegend günstige Erfahrungen mit der Einschränkung der Eide hatte entnehmen kön-nen22, nicht unbeachtet gelassen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Peters' Veröf-fentlichung und seine Feststellungen erbat das Ministerium im Oktober 1935 von denPräsidenten und Generalstaatsanwälten ausgewählter Oberlandesgerichte Stellungnah-men zu einer Reihe konkreter Fragen, die etwaige negative Auswirkungen der neuen

Vorschriften auf die Zuverlässigkeit der Wahrheitserforschung der Gerichte betrafen.Die Fragen bezogen sich vor allem auch auf die wohl nunmehr doch als problematischempfundenen beiden Bestimmungen über das mögliche Absehen von einer Beeidi-gung offenbar unglaubhafter Aussagen und über die Nichtvereidigung bei gemeinsa-mem Verzicht von Staatsanwalt, Angeklagten und Verteidiger (§61 Nr. 5 u. 6 StPOn.F.).

Aus den eingegangenen Berichten23 ergab sich, daß tatsächlich die Zeugen in vielenBezirken überwiegend unvereidigt blieben und der starke Rückgang der Vereidigun-gen vor allem darauf zurückzuführen war, daß von der Vorschrift des § 61 Nr. 6 in ei-

20 Vgl. Peters, Die falsche Aussage und ihre Bekämpfung (DStR 1935, S. 145 ff.). Das Thema war Bespre-chungsgegenstand auf einer Zusammenkunft der Arbeitszelle Strafrecht und Strafprozeß der Bezirksgruppegewesen.

21 Vgl. Nationalsozialistisches Strafrecht. Denkschrift des Preußischen Justizministers, Berlin 1933, S.39. Zudieser von Kerrl herausgegebenen Denkschrift s. Kapitel VIL2.a, S. 760 ff.

22 Vgl. Verm. des zuständigen Ref. über die in den Jahresberichten der bayer. GStAe für 1934 enthaltenenMitteilungen (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1035).

23 Vgl. die RV des RJM v. 3.10.35 an die OLGPräs. und GStAe in Breslau, Celle, Dresden, Hamburg, Hamm,Karlsruhe, Köln, Königsberg, München und Stuttgart (a.a.O.) sowie die Zusammenfassung der eingereich-ten Berichte bei MinRat R. Lehmann, Das Ermessen des Strafrichters beim Absehen von der Vereidigung(DJ 1936, S. 1008 ff.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1057

nem Umfang Gebrauch gemacht wurde, der dem Sinn des Gesetzes widersprach. Des-halb verfügte das Justizministerium im Juni 1936, auf die Vereidigung eines Zeugennach dieser Vorschrift nur noch dann zu verzichten, „wenn seine Aussage für die Ent-scheidung unerheblich oder von untergeordneter Bedeutung" war; in Strafsachen vor

den Sondergerichten, den Landgerichten und den höheren Gerichten sollte selbstdann ein solcher Verzicht „nur in seltenen Ausnahmefällen" erfolgen.24 Was die Ju-stizleitung gesetzlich zugelassen hatte, machte sie somit durch eine Verwaltungsan-weisung wieder rückgängig. Über die Auswirkung dieser Weisung ließ sich das Mini-sterium im folgenden Jahr von denselben Stellen wiederum berichten und fragte an,ob die jetzige Handhabung der Eidesvorschriften Anlaß zu weiteren Anregungen fürdie Neuregelung im künftigen Strafverfahrensrecht gäbe.25 In dem Entwurf einerneuen Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 wurde die fragliche Bestimmung jeden-falls im obigen einschränkenden Sinne geregelt.26

Gleichzeitig mit dem Gesetz zur Einschränkung der Eide wurde ein weiteres Ge-setz erlassen, das das Strafverfahren an das neue Gewohnheitsverbrechergesetz anr

paßte. Das Ausführungsgesetz zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecherund über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGB1.I,S. 1000) führte vor allem zwei bedeutsame Neuerungen in die StPO ein: die einstwei-lige Unterbringung und das Sicherungsverfahren. Nach geltendem Recht konnte ge-gen einen zurechnungsunfähigen Beschuldigten keine Untersuchungshaft verhängtwerden, da bei Zurechnungsunfähigkeit der dringende Verdacht einer strafbarenHandlung nicht vorlag. Um ihn aber in Verwahrung nehmen zu können, wenn es dieöffentliche Sicherheit erforderte, wurde nunmehr das Gericht ermächtigt, die einst-weilige Unterbringung eines Beschuldigten in ein Gefängniskrankenhaus, eine Heil-oder Pflegeanstalt anzuordnen, wenn der dringende Verdacht einer im Zustand derZurechnungsunfähigkeit oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit begangenenStraftat vorlag und die begründete Annahme bestand, daß der Beschuldigte durch dasspätere Urteil endgültig in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht werden würde(§ 126 a StPO). Für die einstweilige Unterbringung galten die Bestimmungen derStPO über den Haftbefehl und die Untersuchungshaft entsprechend, nur war eineFreilassung gegen Sicherheitsleistung ausgeschlossen. Der Unterbringungsbefehl war

aufzuheben, wenn der in ihm angegebene Grund wegfiel oder das Gericht im Urteildie Unterbringung nicht anordnete. Mit der Einführung der einstweiligen Unterbrin-gung verwirklichte das Ausführungsgesetz einen Reformgedanken, der auch in denspäteren Entwürfen für eine neue Strafverfahrensordnung enthalten war. Nur wurdedort gegen Schuldunfähige die regelrechte Untersuchungshaft ermöglicht: ohneRücksicht auf Flucht- oder Verdunkelungsgefahr sollte sie sogar in der Regel angeord-net werden, wenn die Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- und Pflegean-stalt zu erwarten war.27

24 Vgl. AV des RJM v. 29.6.36 (DJ 1936, S.993).23 Vgl. RV des RJM an die in Anm.23 genannten OLGPräs. und GStAe v. 27.1.37 (Akten des RJM, Haupt-

büro, BA Berlin).26 Vgl. § 174 Nr. 5 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S. 321), der Nr.5 und 6 des § 61 StPO

zusammenfaßte. Danach konnte das Gericht nur noch wegen Unerheblichkeit, aber nicht mehr wegenUnglaubwürdigkeit von der Vereidigung absehen, wenn keiner der anderen Prozeßbeteiligten widersprach.Damit war auch die Einflußnahme des weisungsgebundenen StAs gesichert.

27 Vgl. § 199 des StVO-Entw. v. 27.2.36, § 202 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, a.a.O., S.45f., 325).

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1058 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeEine weitere Vorwegnahme von Reformplänen28 durch das Ausführungsgesetz war

die Einführung des heute noch existierenden29 selbständigen Sicherungsverfahrens.Wurde schon im Vorverfahren die Zurechnungsunfähigkeit des Beschuldigten mitausreichender Sicherheit festgestellt, konnte bislang der Staatsanwalt keine Anklageerheben, da eine schuldhafte, mit Strafe bedrohte Tat nicht vorlag. In diesem Fallesollte er nunmehr beim Gericht den Antrag stellen können, die Unterbringung desBeschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt selbständig, d. h. unabhängig von einerBestrafung des Täters, anzuordnen (§ 429 a StPO). Der Antrag stand der öffentlichenKlage gleich, für das Verfahren galten die Vorschriften über das Strafverfahren sinnge-mäß. Ordnete das Gericht im Urteil die Unterbringung nicht an

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etwa weil dem Be-schuldigten die Tat nicht nachgewiesen werden konnte -, so erkannte es analog einem„Freispruch" auf Ablehnung des Antrags (§ 429 b). Das Urteil unterlag den gewöhnli-chen Rechtsmitteln der Berufung und Revision. Stellte sich in der Hauptverhandlungheraus, daß der Beschuldigte zurechnungsfähig war, konnte das Gericht zum Strafver-fahren übergehen und auf Strafe erkennen (§ 429 d). Andere Maßnahmen als die Un-terbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, etwa die Entmannung, durften im selb-ständigen Sicherungsverfahren

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im Gegensatz zu den späteren Entwürfen-

nicht an-

geordnet werden. Die Polizeiführung, die generell die Anwendung sichernder Maß-nahmen für sich in Anspruch nahm, bedauerte später, daß der Justiz die geschildertenBefugnisse durch das Gesetz eingeräumt worden waren.30 Denn für die Unterbrin-gung eines Zurechnungsunfähigen, der die öffentliche Sicherheit gefährdete, war

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1933 noch nach Maßgabe des Landrechts- die Polizei- bzw. Verwaltungsbehördezuständig. War der Betreffende keiner Straftat verdächtig, so behielt sie auch nach derNeuregelung die ausschließliche Zuständigkeit für eine Unterbringung; im anderenFall bestand nunmehr jedoch eine konkurrierende Zuständigkeit: Da für das selbstän-dige Sicherungsverfahren das Opportunitätsprinzip galt, konnte der Staatsanwalt dar-über entscheiden, in welchem der beiden Verfahren die Unterbringung am zweckmä-ßigsten herbeigeführt wurde; eine gerichtliche Aufklärung des Falles war meist danngeboten, wenn es sich um eine besonders schwere Tat handelte, die in der Öffentlich-keit Aufsehen erregt hatte. Ordnete die Polizei trotz vorangegangener Ablehnungdurch das Gericht eine Unterbringung an, war für die Justiz allerdings die Gefahr desAutoritätsverlustes vor der Öffentlichkeit gegeben. Das Justizministerium sah eine Lö-sung des Problems nur in der Kontaktaufnahme der Staatsanwälte mit der Polizei,wenn sie den Antrag auf selbständiges Sicherungsverfahren zu stellen beabsichtig-ten.31

Das Ausführungsgesetz vom November 1933 erfüllte zumindest partiell eine wei-tere Forderung der Strafverfahrensreform, indem es erstmals eine Durchbrechung desVerbots der reformado in peius zuließ: die Unterbringung in einer Heil- oder Pflege-anstalt, einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt durfte nunmehr in ei-

28 Zu §§ 385ff. des StVO-Entw. v. 27.2.36 s. Kapitel VIII.2.a., S.992; §§ 41 Iff. des StVO-Entw. v. 1.5.39(Schubert, a.a.O., S. 352).

29 Vgl. §§ 413ff. der StPO i.d.F. v. 7.4.1987 (BGB1.1, S. 1074) einschließlich nachfolgender Änderungsgesetze.30 Vgl. die Diskussion in der Strafprozeßkommission am 2.12.38 (Kapitel VIII.2.C., S. 1025 ff).31 A.a.O. Zur analogen Handhabung bei der Anordnung der gerichtlichen Sicherungsverwahrung vgl. KapitelVI.8.b., S.729L

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1059

nem Berufungs- oder Revisionsurteil sowie in einem Wiederaufnahmeverfahren ange-ordnet werden, auch wenn sie das vom Angeklagten angefochtene Urteil nicht ausge-sprochen hatte (§§ 331, 358, 373 StPO n.F.). Diese Regelung, die heute noch gilt32,wurde damit begründet, daß die Unterbringung nicht nur dem Schutz der Öffentlich-keit diene, sondern auch eine „Heilmaßnahme" im wohlverstandenen Interesse desVerurteilten sei.33 Abschließend sei erwähnt, daß das Ausführungsgesetz

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auch imVorgriff auf die kommende Reform34

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Bestimmungen über die zwangsweise Unter-suchung von Personen in die StPO einfügte: so die Ermächtigung, den Beschuldigtenzur Beobachtung seines Geisteszustandes schon im Laufe des Ermittlungsverfahrens-

und nicht erst wie bisher nach der Anklageerhebung-

in eine Anstalt einzuweisen(§81 StPO n.F.); die Anordnung körperlicher Untersuchung und Eingriffe (Blutprobeu.a.) beim Beschuldigten, aber auch bei Unverdächtigen (Verletzten) zu bestimmtenVerfahrenszwecken (§ 81 a) sowie die Anfertigung von Lichtbildern und Fingerabdrük-ken u.a. des Beschuldigten gegen seinen Willen (§ 81b). Im Falle der Weigerungdurfte unmittelbar Zwang angewendet werden.

Eine weitere Beschneidung der Rechte und Garantien für den Angeschuldigten er-

folgte durch die Abschaffung des förmlichen Haftprüfungsverfahrens. Dieses Verfah-ren war im Dezember 1926 durch ein Initiativgesetz des Reichstages eingeführt wor-

den, nachdem sich Reichspostminister Höfle im Untersuchungsgefängnis vergiftethatte und die StPO-Vorschriften über die Untersuchungshaft daraufhin von der Presseheftig kritisiert worden waren. Es sah vor, daß das Gericht innerhalb bestimmter Fri-sten35 von Amts wegen prüfen mußte, ob die Haft aufrechtzuerhalten war, auf Antragdes Beschuldigten sogar in einer mündlichen Verhandlung (§ 115a StPO). Das Recht,gegen den Haftbefehl Beschwerde einzulegen, blieb daneben bestehen; wurde sie ein-gelegt und abgelehnt, begann die Frist für die automatische Haftprüfung erst mit dernegativen Entscheidung zu laufen. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Straf-rechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934 (RGB1.I, S.341) ersetzte das förmli-che Haftprüfungsverfahren durch die allgemeine Bestimmung, es sei „jederzeit vonAmts wegen darauf zu achten, ob die Fortdauer der Haft zulässig und notwendig ist"(§ 115 a n. F.). Die Änderung wurde damit begründet, daß die bisherige Regelung, ins-besondere die mündliche Verhandlung, lediglich die Ermittlungen verzögert habe,„ohne dem Beschuldigten einen nicht schon auf anderem Wege, namentlich durchdas Rechtsmittel der Haftbeschwerde, zu erreichenden Vorteil zu bieten". In den häu-fig vorkommenden Strafsachen, die eine große Zahl von Beschuldigten umfaßten,habe „die immer wieder notwendig werdende Einsendung der Ermittlungsaktendurch die Untersuchungsbehörde an das Gericht in unerträglicher Weise den Fort-

32 Vgl. dieselben Paragraphen der StPO i.d.F. v. 7.4.1987 (BGB1.1, S. 1074) einschließlich nachfolgender Ände-rungsgesetze.

33 Vgl. amtliche Begründung zum AusführungsG (Reichsanzeiger Nr. 277 v. 27.11.33, S.3).34 Vgl. die §§ 241 ff. des StVO-Entw. v. 27.2.36; §§ 243«. des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, a.a.O., S.52,

330 f.); die Untersuchung von Unverdächtigen war hier erweitert, um die Sippenangehörigen des Beschuldig-ten erb- und kriminalbiologisch untersuchen zu können.

35 Erstmals nach 2 Monaten, Wiederholung innerhalb einer Frist zwischen mindestens 3 Wochen und höch-stens 3 Monaten (§ 115 a StPO, eingeführt durch das G. zur Abänderung der Strafprozeßordnung v.

27.12.26, RGBI. I, S. 529, „lex Höfle"). Diese Novelle beseitigte dafür die Höchstgrenze für das staatsanwalt-schaftliche Ermittlungsverfahren von 4 Wochen, nach deren Überschreitung die Übergabe der Sache in diegerichtliche Voruntersuchung erfolgen mußte.

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1060 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

gang des Verfahrens aufgehalten".36 Wenngleich das Justizministerium die verant-wortlichen Stellen darauf hinwies, daß durch die Neuregelung „der in allen Haftsachengeltende Grundsatz, daß die Dauer der Untersuchungshaft durch eine straffe Durch-führung des Verfahrens und mit allen anderen geeigneten Mitteln so kurz wie möglichzu halten ist, keine Einschränkung" erfahre37, war durch die Beseitigung des Haftprü-fungsverfahrens zweifellos eine weitere Rechtsgarantie für den Beschuldigten im Straf-verfahren weggefallen.

Neben der Regelung des an anderer Stelle behandelten besonderen Verfahrens vor

dem Volksgerichtshof38 bestimmte das Aprilgesetz, daß das Vermögen eines wegenHoch- oder Landesverrats Beschuldigten nicht erst bei der Anklageerhebung, sondernschon bei Erlaß eines Haftbefehls durch Gerichtsbeschluß in Beschlag genommenwerden durfte. Als vorübergehendes Zwangsmittel, das eine dem Zweck der Strafver-folgung widersprechende Verwendung des Vermögens verhindern sollte, blieb die Be-schlagnahme bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens wirksam. Bei Gefahrim Verzüge durfte sie auch der Staatsanwalt vorläufig anordnen, sie trat jedoch außerKraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen vom Gericht bestätigt wurde (§ 433 StPOn.F.).

Einen wichtigen Teil der vorbereiteten Strafrechtsreform nahm die erste große No-velle der StPO mit einigen grundsätzlichen Änderungen vorweg, die nach Meinungder Justizleitung keinen weiteren Aufschub vertrugen: das Gesetz zur Änderung von

Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935(RGBI. I, S. 844). Es wurde deshalb als „Vorbote der umfassenden Erneuerung des ge-samten Strafverfahrens angesehen".39 Den äußeren Anlaß gab die gleichzeitig verab-schiedete Novelle des StGB, die u.a. das Verbot der Analogie aufhob und die Rechts-schöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafvorschriften zuließ (§ 2 StGBn. F.).40 Diese Neuerung bedeutete einen solchen Bruch mit traditionellen Anschauun-gen, daß es für notwendig angesehen wurde, auch in der StPO auf diese neue Rechts-quelle hinzuweisen: Stellte sich heraus, daß der Täter eine Handlung begangen hatte,die nach „gesundem Volksempfinden" Bestrafung verdiente, im Gesetz aber nicht fürstrafbar erklärt war, so sollte der Staatsanwalt (§ 170 a StPO) bzw. das Gericht (§ 267 a

StPO) „prüfen, ob auf die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft und obdurch entsprechende Anwendung dieses Strafgesetzes der Gerechtigkeit zum Siegeverholten werden kann". Ergab sich diese Erwägung erst in der Hauptverhandlung, so

war der Angeklagte auf diese Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes hinzuwei-sen, damit er seine Verteidigung darauf einrichten konnte. Da der Richter in diesenFällen neues Recht schuf

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gewissermaßen gesetzgeberische Funktion ausübte -,wurde dafür gesorgt, daß die Staatsführung hier ihren Einfluß geltend machen konnte:Rügte der weisungsgebundene Staatsanwalt, daß das Gericht zu Unrecht ein Strafge-setz entsprechend angewendet oder nicht angewendet hatte, so sollte er das Rechts-

36 Vgl. amtliche Begründung zum G. (DJ 1934, S.598). In den StVO-Entw. von 1936 und 1939 (a.a.O., § 216bzw. 121) wurde daher bestimmt, daß ein neuer Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls erst wieder gestelltwerden dürfe, „wenn seit der Bekanntgabe der letzten Entscheidung ein Monat verstrichen ist oder wennneue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden".

37 Vgl. AV des RJM v. 14.5.34 (DJ 1934, S. 630).38 Vgl. Kapitel VIII. Lb, S. 960 f.39 Vgl. MinRat R. Lehmann, Die Strafprozeßnovelle vom 28.Juni 1935 (DJ 1935, S. 1000).40 Vgl. dazu Kapitel VII.3.b, S. 851 ff.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1061

mittel der Revision auch dann noch haben, wenn er selbst schon Berufung eingelegtund nach den geltenden Vorschriften damit das Recht auf Revision verwirkt hatte.Das Justizministerium als Vertreter der Staatsführung sicherte sich die Einflußnahmetechnisch dadurch, daß es die Justizbehörden anwies, alle jene Urteile mit Gründeneinzureichen, in denen eine Bestrafung aufgrund der Analogie erfolgt, oder entgegendem Antrag des Staatsanwalts abgelehnt worden war.41 Die Novelle ermächtigte denStaatsanwalt darüber hinaus, in einem solchen Revisionsfalle durch einfachen Antragdie Zuständigkeit des Reichsgerichts

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statt des normalerweise zuständigen Oberlan-desgerichts

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zu begründen, um neue Fragen von erheblicher Bedeutung dem Spruchdes höchsten deutschen Gerichtshofes unterwerfen zu können und dadurch die Ein-heitlichkeit der Beurteilung zu gewährleisten (§ 347 a StPO).

Die Strafprozeßnovelle ergänzte eine weitere, gleichzeitig ins StGB eingeführteNeuerung: die Zulässigkeit der Wahlfeststellung zur Verhinderung ungerechter Frei-sprechungen (§ 2 b StGB).42 Bei einem Urteil, das aufgrund einer Wahlfeststellung er-

folgte, sollte in der Urteilsformel-

die bekanntlich die Angabe der strafbaren Hand-lung enthält

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nur das anzuwendende, also in diesem Falle das mildeste Strafgesetz an-

gegeben werden, während die Urteilsgründe alle Gesetze aufführen mußten, die alsverletzt in Betracht kamen. In den Gründen waren ferner diejenigen Tatsachen festzu-stellen, die den Verstoß ergaben; und es war dort darzulegen, „weshalb eine eindeutigeFeststellung nicht möglich" war (§ 267 b StPO). Damit sollte klargestellt werden, daßdas Gericht seine Aufklärungspflicht sorgfältig erfüllt habe, doch „trotz aller zur Ver-fügung stehenden angemessenen Mittel eine eindeutige Aufklärung nicht möglich"war; es sollte verhindert werden, „daß auf Grund unklarer und verschwommener Er-wägungen Verdachtsstrafen verhängt werden".43

Wie die beiden geschilderten Neuerungen-

Zulassung der Analogie und der Wahl-feststellung

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zielten auch die Bestimmungen der Novelle über das Ermessen der Ge-richte bei Beweiserhebungen auf eine freiere Stellung des Richters ab. Zwar wurde an

die Spitze dieser Bestimmungen der Satz gestellt, das Gericht habe „von Amts wegenalles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist" (§ 244 StPO n. F.), unddamit den Gerichten eine selbständige Aufklärungspflicht auferlegt. Doch übernahmdie Novelle jene Regelung, die schon im Juni 1932 aus Gründen der Vereinfachungund Ersparnis44 eingeführt worden war, mit geändertem Wortlaut in die StPO: in Ver-handlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht als Be-rufungsinstanz durfte das Gericht „einen Beweisantrag ablehnen, wenn es nach seinemfreien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht fürerforderlich" hielt (§ 245 Abs. 1 StPO n.F.). Die Unbedenklichkeit dieser freieren Vor-schriften in den genannten Verfahren, bei denen zwei Tatsacheninstanzen gegebenwaren, wurde wie folgt begründet: durch die Möglichkeit der wiederholten Hauptver-handlung sei „ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür gegeben, daß kein sach-

41 Vgl. AV des RJM v. 7.8.35 (DJ 1935, S. 1124), die eine entsprechende Bestimmung in die „Mitteilungen inStrafsachen" (AV des RJM v. 21.5.35, Sonderveröffentlichung der DJ Nr. 8, Berlin 1935) einfügte.

42 Vgl. dazu Kapitel VII.3.b., S.852.43 Vgl. amtliche Begründung zum G. (Sonderveröffentlichung der DJ Nr. 10, Berlin 1935, S. 53).44 Vgl. VO des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung v.

14.6.32 (RGBI.I,S.285).

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1062 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganelieh begründeter Beweisantrag einer unverdienten Ablehnung" verfalle.45 Für die Ver-handlungen vor jenen Gerichten jedoch, bei denen die Berufung gesetzlich ausge-schlossen war

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der großen Strafkammer, dem Schwurgericht, dem Oberlandesgerichtund dem Volksgerichtshof46

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galt diese Regelung nur für den Beweis durch Augen-schein und durch Sachverständige. Ansonsten wurden hier strengere Vorschriften bei-behalten und die Gründe, die zur Ablehnung eines Beweisantrages berechtigten, ab-schließend aufgeführt: wenn die Beweiserhebung unzulässig war, z. B. nur der Bloßstel-lung des Gegners diente; wenn sie wegen Offenkundigkeit überflüssig war; wenn diezu beweisende Tatsache unerheblich oder bereits erwiesen war; wenn das Beweismittelvöllig ungeeignet oder unerreichbar war, z. B. weil der betreffende Zeuge geistig ge-stört oder sein Aufenthalt unbekannt war; wenn der Antrag nur zum Zweck der Pro-zeßverschleppung gestellt worden war; oder wenn eine für die Entlastung des Ange-klagten wesentliche Behauptung als wahr unterstellt werden konnte, weil das Gerichtvon seiner Wahrheit überzeugt war (§ 245 Abs.2 StPO n.F.). Dieser Katalog war imGrunde das Ergebnis der bisherigen Rechtsprechung des Reichsgerichts. Der zwin-gende Grundsatz, daß sich die Beweisaufnahme auf alle „präsenten" Beweismittel, d. h.auf alle vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf alle anderen herbeige-schafften Beweismittel erstrecken mußte

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der seit Juni 1932 schon für diejenigen Ge-richte nicht mehr galt, gegen deren Urteile Berufung zugelassen war -, war nunmehrfür alle Gerichte aufgehoben. Die Beseitigung dieses „unwürdigen" Zwanges, der denRichter zur Benutzung von Beweismitteln genötigt hatte, die er von vornherein fürseine Entscheidung für gleichgültig hielt, war eines der Hauptanliegen der Strafpro-zeßreform gewesen. Jede Ablehnung eines Beweisantrags erforderte jedoch wie bishereinen Gerichtsbeschluß; dem „Führerprinzip" war nur insofern stattgegeben, als derVorsitzende jeden Beweisantrag allein genehmigen durfte, und zwar nunmehr auchdann, wenn die Beweiserhebung eine Aussetzung der Verhandlung notwendigmachte.

Die Einführung der freien Beweiswürdigung, die die Novelle als Dauerrecht über-nahm, hob das Verbot der Beweisantizipation auf: der Beweisantrag konnte nunmehr„auch aus Gründen abgelehnt werden, die eine Vorwegnahme der Beweiswürdigungbedeuten"47, z. B. weil das Gericht annahm, daß der Sachverhalt bereits genügend ge-klärt oder die angebotenen Beweise nicht geeignet seien, die Entscheidung zu beein-flussen. Die Aufhebung des Grundsatzes, daß über den Wert eines angebotenen Zeu-genbeweises in der Regel erst nach dessen Erhebung entschieden werden darf, war fürden Angeklagten nicht unbedenklich, weil

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wie Reichsgerichtsrat a. D. Niethammeraufgrund der Erfahrungen zu diesem Problem ausführte

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„der Gebrauch eines weite-ren Beweismittels die Vorstellung des Gerichts vom zu beurteilenden Ereignis, auchwenn sie auf einer sorgfältigen Prüfung beruht, doch unerwarteterweise ändernkann".48

45 Vgl. amtliche Begründung, a.a.O.46 Für die SGe bestand die freie Gestaltung der Beweisaufnahme allerdings seit ihrer Gründung im März 1933

(vgl. Kapitel VlII.l.b, S.948).47 Vgl. amtliche Begründung, a.a.O., S. 55.48 RGRat a.D. (seit 1.1.37 im Ruhestand) E. Niethammer, Das Reichsgericht als Schrittmacher der Entwick-

lung des Strafverfahrens nach geltendem Recht und in Zukunft (DStR 1937, S. 129).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1063

Die Novelle beseitigte endgültig das Verbot der reformado in peius, d.h. das Ver-bot, ein Urteil zum Nachteil des Angeklagten dann zu ändern, wenn er selbst oder zu

seinen Gunsten der Staatsanwalt Berufung oder Revision eingelegt hatte (§§ 331, 358StPO n. F.)

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jenes Verbot, das das Ausführungsgesetz zum Gewohnheitsverbrecherge-setz schon für bestimmte Maßregeln der Sicherung und Besserung aufgehoben hatte.Die Neuregelung betraf auch das Wiederaufnahmeverfahren (§ 373 StPO n.F.). DieBeseitigung von einseitigen Bindungen des Rechtsmittelgerichts gab laut amtlicherBegründung „nunmehr dem Richter des höheren Rechtszuges ganz allgemein dieFreiheit, die er braucht, wenn er gerecht richten soll". Es sei durchaus „erwünscht undkeineswegs unbillig", wenn sich ein nicht von seiner Unschuld überzeugter Angeklag-ter „durch die Möglichkeit härterer Bestrafung vom Gebrauch eines Rechtsmittels zu-

rückhalten" lasse; unnötige Verfahren und die Einlegung von Rechtsmitteln mit demalleinigen Ziel, die Rechtskraft des Urteils hinauszuziehen, würden damit vermie-den.49 Es dürfte aber keinem Zweifel unterliegen, daß sich die Beseitigung dieser Bin-dungen, die dem Richter zum Schütze des einzelnen vor dem Staat auferlegt waren, inzahlreichen Fällen zum Nachteil zu hoch Bestrafter auswirkte.

Der „freieren Stellung des Richters und der Durchsetzung der materiellen Gerech-tigkeit" sollte eine weitere Vorschrift der Novelle dienen, die das Reichsgericht von

Bindungen an alte Urteile befreite: bei der Entscheidung über eine Rechtsfragekonnte das Reichsgericht „von einer Entscheidung abweichen, die vor dem Inkrafttre-ten dieses Gesetzes ergangen" war (Artikel 2). Bislang hatte jeder Strafsenat desReichsgerichts ohne weiteres nur von seiner eigenen früheren Entscheidung abwei-chen können; sobald es sich aber um die Entscheidung eines anderen Senats gehan-delt hatte, war er gehalten gewesen, die vereinigten Senate bzw. das Plenum desReichsgerichts anzurufen (§ 136 GVG a. F.). Nunmehr konnte er auch in einem sol-chen Fall abweichen, ohne das spezielle Verfahren

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das durch die Novelle gleichfallsneu geregelt worden war50

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in Gang setzen zu müssen, solange es sich um eine Ent-scheidung handelte, die vor dem 1. September 1935 ergangen war. Nur in derselben Sa-che, wenn sie ein zweites Mal an das Reichsgericht gelangte, war das Gericht an seineim ersten Revisionsurteil vertretene Rechtsansicht gebunden

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gleich, ob die Vorent-scheidung vom selben oder einem anderen Senat stammte. Durch die vorübergehendeFreierstellung sollte das Reichsgericht seine im Vorspruch zu Artikel 2 der Novelledefinierte Aufgabe, „bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerungeingetretenen Wandel" Rechnung zu tragen, „ungehindert durch die Rücksichtnahmeauf die aus einer anderen Lebens- und Rechtsanschauung erwachsene Rechtsprechungder Vergangenheit" erfüllen können.

Galten die bisher behandelten Bestimmungen der Novelle der freieren Stellung desRichters, so enthielt sie darüber hinaus Vorschriften, die die freiere Stellung desStaatsanwalts bezweckten. Dazu gehörte die Beseitigung der „notwendigen" gerichtli-chen Voruntersuchung, die in der StPO ursprünglich für alle erstinstanzlichen Straf-verfahren vorgeschrieben gewesen war

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außer für das Verfahren vor dem Amtsge-richt, bei dem sie vom Antrag des Beschuldigten oder des Staatsanwalts abhing (§ 178

49 Vgl. amtliche Begründung, a.a.O., S. 56.30 Zur Bildung der Großen Senate des RGs und der Regelung ihrer Funktion durch Artikel 3 der Novelle s.

Kapitel VIILl.b., S.971 f.

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1064 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

a.F.). Zum Zeitpunkt der Novelle von 1935 war die gerichtliche Voruntersuchung fürdas Verfahren vor den Sondergerichten bereits völlig beseitigt und für das Verfahrenvor dem Volksgerichtshof und den Hochverratssenaten der Oberlandesgerichte in dasErmessen des Staatsanwalts und des Gerichts gestellt worden.51 Trugen diese Rege-lungen bislang Ausnahmecharakter, so wurde durch die Novelle nunmehr umgekehrtdas Verfahren ohne gerichtliche Voruntersuchung zur Regel und die Voruntersu-chung zur Ausnahme. Sie fand nur noch auf Antrag des Staatsanwalts statt, und zwar

in den Sachen, die zur Zuständigkeit des Volksgerichtshofs, der Oberlandesgerichteund der Schwurgerichte gehörten, wenn er sie „nach pflichtgemäßem Ermessen für er-

forderlich" hielt, in allen anderen Strafsachen aber nur, „wenn außergewöhnliche Um-stände die Führung der Voruntersuchung durch einen Richter" geboten (§ 178 StPOn. F.). Das Justizministerium wies die Staatsanwälte an, die Voruntersuchung lediglichdann zu beantragen, „wenn Art oder Umfang der Strafsache oder sonstige besondereUmstände die Aufklärung des Sachverhalts durch einen Untersuchungsrichter gebo-ten erscheinen lassen".52 Das Gericht hatte dem Antrag des Staatsanwalts zu entspre-chen; das Recht des Gerichts, von sich aus oder auf Antrag des Angeschuldigten dienachträgliche Eröffnung der Voruntersuchung zu beschließen, fiel völlig weg, weil

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wie es in der Begründung hieß-

das Antragsrecht der Beschuldigten „vielfach ledig-lich zu dem Zwecke benutzt wurde, um das Verfahren hinauszuzögern".53 Mit der Be-seitigung der Möglichkeit, schon frühzeitig den unabhängigen Richter in das Verfah-ren einzuschalten, war für den Beschuldigten eine weitere Verfahrensgarantie verlo-rengegangen.

Um eine angeordnete Voruntersuchung-

die in Zukunft meist nur noch in um-

fangreichen und schwierigen Sachen zu erwarten war-

zu beschleunigen, konnte derPräsident des Gerichts nunmehr Hilfsuntersuchungsrichter bestellen, die

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analog derRegelung bei den Beamten der Staatsanwaltschaft

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den Anweisungen des Untersu-chungsrichters unterstanden. Gegen ihre Maßnahmen war nur die förmliche Dienst-aufsichtsbeschwerde an den Untersuchungsrichter möglich, erst gegen seine Entschei-dung war das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig (§ 184 StPO n. F.). Die Einführungvon Hilfsuntersuchungsrichtern wurde von der Justizleitung ausdrücklich als ein „Ver-such" angesehen.54

Zugunsten einer freieren Stellung des Staatsanwalts brachte die Novelle eine wich-tige Durchbrechung des Legalitätsprinzips: Lag eine Nötigung oder Erpressung vor,bei der angedroht wurde, eine Straftat des Erpreßten zu offenbaren, so konnte derStaatsanwalt „von der Verfolgung der Tat, deren Offenbarung angedroht worden ist,absehen, wenn sie nicht zur Sühne und zum Schütze der Volksgemeinschaft unerläß-lich" war (§ 154 b StPO). Dieser heute noch bestehenden55 Regelung lag der Gedankezugrunde, daß dem Erpreßten damit die Anzeige der vollendeten oder versuchten Er-pressung erleichtert werde, und „das Interesse der Volksgemeinschaft an der Bestra-

51 Vgl. dazu Kapitel VIII.Lb, S.948 und 960.52 Vgl. AV des RJM v. 7.8.35 (DJ 1935, S. 1124), die die „Richtlinien für das Strafverfahren" entsprechend än-

derte.33 Vgl. amtliche Begründung, a.a.O., S. 60. Die Motive zur Abschaffung der Voruntersuchung sind in Kapitel

VIII.2.a. behandelt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.54 Vgl. MinRat R. Lehmann, Die Strafprozeßnovelle vom 28.Juni 1935 (DJ 1935, S. 1004).33 § 154 c StPO i.d.F. v. 7.1.75 (BGB1.I, S. 129) einschließlich der Änderungen durch das Strafverfahrensände-

rungsG v. 5.10.79 (BGB1.1, S. 1645).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1065

fung des Erpressers oft größer ist als das an der Bestrafung des Opfers".56 Der Staats-anwalt war ermächtigt, die sich gegenüberstehenden Interessen gegeneinander abzu-wägen: sah er von der Strafverfolgung ab, so brauchte er zwar die Zustimmung desGeneralstaatsanwalts57, aber nicht mehr wie beim Verzicht auf Verfolgung von Verge-hen wegen Geringfügigkeit (§ 153 Abs. 2 StPO) die Zustimmung des Amtsrichters. Indieser Regelung und in der Entscheidung des Staatsanwalts über die gerichtliche Vor-untersuchung werden die Gedankengänge der Strafprozeßreform deutlich, die zu die-sem Zeitpunkt noch ganz von der Vorstellung der „Gewaltenteilung" im Strafprozeßbeherrscht waren und den Staatsanwalt zum „Herrn des Vorverfahrens" machen woll-ten.58

Die Novelle erweiterte die Gründe, die zur Verhängung der Untersuchungshaft be-rechtigten. War die Untersuchungshaft bisher nur zulässig, wenn neben dem dringen-den Tatverdacht entweder Fluchtverdacht oder Verdunkelungsgefahr bestand, so tra-ten nunmehr zwei weitere Gründe hinzu (§ 112 n.F.). Sie konnte angeordnet werden,wenn Anhaltspunkte vorlagen, daß der dringend Tatverdächtige „die Freiheit zuneuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde". Hatte das geltende Recht nur aufdie begangene Tat gesehen, so sollte in der neuen Bestimmung die geänderte Auffas-sung zum Ausdruck kommen, daß „die Strafrechtspflege nicht nur begangenes Un-recht sühnen, sondern auch die Allgemeinheit vor dem Rechtsbrecher wirksam schüt-zen" solle.59 Mit der bereits geschilderten Einführung des Unterbringungsbefehls ge-gen vermindert bzw. unzurechnungsfähige Beschuldigte war auf diesem Wege schondas Ausführungsgesetz zum Gewohnheitsverbrechergesetz vom November 1933 vor-

angeschritten. Aber selbst wenn keine Besorgnis bestand, daß der in Freiheit geblie-bene Beschuldigte weitere Straftaten beging, konnte es „die Staatsnotwendigkeit ver-

bieten, daß er in Freiheit bleibt", z. B. dann, wenn eine ausgesprochen schwere Tat vor-

lag, die Höhe der zulässigen Strafe aber dennoch nicht geeignet war, die Annahme ei-nes Fluchtverdachts zu begründen, oder andere Umstände den Fluchtverdacht aus-schlössen. Kam „noch hinzu, daß die Tat die Öffentlichkeit erregt" hatte, so mußte es

„dem Volk unverständlich bleiben, wenn die Justiz den Rechtsbrecher auf freiem Fußebeläßt".60 Deshalb war als weiterer Grund für die Untersuchungshaft vorgesehen, daßsie erfolgen durfte, „wenn es mit Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch siehervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Angeschuldig-ten in Freiheit zu lassen". Der Referent für Strafprozeßreform im Reichsjustizministe-rium, Ministerialrat Lehmann, schrieb in seinem kommentierenden Aufsatz zur No-velle, daß die Anlehnung dieser Bestimmung „an die Gedanken, die zur Einrichtungder Schutzhaft geführt haben,

...

deutlich erkennbar" sei61; er verschwieg, daß sienicht zuletzt deshalb in die StPO aufgenommen worden war, um der Praxis der Ge-stapo, in solchen Fällen den einer Straftat Beschuldigten in Schutzhaft zu nehmen, zu-vorkommen zu können. Die Staatsanwälte wurden vom Ministerium angewiesen,

36 Vgl. amtliche Begründung, a.a.O., S. 62.37 Vgl. AV des RJM v. 7.8.35 (DJ 1935, S. 1124), die die „Richtlinien für das Strafverfahren" entsprechend er-

gänzte.38 Vgl. den StVO-Entw. v. 27.2.36, Kapitel VIII.2.a., S.986.39 Vgl. amtliche Begründung, a.a.O., S.63.60 A.a.O., S.63 f.61 Vgl. MinRat R. Lehmann, Die Strafprozeßnovelle vom 28.Juni 1935 (DJ 1935, S. 1005).

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1066 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganebeim Vorliegen einer der neuen Voraussetzungen für die Untersuchungshaft „grund-sätzlich auf den Erlaß eines Haftbefehls hinzuwirken".62 Es darf nicht unerwähnt blei-ben, daß die neuen Haftgründe mittelbar auch das Recht zur vorläufigen Festnahmedurch Staatsanwaltschaft und Polizei erweiterten.

Die Novelle ermöglichte nunmehr auch die Aburteilung flüchtiger Verbrecher. Aufdie Grenzen des bisherigen „Verfahrens gegen Abwesende" der StPO, das nur in we-

nigen Sachen der kleinen Kriminalität zugelassen war, wurde schon im Zusammen-hang mit dem Gesetz gegen „Wirtschaftsverrat" vom Juni 1933 eingegangen.63 DieseRegelung war bislang nur gelegentlich

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etwa durch dieses Gesetz, die Reichsabgaben-ordnung und die Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer

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durchbrochen worden.Nunmehr sollte gegen einen flüchtigen Beschuldigten auch bei schweren Straftaten„die Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn das Rechtsempfinden des Volkesdie alsbaldige Aburteilung der Tat verlangt" (§ 276 StPO n.F.). Die Hauptverhandlungfand nur auf Antrag des Staatsanwalts statt, der darüber nach eigenem Ermessen dieEntscheidung fällte, die auch vom Gericht nicht nachprüfbar war. Er sollte ihn aller-dings nur dann stellen, wenn die Auslieferung des Beschuldigten aus dem Ausland aufSchwierigkeiten stieß bzw. die Ermittlungen nach seinem Aufenthalt im Inland ergeb-nislos verliefen, und gegen Ausländer grundsätzlich nur dann, wenn das Urteil im In-land durch Vermögenseinziehung o. ä. wenigstens teilweise vollstreckt werden konnte(§§ 277, 278 StPO n.F.). Für seinen Antrag benötigte der Staatsanwalt die Zustim-mung seines vorgesetzten Generalstaatsanwalts; ein Durchschlag seines Berichts unddie Entscheidung des Generalstaatsanwalts gingen zur Information an das Reichsju-stizministerium, das aber nur für die Verfolgung von Ausländern seine ausdrücklicheZustimmung geben mußte.64 Die Zustellung der Anklageschrift an den Angeschul-digten wurde durch eine detailliert geregelte öffentliche Ladung ersetzt (§§ 279, 280n. F.). Ließ sich in der Hauptverhandlung, für die dem abwesenden Angeklagten vonAmts wegen ein Verteidiger zu bestellen war (§ 281), weder seine Schuld noch seineNichtschuld beweisen, stellte das Gericht das Verfahren vorläufig ein (§ 282). Wurdedagegen ein Urteil gefällt, konnte der Verteidiger die üblichen Rechtsmittel einlegen;ein rechtskräftiges Urteil war so weit wie möglich zu vollstrecken (§ 282 a). Wurde derVerurteilte ergriffen oder stellte er sich freiwillig, konnte er eine Wiederaufnahme desVerfahrens aus den allgemein dafür vorgesehenen Gründen beantragen. Daneben ge-währte ihm die Novelle die Möglichkeit einer besonderen Wiederaufnahme des Ver-fahrens unter Voraussetzungen, die an die Vorschriften der Sondergerichtsverordnungvom März 1933 angelehnt waren: nämlich „wenn der Flüchtige sein Ausbleiben durchtriftige Gründe rechtfertigt, oder wenn sonstige Umstände vorliegen, die eine Erneue-rung der Hauptverhandlung als notwendig erscheinen lassen" (§ 292 b), wie etwaschwere Bedenken gegen den Schuldspruch oder die Strafhöhe. Was das über den An-trag entscheidende Gericht als „triftige Gründe" für das Ausbleiben ansehen wollte,lag in seinem Ermessen. War der Angeklagte wegen der abgeurteilten Straftat geflüch-tet, sollte seine Unkenntnis über die öffentliche Ladung und das Verfahren keinentriftigen Grund für die Wiederaufnahme abgeben. Dagegen sollte „der Fall, daß der

62 Vgl. die AV des RJM v. 7.8.35 (DJ 1935, S.1124), die die „Richtlinien für das Strafverfahren" entsprechendergänzte.

63 Vgl. voranstehend S. 1052 f.64 Vgl. AV des RJM v. 7.8.35 (DJ 1935, S. 1124).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1067

Flüchtige in der Hauptverhandlung erscheinen wollte, aber durch einen Unfall auf derReise am pünktlichen Eintreffen gehindert worden ist", eine Wiederaufnahme desVerfahrens rechtfertigen.65

Das Verfahren gegen Flüchtige beruhte auf dem „aus den politischen Auffassungender Zeit geborenen Grundgedanken des Strafprozesses", daß es „für das Ansehen derStrafrechtspflege und des Staates

...

untragbar" sei, wenn sie vor dem flüchtigenRechtsbrecher „kapitulieren" müßten und er die Entscheidung über seine Aburteilungselbst behalte, obwohl nicht selten „das Beweismaterial einen ebenso vollständigenSchuldbeweis wie in seiner Gegenwart" zulasse: im neuzeitlichen Strafprozeß trätendie Aussagen des Angeklagten ohnehin gegenüber Feststellungen der kriminalisti-schen Wissenschaft, der Medizin, Chemie usw. zurück, die durch seine Erklärungennicht zu erschüttern seien.66 Deshalb sollte zumindest in jenen Fällen auf eine Haupt-verhandlung nicht mehr verzichtet werden, „in denen ein Bedürfnis nach der baldigenerschöpfenden Aufklärung einer Tat..., an der Feststellung der Schuld oder Unschuldeines Beschuldigten und der öffentlichen Brandmarkung des Schuldigen durch dasUrteil" bestand. Der Verzicht auf eine Hauptverhandlung müsse vor allem dann abge-lehnt werden, wenn von ihrer Durchführung „eine nachdrückliche. Wirkung in derÖffentlichkeit, sei es zur Befriedigung des Sühnebedürfnisses, sei es zur Abschrek-kung(!), zu erwarten ist, oder wenn die Straflösigkeit einer Tat, die größeres Aufsehenerregt hat, sonstige nachteilige Folgen für die staatliche Ordnung besorgen läßt".67 DieStaatsanwälte wurden angewiesen, das Verfahren bei schweren Verbrechen zu beantra-gen, „die einen Verstoß weniger gegen das Wohl eines einzelnen als gegen den Be-stand und die Sicherheit des Staates und den Gedanken der Volksgemeinschaft" ent-hielten, aber auch dann, wenn die unbestimmte Hinausschiebung der Hauptverhand-lung „das Vertrauen des Volkes zur Rechtspflege beeinträchtigen oder für die Ermitt-lung der Wahrheit abträglich sein würde oder wenn sich der Beschuldigte im Besitzvon Vermögensstücken befindet, die durch die Strafvollstreckung im Inlande ergriffenwerden können".68

Mit der Durchbrechung des Grundsatzes der Mündlichkeit und Unmittelbarkeitdes Strafverfahrens zumindest gegenüber dem Angeklagten beseitigten diese Vor-schriften der Novelle weitere Garantien zugunsten des einzelnen: ein rechtskräftigesund vollstreckbares Urteil, das ohne den unmittelbaren Eindruck des Richters von derPersönlichkeit des Angeklagten, ohne dessen persönliche Vernehmung und Erklärun-gen und ohne das Zusammenwirken von ihm, dem Staatsanwalt und dem Richter ge-fällt wurde, konnte nur allzu leicht der sicheren Grundlage entbehren und daher unge-recht sein. Nicht umsonst hatte das Urteil bei den auch in anderen Staaten existieren-den Kontumazialverfahren

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außer im faschistischen Italien-

durch die nahezu auto-matische Wiederholung der Verhandlung nach Auftauchen des Flüchtigen lediglichprovisorischen Charakter.69

63 Vgl amtliche Begründung, a.a.O., S. 70.66 Vgl. StAschaftsrat im RJM H. Rempe, Verfahren gegen Flüchtige und gegen Abwesende, die sich der Wehr-

pflicht entzogen haben (JW 1935, S.2335).67 Vgl. amtliche Begründung, a.a.O., S. 64 f.68 Vgl. AV des RJM v. 7.8.35, a.a.O.69 Vgl. die Beispiele bei Rempe, a.a.O., S. 2335 f.

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1068 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeDaß die umfangreiche Novelle vom Juni 193570

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die erste große Verfahrensnovelleseit 1933 - mit ihren erheblichen Eingriffen in das geltende Recht noch vor der beab-sichtigten großen Strafprozeßreform erlassen wurde, rechtfertigte das Justizministe-rium damit, daß der Rechtspflege „mit einer stufenweisen Erneuerung des Rechtsmehr gedient" sei „als mit einem übergangslosen Bruch". Die Novelle sei gerade des-halb so umfangreich gestaltet worden, „um die Gesamtreform in Ruhe reifen zu las-sen".71 In Erwartung dieser Gesamtreform war die Gesetzgebung zum Strafverfahrens-recht in den folgenden Jahren bis zum Kriegsausbruch tatsächlich zurückhaltend undregelte lediglich spezielle Materien wie z.B. im Dezember 1936 die Vernehmung von

Angehörigen der NSDAP und ihrer Gliederungen.72 Die Regelung, die analog der Be-stimmung der StPO (§ 54) über die Vernehmung öffentlicher Beamter erfolgte, war

bereits in den Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung vom Februar 1936 mitdem Vermerk aufgenommen worden, daß ihre endgültige Fassung von den nochschwebenden Erörterungen über den Entwurf eines entsprechenden Gesetzes ab-hänge.73 Da als Folge dieses Gesetzes alle bisher ergangenen einschlägigen Dienstan-weisungen im Bereich der NSDAP und ihrer Gliederungen aufgehoben und die Zu-ständigkeit zur Entscheidung über Aussagegenehmigungen vor Justizbehörden nun-

mehr eindeutig festgelegt wurden74, verminderten sich die Reibereien und Verschlep-pungen bei Strafverfahren, die dadurch verursacht worden waren, daß Unterführer derBewegung ihren Mitgliedern Aussageverbote vor Gericht auferlegt hatten, um „partei-schädigende" Aussagen zu verhindern. Auch nach dem neuen Gesetz entschied letzt-lich die Parteiführung, ob die Abgabe des Zeugnisses „dem Wohl des Reiches Nach-teile bereiten würde" (§ 2), wobei laut amtlicher Erläuterung darunter auch das Wohlder Partei zu verstehen war.75 Meinungsverschiedenheiten darüber konnten im kon-kreten Fall nur zwischen dem Stellvertreter des Führers und dem Reichsjustizministe-rium ausgetragen werden.

/ Die Gesetzgebung im Kriege 1939/40: Vereinfachungsmaßnahmen und TeilreformMit dem Kriegsausbruch wurden zahlreiche Änderungen des Strafprozeßrechts fürnotwendig angesehen, um das Verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen. Ei-nige von ihnen betrafen rein kriegsbedingte Regelungen, deren Beibehaltung in einemkünftigen reformierten Strafverfahren nicht beabsichtigt war. Andere wiederum wur-

den dem Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 entnommen,

70 In unserem Zusammenhang können nicht alle Vorschriften der Novelle behandelt werden. Erwähnt sei le-diglich, daß sie nach Wiedereinführung der Wehrpflicht auch ein Verfahren gegen Abwesende schuf, diezum Zwecke der Wehrpflichtentziehung ins Ausland gegangen waren (§§ 434-441 StPO n. F.); ferner be-fugte sie nunmehr das Revisionsgericht zur Anwendung eines milderen Gesetzes, das erst nach Erlaß desangefochtenen Urteils in Kraft getreten war (§ 354 a StPO).

71 Vgl. MinDir. E. Schäfer (Leiter der Strafgesetzgebungsabteilung im RJM), Die leitenden Gedanken der bei-den Gesetze zur Änderung des Strafgesetzbuches sowie zur Änderung des Strafverfahrens und des Gerichts-verfassungsgesetzes vom 28.Juni 1935 (DJ 1935, S.994).72 Vgl. G. über die Vernehmung von Angehörigen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei undihrer Gliederungen v. 1.12.36 (RGB1.I, S.994) mit AusfVO v. 2.12.36 (RGB1.I, S.997).

73 Vgl. § 158 nebst Anm. in StVO-Entw. v. 27.2.36 (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S.4G).74 Vgl. Dienstanweisung des St.d.F. v. 2.12.36 (abgedruckt in DJ 1936, S. 1834).75 Vgl. Amtliche Erläuterung zum genannten G. v. 1.12.36 (DJ 1936, S. 1833).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1069

den die Strafprozeßkommission in jahrelanger Arbeit fertiggestellt hatte, der aber aus

den geschilderten Gründen nicht in Kraft gesetzt worden war. Auf der Tagung derSondergerichtsvorsitzenden und Staatsanwälte für Sondergerichtssachen im Oktober1939 konnte Freisler mit Genugtuung darauf hinweisen, daß der Krieg die Justiz„nicht unvorbereitet getroffen" habe: die von der Strafprozeßkommission gefaßten Be-schlüsse hätten sich auch „für die Zeit, in der von der Strafrechtspflege höchste Lei-stung unter Aufwendung möglichst geringer Kräfte gefordert wird", als so brauchbarerwiesen, daß die Justizleitung darangehe, „diese Beschlüsse jetzt in nicht unerhebli-chem Ausmaß zu Gesetzen zu machen". Dies sei bereits durch die am ersten Kriegs-tag erlassene Verordnung geschehen,„in der die Strafrechtspflege ihrer Überkompliziertheit

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gemäß den für den Frieden vorgesehe-nen Reformbeschlüssen

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bereits entkleidet ist und in der die Schlagkraft durch die Beschleuni-gung des Strafkammerverfahrens und die bis zur standrechtlichen Schnelligkeit geführte Be-schleunigung der sondergerichtlichen Verfahren erheblich gesteigert wurde".1

Gemeint war die Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfas-sung und der Rechtspflege vom 1. September 1939 (RGB1.I, S. 1658)

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kurz „Vereinfa-chungsverordnung" genannt. Die Maßnahmen, die diese Verordnung auf dem Gebietder Sondergerichtsbarkeit sowie auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, dem Aufbauder ordentlichen Strafgerichte, ihrer Besetzung, ihrer Zuständigkeit und der Ein-schränkung der Rechtsmittel verwirklichte, sind bereits an anderer Stelle behandeltworden.2 Auf dem Gebiet des Strafverfahrens schränkte die Verordnung die „notwen-dige" Verteidigung, d. h. die vorgeschriebene Bestellung eines Verteidigers für den An-geklagten von Amts wegen, zwecks Einsparung von Kräften ein. Bislang hatte derAmtsrichter

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und das durch die Vereinfachungsverordnung beseitigte Schöffenge-richt

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bei Verhandlung wegen eines Verbrechens auf Antrag des Beschuldigten einenPflichtverteidiger bestellen müssen. Diese Vorschrift fiel weg, ebenfalls die Bestim-mung, daß in der Hauptverhandlung gegen Flüchtige und in allen Sondergerichtssa-chen eine solche Bestellung notwendig war. Die notwendige Verteidigung blieb beste-hen für die Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof3, dem Oberlandesgericht imersten Rechtszug und wurde

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da das Schwurgericht durch die Vereinfachungsverord-nung abgeschafft wurde

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für die Hauptverhandlung vor der Strafkammer des Landge-richts und dem Sondergericht vorgeschrieben, soweit diese an Stelle des bisherigenSchwurgerichts entschieden. Sie blieb femer bestehen, wenn der Beschuldigte tauboder stumm war oder zu erwarten war, daß die Sicherungsverwahrung, die Unterbrin-gung in einer Heil- und Pflegeanstalt oder die Entmannung angeordnet wurde

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abernicht mehr bei einem voraussichtlichen Berufsverbot (§ 20). Dagegen galt nunmehrfür alle Gerichte einschließlich der Sondergerichte die zusätzliche generelle Regelung,daß ein Verteidiger bestellt werden mußte, „wenn wegen der Schwere der Tat oder we-

1 Vgl. Niederschr. der Arbeitstagung über SG-Strafsachen im RJM am 24.10.39 (Akten des RJM, BA, Sign. R22/4158).

2 Vgl. Kapitel VIII.Lb., S.952, 974 ff. Auf die Kriegsmaßnahmen für die bürgerliche Rechtspflege durch dieVO über Maßnahmen auf dem Gebiete des bürgerlichen Streitverfahrens, der Zwangsvollstreckung, desKonkurses und des bürgerlichen Rechts v. 1.9.39 (RGB1.I, S. 1656) kann in diesem Zusammenhang nichteingegangen werden.

3 Der VGH war zwar in der VO nicht aufgeführt, jedoch bestimmte § 3 der DurchfVO v. 8.9.39 (RGB1.I,S. 1703), daß die Vorschriften über die Verteidigung vor dem VGH durch die VereinfachungsVO „nicht be-rührt" wurden.

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1070 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

gen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigersdringend erforderlich" war (§ 21); in diesen Fällen entschied darüber nicht mehr dasGericht, sondern der Vorsitzende allein.4

Die Vereinfachungsverordnung erweiterte ferner den Anwendungsbereich desSchnellverfahrens, das schon im Februar 1933 auf bestimmte politische Vergehen undim Februar 1935 auf Zuwiderhandlungen gegen Devisenbestimmungen ausgedehntworden war.5 Sie bestimmte, daß nicht nur Übertretungen, sondern nunmehr generellauch Vergehen im Schnellverfahren abgeurteilt werden konnten, ohne daß die Vor-aussetzungen des § 212 StPO vorlagen, d.h. ohne daß sich der Beschuldigte freiwilliggestellt hatte oder als vorläufig Festgenommener vorgeführt wurde

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und zwar dann,„wenn der Sachverhalt einfach und die sofortige Aburteilung aus besonderen Gründengeboten" war (§ 22). Es sollte sich jedoch erweisen, daß sich die Ausdehnung desSchnellverfahrens nicht einbürgerte; seine Durchführbarkeit scheiterte oftmals schondaran, daß die Zeugen nicht so rasch herbeigeschafft werden konnten.6 Während aberdiese Maßnahme ganz im Einklang mit den Reformvorstellungen stand7, war die Her-aufsetzung der Höchstgrenze, bis zu der eine Freiheitsstrafe durch bloßen Strafbefehl

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d. h. ohne mündliche Verhandlung-

festgesetzt werden durfte, von drei auf sechsMonate (§ 23) eine reine Kriegsmaßnahme8, die aus Gründen der Kräfteeinsparung er-

folgte: das Strafbefehlsverfahren, das schon bisher auf die große Masse der kleinen Sa-chen angewendet worden war, beherrschte nunmehr rein quantitativ die gesamteStrafjustiz, da die überwiegende Mehrzahl aller Strafsachen in diesem Verfahren erle-digt wurde.9

Die Befugnis des Gerichts, einen Beweisantrag abzulehnen, „wenn es nach seinemfreien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht fürerforderlich" hielt, die mit der Novelle vom Juni 1935 nur der Amtsrichter, das Schöf-fengericht und das Landgericht im Berufungsrechtszug besaß, wurde durch die Ver-einfachungsverordnung nunmehr auf alle Gerichte ausgedehnt (§ 24). Diese Vorschriftstellte nicht nur eine vorübergehende Kriegsmaßnahme dar, sondern schloß die Ent-wicklung zur Freistellung des Gerichts auf diesem Gebiet ab und lag „im Zuge derRechtserneuerungsbestrebungen".10 Auf die mit ihr verbundene Problematik derDurchbrechung des Verbots der Beweisantizipation für den Angeklagten ist bereits an

anderer Stelle eingegangen worden.11 Da die selbständige Aufklärungs- und Wahr-heitserforschungspflicht der Gerichte (§ 244 StPO) als vorrangiges, fundamentales Ge-

4 Vgl. § 4 der DurchfVO (a.a.O.).5 Vgl. Kapitel VIII.2.e., S. 1050, über die VO des Reichspräsidenten zum Schütze des deutschen Volkes v.

4.2.33. Ferner § 49 des G. über die Devisenbewirtschaftung v. 4.2.35 (RGBI. I, S. 106).6 Vgl. den Ber. des Reichsgruppenrates „Richter und Staatsanwälte" des NSRB, KGRat Keßler, Die Bedeutung

der Kriegsgesetzgebung für die künftige Rechtsgestaltung (DR, Ausg. B, 1941, S.96), der auf den Ber. derGaugruppenwalter beruhte.

7 Vgl. § 387 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S. 349).8 Auch § 391 des StVO-Entw. v. 1.5.39 (a.a.O.) sah nur eine Höchstgrenze von 3 Monaten vor.9 Schon im letzten Friedensjahr (1938) waren von 728000 Strafsachen 563000 durch Strafbefehl erledigt wor-

den (vgl. Das kommende deutsche Strafverfahren, Ber. der amtlichen Strafprozeßkommission, herausg. vonF. Gürtner, Berlin 1938, S.457). Über die Ausdehnung des Strafbefehls auf Verbrechen durch die VO v.13.8.42 vgl. im folgenden Anm. 103.

10 Vgl. R. Freisler, Die Vereinfachungsverordnung als Mittel der Schlagkraftsteigerung der Strafrechtspflegeund ihr Stand in der Strafverfahrenserneuerung (DJ 1939, S.1544), ferner § 65 des StVO-Entw. v. 1.5.39(Schubert, a.a.O., S. 308), wonach über Beweisanträge sogar der Vorsitzende allein entschied.

" Vgl. dazu Kapitel VIII.2.e., S. 1062.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1071

bot weiter bestehenblieb, hätte das Reichsgericht durch seine Revisionsrechtspre-chung die vorweggenommene Beweiswürdigung

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die Kohlrausch noch nach der No-velle vom Juni 1935 für unzulässig hielt12

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auch nach Inkrafttreten der Vereinfa-chungsnovelle stärker eindämmen können, als es das offensichtlich tat.13

Schließlich gewährte die Vereinfachungsverordnung den Gerichten noch die Befug-nis, die Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens „bis aufweiteres" auszusetzen, „wenn nicht zwingende Gründe der Rechtspflege die alsbaldigeDurchführung" geboten (§ 26). Hierbei handelte es sich um eine Kriegsmaßnahme.

Während die Vereinfachungsverordnung vom 1. September 1939 somit teils kriegs-bedingte und als vorübergehend gedachte Änderungen ins Strafverfahren einführte,teils aber auch Reformabsichten von Dauer verwirklichte, stand das Gesetz zur Ände-rung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrensund des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939 '4 ganz im Zeichen der Strafrechtser-neuerung. Dennoch war der Zeitpunkt für den Erlaß dieses Gesetzes durch ein unvor-

hergesehenes Ereignis bestimmt worden: Das Reichskriegsgericht hatte den KanonierPaul Kompalla am 27. Januar 1939 wegen Landesverrats zum Tode verurteilt. Gegenseinen an der Tat beteiligten Bruder, den Zivilisten Ludwig Kompalla, verhängte derVolksgerichtshof, dessen Feststellungen über den Sachverhalt von denen des Reichs-kriegsgerichts abwichen, wegen Beihilfe zum Unternehmen der Ausspähung eineZuchthausstrafe von acht Jahren. Die Wehrmachtrechtsabteilung nahm dieses Urteilzum Anlaß, um bei Hitler die Umwandlung der Todesstrafe für Paul Kompalla in eineFreiheitsstrafe durch Gnadenerweis vorzuschlagen. Hitler lehnte jedoch diesen Vor-schlag ab und forderte im Gegenteil, das Volksgerichtshof-Urteil in eine Todesstrafeabzuändern. Im Juli 1939 beauftragte er das Reichsjustizministerium durch seinen„militärischen Begleiter"

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offenbar Luftwaffen-Adjutant Hauptmann v. Below, der dasGnadengesuch vorgetragen hatte -, „das Urteil des Volksgerichtshofs einstweilen auf-zuheben", und forderte die Akten nach Berchtesgaden an.

Nun gab es aber gegen ein Urteil des Volksgerichtshofs kein Rechtsmittel; auch füreine Wiederaufnahme des Verfahrens fehlten im vorliegenden Fall die gesetzlichenVoraussetzungen. Da Gürtner und Freisler abwesend waren, informierte StaatssekretärSchlegelberger am 12. Juli den in Berchtesgaden weilenden Chef der PräsidialkanzleiMeißner, er verstehe Hitlers Weisung dahin, daß „eine allgemeine gesetzliche Rege-lung mit rückwirkender Kraft über die Wiederaufnahme von Verfahren der hier vor-

liegenden Art getroffen werden sollte". Das Justizministerium könne darüber hinaus,„falls das gewünscht würde, durch Gesetz Vorsorge dagegen treffen, daß Verfahrenüber denselben Sachverhalt von verschiedenen Gerichten des Reichs durchgeführtwürden". Er werde „indes mit diesen gesetzlichen Maßnahmen noch warten, bis derFührer eine dahingehende Weisung erteile".15 Diese Weisung muß wohl erfolgt sein,12 Vgl. E. Kohlrausch, Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz (Guttenbergsche Sammlung), Berlin

1936,S.256f.13 Vgl. dazu E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Göttingen 1965,

S.444, ferner H.-J. Bruns, Zur Frage der Zulässigkeit der „Beweisantizipation" im Strafverfahren (DR 1940,S.2041 ff), der die Rechtsprechung des RGs und das Problem der Nachprüfung richterlichen „freien Ermes-sens" durch das Revisionsgericht behandelt.

14 RGB1.I, S.1841.13 Vgl. Verm. über Schlegelbergers Telefongespräch mit Meißner v. 12.7.39 (Akten des RJM, BA, Sign. R

22/1039).

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1072 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedenn schon zwei Tage später übersandte Schlegelberger dem Chef der Reichskanzleiden mit dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) abgestimmten Entwurf einesentsprechenden Gesetzes, in dem die Verbindung der Verfahren gegen Soldaten undZivilpersonen vor demselben Gericht ermöglicht wurde, um Widersprüche in der Be-urteilung desselben Sachverhalts durch die Wehrmachtgerichte und die allgemeinenGerichte zu vermeiden. Bislang war es nur möglich gewesen, Verfahren gegen Be-schuldigte, die der Militärstrafgerichtsbarkeit unterstellt waren, an die allgemeinen Ge-richte abzugeben, sofern bei Zuwiderhandlungen gegen die allgemeinen Strafgesetze-

also nicht gegen das Militärstrafgesetzbuch-

Soldaten und Zivilisten beteiligt gewe-sen waren. Nunmehr sollte auch der umgekehrte Weg geöffnet werden und das Ver-fahren gegen Beschuldigte, die der allgemeinen Gerichtsbarkeit unterstanden, zum

Zweck der Verbindung mit einem Verfahren vor einem Wehrmachtgericht an diesesabgegeben werden können. Ferner sollte gegenüber rechtskräftigen Strafurteilen auchdann eine gerichtliche Nachprüfung ermöglicht werden, wenn die Voraussetzungender Wiederaufnahme des Verfahrens nicht vorlagen. Wie Schlegelberger schrieb, solltedamit einem Bedürfnis Rechnung getragen werden, das im Falle Kompalla erneut,aber auch „früher schon in anderen Verfahren hervorgetreten" sei. Der Gesetzentwurfführte daher den bereits im Reformentwurf einer neuen Strafverfahrensordnung vor-

gesehenen16 „außerordentlichen Einspruch" des Oberreichsanwalts in erweiterterForm ein: da Hitler im vorliegenden Fall ein rechtskräftiges Urteil des Volksgerichts-hofs aufheben wollte, mußte der Einspruch nunmehr auch gegen Urteile der oberenGerichte ermöglicht werden. Laut Schlegelberger sollte der Einspruch nur in Aus-nahmefällen und insbesondere dann erhoben werden, wenn „der Führer die Nachprü-fung des Urteils in einer neuen Hauptverhandlung für erforderlich hält"; der Ober-reichsanwalt werde dabei „durchweg nach Weisung des Reichsministers der Justizhandeln, dem in der Regel ein Vortrag beim Führer vorangehen wird". Neben dem imGesamtentwurf einer neuen Strafverfahrensordnung vorgesehenen „Besonderen Straf-senat" des Reichsgerichts, der anschließend über die Sache neu zu entscheiden hatte,sollte nunmehr ein solcher auch beim Volksgerichtshof eingerichtet werden, da dieaufgehobenen Urteile dieses Gerichts nicht gut dem Reichsgericht übergeben werdenkonnten. Die Zusammensetzung der Besonderen Senate sollte „Gewähr dafür bieten,daß das entscheidende Gericht in besonderem Maße das Vertrauen des Obersten Ge-richtsherrn des Reiches hat". Für das Wehrmachtstrafverfahren wurden durch denEntwurf gleichfalls eine außerordentliche Wiederaufnahme des Verfahrens und Neu-verhandlung vor einem Sondersenat des Reichskriegsgerichts eingeführt. Um Kom-palla in einem neuen Verfahren zum Tode verurteilen zu können, wurden ferner die-jenigen Vorschriften im StGB rückwirkend gestrichen17, die eine mildere Bestrafunglandesverräterischer Handlungen dann zuließen, wenn sie keine Gefahr für das Wohldes Reiches herbeiführen konnten. Bevor der Gesetzentwurf dem Reichskabinett zur

Verabschiedung vorgelegt wurde, hielt es Schlegelberger „aber für erwünscht, daß derFührer über die Folgerungen, die in dem Entwurf aus dem Fall Kompalla für die Ge-setzgebung gezogen werden sollen, zuvor unterrichtet wird". Der Reichsjustizminister

16 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.d, S. 1039 t.17 Zu dieser Strafrechtsänderung vgl. Kapitel VII.3.e, S.910.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1073

und der Chef des OKW würden sich daher für einen eventuellen Vortrag bei Hitlerbereithalten.18

Dieser Vortrag fand in der Folge nicht statt, vielmehr erklärte sich Hitler am 1. Au-gust in Bayreuth, wo er den Wagner-Festspielen beiwohnte, gegenüber Lammers mitden Vorschlägen des Justizministeriums einverstanden, wünschte aber, daß die Nach-prüfung des Urteils gegen Ludwig Kompalla nicht vor dem Volksgerichtshof, sonderndurch das Reichskriegsgericht stattfinden sollte. In seinem Bericht an Schlegelbergeräußerte Lammers jedoch Zweifel, ob das aufgrund des Entwurfs möglich sein werde.19In der Tat wäre ein solches Verfahren nur dann möglich gewesen, wenn entweder Hit-ler nach den neuen Vorschriften des Entwurfs auch die Erneuerung der Hauptver-handlung gegen den noch nicht hingerichteten Kanonier Paul Kompalla anordneteoder das Reichskriegsgericht dem Wiederaufnahmeverfahren stattgab, das der Verur-teilte aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des Volksgerichtshof-Urteils beantragthatte. Der wieder im Dienst befindliche und für die Sache zuständige StaatssekretärFreisler war jedoch der Ansicht, daß es „nicht angeht, dem Führer die Aufhebung ei-nes Urteils, das er billigt, vorzuschlagen". Im Einvernehmen mit Ministerialrat Leh-mann von der Wehrmachtrechtsabteilung ließ er vielmehr in den Entwurf die Bestim-mung aufnehmen, daß aufgrund des Einspruchs gegen das Urteil eines allgemeinenGerichts auch der Sondersenat des Reichskriegsgerichts entscheiden konnte, wenn einZusammenhang mit einer zur Zuständigkeit der Wehrmachtgerichte gehörenden-

wenn auch längst rechtskräftig entschiedenen-

Strafsache bestand und das Reichs-justizministerium mit dem OKW die Überweisung vereinbarte. Damit, schrieb Freis-ler am 12. August an Lammers, sei „die erneute Hauptverhandlung gegen LudwigKompalla vor dem Sondersenat des Reichskriegsgerichts

...

gesichert, ohne daß es er-forderlich ist, auch das rechtskräftige Urteil des Reichskriegsgerichts gegen Paul Kom-palla zu beseitigen".20

Die Kabinettsvorlage, in die Freisler noch weitere Ergänzungen-

darunter den ein-schneidenden, noch zu behandelnden Artikel 3 § 8

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einfügte, ging nebst der mit derWehrmachtrechtsabteilung abgestimmten Begründung sämtlichen Reichsministernam 15. August zur Verabschiedung auf dem Umlaufwege zu.21 Als deren Zustimmungam 29. August vorlag, ergab sich eine neue Schwierigkeit: unterdessen war am 26. Au-gust mit Hitlers erstem

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zunächst wieder zurückgenommenen-

Befehl zum Angriffauf Polen die Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO)22 in Kraft gesetzt worden, diefür die Dauer ihrer Geltung die Militärstrafgerichtsordnung (MilStGO) suspendierte.Folglich konnten die in dem neuen Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen derMilStGO einstweilen nicht in Kraft treten, sondern mußten in die KStVO übernom-men werden. Nachdem jedoch der vom Justizministerium konsultierte MinisterialratLehmann in der Wehrmachtrechtsabteilung telefonisch versichert hatte, daß diese

18 Vgl. Sehr. Schlegelbergers an Lammers v. 14.7.39 nebst vorläufigem Entw. des G. (Akten der RK, BA, Sign.R43 11/1513).

" Vgl. Aktenverm. Lammers'v. 1.8. und sein Schreiben an Schlegelberger v. 8.8.39 (a.a.O.).20 Sehr. Freislers an den Chef der RK v. 12.8.39 nebst dem neuen Entw., der außerdem einige mit dem OKWvereinbarte technische Änderungen enthielt (a.a.O.).

21 Vgl. die beiden Sehr. v. 15.8.39 an den Chef der RK und sämtliche RM (Akten der RK, a.a.O.).22 VO über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz v. 17.8.38 (KStVO), inKraft getreten durch VO v. 26.8.39 (RGBI. I, S. 1482).

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1074 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeTatsache der Verkündung des Gesetzes nicht entgegenstehe23, konnte das Gesetz am

16. September 1939 von Hitler im Sonderzug des Führerhauptquartiers auf demBahnhof Gogolin (südlich Oppeln) unterschrieben werden. Hitler verfügte gleichzei-tig, daß nur gegen den Zivilisten Kompalla nach Einlegung des außerordentlichenEinspruchs ein neues Verfahren vor dem Reichskriegsgericht durchgeführt werdensollte, während die Vollstreckung des Todesurteils gegen den Soldaten Kompalla-

dessen Wiederaufnahmeverfahren dieses Gericht bereits am 17. August abgelehnthatte

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nur solange aufgeschoben werden dürfe, wie er als Zeuge benötigt werde.24Das Gesetz vom 16. September 193925, das vier Tage später in Kraft trat, wollte zu-

nächst einmal künftige Widersprüche bei der Beurteilung desselben Sachverhaltsdurch die Wehrmachtgerichte und die allgemeinen Gerichte verhüten. Es ermöglichtedaher dem allgemeinen Gericht, bei Straftaten, die von Zivilpersonen und Soldatengemeinsam oder wechselseitig begangen waren, das Verfahren zur Verbindung mitdem wehrmachtgerichtlichen an den zuständigen Gerichtsherrn der Wehrmachtdurch Beschluß zu überweisen. Voraussetzung dafür war, daß die Staatsanwaltschaft es

beantragte und der Gerichtsherr zustimmte. War das Verfahren noch nicht bei Ge-richt anhängig, konnte die Staatsanwaltschaft von sich aus das Verfahren an die Wehr-machtgerichtsbarkeit abgeben, wenn dessen zuständiger Gerichtsherr zustimmte. DieÜberweisung zum Zwecke der Verbindung konnte statt dessen auch durch eine Ver-einbarung des Reichsjustizministeriums mit dem Chef des OKW erfolgen. Die Ver-fahren konnten ebenso wieder getrennt werden (Art. 1 § 1). Erkannte das Wehrmacht-gericht in einem solchen Falle gegen einen Zivilisten auf Strafe oder Maßregel der Si-cherung und Besserung, so ging die Vollstreckung auf die allgemeinen Behörden über(Art. 1 § 2). Gegen rechtskräftige Strafurteile

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auch wenn sie von Sondergerichtenoder dem Reichsgericht als Rechtsmittelgericht erlassen waren

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sowie gegen rechts-kräftige Gerichtsbeschlüsse, die das Verfahren abschlössen, konnte der Oberreichsan-walt binnen einem Jahr26 beim Reichsgericht Einspruch erheben, „wenn er wegenschwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils" bzw. Beschlusses eineneue Entscheidung für notwendig hielt (Art. 2 § 3). Sein Einspruch war an keine mate-riellen Schranken gebunden: die Bedenken konnten sich ebenso gegen die Rechtsan-wendung, die Ausübung des richterlichen Ermessens, die tatsächlichen Feststellungenwie die Strafbemessung richten.

Daß der Oberreichsanwalt sein Recht als Vertreter der Staatsführung ausübte,schloß nicht aus, daß er davon im Einzelfall auch auf Anregung eines am VerfahrenBeteiligten Gebrauch machte. Mit dem Eingang des schriftlichen Einspruchs beimReichsgericht war das frühere Urteil

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auch eventuelle Urteile vorausgegangenerRechtszüge27

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beseitigt; er konnte daher auch nicht zurückgenommen werden. DerBesondere Senat des Reichsgerichts kontrollierte weder das Vorliegen der äußeren

23 Vgl. Verm. v. 1.9.39 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1039).24 Vgl. Verm. v. 17.9. und Sehr. Lammers' v. 24.9.39 an das RJM und OKW (Akten der RK a.a.O.).25 Zum folgenden vgl. Text RGBI. I, S. 1841, und amtliche Begründung (DJ 1939, S. 1584 ff.).26 Die Verlängerung der im Entw. der StVO v. 1.5.39 (Schubert, Quellen III, Bd. 1, S.347) für den a.o. Ein-

spruch vorgesehenen Frist von einem halben Jahr, die für den vorliegenden Fall leicht zu knapp geratenkonnte, macht den Zuschnitt des G. auf den Fall Kompalla nochmals deutlich.

27 So ausdrücklich § 1 der DurchfVO v. 17.9.39 (RGBI. I, S. 1847).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1075

Voraussetzungen für den Einspruch-

konnte ihn also auch z. B. wegen Nichteinhal-tung der Jahresfrist nicht verwerfen28 -, noch prüfte er das aufgehobene Urteil nach,sondern verhandelte und entschied ohne jeden inneren Zusammenhang mit dem frü-heren Urteil in der Sache von neuem. War das aufzuhebende Urteil vom Volksge-richtshof oder

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in einer von diesem abgegebenen Hoch- oder Landesverratssache-

von einem Oberlandesgericht erlassen, so legte der Oberreichsanwalt den Einspruchbeim Volksgerichtshof ein und entschied der Besondere Senat dieses Gerichtshofs.Die neue Entscheidung konnte durch Vereinbarung des Reichsjustizministeriums mitdem Chef des OKW aber auch dem Sondersenat des Reichskriegsgerichts überwiesenwerden, wenn ein Zusammenhang mit einer Strafsache bestand, für die die Wehr-machtgerichtsbarkeit zuständig war: diese Überweisung setzte keine Verbindung miteinem vor den Wehrmachtgerichten anhängigen Verfahren voraus und war folglichauch dann noch möglich, wenn die wehrmachtgerichtliche Strafsache schon rechts-kräftig abgeschlossen war (Fall Kompalla).

Der Besondere Strafsenat des Reichsgerichts bestand aus dem Reichsgerichtspräsi-denten

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vertretungsweise dem Vizepräsidenten-

als Vorsitzenden und vier Mitglie-dern, von denen zwei Senatspräsidenten oder Räte des Reichsgerichts sein mußten.Die Mitglieder wurden auf Vorschlag des Reichsjustizministeriums von Hitler für dieDauer von zwei Jahren29 bestellt (Art. 2 § 4). Entsprechend bestand der Besondere Se-nat des Volksgerichtshofs aus dessen Präsidenten und vier Mitgliedern, von denenaber

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wegen der bei diesem Gericht in der Hauptverhandlung üblichen Besetzung-

nur einer Senatspräsident oder Rat des Volksgerichtshofs sein mußte (Art. 2 § 5).30Für das Verfahren vor den Besonderen Senaten galten die Vorschriften über das

Hauptverfahren des ersten Rechtszuges entsprechend, doch konnten die Senate davonabweichen, wenn sie es für angemessen hielten (Art. 2 § 6 Abs. 1). Während also derBesondere Senat des Volksgerichtshofs grundsätzlich nach dem Volksgerichtshofver-fahren vorging, mußte für das Verfahren vor dem Besonderen Senat des Reichsge-richts in der Durchführungsverordnung die notwendige Verteidigung auch dann vor-

geschrieben werden, wenn sie für das Verfahren im ersten Rechtsszug nicht vorge-schrieben gewesen war; allerdings bedurfte die Wahl des Verteidigers hier nicht derGenehmigung des Vorsitzenden wie im Volksgerichtshofverfahren.31 Da der außeror-dentliche Einspruch mit dem Urteil zugleich die Grundlage für eine schon eingelei-tete Vollstreckung beseitigte, konnte der Oberreichsanwalt die weitere Festhaltung desBetreffenden anordnen, bis der Besondere Senat über die Untersuchungshaft ent-schied (Art. 2 § 6 Abs. 2).

28 Da Freisler den a. o. Einspruch als Ausfluß der obersten Gerichtsherrenstellung Hitlers begriff (vgl. dazu imfolgenden S. 1076 f.), die natürlich durch die Jahresfrist nicht beschränkt werden konnte, interpretierte er dieFristbestimmung lediglich als „eine Ankündigung, daß der Oberste Gerichtsherr den außerordentlichenEinspruch nicht gedenkt zeitlich unbegrenzt einlegen zu lassen" (!) (Freisler, a.a.O. (folgende Anm.34),S.1598).

29 Um eine gewisse Kontinuität zu wahren, schrieb die DurchfVO v. 17.9.39 die turnusmäßige Ablösung vonje zwei Mitgliedern vor.

30 Während die große Strafprozeßkommission davon ausgegangen war, daß sämtliche Mitglieder der Besonde-ren Senate die Befähigung zum Richteramt haben müßten, schrieb weder das G. noch die DurchfVO v.17.9.39 dieses Erfordernis vor (vgl. Verm. v. 23.8.39, Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1039), wohl um dieAuswahl der Persönlichkeiten für Hitler nicht zu beschränken.

31 Vgl. § 2 der DurchfVO v. 17.9.39 (a.a.O.).

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1076 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeKurz vor der Fertigstellung der Kabinettsvorlage hatte Freisler in das Gesetz eine

Vorschrift aus dem Entwurf einer Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 eingefügtund diese Ergänzung dem Chef der Reichskanzlei gegenüber damit begründet, daß sie„in staatspolitisch wichtigen Strafverfahren von Bedeutung sein" könne32: Danachdurfte der Oberreichsanwalt jede Strafsache, die nicht zur Zuständigkeit des Volksge-richtshofs gehörte, dem gesetzlich bestimmten Richter entziehen und von vornhereinAnklage vor dem Besonderen Senat des Reichsgerichts erheben, „wenn er das wegender Bedeutung der Sache für angezeigt" hielt. Diese Voraussetzung unterlag nicht derNachprüfung durch das Gericht; auf die Anklage hin mußte der Vorsitzende dieHauptverhandlung vor dem Besonderen Senat ohne Eröffnungsbeschluß anordnen(Art. 3 § 8). Da dieses Gericht demnach die Durchführung des Hauptverfahrens nichtablehnen konnte, ging diese Vorschrift über die Regelung des Verfahrens vor denSondergerichten, den Oberlandesgerichten in Hoch- und Landesverratssachen unddem Volksgerichtshof hinaus, denen wenigstens noch die Möglichkeit eines ablehnen-den Beschlusses gegeben war.

In einem 2. Abschnitt regelte das Gesetz die entsprechenden Änderungen desWehrmachtstrafverfahrens für die Überweisung von Strafsachen an die allgemeinenGerichte, für die „außerordentliche Wiederaufnahme" rechtskräftig abgeschlossenerVerfahren

-

die hier vom „Führer und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht" ange-ordnet wurde

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sowie für die Bildung des Sondersenats beim Reichskriegsgericht undsein Verfahren. Der letzte und 3. Abschnitt enthielt schließlich die erwähnte rück-wirkende Beseitigung der Milderungsbestimmungen bei der Bestrafung von Landes-verrat im StGB.

In der amtlichen Begründung zu diesem Gesetz hieß es, daß die eingeführten Ände-rungen „nicht bis zum Abschluß der im Gang befindlichen Gesamterneuerung des

...Strafverfahrensrechts aufgeschoben werden" konnten und „sich zum Teil aus der Stel-lung des Führers als Obersten Gerichtsherrn des Reiches ergeben".33 Die hier ange-deutete staatsrechtliche Untermauerung des außerordentlichen Einspruchs lieferteFreisler in einem Aufsatz, der Anfang Oktober im Justiz-Ministerialblatt erschien34:Aus der „Vereinigung des Imperiums im Führer" könne „auch nicht die Rechtspflegeausgenommen sein". Die im staatsrechtlichen Schrifttum gelegentlich geäußerte An-sicht, „wonach diese Gerichtsherrenstellung zu unterscheiden sei von der Berechti-gung, auch selbst zu richten", entbehre jeglicher Grundlage: Hitler sei „oberster Ge-richtsherr im Sinne auch von oberster Richter. Hieraus folgt, daß der Idee nach jedesUrteil seiner Bestätigung bedarf." Dieses Bestätigungsrecht bestehe „als Teil des Impe-riums auch ohne gesetzliche Anerkennung'", genauso wie die Verfassungswirklichkeitdes nationalsozialistischen Reiches als Rechtszustand existiere, ohne daß entgegenste-hende Bestimmungen der Weimarer Verfassung ausdrücklich beseitigt und durch an-

dere ersetzt würden. Das vorliegende Änderungsgesetz beruhe auf der Auffassung,„daß die Bestätigung als allgemein erteilt gilt, soweit sie nicht im Einzelfall ausdrück-

32 Vgl. Freislers Sehr, an Lammers v. 15.8.39 (Akten der RK, BA, Sign. R 43 11/1513). Zur Entstehung dieserals § 105 in den Entw. der künftigen StVO aufgenommenen Vorschrift vgl. Kapitel VIII.2.d., S. 1041 ff

33 Vgl. DJ 1939, S. 1584.34 Zum folgenden vgl. R. Freisler, Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens,

des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuches und seine Stellung in der Strafverfahrenserneue-rung (DJ 1939, S. 1565 ff., fortgesetzt S. 1597 ff.).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1077

lieh verweigert wird", und sehe für die Verweigerung-

d. h. „die negative Ausübungs-form dieses Bestätigungsrechts"

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den außerordentlichen Einspruch vor.35 Der Ein-spruch bedeute aber „lediglich die Erhebung als schwerwiegend empfundener Beden-ken, die im Einzelfall die allgemein in Aussicht gestellte Urteilsbestätigung nicht zum

Zuge kommen lassen"; er entscheide dagegen selbst nicht, daß das vorausgegangeneUrteil „mit der Gerechtigkeit nicht in Einklang steht", er bedeute auch keinen Hin-weis an den Besonderen Senat, „zu einem anderen Ergebnis zu gelangen" (!). Daß dasGesetz den außerordentlichen Einspruch dem weisungsgebundenen Oberreichsanwaltals der „Spitze der deutschen Staatsanwaltschaft" in die Hand gegeben habe, änderenichts daran, daß er „unmittelbare Erscheinungsform der obersten Gerichtsherrenstel-lung des Führers" sei. Die gesetzestechnische Form der Anordnung durch den Führerselbst habe nur deswegen nicht gewählt werden können, weil Hitler sie bei der Unzahlder jährlichen Strafgerichtsentscheidungen nicht selbst wahrnehmen könne und„nicht der unrichtigen Meinung Nahrung" gegeben werden sollte, „jemand könne dasRecht allgemein für den Führer ausüben".

Angesichts der praktischen Handhabung des außerordentlichen Einspruchs durchdie Justizverwaltung, die sich verschiedentlich ohne Hitlers unmittelbare Einfluß-nahme vollzog, mutet Freislers Theorie recht „hergeholt" an. Nicht umsonst war

schon im Entwurf der amtlichen Begründung zum Gesetz vom 16. September 1939der Satz gestrichen worden, daß die Organe der Staatsführung bei der Erhebung desEinspruchs „regelmäßig nach den Weisungen des Führers als des Obersten Gerichts-herrn des Reiches handeln werden".36

Unterdessen wurde neben der Durchführungsverordnung vom 17. September 1939,die zusammen mit dem Gesetz verkündet wurde37, eine weitere erforderlich. Am24. November wandte sich Reichsgerichtspräsident Bumke mit der Bitte an das Justiz-ministerium, daß die Aufgabe des Besonderen Senats auf den Ausspruch eines neuen

Urteils beschränkt und nicht auf andere Entscheidungen-

etwa über den Antrag desVerurteilten auf Wiederaufnahme des Verfahrens u. a.

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erstreckt werden solle. Freislerlehnte dieses Anliegen schon am nächsten Tag ab: Der Besondere Senat trete in vol-lem Umfang als erst- und einziginstanzliches Gericht an die Stelle des ursprünglichzuständigen Strafgerichts, „und zwar nicht nur für die Verhandlung und Entschei-dung, sondern in jeder Hinsicht"; folglich habe er z.B. auch über einen Antrag aufWiederaufnahme zu entscheiden. Gegen diese Auffassung wandte sich der Leiter derStrafrechtspflegeabteilung, Ministerialdirektor Crohne, mit der Begründung, daß es da-mit jeder Angeklagte in der Hand habe, den Besonderen Senat

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der doch nur für au-

ßergewöhnliche Fälle geschaffen sei-

„beliebig oft zusammentreten zu lassen"; schonwegen seiner Zusammensetzung wäre das für diesen Senat eine „unmögliche Bela-

33 Gegen diese „zu konstruierte" Auffassung wandte sich der Reichsstellenleiter im ReiRAmt der NSDAP W.Tegtmeyer (Der außerordentliche Einspruch, DR 1939, S. 2058) mit der Begründung, daß dann alle anderenUrteile von Hitler „stillschweigend und im voraus" bestätigt seien: sei diese Bestätigung als „schwebend un-wirksam" oder als „unter der Bedingung der Nichtausübung des Einspruchsrechts erteilt" anzusehen, oderwerde sie durch den Einspruch „zurückgenommen"? Die Auffassung, daß jedes „nicht dem Einspruch ver-fallene Urteil in jedem Punkt den Willen und die Auffassungen des Führers widerspiegle" und somit „jederRichter auch befugt wäre, den Willen des Führers zu verkünden", sei „vom Standpunkt des nationalsoziali-stischen Führerstaates aus untragbar".

36 Vgl. Akten des RJM (BA, Sign. R 22/1039).37 Vgl. Anm. 27. Ihre Vorschriften wurden bereits bei der Darstellung des Gesetzesinhalts mit berücksichtigt.

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1078 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

stung".38 In seiner Antwort begründete Bumke sein Anliegen näher. Wie aus der Be-gründung zum Gesetz hervorgehe, könnten Entscheidungen des Besonderen Senatsauch außerhalb der Hauptverhandlung nur unter Mitwirkung seiner sämtlichen Mit-glieder bzw. ihrer Vertreter erlassen werden. Da von jenen Mitgliedern, die nicht demReichsgericht angehörten, einer in Berlin, der andere in Graz wohne

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ihre Vertreterhätten ihre Wohnsitze in München und Berlin -, hätten sich schon nach Eingang desersten Einspruches Schwierigkeiten ergeben, als über die Verhängung der Untersu-chungshaft entschieden werden sollte. Hier habe er sich noch mit § 124 Abs. 3 StPOhelfen können, wonach „in dringenden Fällen der Vorsitzende des erkennenden Ge-richts" darüber allein entscheiden konnte. Wenn aber z.B. der Besondere Senat einTodesurteil fälle, so müsse er die Vorschrift befolgen, wonach sich das Gericht, dasüber einen eventuellen Antrag des Verurteilten auf Wiederaufnahme des Verfahrenszu entscheiden hatte, am Tage vor der Vollstreckung an den Vollstreckungsort bege-ben mußte.39 Gerade hier aber werde sich die „Heranziehung der in verschiedenenTeilen des Reichs wohnenden Beisitzer, die sich überdies von ihren anderen Dienstge-schäften nicht zu jeder Zeit frei machen können, als besonders schwierig erweisen undzu höchst unerwünschten Verzögerungen führen können".40 Das Problem wurdedurch eine zweite Durchführungsverordnung vom 11. Dezember 1939 zum Gesetzgelöst41, die bestimmte, daß die Besonderen Senate des Reichsgerichts und des Volks-gerichtshofs außerhalb der Hauptverhandlung in dringenden Fällen

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deren Vorliegender Vorsitzende nach eigenem Ermessen feststellte

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in der Besetzung von drei Mit-gliedern mit Einschluß der Vorsitzenden entschieden. Da sich diese drei Mitgliederdes Reichsgerichts normalerweise ohnehin in Leipzig aufhielten, konnten sie jederzeitzusammentreten.

Die Handhabung des außerordentlichen Einspruchs sollte sich in der Praxis andersentwickeln, als den anfänglichen Verlautbarungen der verantwortlichen Juristen zu

entnehmen war. Jedenfalls erwies sich Schlegelbergers im Juli 1939 gegenüber Lam-mers geäußerte Vorstellung als illusorisch, daß der außerordentliche Einspruch „aufdie seltenen Fälle beschränkt" bleiben solle, in denen Hitler seine Einlegungwünschte, und folglich „in der Regel ein Vortrag beim Führer vorausgehen" werde.42Gewiß ist der Einspruch nach dem Fall Kompalla noch verschiedentlich

-

so z. B. dreiJahre später in dem bekannten Fall Schlitt

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auf Wunsch Hitlers eingelegt worden. Imübrigen wurde er aber zu einem Instrument, das das Justizministerium von sich aus

benutzte. Schon aus der ersten Weisung an die beiden Oberreichsanwälte über dieHandhabung des Einspruchs geht hervor, daß die Anregung zu seiner Einlegung nichtnur von Hitler, sondern von den verschiedensten Seiten ausgehen konnte: Kam sie„von hohen polit. Stellen", so war zunächst dem Justizministerium zu berichten,ebenso wenn sie „von Prozeßbeteiligten oder kleinen örtl. Instanzen" stammte

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außer

38 Vgl. Sehr. Freislers an RGPräs. Bumke v. 25.11.39 und Verm. Crohnes vom selben Tag (Akten des RJM,a.a.O.).

39 Vgl. Nr. 24 der RV des RJM v. 19.2.39 betr. Maßnahmen aus Anlaß von Todesurteilen (Akten des RJM, BA,Sign. R 22/1315).

40 Vgl. Sehr. Bumkes an Freisler v. 1.12.39 (a.a.O., BA, Sign. R 22/1039).41 RGB1.I, S. 2402. Wegen der Dringlichkeit wurde das Einverständnis des OKW und des St.d.F. einfach vor-

ausgesetzt, vgl. Sehr. Freislers an diese beiden Stellen v. 12.12.39 (a.a.O.).42 Vgl. das bereits erwähnte Sehr. Schlegelbergers an Lammers v. 14.7.39 (voranstehende Anm. 18).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1079

wenn der Antrag „offensichtlich aussichtslos" war. Vor einer Einlegung hatte der be-treffende Oberreichsanwalt mit dem Ministerium auf jeden Fall Fühlung zu nehmen.In Fällen, in denen die Anregung im Ministerium selbst erwogen wurde, mußte Freis-ler Vortrag gehalten werden.43 Gingen Gesuche auf Einlegung des außerordentlichenEinspruchs beim Justizministerium selbst ein, wurden sie dem zuständigen Ober-reichsanwalt zur Prüfung zugeleitet oder ihm die bereits erfolgte Entschließung desMinisteriums mitgeteilt. Ebenso wurden vom Ministerium Aufsichtsbeschwerden von

Gesuchstellern gegen ablehnende Bescheide der Oberreichsanwälte behandelt. Gingendie Gesuche bei den Generalstaatsanwälten oder den Oberstaatsanwälten ein, sobrauchte das Reichsjustizministerium nur dann informiert zu werden, wenn der Gene-ralstaatsanwalt die Einlegung befürwortete oder wenn gegen die ablehnende Entschei-dung des Generalstaatsanwalts vom Gesuchsteller Beschwerde erhoben wurde. DerOberreichsanwalt beim Reichsgericht oder der Generalstaatsanwalt konnten entspre-chende Gesuche gegen Urteile der Land- oder Amtsgerichte dem Oberstaatsanwaltzur Prüfung zuleiten, der im positiven Falle die Vorgänge nach oben gab, im negativenFall aber ermächtigt war, den Gesuchsteller entsprechend zu bescheiden. Über eineBeschwerde gegen diesen Bescheid des Oberstaatsanwalts entschied der Generalstaats-anwalt. In der Rundverfügung an die Generalstaatsanwälte und Oberstaatsanwälteüber diese Regelung mahnte aber das Justizministerium, stets zu bedenken, daß deraußerordentliche Einspruch „kein Rechtsmittel ist, sondern der Staatsführung zur

Verfügung steht".44Wie Oberreichsanwalt Brettle am 18. Januar 1940 berichtete, schien in der Tat „bei

Verurteilten, ihren Angehörigen und Verteidigern...

der außerordentliche Einspruchals eine den Rechtsmitteln, dem Gesuch auf Wiederaufnahme oder einem Gnadenge-such gleichzuachtende Möglichkeit angesehen zu werden": von den bis Jahresende beiihm eingereichten 112 Gesuchen stammten allein 28 von Verteidigern der Verurteil-ten. Die Prüfung der Gesuche habe für ihn und seine Behörde „eine außerordentlicheMehrbelastung ergeben". In der Mehrzahl der Fälle, die nicht von vornherein wegenAblaufs der einjährigen Frist oder aus ähnlichen Gründen abgelehnt werden konnten,hätten die Akten angefordert werden müssen; das sei in 83, also fast 75% der Fälle ge-schehen. Von der Einlegung des außerordentlichen Einspruchs habe er aber „bishernur auf Weisung" des Reichsjustizministers in drei Fällen Gebrauch gemacht.43

Bei diesen drei Fällen handelte es sich um folgende: einmal um das Verfahren ge-gen einen Hausdiener, der wegen homosexueller Notzucht im ersten Urteil zu vierJahren Zuchthaus verurteilt worden war und gegen den der Besondere Strafsenat desReichsgerichts am 6. Dezember 1939 die Todesstrafe verhängte.46 Beim zweiten Fallwar das Urteil gegen einen Hilfsarbeiter und einen Melker aufgehoben worden, die am30. September unter Alkoholeinfluß einen Arbeitskollegen brutal zu Tode mißhandelthatten und mit fünfzehn bzw. zwölfJahren Zuchthaus bestraft worden waren. Der Be-sondere Senat erkannte am 16. Dezember 1939 auf gemeinsamen Totschlag undwandte rückwirkend die Gewaltverbrecherverordnung vom 5. Dezember 1939 auf dieTat an, indem er das Treten mit Stiefeln, das wiederholte Aufschlagen des Kopfes auf

43 Vgl. Verm. Crohnes v. 17.10.39 und Anordn. Freislers v. 20.10.39 (a.a.O.).44 Vgl. RV des RJM v. 30.10.39 (a.a.O.).43 Vgl. Sehr. OReiA beim RG (Brettle) an Freisler v. 18.1.40 (a.a.O.).46 Vgl. F. K. Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Bd. IV, 1933-1945, Glashütten i. Taunus 1971, S. 184.

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1080 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeeine Brettkante usw. als Anwendung von Mitteln ansah, die in ihrer Gefährlichkeit ei-ner Waffe gleichzuachten waren.47 Im dritten Fall wurden ein Schmied und ein Haus-diener, die durch das aufgehobene Urteil mit acht bzw. anderthalb Jahren Zuchthausbestraft worden waren, am 18. Dezember 1939 wegen Raubes zum Tode verurteilt.48

In der ,Ära Gürtner"-

d.h. bis Januar 1941-

sollte der außerordentliche Einspruchbeim Reichsgericht noch ein viertes Mal eingelegt werden, diesmal in dem vergebli-chen Bemühen, einen neunzehnjährigen Postfacharbeiter vor der Exekution durch diePolizei zu bewahren. Der junge Mann hatte einen dreieinhalbjährigen Buben durcheine Ohrfeige eingeschüchtert und ihn mit sich genommen, um einseitige unzüchtigeHandlungen an ihm vorzunehmen, war jedoch durch das Erscheinen der Mutter desKindes daran gehindert worden. Da er schon als Sechzehnjähriger wegen einer ähnli-chen Tat bestraft worden war, hatte ihn das Landgericht München wegen Nötigung inTateinheit mit Körperverletzung am 5. Januar 1940 zu sechs Monaten Gefängnis ver-

urteilt. Als Heydrich gegen den zu „milde" bestraften Täter von Hitler eine Exeku-tionsentscheidung zu erwirken suchte49, ließ das Justizministerium am 18. Januar überden Oberreichsanwalt gegen das Urteil den außerordentlichen Einspruch einlegen, um

die Bestrafung des Täters mit einer Zuchthausstrafe wegen versuchten Sittlichkeitsver-brechens zu erreichen. In einer Besprechung am Vortage wurde allerdings Oberreichs-anwalt Brettle von Gürtner und Freisler „eine Weisung bzgl. des Strafmaßes

...

nichtgegeben", da durch einen Sachverständigen erst noch festgestellt werden sollte, ob dieTat „möglicherweise als Ausfluß des Pubertätsstadiums angesehen werden müßte".50Gürtner hielt jedoch eine über Zuchthaus hinausgehende Strafe angesichts der übli-chen Ahndung gleichgearteter

-

meist sogar schwererer-

Fälle für nicht möglich.51Trotz des beim Besonderen Senat des Reichsgerichts anhängigen Verfahrens mußteaber der in München einsitzende Täter auf Hitlers Befehl am 20. Januar 1940 an diePolizei herausgegeben werden; er wurde noch am selben Tag im KonzentrationslagerDachau erschossen.

In der Zeit nach Gürtner-

darauf sei ergänzend hingewiesen-

wurde der außeror-dentliche Einspruch von der Justizverwaltung verstärkt als Mittel eingesetzt, die Straf-rechtsprechung im Kriege zu verschärfen. Den vier erwähnten Einsprüchen beimReichsgericht in den Jahren 1939/40 stehen im Zeitraum 1941/42 immerhin 14 Fäl-len mit insgesamt 31 Angeklagten gegenüber, von denen 12 Verfahren mit 19 Ange-klagten durch ein Urteil des Besonderen Strafsenats des Reichsgerichts abgeschlossenwurden.52 Bei 14 dieser Angeklagten wurde die vorher ausgesprochene Strafe ver-

schärft, davon in 10 Fällen durch die Todesstrafe; in 1 Fall blieb die Strafe unverän-dert, in 4 Fällen wurde ein milderes Urteil gefällt. Dabei wurde der außerordentlicheEinspruch zugunsten des Verurteilten nur ein einziges Mal eingelegt

-

bezeichnender-

47 Urteil des RG/Besonderer Strafsenat v. 18.12.39 (DJ 1940, S.69), zum Problem der „gleich gefährlichenMittel" vgl. Kapitel VII.3.e., S.913.

48 Vgl. Kaul, a.a.O.49 Vgl. dazu Kapitel VI.6.a.,S. 684.30 Vgl. Verm. Brettles v. 18.1.40 über die Bespr. am Vortage (zit. bei Kaul, a.a.O., S. 183 f.).31 Vgl. Sehr. OStA Joëls (RJM) an Hitlers Adjutanten, SS-Gruppenf. Schaub, v. 18.1.40 (Akten der Adjutantur

des Führers, BA, Sign. NS 10/137).32 Ein Verfahren gegen 1 Angeklagten wurde vorher niedergeschlagen, ein weiteres gegen 11 wegen Mithö-

rens ausländischer Sender angeklagter Pfarrer schließlich nicht durchgeführt, vgl. auch zum folgenden dieTabelle bei Kaul, a.a.O., S. 184/185.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1081

weise auf Betreiben Himmlers bei einem Polizeihauptwachtmeister, der von einemBeschuldigten ein Geständnis erpreßt hatte und deswegen vom Landgericht Stendalwegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung im Amt zu sechs Monaten Gefäng-nis verurteilt und dessen Revisionsantrag vom Reichsgericht als unbegründet verwor-

fen worden war; sein Verfahren wurde aber am 24. Dezember 1941 noch vor der Ver-handlung vor dem Besonderen Senat des Reichsgerichts aufgrund der ErmächtigungHitlers niedergeschlagen.53

Daß der Besondere Senat des Reichsgerichts-

im Gegensatz zu dem des Volksge-richtshofs

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seit Jahresende 1942 nicht mehr aufgrund des außerordentlichen Ein-spruchs tätig wurde, dürfte weniger auf die „Kriegsereignisse"54 als darauf zurückzu-führen sein, daß sich die Justizverwaltung zur Korrektur rechtskräftiger Urteile lieberdes noch zu behandelnden Instruments der „Nichtigkeitsbeschwerde" bediente. Einnoch ein letztes Mal am 23. Januar 1945 eingelegter Einspruch gegen ein Urteil desSondergerichts Breslau konnte nicht mehr verhandelt werden, da der Vormarsch derRoten Armee den Transport des Angeklagten nach Leipzig verhinderte.55 Sein letztesUrteil fällte der Besondere Strafsenat des Reichsgerichts am 28. Oktober 1943 nichtaufgrund des außerordentlichen Einspruchs, sondern aufgrund der ersten und einzi-gen Anklage, die gemäß Art. 3 § 8 des Gesetzes vom 16. September 1939 vom Ober-reichsanwalt unmittelbar vor diesem Senat erhoben wurde: Es handelte sich um dasVerfahren gegen den Hamburger Generalstaatsanwalt Drescher, der nach den schwe-ren Luftangriffen auf Hamburg in den letzten Julitagen 1943 aus den beschädigtenund überfüllten Gefängnissen Untersuchungshäftlinge

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darunter des HochverratsVerdächtige

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freigelassen hatte und deshalb wegen fahrlässiger Gefangenenbefreiungzu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde.56

Im Gegensatz zu der exakt feststellbaren Zahl der Urteile des Reichsgerichts, dieaufgrund des außerordentlichen Einspruchs ergingen, ist die genaue Zahl der entspre-chenden Urteile des Volksgerichtshofs für die Zeit Gürtners und die Folgezeit nichtmehr auszumachen, da die Akten des Besonderen Senats dieses Gerichts am 24. No-vember 1943 durch einen Luftangriff vernichtet wurden.57 Es steht jedoch fest, daßder außerordentliche Einspruch gegen Urteile des Volksgerichtshofs und der durchAbgabe zuständigen Oberlandesgerichte und damit die Verfahren vor dem Besonde-ren Senat des Volksgerichtshofs in weit stärkerem Maße als die Verfahren vor dem Be-sonderen Strafsenat des Reichsgerichts

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und vor allem über das Jahresende 1942 hin-aus

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zunahmen. Aus den Aktenzeichen der im Dezember 1943 verhandelten Sachengeht hervor, daß der Besondere Senat des Volksgerichtshofs in diesem Jahr minde-stens 13 Verfahren durchführte. Im Jahre 1944 fällte er nach einem Bericht Freislersdagegen schon 84 Urteile, wovon 75 Todesurteile waren.58 Die Feststellung, „daß na-hezu alle vor dem Besonderen Senat des Volksgerichtshofs verhandelten Sachen zu ei-

53 Vgl. voranstehende Anm. und Nürnbg. Dok. NG-612, in dem u.a. das Urt. des LG Stendal v. 8.8.41 gegenKlinzmann entgegen der Information bei Kaul (a.a.O., S. 194) erhalten geblieben ist.54 Vgl. Kaul, a.a.O., S. 214.55 A.a.O.56 A.a.O., S. 202 ff.57 Laut Ber. Freislers v. 17.1.44 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/4696).58 Vgl. W. Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1974, S.875, und die dort

abgedruckten Anlagen 5 (S.874) u. 32 (S.945).

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1082 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganener erheblichen Verschärfung des zunächst ausgesprochenen Urteils führten"59, zeigt,in welchem Maße der durch das Gesetz vom 16. September 1939 eingeführte außeror-dentliche Einspruch ein Instrument der Justizverwaltung zur Verschärfung der Straf-rechtspflege im Kriege geworden war. Er teilte damit das Schicksal anderer neu ge-schaffener Instrumente der StrafJustiz

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wie z.B. der Sicherungsverwahrung60 -, dieanfänglich für eine begrenzte Anwendung oder für „Ausnahmefälle" gedacht waren,deren Gebrauch aber später zum Schaden des Rechts ausuferte.

In seinem erwähnten Schreiben vom 18. Januar 194061, in dem er sich über die zu-

sätzliche Arbeit beklagte, die ihm die-

sogar in einigen Tageszeitungen verbreitete-irrige Auffassung vom außerordentlichen Einspruch als einem Rechtsmittel verur-

sachte, begrüßte Oberreichsanwalt Brettle die vom Justizministerium in Aussicht ge-nommene Einführung der wesentlich einfacher gestalteten „Nichtigkeitsbeschwerde",von der er sich eine wesentliche Entlastung versprach. Brettle hatte die Einrichtungdieser Beschwerde bereits im Vorjahr angeregt, um zur Wahrung der Rechtseinheitwenigstens jene Entscheidungen der Sondergerichte nachprüfen zu können, die zu

grundlegenden Rechtsfragen ergingen62, obwohl Freisler behauptete, daß die Sonder-gerichte „nicht die Neigung zum .kleinen Reichsgericht' haben, sondern durchausdem Erfordernis der Rechtseinheit Rechnung tragen".63 Bei ihrer Absicht, diesenzweiten außerordentlichen Rechtsbehelf gegen rechtskräftige Urteile zu schaffen,konnte die Justizverwaltung gleichfalls auf den von der Strafprozeßkommission erar-

beiteten Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 zurückgreifen,der dieses Instrument bereits enthielt. Den Entwurf einer entsprechenden Verord-nung, die diesen Rechtsbehelf in etwas abgeänderter Form vorsah, stellte Gürtner am

22. Januar 1940 dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung Frick zu; er

sollte im vereinfachten Kriegsgesetzgebungsverfahren durch das „Dreierkollegium"-

dem außer Frick der Beauftragte für den Vierjahresplan Göring und der Chef desOKW Keitel angehörten

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verabschiedet werden64, „da der Vorlage eine besonderepolitische Bedeutung nicht" zukam. Wie Gürtner ausführte, sollte die Verordnung ne-

ben einer bloßen Zusammenfassung der geltenden zersplitterten Vorschriften-

vor al-lem über die Zuständigkeit und das Verfahren der Sondergerichte

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einige verfahrens-rechtliche Neuerungen bringen, zu denen die Nichtigkeitsbeschwerde gehörte. DieNotwendigkeit, „für besonders gelagerte Fälle einen außerordentlichen Rechtsbehelfzu schaffen", habe sich „aus der durch die Vereinfachungsverordnung65 erfolgten star-ken Beschränkung der Rechtsmittel und der Tatsache [ergeben], daß der Schwerpunktder heutigen Strafrechtspflege mehr und mehr auf den Urteilen der Sondergerichteruht, die mit der Verkündung rechtskräftig sind". Der im September 1939 neu einge-führte außerordentliche Einspruch sei für diese Aufgabe ungeeignet und erfülle „einenanderen Zweck. Von ihm soll nur in politisch besonders bedeutsamen Sachen Ge-

39 A.a.O., S. 820 f.60 Vgl. dazu Kapitel VI.8.b., S. 727 ff.61 Vgl. voranstehende Anm. 45.62 Vgl. E. Brettle, Zusammenarbeit der Reichsanwaltschaft und des Reichsgerichts (in: Erwin Bumke zum

65. Geburtstag, Berlin 1939, S. 188).63 Vgl. R. Freisler, Die Vereinfachungsverordnung als Mittel der Schlagkraftsteigerung der Strafrechtspflege

und ihr Stand in der Strafverfahrenserneuerung (DJ 1939, S. 1541).64 Zu diesem Gesetzgebungsverfahren vgl. den Hinweis in Kapitel VIL2.e., S.819Í., und dortige Anm. 1.65 Vom 1.9.39, s. dazu Kapitel VIH.l.b., S.976.

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1083

brauch gemacht werden." Der Korrektur rechtskräftiger Entscheidungen, die wegenfehlerhafter Rechtsanwendung ungerecht seien, solle daher die beabsichtigte Nichtig-keitsbeschwerde dienen.66

Die daraufhin am 21. Februar 1940 erlassene Verordnung über die Zuständigkeit derStrafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften61, dieam 15. März in Kraft trat, sah in ihrem Artikel V vor, daß der Oberreichsanwalt beimReichsgericht gegen rechtskräftige Urteile des Amtsrichters, der Strafkammer-

gleichgültig ob diese im ersten oder im Berufungsverfahren entschieden hatte-

unddes Sondergerichts binnen einem Jahr nach Rechtskraft Nichtigkeitsbeschwerde erhe-ben konnte, „wenn das Urteil wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts aufdie festgestellten Tatsachen ungerecht ist" (§ 34); die Nachprüfung erstreckte sich alsonicht auf die tatsächlichen Grundlagen des angefochtenen Urteils oder auf Fehler imVerfahren.68 Insofern waren die materiellen Voraussetzungen wesentlich begrenzterals beim außerordentlichen Einspruch. Anders als bei diesem hatte der Oberreichsan-walt beim Volksgerichtshof die Befugnis zur Erhebung der Nichtigkeitsbeschwerdenicht, da ihr die Entscheidungen des Volksgerichtshofs und der Oberlandesgerichtegrundsätzlich entzogen blieben. Im Gegensatz zum außerordentlichen Einspruch be-seitigte die Einlegung des neuen Rechtsbehelfs die Rechtskraft des angefochtenen Ur-teils noch nicht; das geschah erst durch den neuen Spruch des Gerichts. Die schrift-lich eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde konnte das Reichsgericht nicht als unbegrün-det zurückweisen. Das Gericht

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und zwar der jeweils zuständige Strafsenat in norma-ler Besetzung

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mußte über sie aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil ent-scheiden; nur mit Zustimmung des Oberreichsanwalts konnte eine Entscheidungauch ohne Hauptverhandlung durch Beschluß gefällt werden (§35 Abs. 1). Genauso-wenig wie die Rechtskraft des angefochtenen Urteils berührte die Nichtigkeitsbe-schwerde auch seine Vollstreckung noch nicht. Das Reichsgericht konnte jedoch be-reits vor der Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerde einen Aufschub oder eineUnterbrechung der Vollstreckung anordnen, z.B. wenn die Freisprechung eines zuUnrecht Verurteilten zu erwarten war; entsprechend konnte es auch Haftbefehl erlas-sen, wenn anstelle eines Freispruchs eine Verurteilung drohte. Diese außerhalb derHauptverhandlung gefällten Entscheidungen traf der Strafsenat in der Besetzung vondrei Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden (§35 Abs. 2). Für die Entscheidungüber die Nichtigkeitsbeschwerde in einer Hauptverhandlung war der Senat wesentlichfreier gestellt als im Revisionsverfahren; die Vorschriften über Benachrichtigung undAnwesenheit des Angeklagten (§§ 350, 351 StPO) galten entsprechend, allerdings mitder bedeutsamen Abweichung, daß der Vorsitzende das persönliche Erscheinen desAngeklagten anordnen konnte (§35 Abs.3).69 Das Reichsgericht konnte entweder dieNichtigkeitsbeschwerde verwerfen und das angefochtene Urteil damit bestätigen oderdieses Urteil aufheben. Bei einer Aufhebung konnte es selbst entscheiden, d.h. auf

' M Sehr. Gürtners an den GBV für die RVerw. v. 22.1.40 nebst Entw. und Begründung (Akten des RJM, BA,Sign. R 22/1039).67 RGBI. I, S.405.68 Das änderte sich später durch Art.7 § 2 der VO zur weiteren Vereinfachung der Rechtspflege v. 13.8.42

(RGBI. I, S. 508): „oder wenn erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der in der Entscheidung festgestell-ten Tatsachen oder gegen den Strafausspruch bestehen; hierzu erhebt das Gericht erforderlichenfalls Be-weise".

69 Vgl. dazu RGRat Schwarz, Das Reichsgericht als Tatsacheninstanz (AkDR 1940, S. 139).

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1084 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Freispruch, Einstellung oder Verurteilung erkennen, „wenn die tatsächlichen Feststel-lungen des angefochtenen Urteils dazu ausreichen". Andernfalls verwies es die Sachezu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Gericht, dessen Entscheidung aufge-hoben wurde, oder an ein anderes Gericht zurück (§35 Abs. 4). Dieses andere Gerichtkonnte ein höheres oder niedereres Gericht sein als das Erstgericht, es mußte nur

sachlich zuständig sein. Dabei war die Zurückverweisung eines früheren Amts- oderLandgerichtsurteils an ein Sondergericht sowie einer früheren Sondergerichtssache an

die Strafkammer nur auf Antrag des Oberreichsanwalts zulässig.70 Das untere Gericht,an das die Sache zurückverwiesen wurde, verhandelte die Sache neu und war bei sei-ner Entscheidung „an die rechtliche Beurteilung gebunden, auf die das Reichsgerichtdie Aufhebung des angefochtenen Urteils gestützt hat" (§ 36). Das neue Urteil des un-

teren Gerichts konnte dann wiederum mit den normalen Rechtsmitteln angefochtenwerden. Die Nichtigkeitsbeschwerde war außer gegen Urteile auch gegen rechtskräf-tige Strafbefehle und Beschlüsse zulässig (§ 37), etwa gegen Beschlüsse über Ableh-nung der Hauptverhandlung, über Außerverfolgungsetzung des Beschuldigten, überEinstellung des Verfahrens u.a.

Außer durch die letztgenannte, wesentliche Erweiterung ihres Anwendungsbereichsunterschied sich die eingeführte Nichtigkeitsbeschwerde von ihrer Vorlage im StVO-Entwurf vom Mai 1939 durch die Abänderung zweier weiterer einschränkender Be-stimmungen: einmal wurde die Frist für ihre Einlegung von einem halben Jahr auf einJahr verlängert, zum anderen setzte die Einlegung nicht mehr einen „groben" Fehlerbei der Rechtsanwendung voraus, was laut Freisler „eine erhebliche Einschränkungder Nichtigkeitsbeschwerde herbeigeführt" hätte.71

Die eingeführte Nichtigkeitsbeschwerde unterschied sich auch von der „Nichtig-keitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes" in der österreichischen Strafprozeßord-nung vom 23. Mai 1877, deren Übernahme in das deutsche Strafverfahren wiederholt,so u.a. durch den 35. Deutschen Juristentag im Jahre 1928 angeregt worden war72:Einmal konnte sich die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde nur zu Gunsten desVerurteilten auswirken. Zum anderen sollte sie

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zumindest ihrer gesetzlichen Be-stimmung nach

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der „Wahrung der Rechtseinheit", nicht aber der konkreten Ge-rechtigkeit der Entscheidung und der Beseitigung von Unrecht dienen, das durchrichterliches Urteil geschaffen worden war. Legte der allein dafür zuständige General-prokurator beim Obersten Gerichtshof in Wien die Nichtigkeitsbeschwerde ein, sohatte sich der Gerichtshof auf den Ausspruch zu beschränken, daß durch „das erlas-sene Urteil das Gesetz verletzt worden sei". Ihm stand allerdings frei

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und er machtedavon offensichtlich immer häufiger Gebrauch und damit die Ausnahme zur Regel -,

„nach seinem Ermessen entweder den Angeklagten freizusprechen oder einen milde-ren (!) Strafsatz anzuwenden oder nach Umständen eine Erneuerung des gegen den-selben gepflogenen Verfahrens anzuordnen" (§§ 292, 479 Ö. StPO). Auch das Gericht,an das die Strafsache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen wurde, durfte auf

70 Vgl. OReiA Brettle, Ein Jahr Nichtigkeitsbeschwerde (DJ 1941, S. 570).71 Vgl. R. Freisler, Nichtigkeitsbeschwerde (DJ 1940, S.341ff), S.345. Zur Nichtigkeitsbeschwerde im StVO-

Entw. vom 1.5.39 vgl. Kapitel VIII.2.d., S. 1040.72 Vgl. zum folgenden H. Suchomel, Die außerordentliche Nichtigkeitsbeschwerde im künftigen Strafverfah-

ren (in: Erwin Bumke zum 65.Geburtstag, Berlin 1939, S. 135ff).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1085

keinen Fall eine schärfere Strafe aussprechen, als sie das angefochtene Urteil enthaltenhatte.

Obwohl die österreichische Nichtigkeitsbeschwerde bis zu ihrer Angleichung an

das deutsche Recht73 ein viel weiteres Anwendungsgebiet aufwies-

sie konnte z.B.auch gegen gesetzwidrige Vorgänge im Strafverfahren, mithin auch gegen verfahrens-rechtliche Verstöße erhoben werden -, benutzte Freisler die Tatsache, daß 1936 inÖsterreich 138 Nichtigkeitsbeschwerden erhoben worden waren und davon 137 Er-folg hatten74, im Jahre 1940 als Argument, um die Notwendigkeit ihrer Einführungim Gesamtreich zu begründen und „sich einen ungefähren Begriff von dem Maße desBedürfnisses" nach einem solchen Rechtsbehelf zu machen.75

Wenn die Zahl der Nichtigkeitsbeschwerden zunächst auch nicht das Ausmaß an-

nahm, das die Justizverwaltung nach den Erfahrungen in der „Ostmark" erwartete, so

lag die Zahl ihrer Anwendung doch von Anfang an bedeutend über derjenigen des au-

ßerordentlichen Einspruchs. Das lag neben dem unterschiedlichen Zweck beiderRechtsbehelfe auch an den verschiedenartigen Verfahren bei ihrer Anwendung. Wäh-rend die außerordentlichen Einsprüche zu ihrer gerichtlichen Erledigung alle das Na-delöhr der beiden Besonderen Senate beim Reichsgericht bzw. Volksgerichtshof pas-sieren mußten, standen bei der Nichtigkeitsbeschwerde für die Nachprüfung bzw.Neuentscheidung alle sechs ordentlichen Strafsenate des Reichsgerichts zur Verfü-gung, die jeweils territorial für eine Reihe von Oberlandesgerichtsbezirken zuständigwaren. Durch die Möglichkeit der Rückverweisung an die unteren Gerichte wurde dieArbeitslast auf eine noch breitere Basis verteilt. Obwohl die Nichtigkeitsbeschwerdeausschließlich dem Oberreichsanwalt beim Reichsgericht in die Hand gegeben war,war auch bei der Staatsanwaltschaft das Verfahren technisch leichter zu handhaben alsbeim außerordentlichen Einspruch.76 Die Anregungen „von Amts wegen" oder von

Seiten Verurteilter bzw. deren Verteidiger-

auf die der Oberreichsanwalt angewiesenwar, da er die Unzahl der ergangenen Entscheidungen unmöglich selbst überblickenkonnte

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erhielt er entweder vom weisungsbefugten Reichsjustizministerium oder von

den Oberstaatsanwälten. In zweifelsfreien Fällen konnte der Oberstaatsanwalt Anre-gungen auf Nichtigkeitsbeschwerden schon von sich aus ablehnen; über etwaige Be-schwerden der Anreger gegen diesen Bescheid entschied der Generalstaatsanwalt end-gültig. Hielt der Oberstaatsanwalt die Nichtigkeitsbeschwerde für geboten oder war

der Fall zweifelhaft, so berichtete er über den Generalstaatsanwalt, der seine positiveoder negative Stellungnahme beifügte, an den Oberreichsanwalt. In dessen Behörde

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der „Reichsanwaltschaft beim Reichsgericht"-

wurde der betreffende Fall von einerder sechs Abteilungen bearbeitet, deren Zuständigkeit entsprechend der territorialenKompetenz der sechs Strafsenate des Reichsgerichts geregelt war. Während dieReichsanwaltschaft in klaren Fällen vom Beizug der Akten absah, wurden sie in den

73 Durch die VO zur weiteren Überleitung der Rechtspflege im Lande Österreich und in den sudetendeut-schen Gebieten v. 28.2.39 (RGB1.I, S.358) und § 19 der DurchfVO v. 13.3.40 (RGB1.I, S.489) zur VO v.21.2.40.

74 Suchomel, a.a.O. Für die vorhergehenden Jahre lauten die Zahlen: 1933 = mit Erfolg 151, ohne Erfolg 10;1934 = 101 : 1;1935 = 88 :4.

75 Freisler, a.a.O., S. 344.76 Zum folgenden vgl. GenAkten des RJM zur Strafverfahrensordnung (BA, Sign. R 22/1039), insbesondere

die Aufz. Crohnes v. 19.3.40, ferner Freisler, a.a.O., S.347Í., und OReiA Brettle, Ein Jahr Nichtigkeitsbe-schwerde (DJ 1941, S. 568).

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1086 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

übrigen Fällen beim zuständigen Oberstaatsanwalt angefordert, soweit sie von ihmnicht schon zusammen mit der Anregung vorgelegt worden waren. Entschied derOberreichsanwalt für eine Ablehnung, so erhielt der Anreger einen Bescheid, in demaber prinzipiell keine Gründe angegeben waren.77 Hielt er dagegen die Voraussetzun-gen für die Nichtigkeitsbeschwerde für gegeben, so brauchte er

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anders als beim au-

ßerordentlichen Einspruch-

in der Regel nicht vorher die Zustimmung des Reichsju-stizministeriums einzuholen; nur in besonders wichtigen Fällen sollte er über seinebeabsichtigte Entschließung sofort berichten. Er sandte jedoch nach Erledigung derSache seinen Antrag und die Entscheidung des Reichsgerichts dem Ministerium zu.

Die zunächst von der Strafrechtspflegeabteilung des Ministeriums in Aussicht genom-mene Regelung, daß zumindest bei Nichtigkeitsbeschwerden gegen Sondergerichtsur-teile eine vorherige Unterrichtung erfolgen sollte, konnte Brettle in einer persönlichenRücksprache mit Freisler abwenden.78

Nach einem Bericht Brettles79 gingen im ersten Jahr nach Einführung der Nichtig-keitsbeschwerde

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d.h. von Mitte März 1940 bis Mitte März 1941, also im wesentli-chen noch in der Zeit Gürtners

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beim Oberreichsanwalt 509 Anregungen auf Erhe-bung der Nichtigkeitsbeschwerde ein, davon etwa die Hälfte von Stellen der Justiz.Nur ca. 15% der Anregungen zielten auf eine Korrektur der angefochtenen Entschei-dungen zu Ungunsten des Verurteilten ab. Von den 509 Anregungen führten 205 zu

Nichtigkeitsbeschwerden, von denen das Reichsgericht nur 4 (= 2%) verwarf. Im sel-ben Zeitraum fällte das Reichsgericht 170 Entscheidungen, davon 28 zu Ungunstendes Angeklagten. In den überwiegenden Fällen entschied das Reichsgericht unter

Aufhebung des angefochtenen Urteils selbst, vor allem stellte es meist selbst das Ver-fahren ein, wenn im Ersturteil ein Straffreiheitsgesetz übersehen worden war. Zurück-verweisungen an untere Gerichte erfolgten nur in 46 Fällen, d.h. in rund 25% der er-

hobenen Nichtigkeitsbeschwerden.Gegen die auf andere Weise nicht anfechtbaren Urteile der Sondergerichte

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für diedie Nichtigkeitsbeschwerde als ein notwendiges Mittel zur Beseitigung von Fehlent-scheidungen und vor allem deshalb zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechungangesehen wurde, weil ihre Zuständigkeit in den letzten Jahren auf das Gebiet des all-gemeinen Strafrechts beträchtlich ausgedehnt worden war

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richteten sich jedoch nur

128 der 509 Anregungen. Von ihnen führten 35 zur Erhebung der Nichtigkeitsbe-schwerde, und zwar in fast ebenso vielen Fällen zu Ungunsten wie zu Gunsten derAngeklagten. Im genannten Zeitraum entschied das Reichsgericht über 22 Nichtig-keitsbeschwerden gegen Sondergerichtsurteile, darunter

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dem Antrag des Ober-reichsanwalts folgend

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auch zu Gunsten der Angeklagten.8077 OReiA und RG wurden später durch Art. 7 § 2 der VO zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege v.

13.8.42 (RGBI. I, S. 508) entlastet, wonach der OReiA die Nichtigkeitsbeschwerde für Einzelsachen an denGStA abgeben und ihn für bestimmte Gruppen von Sachen sogar ermächtigen konnte, die Nichtigkeitsbe-schwerde unmittelbar beim OLG einzulegen, das dann über sie entschied.

78 Vgl. Entw. eines Sehr, an den OReiA und Verm. Crohnes dazu v. 9.4.40 (Akten des RJM, a.a.O.).79 Zum folgenden vgl. OReiA Brettle, Ein Jahr Nichtigkeitsbeschwerde, a.a.O., S. 567 f.80 Ein Beispiel für die Korrektur eines besonders krassen Fehlurteils ist die Aufhebung des Urteils eines SG v.

20.12.39, das ein 17jähriges Mädchen wegen Lebensmittelbetrügereien im Werte von ca. 100 RM aufgrundder VolksschädlingsVO und der JugendverbrecherVO zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Die nach derRückverweisung erkennende Strafkammer verurteilte wegen Betrugs zu 1 Jahr 8 Monaten Gefängnis unterAnrechnung einjähriger Haft (vgl. Urt. des 5.StrSen. des RG v. 10.10.40, DR 1941, S.43ff, mit Kommentarvon Prof. Boldt, Kiel; Brettle, a.a.O., S. 571).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1087

Wie Brettle in dem erwähnten Bericht ausführte, ließen die zunehmenden Anre-gungen auf Erhebung der Nichtigkeitsbeschwerde seit Anfang 1941 vermuten, daßdieser Rechtsbehelf „in Zukunft noch größere Bedeutung gewinnen" werde.81 DieseVermutung sollte sich in der Zeit nach Gürtner sowohl der Zahl wie der Sache nachbestätigen: Schon bis Juli 1941 waren die Anregungen beim Oberreichsanwalt auf fast1000 gestiegen und aufgrund eingelegter Nichtigkeitsbeschwerden 300 Entscheidun-gen gefällt worden82; bis Juli 1942 betrug die Zahl der Anregungen bereits 1926

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da-von betrafen 683 Sondergerichtsurteile -, von denen 627 zur Einlegung der Nichtig-keitsbeschwerde führten.83 Wie eine Untersuchung über die vom 3. Strafsenat desReichsgerichts behandelten Nichtigkeitsbeschwerden zeigt, nahmen dabei die zu

Gunsten Verurteilter eingelegten Beschwerden-

die ohnehin meist entweder poli-tisch „uninteressante" Fälle leichterer Kriminalität oder Korrekturen zugunsten verur-

teilter Nationalsozialisten betrafen-

seit 1941 ab.84 Daraus ergibt sich, daß die Nich-tigkeitsbeschwerde in zunehmendem Maße eingesetzt wurde, um eine Verschärfungder Rechtsprechung zu erreichen

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und zwar mit Erfolg, da das Reichsgericht in derweitaus überwiegenden Zahl der Fälle den Forderungen des Oberreichsanwalts folgteund nur einen Bruchteil der Nichtigkeitsbeschwerden verwarf.85 Für diesen Zweckwurde die Nichtigkeitsbeschwerde noch geeigneter, nachdem die Voraussetzungen fürihre Anwendung durch die Verordnung vom 13. August 1942 erweitert worden wa-

ren.86 Symptomatisch für den Einsatz dieses Instruments ist die Mitteilung des Gene-ralstaatsanwalts in Linz an das Reichsjustizministerium vom 9. Juni 1943, daß er inden vorangegangenen fünf Monaten „bei 10 Strafsachen, die vom Sondergericht Linzbehandelt worden waren, und bei weiteren 18 Strafsachen anderer Gerichte des Be-zirks die Erhebung der Nichtigkeitsbeschwerde ...

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fast durchweg mit Erfolg[!]-

an-

regen" mußte, da die Gerichte nicht „mit der nötigen Schärfe und Härte" geurteilthätten.87 Welches Urteil als „ungerecht" galt

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eine Frage, die nach „den Grundgedan-ken der Strafgesetze und dem gesunden Volksempfinden" zu beantworten war88 -,richtete sich unter diesen Umständen nach den Forderungen der politischen Führung,die von jeher den Inhalt des „gesunden Volksempfindens" allein bestimmte. Wie der

81 Vgl. Brettle, a.a.O., S. 571.82 Laut Hilfsarbeiter bei der ReiAnwaltschaft, LGDir. W. Fränkel, Die Nichtigkeitsbeschwerde in der Praxis

(DR 1941, S. 2305), wurden dabei über 100 Urteile und Strafbefehle wegen Nichtberücksichtigung von

Straffreiheitsbestimmungen, 20 Doppelverurteilungen wegen derselben Tat aufgehoben und in ca. 15 FällenVerfahren wegen anderweitiger Rechtshängigkeit, Verjährung oder wegen Fehlens des Strafantrags einge-stellt. Der Rest von 160 Entscheidungen verteilte sich ungefähr gleichmäßig auf drei Gruppen : AllgemeinesStrafrecht, strafrechtliche Nebengesetze und Kriegsstrafrecht.

83 Vgl. die aus den Registerbänden der ReiAnwaltschaft (DZA Potsdam) erarbeiteten Zahlen bei F. K. Kaul,Geschichte des Reichsgerichts, Bd. IV, 1933-1945, Glashütten i. Taunus 1971, S.221Í. Da ab August 1942auch die GStAe Nichtigkeitsbeschwerden bei den OLGen einlegen durften (vgl. voranstehende Anm. 77),kann die Gesamtzahl der Nichtigkeitsbeschwerden von da ab nicht mehr den Akten der ReiAschaft bzw.des RG entnommen werden.

84 Vgl. Kaul, a.a.O., S.222, der die Beschränkung der Untersuchung auf den 3.StrSen. unter RGPräs. Bumkemit der unterschiedlichen Aktenüberlieferung begründet. Danach wurden beim 3.StrSen. eingelegt: 1941= 31 Nichtigkeitsbeschwerden zugunsten, 23 zuungunsten; 1942 = 20:97; 1943 = 23:95; 1944 = 13:65;1945 = 4:31.

85 Laut Kaul, a.a.O., verwarf der 3.StrSen.: 1941 = 5; 1942 = 6; 1943 = 15; 1944 = 7; 1945 = 2 Nichtigkeitsbe-schwerden, wobei 1945 über 7 Nichtigkeitsbeschwerden überhaupt nicht mehr entschieden werden konnte.

86 Vgl. voranstehende Anm. 68 u. 77.87 Vgl. Lageber, des GStA Linz v. 9.6.43 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/3377).88 So Brettle, a.a.O., S. 563.

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1088 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeaußerordentliche Einspruch erschütterte auch die Nichtigkeitsbeschwerde die Rechts-sicherheit und Rechtsbestimmtheit und wurde im Laufe des Krieges zu einem Instru-ment, um die Strafrechtsprechung rigoros zu verschärfen und das Regime durch Ab-schreckung und „Unschädlichmachung" zu sichern.

Zu den weiteren verfahrensrechtlichen Bestimmungen, die die Zuständigkeitsver-ordnung vom Februar 1940 enthielt, gehörte eine Zusammenfassung der bisher inverschiedenen Gesetzen verstreut ergangenen Vorschriften über das Schnellverfahrenvor dem Amtsrichter. Neu dabei war, daß das „beschleunigte Verfahren"

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wie es jetztin Anlehnung an den StVO-Entwurf vom Mai 1939 bezeichnet wurde

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nicht nur aufÜbertretungen und Vergehen89, sondern auch auf Verbrechen angewendet werdendurfte, soweit die Strafgewalt des Amtsrichters dazu ausreichte, d.h. die Strafe fünfJahre Zuchthaus nicht überschritt. Auch brauchte die sofortige Aburteilung nichtmehr „aus besonderen Gründen geboten"90 sein, es genügte vielmehr, daß sie „mög-lich" war (§ 28). Auf Antrag des Staatsanwalts konnte die noch nicht rechtskräftig (!)erkannte Strafe vom Gericht für sofort vollstreckbar erklärt werden91, so daß für einenUntersuchungsgefangenen damit schon die Strafzeit begann. Die Durchbrechung desGrundsatzes, daß Strafurteile nicht vor ihrer Rechtskraft vollstreckbar sind (§ 449StPO), geschah „aus Gründen der Abschreckung".92 Die Erklärung des Gerichts war

unanfechtbar, nur das Berufungsgericht könne einen Aufschub oder eine Unterbre-chung der Vollstreckung anordnen. Das Justizministerium wies die Staatsanwälte aus-

drücklich an, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Anordnung der sofortigen Voll-streckung „insbesondere unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse desKrieges, erforderlich" war: vor allem, „damit nicht infolge einer Berufungseinlegungein großer Teil der Strafhaft durch Untersuchungshaft verbüßt" wurde und „dadurchder erzieherische Wert der Arbeit" in der Strafhaft wegfiel. Deshalb sollte die sofortigeVollstreckung vor allem „gegen Arbeitsscheue und Arbeitsverweigerer" beantragt wer-

den.93Schon in der Begründung zur Zuständigkeitsverordnung hatte die Justizleitung

zum Ausdruck gebracht, daß dem in seiner Anwendungsmöglichkeit erweiterten „be-schleunigten Verfahren" in der Kriegszeit besondere Bedeutung zukomme.94 Deshalbbestimmte sie auch auf dem Verwaltungswege, daß die Aburteilung bestimmter Ver-stöße wie Arbeitsverweigerung, Zuwiderhandlungen gegen das Luftschutzgesetz u.a.

„grundsätzlich im beschleunigten Verfahren zu erfolgen" habe.95 Im Oktober 1940kritisierte Freisler in einer Rundverfügung an die Generalstaatsanwälte, daß von die-sem Verfahren „leider nicht überall gleich tatkräftig und häufig Gebrauch gemacht"werde. Er bat, darauf hinzuwirken, daß es „zu einem der allgemeingebräuchlichen Ver-fahren der deutschen Strafrechtspflege" werde. Grenze für seine Anwendung könne

89 Vgl. § 22 der VereinfachungsVO v. 1.9.39, voranstehend S. 1070.90 Vgl. a.a.O." Vgl. § 5 der DurchfVO v. 13.3.40 (RGBI.I, S.489).92 Vgl. R. Freisler, F. Grau, K. Krug, O. Rietzsch, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, Berlin 1941, S.661.93 Vgl. RV des RJM v. 4.4.40 an die GStAe, mit Überstücken an die OStAe und Amtsanwaltschaften (Akten

des RJM, Hauptbüro, Arch, des BJM).94 Vgl. Begründung zur ZuständigkeitsVO (s. Anm. 66).93 Vgl. RV des RJM v. 21.2.40 (abgedruckt in: Strafrechtliche Verwaltungsvorschriften, zusammengestellt von

K. Krug, K. Schäfer, F. W. Stolzenburg, Berlin 1943, S.4851).

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2. Reformpläne und Gesetzgebung zum Strafverfahren 1089

einzig und allein „die Sicherheit des Urteils sein, die unter allen Umständen gewähr-leistet sein" müsse. Bestimmte Gruppen von Straftaten wie „unerlaubte Arbeitsnieder-legung oder Unbotmäßigkeiten und Widersetzlichkeiten polnischer Arbeitskräfte"könnten aber in der Regel nur im beschleunigten Verfahren wirksam bekämpft wer-

den.96 Unausgesprochen stand dahinter die Sorge, bei der Ahndung strafbarer Hand-lungen polnischer Zivilarbeiter im Reich mit der Polizei nicht Schritt halten zu kön-nen, die dafür die Zuständigkeit mit dem Argument beanspruchte, daß sie schnellerund wirksamer handle als die Justiz.97

Die Zuständigkeitsverordnung vom Februar 1940 regelte ferner die notwendigeVerteidigung neu und wich dabei von den Bestimmungen der Vereinfachungsverord-nung vom 1. September 1939 ab. In den Kreis der Gerichte, für deren Hauptverhand-lung ein Verteidiger bestellt werden mußte, falls der Beschuldigte von sich aus keinenwählte, wurde der unterdessen geschaffene Besondere Senat des Reichsgerichts aufge-nommen (§ 32 Abs. 1 Nr. 1). Außer in den bisher aufgeführten Fällen98 sollte nunmehrdie Verteidigung auch dann notwendig sein, „wenn eine Tat in Frage kommt, die mitZuchthaus bedroht ist, und der Staatsanwalt die Bestellung eines Verteidigers bean-tragt" (§32 Abs. 1 Nr. 3).99 Auch hierbei ersetzte nunmehr die „konkrete Betrach-tungsweise"100 der Straftat die abstrakte Einteilung der Straftaten in Übertretungen,Vergehen und Verbrechen : maßgebend sollte die im konkreten Einzelfall voraussicht-lich erwirkte Strafe sein, nicht mehr der ordentliche Strafrahmen des anzuwendendenGesetzes. Die Einschaltung des Staatsanwalts

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die jene Fassung des Entwurfs, die denbeteiligten Stellen vom Justizministerium vorgelegt worden war, noch gar nicht ent-halten hatte101

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war auf die Beseitigung des Schwurgerichts und darauf zurückzufüh-ren, daß die neueren Strafgesetze häufig Zuchthaus bis zu 15 Jahren androhten, ohnedaß es sich dabei stets um typische Schwurgerichtsdelikte im Sinne des bisherigenRechts handelte. Da somit von dieser Strafdrohung nicht selten Fälle erfaßt wurden,bei denen kein Bedürfnis für die Bestellung eines Verteidigers bestand, wurde sie vom

Antrag des Staatsanwalts abhängig gemacht, dem der Gerichtsvorsitzende stattgebenmußte. Außer in den aufgeführten Fällen, in denen die Bestellung eines Verteidigersvorgeschrieben war

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die Nichtbestellung war hier Revisionsgrund -, lag die Entschei-dung darüber im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzers. Neben die bisher dafür be-stimmten sachlichen Voraussetzungen

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Schwere der Tat oder Schwierigkeit der Sach-und Rechtslage102

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traten nunmehr noch Gründe persönlicher Art: „wenn sich derBeschuldigte seiner Persönlichkeit nach nicht selbst verteidigen kann" (§32 Abs. 2),d. h. wenn es sich um einen Jugendlichen, körperlich oder geistig Behinderten oderum eine Person handelte, die die deutsche Sprache nicht beherrschte.

96 Vgl. RV des RJM (i.V. Freisler) v. 4.10.40 an die GStAe (Akten des RJM, Hauptbüro, Arch, des BJM).97 Vgl. dazu Kapitel VI.6.b.98 Vgl. die Ausführungen zu § 20 der VereinfachungsVO, voranstehend S. 1069.99 Die gleichfalls neu aufgenommenen Fälle: bei Androhung von Todesstrafe oder lebenslänglichem Zucht-

haus (§ 32 Abs. 1 Nr.2) und bei Totschlag oder Meineid (§ 32 Abs. 1 Nr.4) stellten keine Änderung des gel-tenden Rechts dar. Ihre Einfügung war nur deshalb erforderlich geworden, weil die VO die Vorschriftenüber die notwendige Verteidigung von der Zuständigkeit des früheren Schwurgerichts löste, auf die die Re-gelung in der VereinfachungsVO (§ 20) noch Bezug genommen hatte.

100 Zur „konkreten Betrachtungsweise" bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten der Gerichte vgl. KapitelVIII.l.b.,S977f.

101 Vgl. Sehr. Gürtners an den GBV für die RVerw. v. 22.1.40 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/1039).102 Vgl. § 21 der VereinfachungsVO, voranstehend S. 1069 f.

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1090 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeDie Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafprozeßrechts von 1933 bis zur Zustän-

digkeitsverordnung vom Februar 1940, mit der die Übersicht über die Ära Gürtner ab-geschlossen werden soll, bewirkte eine zunehmende Aufhebung von Bindungen undGarantien, die einst zu Gunsten des Beschuldigten aufgestellt worden waren. Staatsan-walt und Richter erhielten einen erweiterten Ermessensspielraum, für dessen Nutzungin die gewünschte Richtung Verwaltungsrichtlinien des Reichsjustizministeriumssorgten. Diese Entwicklung sollte sich nach Gürtners Tod fortsetzen. Im März 1942stellte Hitler in einem Rahmen-Erlaß bestimmte Ziele zur weiteren Vereinfachungder Justiz auf, die vom Justizministerium durch die zweite Vereinfachungsverordnungvom 13. August verwirklicht wurden103: der Eröffnungsbeschluß wurde generell besei-tigt, der Verfolgungszwang für den Staatsanwalt bei Antragsdelikten (Verführung, Ver-wandtendiebstahl usw.) wurde gelockert, das Klageerzwingungsverfahren abgeschafft,ebenso das Recht des Angeklagten, Zeugen und Sachverständige unmittelbar zu la-den, sowie das Kreuzverhör von Zeugen durch Staatsanwalt und Verteidiger. Wäh-rend diese Maßnahmen Teile der Gesamtreform darstellten, die schon im Entwurf derneuen Strafverfahrensordnung vom Mai 1939 enthalten waren, lehnten sich diegleichfalls vorgenommenen Vereinfachungen im Privatklageverfahren eng an den Ent-wurf der Friedensrichterordnung104 an. Dagegen waren Maßnahmen wie die alleinigeEntscheidung des Vorsitzenden des erkennenden Gerichts über die Zulassung der Be-schwerde und des Vorsitzenden des Berufungsgerichts über die Zulassung der Beru-fung, ferner die Erweiterung der Strafgewalt des Amtsrichters von 2 auf 5 Jahre Zucht-haus, die Zulassung des Strafbefehls auch bei Verbrechen bis zur Höhe von 6 Mona-ten Freiheitsstrafe u.a. rein kriegsbedingte Vereinfachungsmaßnahmen. Diesen Dua-lismus wies auch die dritte Vereinfachungsverordnung vom Mai 1943105 auf: einerseitsermöglichte sie u. a. die generelle Verkürzung der Ladungsfrist auf 24 Stunden, ande-rerseits führte sie das im Entwurf von 1939 vorgesehene Adhäsionsverfahren ein,durch das der Verletzte seine Schadensersatzforderungen im Strafverfahren selbst gel-tend machen konnte

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eine Regelung, die mit nahezu gleichem Wortlaut noch in derheute geltenden StPO enthalten ist.106 Abschließend sei erwähnt, daß die vierte undletzte Vereinfachungsverordnung vom Dezember 1944 unter anderem gleichfalls einStück Reform verwirklichte, indem sie auch dem Staatsanwalt das Recht gab, vor derAnklageerhebung Haftbefehl zu erlassen und Beschlagnahmen, Durchsuchungen usw.selbst dann anzuordnen, wenn keine Gefahr im Verzug war.107

Diese ergänzende Skizze über die Gürtner-Periode hinaus macht deutlich, daß voneiner nachträglichen, sukzessiv erfolgenden und systematischen Verwirklichung derim letzten Friedensjahr gescheiterten Gesamtreform des Strafverfahrensrechts durch

103 Vgl. Erl. des Führers über die Vereinfachung der Rechtspflege v. 21.3.42 (RGBI. I, S. 139), VO Zur weiterenVereinfachung der Strafrechtspflege v. 13.8.42 (2. VereinfachungsVO, RGB1.I, S.508) nebst VO über dieBeseitigung des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren v. 13.8.42 (RGBI. I, S. 512).

104 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.a., S. 992 f.105 Vgl. Dritte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 29.5.43 (RGBI. I,S. 342).106 Vgl §§ 403 ff. StPO i.d.F. v. 7.1.75 (BGB1.I,S.129) einschl. der Änderungen durch das Strafverfahrensände-

rungsG. v. 5.10.78 (BGB1.1,S. 1645).107 Vgl. VO zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges v. 13.12.44

(4. VereinfachungsVO, RGB1.I, S.339). Gegen den Haftbefehl konnte der Beschuldigte allerdings sofort dasGericht anrufen, während im StVO-Entw. vom 1.5.39 dafür eine Frist von mindestens 2 Wochen vorgese-hen war, wie auch schon im StVO-Entw. v. 27.2.36 (vgl. Kapitel VIII.2.a., S.986).

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1091

die Krieggesetzgebung keine Rede sein kann. Das lag nicht nur daran, daß viele dervom Krieg erzwungenen Vereinfachungsmaßnahmen mit der Reformkonzeption un-

vereinbar waren; es lag vielmehr daran, daß aus jeweils aktuellem Anlaß lediglichStücke aus dem vorliegenden Gesamtentwurf herausgenommen und in das geltendeRecht eingefügt wurden. Dabei verlief selbst diese bruchstückweise Realisierung kei-neswegs in einer Kurve zunehmender Radikalität, wie sie der Entwicklung des Krie-ges entsprochen hätte: manche der zeitlich früher in Kraft gesetzten Reformbestim-mungen waren wesentlich einschneidender und vom rechtsstaatlichen Gesichtspunktaus bedenklicher als spätere.

3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwal-tung: Berichtspflicht der Justizbehörden, Steuerung über die

Staatsanwaltschaft und Einwirkung auf die Gerichte

Mit einem umgeformten Strafrecht, Gerichtsverfassungsrecht und Strafverfahrens-recht schuf das Reichsjustizministerium taugliche Instrumente im Sinne des Regimes,deren Effektivität jedoch von ihrer „richtigen" und entschiedenen Anwendung ab-hing. Dieses Ziel suchte die Justizverwaltung durch eine „Lenkung der Rechtspre-chung" mit unterschiedlichen Mitteln zu erreichen.

Grundvoraussetzung dafür war, daß die Justizleitung wußte, was bei den nachgeord-neten Behörden vorging. Daher hatten seit Anfang 1933 schon die Landesjustizver-waltungen eine Berichtspflicht für bestimmte Angelegenheiten eingeführt.1 Als dasReichs- und Preußische Justizministerium Anfang Dezember 1934 die unmittelbareLeitung der übrigen Landesjustizverwaltungen übernahm, erließ es am 18. Dezembereine geheime Rundverfügung, die die Verpflichtung zur Mitteilung und Berichterstat-tung zentral regelte.2 Danach hatten die Staatsanwälte ab l.Januar 1935 in Hochver-ratssachen, Landesverratssachen und Sondergerichtssachen dem Reichsjustizministe-rium eine Abschrift der Anklageschrift

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in Landesverratssachen sogar schon eineNachricht von der Einleitung des Verfahrens

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sowie eine Abschrift des gefällten Ur-teils oder der anderweitigen Entscheidung, die das Verfahren abschloß, zu übersenden.Bei Verfahren wegen Beleidigung führender politischer Persönlichkeiten war zuvordem Ministerium zu berichten, wenn zu besorgen war, „daß die Prüfung eines vom

Beschuldigten angetretenen Wahrheitsbeweises in den Beteiligten oder in der Öffent-lichkeit die falsche Meinung aufkommen lassen könnte, als sei eine Aufklärung dergegen den Beleidigten erhobenen Vorwürfe mit den staatsanwaltschaftlichen Maßnah-men bezweckt". In diesem Fall sollte der Oberstaatsanwalt die Vorgänge mit einem

1 Vgl. z.B. die bereits in anderem Zusammenhang erwähnten RV/AV des preuß. JM v. 15.3.33 (polit, bedeut-same Strafsachen), v. 17.3.33 (Strafsachen gegen Geistliche), v. 27.7.33 (von der ZStAschaft zu überneh-mende Strafsachen), v. 26.8.33 (Strafverfahren gegen SA- und SS-Täter); Entschließungen des bayer. JM v.

22.8.33, v. 20.11.33 (desgleichen).2 Vgl. geheime RV des RuPrJM betr. Behandlung wichtiger Strafsachen v. 18.12.34 an die nichtpreußischen

LJVerw. und die preußischen Provinzialjustizbehörden, nachrichtlich an andere beteiligte Stellen(BayerHStArch. Sign. MJu 12003); dazu Berichtigung v. 8.1.35 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/953).

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1092 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Begleitbericht, in dem er sich über die Aussichten auf eine Durchführung des Belei-digungsverfahrens zu äußern hatte, über den Generalstaatsanwalt dem Ministeriumvorlegen, das sich die Entscheidung über die Strafverfolgung bzw. die Einholung einesStrafantrags seitens des Beleidigten vorbehielt, um gegebenenfalls unliebsame oder„peinliche" Prozesse zu vermeiden. Wie die geheime Rundverfügung ausführte, ent-hob diese Zusammenstellung der Mitteilungspflichten die Strafverfolgungsbehördenicht der Aufgabe, selbst zu prüfen, ob im Einzelfalle auch aus anderen Gründen

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eventuell schon „vor eingreifenden Entschließungen"-

an das Ministerium zu be-richten war: etwa weil der Beschuldigte oder der Verletzte eine wichtige politischeStellung innehatte oder sonst wesentliche Belange des Reiches, der Regierung oderder Partei berührt wurden. „Sobald besondere Gründe des Staatswohles im Zusam-menhang mit einem Strafverfahren hervortreten", war das Justizministerium auf alleFälle zu informieren.

Diese allgemeine Informationspflicht bei Sachen, die „weitere (insbesondere politi-sche) Kreise beschäftigen oder für die Staatsführung von Wichtigkeit sind", schriebdas Reichsjustizministerium auch in der veröffentlichten Allgemeinverfügung vom sel-ben Datum vor, die die Vereinheitlichung der Staatsanwaltschaft im Reich betraf.3 DieBerichterstattung sollte „möglichst frühzeitig" erfolgen und sich auf alle wichtigenMaßnahmen erstrecken, die die Einleitung, den Gang und den Abschluß des Verfah-rens betrafen oder „dem Reichsminister der Justiz zur Erteilung von Weisungen An-laß bieten" konnten. Im allgemeinen durfte die mitgeteilte, beabsichtigte Entschlie-ßung endgültig gefaßt werden, wenn binnen einer Woche vom Ministerium keineAntwort einging. Jedoch war „in Sachen, die nach der Art der Tat, Stellung des Tätersoder Verletzten oder sonstiger Beteiligter von überragender Bedeutung" waren, dieWeisung des Reichsjustizministeriums abzuwarten. Normalerweise sollten die Be-richte dem Ministerium von den Oberstaatsanwälten auf dem Dienstweg vorgelegtwerden; in Eilfällen waren sie jedoch unmittelbar zu erstatten und dem Generalstaats-anwalt gleichzeitig eine Abschrift zuzustellen. Außer über Strafsachen hatten die Ge-neralstaatsanwälte das Ministerium auch „über Vorkommnisse auf dem Gebiete desStrafrechts oder Strafverfahrensrechts, die zu allgemeinen Maßnahmen im Wege derGesetzgebung oder der Verwaltungsordnung Anlaß geben" konnten, zu unterrichten.

Nach Erlaß des Heimtückegesetzes im Dezember 1934 wurde die Berichtspflichtauf alle Strafverfahren ausgedehnt, die aufgrund dieses Gesetzes eingeleitet wurden.4Sie war hier insofern unerläßlich, als verschiedene Straftaten aus diesem Gesetz nurauf ausdrückliche Anordnung des Reichsjustizministers

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bzw. nur mit Zustimmungdes Stellvertreters des Führers und anderer Stellen, die das Justizministerium vorhereinholen mußte

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verfolgt werden durften.3Die Vorschriften über die Informationspflicht wurden schließlich im Mai 1935 in

einer Allgemeinverfügung des Reichsjustizministeriums von 53 Druckseiten zusam-

mengefaßt und ergänzt, die den Titel „Mitteilungen in Strafsachen" trug und am l.Juliin Kraft trat.6 Auch durch sie wurde jedoch der Wortlaut der geheimen Rundverfü-

3 Vgl. Dritte AV des RJM zur Durchführung des Zweiten Gesetzes zur Überleitung der Rechtspflege auf dasReich v. 18.12.34 (DJ 1934, S. 1608).

4 Vgl. AVdes RuPrJM v. 28.12.34 (DJ 1835, S.7).5 Vgl. dazu Kapitel VII.3.a., S.832f.6 Mitteilungen in Strafsachen. AV des RJM v. 21.5.35 (Sonderveröffentlichung der DJ Nr.8, Berlin 1935).

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1093

gung vom Dezember 1934 nicht veröffentlicht: sie wurde lediglich durch mehrmaligeBezugnahme Bestandteil der neuen Verfügung, die im übrigen die Berichtspflicht aufStrafverfahren gegen richterliche Beamte und Notare (§ 19), gegen Rechtsanwälte (§23) sowie auf den Ausgang der Verfahren wegen Mädchenhandels (§ 47) und gegenjene Sittlichkeits- und Gewalttäter ausdehnte, die bereits vor der Tat entmannt wor-

den waren (§ 98); letztere Information sollte dazu dienen, den Erfolg vorbeugenderEntmannungen zu überprüfen. In der Verfügung wurde die für den „normalen" Mit-teilungsfall vorgesehene Frist, die der Berichterstatter bis zu einer eventuellen Reak-tion des Justizministeriums einzuhalten hatte, auf zwei Wochen verlängert (§ 7). Dieüberwiegende Mehrzahl der aufgeführten Informationspflichten betrafen jedoch Mit-teilungen, die die Justizbehörden nicht an ihr Ministerium, sondern unmittelbar an

andere Stellen geben mußten : z. B. in abgeschlossenen politischen Strafsachen, „die fürdie Staatspolizei von besonderer Bedeutung" waren, an die zuständige Gestapostelle (§9), in Strafverfahren gegen Beamte an deren vorgesetzte Dienstbehörde (§ 18), gegenSoldaten an die Wehrmachtsbehörden (§ 29), gegen Schöffen und Geschworene anden zuständigen Amtsrichter (§ 32), gegen Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliede-rungen an die zuständige Gauleitung und das Gaugericht bzw. die vorgesetzten Glie-derungsführer (§ 33) usw.

Die Mitteilungspflicht dehnte das Reichsjustizministerium in der Folge jeweils aufdiejenigen Bereiche aus, in denen die Justizleitung die Entwicklung der Strafrecht-sprechung beobachten wollte: so auf die Strafverfahren gegen den „politischen Katho-lizismus"7; auf Urteile, in denen die strafrechtliche Analogie angewendet

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bzw. entge-gen dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht angewendet

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oder in denen eine Wahl-feststellung getroffen worden war8; in Strafsachen aufgrund des Blutschutzgesetzes9;in Strafverfahren wegen Abtreibung10; in Strafsachen gegen evangelische Geistliche11;in Strafverfahren wegen Unterdrückung des Personenstandes12; bei Urteilen, in denentrotz des Antrags des Staatsanwalts keine Sicherungsverwahrung angeordnet wordenwar13; bei Strafverfahren wegen Zweikampfes14 sowie bei Strafsachen, die eine Zuwi-derhandlung gegen das Luftverkehrsgesetz15 und das Luftschutzgesetz16 betrafen. DieBerichtspflicht in Strafsachen, die die Euthanasie zum Gegenstand hatten17, wurdeausschließlich mit dem Ziel eingeführt, einschlägige Verfahren zu verhindern. Als be-sonders eklatantes Beispiel sei zuletzt die Berichtspflicht in den Fällen des § 1 derVolksschädlingsverordnung, d.h. der Plünderung in freigemachten Gebieten, erwähnt:hier sollte die Anklageschrift sofort unter „Eilt" direkt an das Reichsjustizministeriumgeschickt werden. War anzunehmen, daß sie nicht mindestens 24 Stunden vor Beginnder Hauptverhandlung dort eintraf, sollte ihr wesentlicher Inhalt gleichzeitig telefo-

7 RV des RJM an die GStAe und OStAe v. 20.7.35 (auszugsweise Wiedergabe in DJ 1935, S. 1052).8 AV des RJM v. 7.8.35 (DJ 1935, S. 1124).9 AVdesRJMv. 17.12.35 (DJ 1935, S. 1854).10 RVdesRJMv. 1.12.36, aufgehoben durch die AV des RJM v. 16.8.39 (DJ 1939, S. 1364).1 ' RV des RJM an die GStAe und OStAe v. 11.10.37 (RJM-Hauptbüro, Arch, des BJM).12 RV des RJM an die GStAe v. 14.1.38 (a.a.O.).13 Vgl. AV des RJM v. 3.3.38 (DJ 1938, S. 323).14 RV des RJM an die GStAe v. 1.4 38 (RJM-Hauptbüro, a.a.O.).13 AVdesRJMv. 13.8.36 (DJ 1936, S. 1251).16 AV des RJM v. 9.6.39 (DJ 1939, S. 1036).17 Vgl. geh. RV des RJM v. 22.4.41 an die GStAe, nachrichtlich an die OLGPräs. (Akten des RJM, BA, Sign. R22/5021).

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1094 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganenisch durchgesagt werden, wofür auch nachts die „Geheime Kanzlei" des Ministe-riums zur Verfügung stand. Auch das Urteil war telefonisch zu übermitteln „mit kur-zer Angabe, ob das Ergebnis der Hauptverhandlung dem Ermittlungsergebnis der An-klage entspricht" (!). Bei einem Todesurteil sollte gleichzeitig das Votum des Ober-staatsanwalts und des Gerichts über einen eventuellen Gnadenerweis mitgeteilt wer-

den. Dabei war die telefonische Durchgabe der Urteilsgründe nur dann erforderlich,„wenn der Fall kraß und andererseits so klar liegt, daß schon auf Grund der fernmünd-lichen Angaben in Verbindung mit der inzwischen eingegangenen Anklageschrift derMinister in der Lage" war, die Entscheidung über Gnadenerweis oder Vollstreckungzu fällen. Damit das Ministerium die Entscheidung über die Vollstreckung und ihreArt

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Enthaupten oder Erhängen-

schnellstens mitteilen konnte, mußten die Staats-anwaltschaften auch nachts besetzt sein. Alle Urteile, die aufgrund der Volksschäd-lingsverordnung ergingen, waren dem Ministerium auf jeden Fall noch abschriftlich zu

übersenden; das galt für alle Paragraphen dieser Verordnung.18Diese bei weitem nicht vollständige Aufzählung von Mitteilungs- und Berichtsvor-

schriften-

von denen einige wegen der starken Belastung der Justizbehörden wiederaufgehoben oder eingeschränkt wurden19

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zeigt das Ausmaß von Informationen, dasder Zentrale von den Justizbehörden zufloß. Das Ministerium benutzte schließlichden Berichtsweg auch dazu, sich über die allgemeine politische Lage in den Oberlan-desgerichtsbezirken zu informieren: in einer Besprechung im Reichsjustizministeriumam 23. September 1935 wurden die Generalstaatsanwälte angewiesen, ab 1. Dezemberalle zwei Monate vertrauliche „Lageberichte" einzureichen, die per Einschreiben an

den Minister persönlich zu senden waren. Diese Berichte sollten sich nicht auf „büro-mäßige Erhebungen bei den nachgeordneten Behörden" stützen und nicht etwa diepersonellen Verhältnisse und die Geschäftsbelastung behandeln, sondern „auf Grundeigener Beobachtungen" zusammengestellt werden und „einen allgemeinen Gesamt-überblick" bieten. Die vertrauliche Behandlung dieser „politischen Wetterberichte" (!)wurde garaniert.20 Im Dezember wurden auch die Oberlandesgerichtspräsidenten be-auftragt, zweimonatliche Lageberichte

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erstmals zum 5.Januar 1936-

einzusenden,für die ausdrücklich „günstige ebenso wie ungünstige Beobachtungen rückhaltlos zuverwerten" waren.21 Durch diese abwechselnde Berichterstattung der Generalstaatsan-wälte und Oberlandesgerichtspräsidenten suchte sich das Ministerium allmonatlich ei-nen laufenden Gesamtüberblick über die allgemeine Lage im Reich zu verschaffen.Wenngleich die Unterrichtung je nach der Persönlichkeit des Berichterstatters mehroder weniger offen erfolgte, war sie für das Justizministerium

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vor allem im Kriege-

18 Vgl. RV des RJM an die GStAe v. 12.9.39 (Akten des RJM, Hauptbüro, BA Berlin) und die Ausf. MinDir.Crohnes auf der Tagung der SG-Vorsitzenden und SG-Dezernenten bei den GstAen im RJM am 24.10.39(a.a.O., BA, Sig. R. 22/4158).

19 Vgl. die AV des RJM v. 16.8.39 (DJ 1939, S. 1364), Ziff.6 der RV des RJM v. 29.8.39 (Krug, Schäfer, Stol-zenburg, Strafrechüiche Verwaltungsvorschriften, Berlin 1943, S. 555) und v. 19.3.40(DJ 1940.S.395).

20 Vgl. Niederschr. über die Besprechung mit dem OReiA und den GStAen im RJM am 23.9.35 (Akten desRJM, BA, Sign. R 22/4277) sowie RV des RJM an die Genannten v. 25.11.35 (a.a.O., Sign. R 22/1187). Diein einzelnen Ländern, z. B. in Bayern, üblichen Jahresberichte waren nicht mehr zu erstatten.

21 Vgl. RV des RJM an die OLGPräs. v. 9.12.35 (a.a.O.). Zur archivalischen Überlieferung der als historischeQuelle wertvollen Lageberichte s. K. Oldenhage (ArchDir. im BA) in: Jb. für westdeutsche Landesgeschichte5/1979, S.306. Eine auszugsweise Veröffentlichung von Berichten bei H. Schütz, Bamberger Berichte. ÜberStimmung und Haltung der Bevölkerung des Oberlandesgerichtsbezirks Bamberg während des 2. Weltkrie-ges, Bamberg 1983. Nunmehr umfassend: H. Michelberger, Berichte (1989).

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1095

eine wertvolle Informationsquelle über Vorgänge und Stimmung der Bevölkerungauch gegenüber der Justiz.21a

Während diese Lageberichte nur dem Minister, den Staatssekretären und teilweiseden Abteilungsleitern zu Gesicht kamen, gingen die Einzelberichte in Strafsachen an

die zuständigen Referenten der Strafrechtspflegeabteilung (Abteilung III). In dieserAbteilung waren jeweils für mehrere Oberlandesgerichtsbezirke je ein Bezirksreferentmit einem Mitarbeiter für politische Strafsachen und ein gleiches Team für unpoliti-sche Sachen zuständig. Neben diesen Bezirksreferenten gab es Sonderreferenten(Sachreferenten) mit speziellen sachlichen Zuständigkeiten: für Landesverrats- undSpionagesachen, für Hochverratssachen, für kirchenpolitische Strafsachen, für Wirt-schaftssabotagesachen, für Einzelsachen, die die Einholung eines Strafantrags Hitlersoder eines Reichsministers betrafen, für Verkehrsstrafsachen, internationale Einzel-strafsachen, Auslieferungssachen aus dem Ausland sowie ab Oktober 1939 für Kriegs-strafsachen der Sondergerichte.22 Je nach Bedeutung bearbeiteten die Sonderreferen-ten die anfallenden Sachen selbst oder schalteten sich als Beteiligte beim zuständigenBezirksreferenten ein. Diesen Sonderreferaten ist auch die im Reichsjustizministeriumbis Oktober 1937 bestehende Zentralstaatsanwaltschaft zuzurechnen, an die Strafsa-chen von besonderer politischer Bedeutung, d.h. besonders „heikle" politische Fällezu berichten waren.23

Aufgrund der eingelaufenen Informationen handhabte das Reichsjustizministeriumdie „Lenkung der Rechtsprechung" mit Mitteln von unterschiedlicher Intensität. Re-gelmäßig kritisierten oder lobten seine Strafrechtsreferenten Urteile im Amtsblatt„Deutsche Justiz" oder in anderen Fachzeitschriften und machten damit deutlich, wel-che Richtung die Rechtsprechung in konkreten Fragen nach dem Willen der Justizlei-tung einschlagen sollte.24 Sowohl in veröffentlichten Allgemeinverfügungen wie inunveröffentlichen Rundverfügungen wurden den weisungsgebundenen StaatsanwältenRichtlinien und Weisungen, den Strafrichtern hingegen „Empfehlungen" und „Hin-weise" gegeben, wie gewisse Verfahrensbestimmungen gehandhabt, Strafgesetze ange-wendet und bestimmte Straftaten geahndet werden sollten. Nicht zu Unrecht wurdediese Art der Lenkung gelegentlich als „kleine Gesetzgebung" bezeichnet.25

Von den zahlreichen Verfügungen können hier nur einige erwähnt werden. So leg-ten z. B. die umfangreichen, in Form einer Allgemeinverfügung herausgegebenen

214 Eine zusätzliche Informationsquelle in dieser Hinsicht stellten im Kriege die „Meldungen aus dem Reich"des Sicherheitsdienstes (SD) der SS dar, die auch dem RJM zugingen. Vgl. Meldungen aus dem Reich. Aus-wahl aus den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS 1939-1944, herausg. von H. Boberach,Neuwied 1965.S.XVII.

22 Vgl. Geschäftsverteilungspläne des RuPrJM v. 16.10.34 (BA, Sign. R 2/23901), des RJM v. Mai und Oktober1938 (BA, Sign. R 22/59 und R 22/56) sowie RV des RJM an die GStAe v. 16. und 18.10.39 (Hauptbüro desRJM, Archiv des BJM). Im Frühjahr 1940 wurden die Sonderreferenten in Sachreferenten umbenannt undfür die wichtigsten Straftaten (Blutschutzsachen, Wehrkraftzersetzung, Abhören von Feindsendern, Umgangmit Kriegsgefangenen usw.) zusätzliche Beteiligungsreferenten eingeführt, die der zuständige Bezirksrefe-rent, dem die Sachbearbeitung der Einzelsachen weiterhin oblag, „an den wichtigen Verfügungen in derEinzelsache" zu beteiligen hatte (vgl. Hausverfügung der Abt. III v. 17.4.40, Akten des RJM, BA, Sign. R22/56).

23 Zur ZStAschaft vgl. Kapitel IV.2.b„ S. 346 f.24 Die veröffenüichte Kritik machte auch vor Urt. des VGH nicht halt: s. die bereits behandelte Kritik des zu-

ständigen Ref. OStA Krug in der DJ von 1935 (vgl. Kapitel VHI.l.b., S.965, Anm. 104).25 So durch MinDir. Vollmer in seinem ungedruckten Manuskript „Ziele und praktische Entwicklung der

Strafrechtslenkung" aus dem Jahre 1944 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/20312).

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1096 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

„Richtlinien für das Strafverfahren" vom April 1935 den Justizorganen die Vermei-dung der gerichtlichen Voruntersuchung oder die Erforschung der ,,politische[n] Ein-stellung und Betätigung des Beschuldigten in Vergangenheit und Gegenwart" für dieStrafbemessung nahe. Sie schrieben dem Staatsanwalt vor, Privatklagen wegen Kör-perverletzung, Hausfriedensbruchs, Beleidigung usw. grundsätzlich dann zu überneh-men, wenn die Verletzten „wegen ihres Eintretens oder ihrer Arbeit für den Staat oderdie Bewegung angegriffen worden" waren, und in diesen Fällen der „Neigung der Ge-richte, sich bei der Bemessung der Strafe für Beleidigungen an die untere Grenze desStrafrahmens zu halten, mit Nachdruck entgegenzutreten", in politischen Sachen dasHauptverfahren anstatt vor dem Schöffengericht vor der großen Strafkammer zu bean-tragen und Rechtsmittel gegen ein Urteil dann einzulegen, wenn ein Gericht „nichtnur in einzelnen Fällen, sondern allgemein die Neigung zu übergroßer Milde[!] erken-nen läßt". Schließlich gaben sie ihm auf, bei der Entlassung eines Beschuldigten aus

der Untersuchungshaft, „an dessen weiterem Verbleib die Polizeibehörde ein Interessehat", sowie bei der Entlassung von Zigeunern aus der Strafhaft diese Behörde rechtzei-tig zu informieren.26 Diese zusammenfassenden „Richtlinien", die allein in Preußenüber 300 bestehende Verfügungen an die Staatsanwälte und Gerichte zum Strafverfah-ren ersetzten, wurden in den folgenden Jahren ständig an die neue Gesetzgebung an-

gepaßt und erweitert, so u.a. auch hinsichtlich der Verfahren nach dem Blutschutzge-setz.27 Die zahlreichen, seit Frühjahr 1933 ergangenen Rundverfügungen, die dieStaatsanwaltschaft anwiesen, welche Strafsachen vor die Sondergerichte zu bringenwaren, sind bereits an anderer Stelle behandelt worden28, ebenso jene aus dem Jahr1940, die eine erweiterte Anwendung des beschleunigten Verfahrens forderten.29

Als Beispiel für eine Verfügung, die sich auf die Anwendung eines Strafgesetzes be-zog, sei die gleichfalls in anderem Zusammenhang eingehend dargestellte Allgemein-verfügung vom März 1938 genannt, die die Handhabung der Anordnung gerichtlicherSicherungsverwahrung nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz betraf.30 Eine Rund-verfügung, die ebenfalls auf eine bestimmte Gesetzesauslegung abzielte, regelte imMärz 1936 die Verfolgung von Beschimpfungen leitender Persönlichkeiten des Staatesund der Partei: Wie das Ministerium aus den eingehenden Berichten ersehe, wertetenStaatsanwälte und Gerichte solche Beschimpfungen häufig nur als persönliche Beleidi-gungen. Wer aber solche Persönlichkeiten beschimpfe, tue das „um ihrer Stellung inder Volksführung willen", untergrabe damit automatisch „das Vertrauen des Volkeszur politischen Führung" und verstoße somit gegen § 2 des Heimtückegesetzes, „ohnedaß es besonderer Feststellungen darüber bedürfte [!], weshalb im Einzelfall" das Ver-trauen durch die Beschimpfung untergraben werde. Die Generalstaatsanwälte solltendieser Frage „bei der Prüfung der bei ihnen durchlaufenden Berichte der Oberstaats-

26 Vgl. Richtlinien für das Strafverfahren. AV des RJM v. 13.4.35 (Sonderveröffentlichung der DJ, Nr. 7, Berlin1935). Von den 439 darin enthaltenen Punkten wurden voranstehend zur Veranschaulichung die Punkte 13,21. 81, 137, 163, 237, 364 und 392 herausgegriffen.

27 AV des RJM v. 17.12.35 (DJ 1935, S.1854), allein bis April 1941 ergingen 15 Allgemeinverfügungen zur

Änderung der „Richtlinien". Dazu generell: S. Hornhardt, Strafjustiz (1993), S. 51-142.2" Vgl. dazu Kapitel VIILl.b., S.949ff.29 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.I, S. 1088 f.30 AV des RJM v. 3.3.38 betr. Strafsachen gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher (DJ 1938, S.323, dazu

Kapitel VI.8.b., S. 729). Teile ihres Inhalts wurden in Erinnerung gerufen und ergänzt durch die RV desRJM an die GStAe (nachrichtlich an die OLGPräs.) v. 4.5.40 (Akten des RJM, RJM-Hauptbüro, BA Ber-lin.

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1097

anwälte besonderes Augenmerk zuwenden". Die Oberlandesgerichtspräsidenten wur-

den „um nachdrückliche Vertretung dieser Gesetzesauslegung bei den in Frage kom-menden Gerichten"(!) ersucht.31 Schließlich sei noch die bezeichnende Rundverfü-gung Freislers kurz nach Kriegsausbruch im September 1939 erwähnt, daß die Richterund Staatsanwälte die Volksschädlingsverordnung mit einer „rücksichtslosen, schnel-len scharf zupackenden Entschlossenheit und Tatkraft anwenden" sollten: wer sich„am Volk versündigt, hat keinen Platz mehr in unserer Gemeinschaft", und „Nichtan-wendung äußerster Strenge gegenüber solchen Schädlingen wäre Verrat am kämpfen-den deutschen Soldaten!".32

Eindrucksvolle Beispiele für die Einflußnahme des Ministeriums auf die Strafzumes-sung sind die Verfügungen von 1936 zur Handhabung des Blutschutzgesetzes. Nach-dem sich Heydrich über die zu milden Urteile der Gerichte in „Rassenschande"-Fäl-len beschwert hatte, führte Freisler Anfang April 1936 in einer Rundverfügung an dieStaatsanwälte aus, daß „nach den im Reichsjustizministerium getroffenen Feststellun-gen" für dieses Delikt „bisher regelmäßig Gefängnisstrafen beantragt und erkannt wor-

den" seien, obwohl das Gesetz wahlweise auch Zuchthaus androhe. Daher sollten dieStaatsanwälte von nun an „die Durchschnittsfälle unbedingt als schwere Fälle anspre-chen, zumal hier in aller Regel Hartnäckigkeit oder offenbare Widersetzlichkeit gegendie Forderungen des nationalsozialistischen Rasseschutzes" vorliege: allein Zuchthaussei „daher in solchen Fällen die angemessene Strafe". Freisler ersuchte die Staatsan-wälte, diesen Standpunkt bei ihren Anträgen zum Strafmaß „mit Nachdruck zu vertre-ten".33 Da aber die Gerichte den Strafanträgen der Staatsanwaltschaft nicht überall be-reitwillig folgten, mußten schließlich auch die Richter unter Druck gesetzt werden.Auf Veranlassung Freislers wurden im August 1936 an die Oberlandesgerichtspräsi-denten in Karlsruhe, Kassel, Köln, München und Stuttgart schriftliche Mitteilungenentworfen, daß namentlich bezeichnete Landgerichte ihres Bezirks ungenügende, mitAktenzeichen aufgeführte Urteile gefällt hätten, die „das Verständnis für die grundle-gende Bedeutung des Gesetzes und den Willen, mit allem Nachdruck an der Verwirk-lichung des nationalsozialistischen Rassegedankens mitzuarbeiten, vermissen" ließen.Die betreffenden Oberlandesgerichtspräsidenten sollten daher „in geeigneter Formdie ihnen unterstellten Richter auf die Notwendigkeit" hinweisen, „durch strengeStrafen einem Rassenverfall des deutschen Volkes entgegenzuwirken".34 Schließlichentschied Freisler jedoch, die Belehrung in Form einer Rundverfügung an sämtlicheOberlandesgerichtspräsidenten zu richten: „Bei der Überwachung der Rechtspre-chung" zur „Rassenschande" sei aufgefallen, „daß die von den Gerichten verhängtenStrafen auch bei gleichgelagerten Fällen im Strafmaß außerordentliche Unterschiede"aufwiesen und einzelne Strafkammern trotz der Ausführungen in der Rundverfügungvom April

31 Vgl. RV des RJM an die GStAe und OLGPräs. v. 14.3.36 (Akten des RJM, a.a.O.).32 Vgl. RV des RJM an die OLGPräs. und GStAe v. 12.9.39 (a.a.O.), unvollständig abgedruckt in einem Auf-

satz Freislers in der DJ 1940, S.885.33 Vgl. RV des RJM (i.V. Freisler) an sämtliche GStAe und OStAe v. 2.4.36 (Akten des RJM, a.a.O.). Zu Heyd-

richs Intervention s. Kapitel VII.3.C, S.879.34 Vgl. Verm. Freislers v. 19.8., Referentenentw. der Schreiben v. 22.8. und Verm. v. 4.9.36 (Akten des RJM,

BA, Sign. R 22/50).

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1098 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane„anscheinend grundsätzlich vermeiden, auch in schweren Fällen auf die angebrachte Zuchthaus-strafe zu erkennen. Es ist z. B. unverständlich, wenn ein Gericht gegen einen Volljuden, der ei-nem ihm vertrauenden Mädchen sich als Arier ausdrücklich ausgibt und es dadurch zum Bei-schlaf verleitet, entgegen dem zutreffenden Zuchthausantrag des Staatsanwalts nur auf 8 MonateGefängnis erkennt.

Um diesem Mißstand abzuhelfen und zu einer einheitlichen sachentsprechenden Rechtspre-chung zu gelangen, ersuche ich im Benehmen mit den Landgerichtspräsidenten auf die ihnenunterstellten Richter in geeigneter Weise nachdrücklich einzuwirken [!], damit einem Rassever-fall des deutschen Volkes auch von den deutschen Gerichten durch strenge Strafen entgegenge-wirkt wird."

Um eine solche Rechtsprechung zu fördern, d. h. die „Lenkung" zu erleichtern, soll-ten alle Verfahren wegen dieses Deliktes sofort einer einzigen Strafkammer des Land-gerichts

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kennzeichnenderweise „etwa einer bereits mit der Aburteilung von Sittlich-keitsverbrechen [!] befaßten"

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zugeteilt werden. Freisler ersuchte die Oberlandesge-richtspräsidenten, „das Erforderliche beschleunigt zu veranlassen".35 Die von ihrenVorgesetzten informierten Landgerichtspräsidenten unterrichteten nunmehr ihrerseitsdie Richter in Dienstbesprechungen, und manche Oberstaatsanwälte wiesen ihreStaatsanwälte an, von nun an „stets Zuchthaus zu beantragen und bei Verurteilung zu

Gefängnis Revision einzulegen".36 Als Folge dieser Maßnahmen nahm der Anteil derZuchthausstrafen bei der Ahndung dieses Delikts tatsächlich zu.37

In Juristenkreisen wurde das Bedenkliche einer ministeriellen „Lenkung" der Straf-bemessung natürlich erkannt, aber nur vorsichtig kritisiert, so z. B. in der Strafprozeß-kommission anläßlich der Erörterung der zukünftigen Gestaltung der Revision. Dorthob Freisler im Mai 1937 die Wirksamkeit der „Verwaltungsmaßnahmen des Ministe-riums" für die Verschärfung der Urteile gegen „Rassenschänder" und Bibelforscher38hervor: das Reichsgericht hätte in diesen Fällen niemals „mit der gleichen Wirkungund sicher nicht so schnell eine Einheitlichkeit der Strafbemessung erzielen können";deshalb dürfe die Fehlerhaftigkeit der Strafzumessung auch künftig nicht zum Be-standteil der Revisionsnachprüfung gemacht und die Strafzumessung nicht der Kon-trolle des Revisionsgerichts unterstellt werden, sonst gleite „die Steuerung der Straf-rechtspflege der Justizverwaltung aus der Hand". Denn würde das ReichsgerichtGrundsätze für die Strafbemessung aufstellen, an die die unteren Gerichte gebundenseien, dann würde jede Weisung an den Staatsanwalt, eine andere Strafe zu beantra-gen, „gesetzwidrig sein. Sie würde in Widerspruch stehen zu der Auslegung der Ge-setze, die das Reichsgericht durch seinen Urteilsspruch gegeben hat." Gegen diese vonFreisler befürwortete Praxis der Justizverwaltung, „Grundsätze für die Strafbemessungaufzustellen", erhob Reichsgerichtsrat a.D. Niethammer als Kommissionsmitgliedprinzipielle Einwände: „Mit demselben Recht könnte dann die Justizverwaltung auchmit allgemeinen Grundsätzen etwa für die Auslegung des Begriffs des .gesundenVolksempfindens' hervortreten"; die Entwicklung des Rechts durch Ausbildung vonGrundsätzen sei aber „nun einmal die Aufgabe des obersten Gerichtshofs". Bezeich-

35 RV des RJM (i.V. Freisler) an sämdiche OLGPräs. v. 1.9.36, nachrichtlich an die GStAe (Akten des RJM,a.a.O.).

36 Vgl. z.B. die Durchführung der RV im OLG-Bez. Bamberg, H. Schütz, Justiz im „Dritten Reich". Doku-mentation aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg, Bamberg 1984, S. 117.

37 Vgl. dazu Kapitel VII.3.C, S.879.38 Zur Lenkung der Rechtsprechung gegen aktive Bibelforscher s. nachstehend S. 1099 f.

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1099

nenderweise setzte er jedoch hinzu, wenn für Freislers Standpunkt „politische Gründemaßgebend sein sollten", wolle er darüber nicht weiter diskutieren.39

Das Reichsjustizministerium „lenkte" die Rechtsprechung nicht nur durch veröf-fentlichte kritische Besprechungen von Gerichtsurteilen und durch

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veröffentlichteoder nicht veröffentlichte

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generelle Verfügungen, sondern auch gezielt durch münd-liche oder schriftliche Kontakte zu einzelnen Justizbehörden. Als Freisler z. B. imFrühjahr 1935 die Tatsache zu Ohren kam und durch den angeordneten Vortrag deszuständigen Referenten bestätigt wurde, daß der Volksgerichtshof verurteilten kom-munistischen Hochverrätern die bürgerlichen Ehrenrechte nicht absprach und diesmit der politischen Überzeugung als Beweggrund der Täter begründete, veranlaßte er

ein Schreiben des Leiters der Strafrechtspflegeabteilung, Ministerialdirektor Crohne,an den Oberreichsanwalt. Darin wurde die Auffassung des betreffenden Volksgerichts-hof-Senats als „abwegig" und „verfehlt" bezeichnet, da der nationalsozialistische Staatkommunistische „Hetzer und Wühler nicht als gleichberechtigte Politiker anerkennen[könne], deren ehrliche Überzeugung auch strafrechtlich zu berücksichtigen sei", son-

dern in ihnen „gewissenlose Verbrecher" sehen müsse, „die sich mit ihren Zielen au-

ßerhalb des von ihnen bekämpften Staates" gestellt und „damit selbst von der Aus-übung der bürgerlichen Ehrenrechte ausgeschlossen" hätten, so daß deren Aberken-nung nur die Bestätigung „eines durch ihre Straftat bereits herbeigeführten Zustan-des" bedeute. Freisler ersucht daher den Oberreichsanwalt,„die Sitzungsvertreter der Reichsanwaltschaft anzuweisen, in allen einschlägigen Verfahren mitallem Nachdruck den Antrag auf Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte unter Hervorhe-bung der oben näher berührten Gesichtspunkte zu begründen, wobei ich keine Bedenken [!]trage, wenn dabei zum Ausdruck gebracht wird, daß diese Auffassung der Stellungnahme derObersten Staatsführung [!] und des Reichsjustizministeriums entspricht".

Mußten in künftigen Verfahren die Richter allein schon durch diese Mitteilung desAnklagevertreters unter erheblichen psychologischen Druck gesetzt werden, so wurdediese „indirekte" Einflußnahme auf das Gericht offensichtlich noch nicht als ausrei-chend angesehen: wie Crohne in dem Schreiben mitteilte, wurde den beiden Berufs-richtern des fraglichen Volksgerichtshof-Senats die Auffassung des Ministeriums „ineiner kollegialen Besprechung [!] der genannten Urteilsgründe mitgeteilt".40

Ein weiteres Instrument für die „Lenkung der Rechtsprechung", das vor der „Ver-reichlichung" auch schon die Landesjustizverwaltungen benutzten41, waren Tagungenund Besprechungen der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte imJustizministerium. So wurden z. B. die Generalstaatsanwälte auf einer solchen Tagung

39 Vgl. Prot. der Großen Strafprozeßkommission, 27. Sitzung, 5. Mai 1937 (Schubert, Quellen III, Bd.2.2, S. 11,15, 17).

40 Vgl. Sehr, des RJM (i.A. Crohne) an den OReiA, Zweigstelle Berlin, v. 13.6.35, ferner Verm. Freislers v.26.4.35 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/953). Zur Kritik an der Rechtspr. des VGH in dieser Frage s. auchKapitel VHI.l.b., S.965.

41 Vgl. z. B. die Bespr. der bayer. OLGPräs. und GStAe am 7./8.12.34 im bayer. JM, in der die GStAe aufge-fordert wurden, die OStAe anzuweisen, bei Verfehlungen gegen das Lebensmittelgesetz und das G. gegenunlauteren Wettbewerb schärfere Strafen zu beantragen, da bislang „geradezu lächerlich niedrige Geldstra-fen verhängt worden" seien (Niederschr. in den Akten des bayer. JM, BayerHStArch., Sign. MJu 16835).Weitere Beispiele sind die in anderem Zusammenhang behandelten Bespr. der preuß. OLGPräs./GStAe inBerlin am 22.7.33 (s. Kapitel FV.l.c, S.330Í.) sowie der bayer. OLGPräs./GStAe in München am S./6.4.34(s. Kapitel rV.4.d., S. 407 f.), in denen die gewünschte Handhabung der Strafverfahren gegen SA- und SS-Tä-ter behandelt wurde.

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1100 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeim September 1935 belehrt, daß die Bestrafung sowohl wegen Abtreibung wie auchwegen Betätigung für die Internationale Bibelforschervereinigung zu „unterschied-lich", d. h. im allgemeinen zu milde erfolge. Anhand der vorliegenden Urteile wurdeihnen vorgerechnet, daß die Durchschnittsstrafen verschiedener Gerichte gegen Leiterdieser Vereinigung zwischen 4/2 Monaten und 2 Jahren 3 Monaten Gefängnisschwankten und daß einige Gerichte gegen Mitläufer zu 77% nur auf Geldstrafen er-

kannten, während andere ausschließlich Gefängnisstrafen verhängten. Eine ähnlicheRechnung wurde ihnen für die Urteile gegen Abtreibung aufgemacht. Da die Strafenin der Regel den Anträgen der Staatsanwaltschaften entsprochen hatten, sollten derenLeiter künftig die Strafanträge in ihrem Bezirk kontrollieren und „darauf hinwirken,daß solche untragbaren Unterschiede ausgeglichen werden".42 Dieser „Ausgleich"durfte selbstverständlich nur durch Anhebung der Strafhöhe erfolgen: auf der Tagungvom 18.Juni 1937 wurden die Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsiden-ten

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ausgelöst durch eine Kritik Himmlers und die korrigierende Schutzhaftpraxisder Gestapo

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schließlich veranlaßt, gegen Bibelforscher künftig auf die vorgeseheneHöchststrafe von 5 Jahren Gefängnis hinzuwirken.43

Der „Lenkung" der Hochverratsrechtsprechung diente die Tagung vom 11. und12. November 1936, an der neben dem Präsidenten des Volksgerichtshofs Thierack,dem Reichsanwalt Jörns, den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwäl-ten der mit Hochverratssachen befaßten vierzehn Oberlandesgerichte u.a. auch diePräsidenten der Hochverratssenate dieser Gerichte teilnahmen. Die „Lenkung" aufdiesem Gebiet war für notwendig angesehen worden, weil die Senate

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wie z. B. beimKammergericht

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zu milde urteilten oder die Staatsanwaltschaften-

wie z. B. in Dres-den und Karlsruhe

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Täter nach dem Parteimonopolgesetz oder nach landesrechtli-chen Verordnungen aufgrund § 4 der Reichstagsbrandverordnung anklagten, obwohlnach Meinung des Ministeriums Hochverrat vorlag.44 Sie war um so notwendiger, alsder Volksgerichtshof für politische Strafsachen nicht

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wie das Reichsgericht für an-

dere Sachen-

Revisionsgericht und höchste Instanz darstellte, deren grundsätzlicheEntscheidungen für die nachgeordneten Gerichte maßgebend waren. Wie Ministerial-direktor Crohne als Leiter der Strafrechtspflegeabteilung den teilnehmenden Richternberuhigend versicherte, sei es nicht Zweck der Tagung, „die Auslegung von Gesetzenzwingend vorzuschreiben", sondern die Richter mit dem Stand der Hochverratsbe-kämpfung und der Auffassung des Ministeriums bekanntzumachen und ihnen damitdie Grundlagen „für die richtige, sachliche und rechtliche Beurteilung" einschlägigerFälle zu verschaffen. Zu den „Grundsätzen", die den Richtern und Staatsanwälten-

neben hektographierten Richtlinien zur Anwendung einzelner Hochverratsparagra-phen

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mündlich vermittelt wurden, gehörten die Vermeidung gerichtlicher Vorun-tersuchung und von Freisprüchen, die Ablehnung von Strafmilderungsgründen, dieAnerkennung der jüdischen Eigenschaft eines Angeklagten als Strafverschärfungs-

42 Vgl. Aufzeichnung über die Besprechung mit dem OReiA und den GStAen am 23.9.35 (Akten des RJM,BA, Sign. R 22/4277). In ihr wurden die StAe ferner angewiesen, Verfahren wegen Paßvergehen gegen NS-Flüchtlinge aus Österreich aufgrund § 153 Abs. 2 StPO einzustellen.

43 Vgl. dazu im einzelnen Kapitel VI.3.d., S.620L44 Vgl. die Aufstellung der Urt. des KG v. Juli-Oktober 1936, die „zu Bedenken Anlaß" gaben, nebst namentli-

cher Aufführung der mitwirkenden Richter, sowie Unterlagen zum Referat Crohnes auf der Tagung (Aktendes RJM, BA, Sign. 5004).

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1101

grund und prinzipiell „harte Urteile, um zu vernichten und abzuschrecken". Das wa-

ren u.a. laut Crohne jene „Grundsätze, deren Befolgung das RJM bei den Herren juri-stischen Verwaltungsbeamten erwartet, deren Befolgung es ihnen, den Herren Rich-tern, im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung empfiehlt" (!). Denn „die Zei-ten, wo mancher Richter stolz darauf war, eine besonders eigenartige und abwegigeAuslegung auszutüfteln", seien endgültig vorbei, „die Grenze der richterlichen Unab-hängigkeit und damit des richterlichen Auslegungsrechtes" liege in der Zugehörigkeitdes Richters zur Volksgemeinschaft, er sei „nicht neutral außerhalb der Volkslebensgestellt" sondern „warmempfindendes Mitglied seines Volkes, dessen Wohl seinenRichterspruch bindet".45

Diese Tagung der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte wurdeam 13. November mit einer Besprechung fortgesetzt, an der ReichsgerichtspräsidentBumke sowie die Vorsitzenden der für „Rassenschande" zuständigen Strafkammernder Landgerichte und die Oberstaatsanwälte dieser Gerichte teilnahmen. In ihr gabFreisler Richtlinien und Leitsätze zur Blutschutzrechtsprechung, die eine „Verschär-fung und Ausdehnung der Bestimmungen" des Blutschutzgesetzes bedeuteten.46 Inder anschließenden Aussprache versuchten einige Teilnehmer, Freislers radikale For-derungen zu entschärfen, indem sie sie lediglich als Diskussionsgrundlage verstandenwissen wollten. So äußerte einer der Senatspräsidenten, er fasse Freislers „Aufträge" le-diglich „als Leitsätze auf, durch die aber die richterliche Tätigkeit in ihrer Unabhängig-keit nicht berührt" werde; es sei „zweifellos auch nicht die Absicht des Herrn Staatsse-kretärs, eine unmittelbare Beeinflussung der Richter [!] vorzunehmen". Der General-staatsanwalt beim Kammergericht meinte vorsichtig, daß seine Kollegen und er mitFreislers Vortrag „inhaltlich vollkommen einverstanden" seien; er „hoffe aber, daß dieGerichte und Staatsanwaltschaften nicht von einem Extrem in das andere verfallenund durch sinnlos hohe Urteile Unverständnis im Volk erwecken" würden.47 AuchGürtner wirkte hier mäßigend, suchte aber das Verständis der Teilnehmer für die Len-kungsbemühungen des Ministeriums zu wecken: auf die Kritik der Polizeiführung an-

spielend, führte er aus, die Besprechung sei „keinem anderen Grunde entsprungen ...,

als dem Wunsche, mich in die Lage zu setzen, die Rechtsprechung auf dem Gebietedes Rassenschandegesetzes mit Erfolg verteidigen zu können", gerade das sei aber „imvergangenen Jahr in manchen Fällen außerordentlich schwierig gewesen". Es sei eben„in Zeiten, in denen ein neues Recht geschrieben wird, nicht zu vermeiden, daß

43 Vgl Manuskript des am 11.11.36 gehaltenen Vortrags Crohnes (a.a.O.).46 So der GStA beim KG in der anschließenden Aussprache (vgl. Niederschrift über die Aussprache aus Anlaß

der Tagung betreffend Blutschutzrechtsprechung v. 13.11.36, a.a.O., Sign. R 22/51). Der Wortlaut der Aus-führungen Freislers ist offenbar aktenmäßig nicht überliefert. Der veröffentlichte Bericht über die Tagungwar lediglich allgemein gehalten: Freisler habe gefordert, die „Rassenschande" als einen „Angriff auf die Le-bensordnung des Volkes" anzusehen, dessen Schwere „verlange, daß die Strafverfolgungsbehörden sich mitallem Nachdruck für die unbedingte Durchsetzung des Gesetzes einsetzten" (DR 1936, S.1756). Freislerselbst erwähnte später einmal, daß es auf der Tagung hauptsächlich um die „Strafmaßfrage" ging: nämlichdarum, „die Zuchthausstrafe ..., die in der Androhung an sich erst als zweite folgt, als die Ausgangs- undRegelstrafe anzusehen" (vgl. Freislers Ausführungen auf der Tagung v. 24.10.39, voranstehende Anm. 18).Auch auf der „Strafrechtlichen Fortbildungswoche", die vom 25.9. bis 1.10.38 für 250 StAe und Strafrichterin Jena stattfand, äußerte Crohne, daß bei „Rassenschande" „grundsätzlich auf Zuchthaus erkannt werden"müsse (DJ 1938, S. 1641).

47 Vgl. Niederschrift, a.a.O. Zur lahmen Reaktion Bumkes s. D. Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. ErwinBumke. Studien zum Niedergang des Reichsgerichts und der deutschen Rechtspflege, Karlsruhe 1975,S.267.

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1102 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Rechtsprechung und Volksführung getrennte Wege gehen" (!). Die in letzter Zeit auf-gestellte Behauptung, daß die von den Gerichten verhängten ungenügenden Strafendie Rassenschutzgesetzgebung zur Erfolglosigkeit verdammten, habe „gewisse Kräftemobil gemacht, von deren Endeffekt wir alle nicht glauben dürfen, daß sie zum Gutendes deutschen Volkes ausschlagen" (!). Nach dem Willen der Führung solle nun ein-mal „die These von der Reinheit des deutschen Blutes

...

gewahrt werden. Sie kannnicht zur Diskussion gestellt werden, denn sie ist ein Grundsatz und ein Glaubenssatzdes neuen Staates, und es ist völlig zwecklos, über richtig oder unrichtig zu reden"(!).Diesen Ausgangspunkt „Schutz der Rasse" müsse sich der Richter ständig vor Augenhalten, er dürfe sich „von den persönlichen Verhältnissen des Rechtsbrechers nichtleiten lassen, sondern muß der Schwere der Schuld entsprechend die Strafe bemes-sen". In seinem Schlußwort relativierte Gürtner Freislers Bemühungen jedoch bis zu

einem gewissen Grade, indem er die erwähnte Bemerkung des Generalstaatsanwaltsbeim Kammergericht aufgriff und betonte, „daß es im Interesse des Ansehens der Ju-stiz nicht erwünscht sei, wenn die Gerichte nunmehr plötzlich in das andere Extrem(zu harte Urteile) verfallen würden.48

Auch in späteren Besprechungen mit den Behördenchefs benutzte Gürtner das Ar-gument, daß „unvertretbare" Urteile „eine große Gefahr für die Aufrechterhaltung derUnabhängigkeit der Rechtspflege" darstellten: durch sie „würde immer wieder Wasserauf die Mühlen derjenigen Kreise getrieben, die die Unabhängigkeit der Gerichtenicht als im Einklang mit der omnipotenten Führergewalt stehend ansähen".49 DiesesVerhalten macht deutlich, daß der Druck der konkurrierenden Polizeiführung und ge-wisser Parteikreise auf das Justizministerium ein wesentliches Motiv für die „Lenkungder Rechtsprechung" war. Es zeigt aber auch, welch relativierter Begriff von richterli-cher Unabhängigkeit dem Handeln der Justizleitung zugrunde lag.

Als letztes Beispiel30 sei noch eine Tagung behandelt, die der „Lenkung" der Son-dergerichtsrechtsprechung diente. Es handelt sich um die Zusammenkunft der Son-dergerichtsvorsitzenden und Sachbearbeiter für Sondergerichtssachen bei den Gene-ralstaatsanwälten am 24. Oktober 1939 im Reichsjustizministerium. Anlaß war, daß dieUrteile der Sondergerichte vor allem bei der Anwendung der Volksschädlingsverord-nung51 nicht der Härte entsprachen, die für die Kriegszeit erforderlich gehaltenwurde. In einem Grundsatzreferat52 warnte Freisler die Richter und Staatsanwälte, daß

48 Niederschrift, a.a.O.49 So in der Bespr. mit den OLGPräs. im RJM am 18.1.38 (Aufz. des Vizepräs, des OLG Hamburg über die

Tagung, Arch, der Forschungsstelle für die Geschichte des NS in Hamburg, Sign. Best. 3308).50 In anderem Zusammenhang wurden bereits folgende Tagungen, auf denen Lenkungsmaßnahmen ergriffen

wurden, erwähnt: die Tagung vom Juni 1937 (schärfere Strafen gegen Bibelforscher) im Kapitel VI.3.d,S. 620 ff.; vom März 1938 (verstärkte Anordnung der Sicherungsverwahrung) im Kapitel VI.8.b, S. 727 ff.;vom Januar 1939 (Behandlung der Pogromstraftaten vom November 1938) im Kapitel V.2, S. 489 ff, (Be-strafung der Frau bei Rassenschande) im Kapitel VII.3.c, S.884L Für das Gebiet der Zivilgerichtsbarkeit seihingewiesen auf die Tagung der OLGPräs. im RJM v. 24.1.39, auf der die Rechtsprechung zum § 55 desEhegesetzes behandelt wurde. Vgl. Niederschr. des Vizepräs, des OLG München v. 6.2.39 (StArch. Mün-chen, Bestand OLG München 445).

31 Zur VO gegen Volksschädlinge v. 5.9.39 (RGBI. I, S. 1679) s. Kapitel VII.3.e, S. 906 ff.52 Zum folgenden vgl. das Wortprotokoll der Tagung (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/4158). Der veröffent-

lichte Bericht war gekürzt und wesentlich „entschärft", vgl. Die Arbeit der Sondergerichte in der Kriegszeit.Abgekürzter Bericht über die Tagung der Sondergerichtsvorsitzenden und Sachbearbeiter für die Sonderge-richtsstrafsachen bei den Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 24.Oktober 1939, Berlin1939.

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1103

ein Versagen der Rechtspflege im Kriege „erfahrungsgemäß immer in gleicher WeiseUrsache wie Wirkung einer Lockerung der Geschlossenheit und Entschlossenheit undevtl. eines Zusammenbruches" sei. Deshalb sei das Strafmaß das ,A und O unserer

Sorgen": hier müßten die Strafrichter in ihrem „kriminalistischen Abwehrdenken ei-nen gewaltigen Sprung machen", es müsse „eine Härte erreicht werden ..., die vor

dem Härtesten nicht zurückschreckt". „Wo die Besten als Soldaten ihr Leben für dasVolk einsetzen", müsse „der, der gegen das Volk arbeitet, sein Leben ebenfalls riskie-ren". Gerade die Verordnung gegen die Volksschädlinge verfolge das Ziel, im Straf-maß „eine Hebung des strengen Niveaus zu erreichen". Jede Anerkennung mildernderUmstände wirke diesem Zweck entgegen: „Mildernde Umstände gibt es im Rahmender Verordnung nicht." Wo immer es rechtstechnisch möglich sei, sei der Versuch dervollendeten Tat gleichzusetzen und der „Strafrahmen der vollendeten Tat auch beimVersuch bis zur obersten Grenze auszuschöpfen". Grundsätzlich müsse bei Bejahungder Schuld des Angeklagten das Ergebnis „an der oberen Strafrahmengrenze liegen,die die Verordnung vorgesehen hat". Freisler schloß sein Referat mit einem bezeich-nenden Bild und einer Forderung: Die Sondergerichte seien „gewissermaßen einePanzertruppe der Rechtspflege" und vom Gesetzgeber „mit ebenso großer Kampfkraftausgestattet". Die Richter und Staatsanwälte müßten daher „denselben Drang und die-selbe Fähigkeit haben, den Feind aufzusuchen, zu finden und zu stellen, und

...

diegleiche durchschlagende Treff- und Vernichtungssicherheit gegenüber dem erkanntenFeind" zeigen.

Anschließend wurden die Teilnehmer in mehreren Referaten über die gewünschteAnwendung der einzelnen Paragraphen der Volksschädlingsverordnung belehrt, sou.a. durch Ministerialdirektor Crohne über die erweiterte Auslegung des Tatbestands„Plündern", der im § 1 dieser Verordnung ausschließlich mit der Todesstrafe bedrohtwurde. Freisler machte klar, daß bei der in zwei anderen Paragraphen festgelegten Rei-henfolge der Strafen

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Zuchthaus bis zu 15 Jahren, lebenslanges Zuchthaus, Tod-nicht etwa „die erstgenannte Strafe die Regel oder der Ausgangspunkt sein" dürfe.

Vielmehr erwarte „die Öffentlichkeit, daß insbesondere bei der Verbrechenssituationdes § 2 [Ausnutzung der Fliegergefahr, Verdunkelung] regelmäßig die zur Verfügunggestellte Höchststrafe erkannt" werde, wobei aber die lebenslange Zuchthausstrafe we-

gen ihrer „Problematik" in der Kriegszeit möglichst keine Anwendung finden sollte.Die Richter und Staatsanwälte wurden auch mit dem Entwurf der beabsichtigten Ge-waltverbrecherverordung53 und der Auslegung des darin vorgesehenen erweitertenWaffenbegriffs vertraut gemacht: wer bei einer schweren Gewalttat ein einer Waffe„gleich gefährliches Mittel" anwende

-

nicht nur „etwa ein Stahlrohr, sondern z.B.auch Gift, Pfeffer oder Ähnliches"

-

oder „ohne es anzuwenden, mit einer solchen Sa-che einen anderen an Leib und Leben bedroht", sollte „unausweichlich mit dem Todebestraft" werden. In seinem Referat über die Arbeit der Sondergerichte führte auchCrohne aus, daß „schärfste Strafen, auch unter Hintansetzung jeder Scheu vor der To-desstrafe" gegen Täter geboten seien, die die Kriegslage für ihre verwerflichen Zweckeausnutzten. Einer der fünf Grundsätze für die Sondergerichte, die er den Teilnehmernmit auf den Weg gab, lautete dementsprechend: „Gegen Schwerverbrecher ist inKriegszeiten die zugelassene Todesstrafe gleichzeitig die grundsätzlich gebotene!"33 Zur VO gegen Gewaltverbrecher v. 5.12.39 (RGBI. I, S. 2378) s. Kapitel VII.3.e., S.913 f.

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1104 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der RechtsprechungsorganeAuf dieser Tagung wurde den Richtern und Staatsanwälten aber nicht nur nahege-

bracht, wie sie künftig handeln sollten, es wurde ihnen auch vor Augen gehalten, was

sie bisher falsch gemacht hatten. Das Sonderreferat für Sondergerichtssachen im Mini-sterium hatte dafür eine Reihe „unbefriedigender Urteile" zusammengestellt, die dieAnwendung der Volksschädlingsverordnung betrafen, und sie mit entsprechendenKommentaren versehen. So vermerkte das Sonderreferat zu einem Urteil des Sonder-gerichts Salzburg, das einen Einbruchdiebstahl bei Verdunkelung

-

Beute: vier Hüte-mit 1 Jahr Zuchthaus geahndet hatte, das seien „Strafen, die auch in Friedenszeiten als

milde anzusprechen wären". Das Urteil des Sondergerichts Feldkirch (Vorarlberg), daseinen Juden mit 6 Jahren Zuchthaus bestraft hatte, der durch das gleiche Delikt für1000 RM Fotoapparate erbeutet hatte, versah das Referat mit dem bezeichnendenKommentar: „Ein Jude, der deutsche Kriegsnot und Kriegsmaßnahmen für verbre-cherische Tätigkeit ausnutzt, verdient eine wirklich abschreckende Strafe." Die Verur-teilung eines Mannes, der nächtlich einen Angetrunkenen von hinten umklammertund ihm die Geldbörse mit 180 RM entwendet hatte, zu 2/^Jahren Zuchthaus durchdas Sondergericht Düsseldorf wurde deshalb für unbefriedigend angesehen, weil „dasUmsichgreifen derartiger Gewaltakte" die Verdunkelung „für die Bevölkerung uner-

träglich gestalten und damit dem Abwehrkampf des deutschen Volkes in den Rückenfallen" würde: „Härteste Strafen (grundsätzlich die Todesstrafe) allein können hier dieerforderliche abschreckende Wirkung haben." Selbst die vom Staatsanwalt in diesemFall beantragte Strafe von 6 Jahren Zuchthaus trüge dem keine Rechnung. Kommen-tare zu weiteren Urteilen lauteten z.B., daß durch derartige Taten „das Vertrauen zu

dem von der Staatsführung dem Einzelnen gewährten Schutz auf das Schwerste er-

schüttert" werde, oder: diese Delikte seien „Feindtaten gegen das deutsche Volkgleichzuachten" und verlangten „grundsätzlich Vernichtung des Täters um des Woh-les des ganzen Volkes willen".54

Gürtner, der sich mit seinen Mitarbeitern darauf geeinigt hatte, auf der Tagung„keine einzelnen Urteile anzusprechen und nicht über das Gericht zu Gericht zu sit-zen"55, übernahm es in seinem Schlußwort selbst, anhand dieser internen Zusammen-stellung an der bisherigen Rechtsprechung Kritik zu üben. Er vermied es dabei, diebetreffenden Gerichte zu nennen, und kommentierte auch die Urteile wesentlich vor-

sichtiger, als es das Sonderreferat getan hatte. So äußerte er z. B. zu dem erwähntenSalzburger Urteil, er sei „der Meinung, daß dieses Urteil nicht allgemeinem Verständ-nis begegnen würde". Er beschränkte sich auch bei den anderen von ihm referiertenUrteilen auf allgemeine Bemerkungen wie: die Strafe entspreche „hier nicht ganz denErwartungen, die man billigerweise an das Urteil hätte stellen können", oder „nichtden Maßstäben, die wir heute an solche Taten anlegen müssen", oder: er sei „der Mei-nung, daß nach den Grundgedanken, die wir uns heute ins Bewußtsein gerufen haben,dieses Urteil kaum jeder Kritik standhalten würde". Das Urteil des SondergerichtsFeldkirch über den jüdischen Einbrecher erwähnte er als Beispiel bezeichnenderweiseüberhaupt nicht. Gürtner bat, „Verständnis dafür zu haben, daß diese praktischen Be-

34 Vgl. die Zusammenstellung in den Akten des RJM, a.a.O.33 Vgl. Schlußwort Gürtners, Wortprotokoll, a.a.O.

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1105

obachtungen und Erfahrungen Anlaß genug gewesen" seien, um mit den Juristen derSondergerichtsbarkeit auf dieser Tagung einmal ausführlich „über die Aufgaben derKriegsrechtspflege zu sprechen" und „alles zu tun, um die Krise, in die die Straf-rechtspflege in jedem Kriege kommen kann, nicht entstehen zu lassen".

Wenngleich aus Gürtners Ausführungen deutlich die Absicht spürbar wird, in derForm unnötige Scharfmacherei zu vermeiden, und er es auch unterließ, den Richternbei der Kritik der Urteile künftig bestimmte Strafen vorzuschreiben, so handelte es sichdoch auch hier um eine im Grunde unzulässige Einwirkung auf den „unabhängigen"Richter, höhere Strafen zu verhängen. Gürtner praktizierte hier gegenüber den Rich-tern der Sondergerichte mündlich eine Methode der „Lenkung", die Thierack ab 1942durch die gedruckten „Richterbriefe" in weit größerem Umfang

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gegenüber der ge-samten Richterschaft

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und in weit massiverer Form anwenden sollte. Dennoch han-delte es sich auch hier bei Gürtner immer noch um

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wenn auch an konkreten Urtei-len orientierte

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generelle Hinweise zur künftigen Beachtung. Die später bei Thierackgehandhabte direkte Einwirkung auf den Richter durch den dienstvorgesetzten Land-gerichts- bzw. Oberlandesgerichtspräsidenten vor der Hauptverhandlung, um im an-

stehenden konkreten Einzelfall ein bestimmtes Urteil zu erzielen, wurde unter Gürt-ner als Lenkungsmaßnahme noch vermieden; der Richter wurde in wichtigen Fällenhöchstens nachträglich auf seinen „Fehler" aufmerksam gemacht. Während GürtnersAmtszeit bediente sich das Reichsjustizministerium zur Erzielung eines bestimmtenUrteils noch der indirekten Einwirkung auf den Richter, und zwar über den weisungs-gebundenen Staatsanwalt: Die durch die Berichtspflicht eingeschalteten Bezirks- bzw.Sonderreferate (Sachreferate) des Ministeriums wiesen den Staatsanwalt in wichtigenFällen an, einen bestimmten Strafantrag zu stellen und den Vorsitzenden des Gerichtsvor der Hauptverhandlung von der Anweisung des Ministeriums zu unterrichten.Diese Information sollte jedoch vertraulich erfolgen und die ministerielle Weisungnicht etwa in der Anklageschrift oder im Plädoyer erwähnt werden. Auf einer Tagungwarnte Ministerialdirektor Crohne die Staatsanwälte

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offenbar aufgrund eines tatsäch-lichen Vorfalls

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ausdrücklich: „Völlig unmöglich" sei die Begründung eines Antragsauf eine harte Strafe damit, daß „eine höhere Stelle es wünscht" (!).56 Schon im Mai1939 hatte es Freisler den Staatsanwälten in einer Rundverfügung zur Pflicht gemacht,eine stark differierende Beurteilung zwischen Staatsanwalt und Richter bei der Straf-zumessung in wichtigen Fällen durch „verständnisvolle Zusammenarbeit" mit demGericht zu vermeiden; er sei „sicher, daß die Vorsitzenden der Strafgerichte ihnen da-bei verständnisvoll entgegenkommen" (!) würden. Diese Fühlungnahme sei ein geeig-netes Mittel, „um die gerechte Härte unserer Strafrechtspflege sicherzustellen, die ih-rer Aufgabe, das Volk zu schützen, entspricht".37 Obwohl durch diese Methode auf

56 Vgl. Tagung der GStAe im RJM am 778.3.38 (Ber. des GStAs Hamburg, am 18.3.38 OLGPräs. Rothenber-ger übersandt, Arch, der Forschungsstelle für die Geschichte des NS in Hamburg, Sign. Best. 3308).37 Vgl. RV des RJM (i. V. Freisler) an die GStAe v. 27.5.39 (Akten des BJM, Hauptbüro, Arch, des BJM). DieseMethode war der Anklagebehörde z.B. schon 1935 bei einem Antrag auf Aberkennung der bürgerlichenEhrenrechte für kommunistische Hochverräter nahegelegt worden (s. voranstehend S. 1099). Über Verwal-tungsmaßnahmen zur Förderung einheitlicher Strafbemessung allgemein s. EStA W. Brinkmann, Die Un-gleichheit der Strafzumessung (DJ 1936, S. 1653 ff.).

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1106 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganeden Richter erheblicher Druck ausgeübt wurde58, funktionierte diese mittelbare „Len-kung" des Richters nicht mit Sicherheit. In seinem Schlußwort auf der erwähnten Ta-gung vom Oktober 1939 bezeichnete Gürtner daher die häufig auftretenden Differen-zen zwischen Antrag und Urteil als „einen schmerzlichen Punkt ..., der das äußereBild der Strafrechtspflege im Kriege bestimmt". Natürlich sei es „eine ganz unsinnigeVorstellung", daß beide stets koinzident sein müßten. Ebenso sei es „noch eingänglich,wenn der Staatsanwalt eine schwere Strafe beantragt und das Gericht freispricht, weiles den Tatbestand nicht für gegeben hält oder weil ein Indizienbeweis nicht für durch-schlagend gehalten wird". Aber in Fällen, in denen sich Gericht und Staatsanwalt-schaft in der Schuldfrage einig seien, gäben große Unterschiede bei der Strafzumes-sung „zum Nachdenken Anlaß" und könnten „furchtbar schwer einem NichtJuristenbegreiflich" gemacht werden. Gürtner bat daher die Richter und Staatsanwälte noch-mals eindringlich, solche Differenzen zu vermeiden, da sie „zu einer ganz überflüssi-gen Kritik" reizten.59

Da die mittelbare Lenkung des Richters über den Staatsanwalt593 auch durch solcheallgemeinen Appelle an die Richterschaft nicht immer die gewünschte Wirkung zei-

tigte60, wurde auch schon in der Ära Gürtner zu einem weiteren Mittel gegriffen, um

den einzelnen Richter zu beeinflussen: die Kritik an Urteilen wurde nicht mehr nur

dem betreffenden Staatsanwalt, sondern auch dem Richter, der das Urteil gefällt hatte,zur Kenntnis gebracht. So wurde z.B. die Kritik des Ministeriums vom 29juni 1938an einem „Rassenschande"-Urteil der 6. Strafkammer des Landgerichts Hamburg, diedem Oberstaatsanwalt bei diesem Gericht über den Generalstaatsanwalt zuging, in Ab-schrift nachrichtlich über den Hamburger Oberlandesgerichtspräsidenten Rothenber-ger auch dem Landgerichtspräsidenten zugestellt, der sie an den Strafkammervorsit-zenden weitergab.61 Als das Hamburger Oberlandesgericht einen wegen Vorbereitungzum Hochverrat Angeklagten freisprach, im Urteil aber eine Bemerkung des Ange-klagten erwähnte, die möglicherweise eine Verurteilung nach dem Heimtückegesetzerlaubt hätte, nahm Freisler diese Tatsache zum Anlaß, Rothenberger am 24. Oktober

58 Vgl. den Ber. des OLGPräs. Hamm an das RJM: „Die Mitteilung, welchen Strafantrag der Staatsanwalt mitBilligung des Reichsjustizministeriums stellen wird, wirkt nach meiner Beobachtung, auch wenn sie nur ge-sprächsweise erfolgt, störend auf den Richter, was bei der Autorität des Justizministeriums und der Stellungder Richter erklärlich ist. Selbst alte erfahrene Richter werden in ihrer Unbefangenheit gestört." (!) DieseFeststellung im Lageber. v. 7.7.42 (Akten des RJM, BA, Sign. R 22/3367), d.h. aus der späteren Zeit intensi-verer Lenkung, dürfte auch auf die Verhältnisse in der Gürtner-Periode uneingeschränkt zutreffen.

59 Vgl. Schlußwort Gürtners, Wortprotokoll, a.a.O.5'* Eine solche „Lenkung", die allerdings nicht den Richterspruch selbst betraf, erfolgte z. B. auch durch die

vertrauliche Weisung des RJM an die GStAe und OStAe (RV v. 13.7.36), bei den Gerichtsvorsitzenden „ingeeigneter Weise mündlich" die Verlegung der Hauptverhandlungstermine in kirchenpolitischen Prozessenauf die Zeit nach dem 20. August zu erreichen, da „aus staatspolitischen Gründen" (Olympiade in Berlin) inder Zeit vom 20.7. bis 20.8.36 keine solchen Strafverfahren stattfinden sollten (vgl. H. G. Hockerts, DieSittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/1937, Mainz 1971, S.65L).Diese Verhandlungssperre, die auf Befehl Hitlers erfolgte (vgl. DJ 1937, S.9) und durch eine weitere RV desRJM v. 17.10.36 bis auf weiteres verlängert wurde, verstieß gegen die StPO und mußte nach außen hin mitnotwendig gewordenen, ergänzenden Beweiserhebungen begründet werden. Sie wurde erst im April 1937wieder aufgehoben, trat im Juli 1937 erneut in Kraft und blieb bis Mitte 1939 bestehen (Hockerts, a.a.O.,S.73L).

60 Zu den fehlgeschlagenen Versuchen des Hamburger OLGPräs. Rothenberger vom November 1938, dieserLenkungsmethode in seinem Bezirk Erfolg zu verleihen, s. W. Johe, Die gleichgeschaltete Justiz. Organisa-tion des Rechtswesens und Politisierung der Rechtsprechung 1933-1945 dargestellt am Beispiel des Ober-landesgerichtsbezirks Hamburg, Frankfurt a. M. 1967, S. 123 f.

61 Johe, a.a.O., S. 131. Zum Lenkungs-„System Rothenberger" in Hamburg ausführlich: K. Bästlein, Vom han-seatischen Richtertum (1992), S. 105f.

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1107

1940 darauf hinzuweisen und ihn zu ersuchen, „das etwa erforderlich Erscheinende zu

veranlassen". Von Rothenberger dazu aufgefordert, begründete der Senatspräsident dieEntscheidung des Gerichts in einem ausführlichen Bericht. In einer Stellungnahme zu

diesem Bericht bezeichnete Freisler die Ansicht des Gerichts als fehlerhaft, weil sieder ständigen Rechtsprechung der Sondergerichte widerspreche, unterließ aber wei-tere Schritte. Diese Stellungnahme teilte Rothenberger dem Senatspräsidenten ver-

traulich mit, damit er in zukünftigen Fällen den Willen des Ministeriums berücksich-tige oder seine anderslautende Entscheidung überzeugender begründe.62

Aus den Akten ist ersichtlich, daß sich das Reichsjustizministerium unter Gürtnerauch nach Kriegsausbruch noch primär der „Lenkung" über die Staatsanwaltschaft be-diente und den direkteren Weg über den vorgesetzten Richter nur in zweiter Linie be-schritt: Im Mai 1940 übersandte der Generalstaatsanwalt Breslau dem Ministerium dieAbschrift einer äußerst scharf gehaltenen Rundverfügung, die er an die Oberstaatsan-wälte seines Bezirks gerichtet hatte, da viele schlesische Gerichte nicht mit der not-

wendigen Schärfe urteilten-

ein Faktum, auf das er zusätzlich „von einer höherenDienststelle in Schlesien" aufmerksam gemacht worden war.63 Daraufhin fragte Abtei-lungsleiter Ministerialdirektor Crohne beim zuständigen Bezirksreferenten des Mini-steriums an, ob er die gleiche Beobachtung gemacht habe. Der Referent berichtete,daß die in unpolitischen Strafsachen ergangenen schlesischen Urteile, soweit sie ihmaus den Berichten bekannt geworden seien, „i. allg. sachgemäß" seien, daß aber in poli-tischen Verfahren tatsächlich „in letzter Zeit mehrere recht milde Urteile aufgefallen"seien. Über sie habe er den Generalstaatsanwalt informiert, der daraufhin „mit demOLG-Präs. Fühlung genommen" habe, so daß von Seiten des Ministeriums in dieserSache nichts mehr veranlaßt worden sei. Es werde aber „beabsichtigt, bei nächster Ge-legenheit an den OLG-Präs, heranzutreten".64 Dennoch wandte sich Crohne am

6Juni 1940 wiederum an den Generalstaatsanwalt, führte vier der Sondergerichtsur-teile mit unzureichenden Strafen auf und bat, „in geeigneter Weise dafür Sorge zu tra-gen, daß künftig ähnliche Mängel bei der Strafzumessung nach Möglichkeit vermie-den werden".65

Zur rechtlichen Beurteilung dieser Art von Lenkung der Rechtsprechung sei fol-gendes bemerkt. Aufgrund der Gerichtsverfassung konnte das Justizministerium dieStaatsanwälte anweisen, Anklage zu erheben und auch eine bestimmte Strafe zu bean-tragen, da ihm die Dienstaufsicht und die Leitung der Staatsanwaltschaft zustand unddie Staatsanwälte die Anweisungen ihrer Vorgesetzten zu befolgen hatten (§§ 147, 146GVG). Nach damaliger Rechtsauffassung durfte das Ministerium die Erhebung derKlage im Einzelfall auch untersagen, obwohl der Staatsanwalt aufgrund des Legalitäts-prinzips (§152 StPO) zur Anklage verpflichtet war, wenn zureichende Anhaltspunktevorlagen und die Delikte nicht unter die Ausnahmeregelung (§§ 153 ff. StPO) fielen.Die damals führenden Kommentare äußerten die Ansicht, daß der zuständige Staats-anwalt durch eine derartige Weisung von seiner Verantwortung entbunden sei und dieVerantwortung für die Nichterhebung der Klage der Justizverwaltung zufalle, auf die

62 Anhand der Akten des OLG Hamburg ausführlich dargestellt bei Johe, a.a.O., S. 131 ff.63 Vgl. persönl. RdSchr. des GStA Breslau an die OStAe v. 9.5.40, dem RJM am 11.5.40 übersandt (Akten des

RJM, BA, Sign. R 22/855).64 Vgl. Verm. des Bezirksref. für Crohne v. 25.5.40 (a.a.O.).63 Vgl. Sehr. Crohnes an den GStA Breslau v. 6.6.40 (a.a.O.).

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1108 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorganedie Strafprozeßordnung das Legalitätsprinzip jedoch nicht ausgedehnt habe.66 DieseRechtsansicht führte zu Verletzungen der Rechtssicherheit, indem sie z. B. die Unter-drückung von Strafverfahren gegen Anhänger der NS-Bewegung formaljuristisch er-

möglichte.67 Ebenso bedenklich-

wenn auch seinerzeit nicht unumstritten68-

wardie Meinung, daß die Weisung bezüglich des Strafantrags den Staatsanwalt auch dannbinden sollte, wenn sie dem Ergebnis der mündlichen Hauptverhandlung nicht mehrentsprach.69

Verstieß die „Lenkung der Rechtsprechung" durch Weisung an den Staatsanwaltgegen keine formalrechtlichen Bestimmungen, so war das ebensowenig bei der indi-rekten Beeinflussung des Richters über den Staatsanwalt der Fall : die vertrauliche Un-terrichtung des Richters durch den Staatsanwalt über die vom Justizministerium er-

haltene Weisung bezüglich des Strafantrags verletzte die Weisungsfreiheit des Rich-ters nicht, da er als „unabhängiger" Richter an den Antrag nicht gebunden war unddie Verantwortung für die Entscheidung des Falles aufgrund der Ergebnisse derHauptverhandlung weiter allein trug. Aber auch die direkte Beeinflussung des Rich-ters durch das Ministerium

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sei es, daß sie auf dem Wege über Allgemeine undRundverfügungen, sei es, daß sie auf Tagungen durch Belehrungen, Appelle und Er-mahnungen erfolgte

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stellte formal noch keinen Einbruch in seine Weisungsfreiheitdar, weil die künftige Beachtung der erhaltenen Hinweise und Gesichtspunkte imkonkreten Einzelfall immer noch in seiner Hand lag: allein die Tatsache, daß viele die-ser Hinweise im Laufe der Jahre wiederholt in Erinnerung gebracht werden mußten,zeigt, daß ihnen keine bindende Wirkung zukam und sie daher auch nicht von allenRichtern befolgt wurden. Ebenso berührte die gezielte nachträgliche Kritik an einzel-nen ergangenen Urteilen

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deren Übermittlung an den betreffenden Richter das Mini-sterium stets seinen dienstvorgesetzten „Kollegen" überließ

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formal die Weisungs-freiheit des Richters nicht: er war rechtlich nicht gebunden, in einem zukünftig zu

entscheidenden gleichgelagerten Fall statt auf eine Strafe, die ihm nach dem Maß derSchuld angemessen und gerecht schien, auf die vom Ministerium gewünschte Strafezu erkennen. Doch sei daran erinnert, daß der Gerichtsverfassungsausschuß des Deut-schen Richterbundes nach eingehenden Beratungen in einem Beschluß vom 3Juni1927 dargelegt hatte, daß sich das Recht der Dienstaufsicht über den Richter nur aufdie formelle Ausführung der Geschäfte erstrecken, dagegen „die Auslegung und An-wendung des materiellen Rechtes und die Zweckmäßigkeit richterlicher Maßnahmennicht im Wege der Dienstaufsicht nachgeprüft werden" dürfe.70 Das Reichsgerichthatte in einem Revisionsurteil vom Juni 1932 ein Berufungsurteil des Landgerichts66 Vgl. dazu im führenden Kommentar von E. Löwe, A. Hellweg, W. Rosenberg, Die Strafprozeßordnung für

das Deutsche Reich vom 22. III. 1924 nebst Gerichtsverfassungsgesetz, Berlin 1934, die Anm. zu § 146 GVGund Anm. 8 zu § 152 StPO.

67 Zu diesen Vorgängen vgl. die Kapitel IV und V vorliegender Arbeit. Den heute geltenden § 153 d StPO(Absehen von Verfolgung aus politischen Gründen) gab es damals noch nicht.

68 Vgl. dazu die Ausführungen bei H. Henkel, Das deutsche Strafverfahren, Hamburg 1943, S. 213 f.69 Während in den früheren Auflagen des Kommentars von Löwe-Hellweg-Rosenberg (voranstehende

Anm. 66) noch die Ansicht vertreten wurde, die Anweisung an den StA für seine Stellungnahme in derHauptverhandlung könne nur hinsichtlich der Rechtsfrage, nicht jedoch auch für die Würdigung der Tat-frage erteilt werden, wurde diese Meinung in der von H. Gündel, F. Härtung, Lingemann, E. Niethammerbearbeiteten 19. Auflage (Berlin 1933-36) ausdrücklich aufgegeben.

70 Vgl. AG Präs. Frank, Grenzen der Dienstaufsicht über die Richter (DRiZ 1933, S. 9 ff. Das Heft erschien vordem 30.1.33).

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1109

Liegnitz wegen Befangenheit der Richter aufgehoben, da das preußische Justizministe-rium das vorangegangene Urteil des Schöffengerichts in getrennten Besprechungenmit dem Oberstaatsanwalt und dem Landgerichtspräsidenten beanstandet und denOberlandesgerichtspräsidenten in Breslau zur Prüfung veranlaßt hatte, ob die gerügtenMängel der Urteilsbegründung Maßnahmen im Dienstaufsichtswege rechtfertigen.Den Hinweis des Ministeriums an den Landgerichtspräsidenten, „daß und in welchenPunkten die Begründung des Urteils nicht sorgfältig sei und daß künftig in gleichenoder ähnlichen Fällen eine sorgfältigere Begründung der Urteile erwartet werdenmüsse", hielt das Reichsgericht für „bedenklich" und geeignet, das Vertrauen des An-geklagten „in die Unbefangenheit der richterlichen Mitglieder der Berufungskammerzu erschüttern".71 Unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Regimes mußteein solcher Vorgang die Erschütterung der richterlichen Unbefangenheit erst rechthervorrufen: aber abgesehen davon, daß eine Beeinflussung des Richters durch das Ju-stizministerium kaum mehr als Revisionsgrund vorgebracht, geschweige denn aner-

kannt worden wäre, hätte auch das Reichsgericht eine derartige Feinnervigkeit gegen-über einer möglichen Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Richters in dieser Zeitwohl nicht mehr an den Tag gelegt.

Die Methode, in einem schwebenden Verfahren direkt auf den Richter einzuwir-ken, um ein bestimmtes Urteil zu erzielen

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eine bindende, befehlsmäßige Weisungwar nach dem Gerichtsverfassungsgesetz (§ 1) nicht möglich, da der Richter dann sei-ner Eigenschaft als Richter entkleidet worden wäre -, wurde in der Zeit Gürtners von

der Justizverwaltung als Lenkungsmaßnahme noch nicht angewendet: die Einführungder „Vorschau", d. h. der Besprechung des anstehenden Falles durch den erkennendenRichter mit seinem Dienstvorgesetzten vor der Hauptverhandlung

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blieb seinenNachfolgern in der Justizleitung vorbehalten.713 Um den Ausgang eines konkretenStrafverfahrens zu beeinflussen, bediente sich das Ministerium unter Gürtner außer dergeschilderten Anordnung des staatsanwaltschaftlichen Strafantrags der Einlegung derstrafprozessualen Rechtsmittel durch die Staatsanwaltschaft gegen erstinstanzliche Ur-teile sowie der im Kriege geschaffenen Rechtsbehelfe des „außerordentlichen Ein-spruchs" oder der „Nichtigkeitsbeschwerde" gegen rechtskräftig gewordene Urteile.Damit lag aber die Entscheidung des Falles abermals beim formal unabhängigen Rich-ter.72 Daß zumindest Gürtner bei dieser Art der konkreten Lenkung von Einzelfällenbehutsam vorging, wird anläßlich der Einlegung des außerordentlichen Einspruchs imJanuar 1940 gegen ein Urteil deutlich, durch das ein einschlägig vorbestrafter ^jähri-ger wegen unzüchtiger Handlungen an einem Kinde mit sechs Monaten Gefängnisbestraft worden war: obwohl dieser Einspruch überhaupt erst durch die Drohung71 Urt. des 2.Strafsenats des RG v. 20.6.32 (zit. a.a.O.). Bei dem Fall handelte es sich um den Prozeß gegen ei-

nen Gastwirt wegen Beleidigung des „Ministers G". Nachdem das Schöffengericht Liegnitz den Angeklag-ten am 1.7.30 freigesprochen hatte, unternahm das preuß. JM die erwähnten Schritte, die den Mitgliederndes LG Liegnitz und dem Angeklagten zur Kenntnis kamen, der die Richter der Strafkammer daraufhinwegen Befangenheit ablehnte. Nachdem sich die Mehrzahl der Richter des LG tatsächlich für befangen er-

klärte und die Bildung von Strafkammern zur Entsch. über das Ablehnungsgesuch deshalb viermal geschei-tert war, erklärte der Strafsenat des OLG Breslau das Gesuch für unbegründet; der Angeklagte wurde in derBerufungsverhandlung v. 18.1.31 verurteilt und legte dagegen Revision ein.

71» Vgl. dazu G. Schmitz, Vor- und Nachschaubesprechungen (1995), S.447 ff.72 Die Entscheidungen, die aufgrund dieser außerordentlichen Rechtsbehelfe ergingen, entsprachen tatsäch-

lich keineswegs immer der mit ihrer Anwendung verfolgten Absicht. Vgl. dazu Kapitel VIII.2.f., S. 1080 und1086.

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1110 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

Heydrichs veranlaßt worden war, den „zu milde" Verurteilten exekutieren zu lassen,scheute Gürtner davor zurück, dem Oberreichsanwalt bezüglich der Höhe seinesStrafantrags eine Weisung zu erteilen, da erst das Sachverständigengutachten über dasPubertätsstadium des Angeklagten die Grundlage für den Antrag abgeben sollte.73

Wenngleich die geschilderten Lenkungsmaßnahmen unter Gürtner die formalenBestimmungen der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes über dieWeisungsfreiheit des Richters nicht verletzten, stellten sie in der Realität einen erheb-lichen Eingriff in seine sachliche Unabhängigkeit dar. Wenn der formal in seiner Ent-scheidung freie Richter die ihm

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auf welchem Wege auch immer-

nahegebrachtenWünsche des Reichsjustizministeriums nicht erfüllte, mußte er nicht nur mit der Ein-legung eines Rechtsbehelfs gegen sein Urteil rechnen; er konnte bei Häufung entspre-chender Urteile auch dienstliche und persönliche Nachteile befürchten: ausbleibendeBeförderung, abträgliche Versetzung, im Kriege Einziehung zur Wehrmacht, im äu-ßersten Fall Verlust seiner Stellung. Mancher Richter dürfte deshalb aus menschlicherSchwäche der Versuchung nachgegeben haben, nicht aufzufallen, den Weg des gering-sten Widerstandes zu gehen und sich „anzupassen", obgleich er die Erfüllung der an

ihn gestellten Forderung aus innerer Überzeugung nicht bejahte. Diese Befürchtungenmußten in verstärktem Maße einsetzen, wenn dem Richter erkennbar wurde, daß hin-ter der „Meinung" des Justizministeriums der Wille hoher politischer Stellen oder garHitlers selbst stand. Ob Gürtner in denjenigen Fällen, bei denen Hitler unmittelbar imSpiele war, das Problem mit dem zuständigen Gerichtsvorsitzenden vor der Hauptver-handlung besprach oder besprechen ließ und damit auch schon eine Art „Vorschau"ausübte, ist aus den Akten nicht ersichtlich, bei der prekären Lage der Justiz gegen-über Hitler allerdings nicht auszuschließen. Wie die Fälle des erpresserischen Kinder-räubers vom Juni 1936 und der beiden Autofallenräuber vom Juni 1938

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bei denenHitler statt der voraussehbaren Zuchthausstrafe die Todesstrafe gefordert hatte

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zei-gen, wurde aber selbst in diesen Fällen die „Lenkung" des Richters nicht überdehnt:um das gewünschte Urteil zu erzielen, wurde vielmehr zum Mittel einer kasuistischenGesetzgebung, zum Erlaß rückwirkender

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auf den vorliegenden Tatbestand zuge-schnittener

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Spezialgesetze gegriffen, wobei dann-

wenn überhaupt-

nur noch de-ren rückwirkende Anwendung Gegenstand der „Lenkung" zu sein brauchte.74- In demnach Kriegsausbruch aufgetretenen, an anderer Stelle geschilderten Fall der zu Zucht-haus verurteilten „Teltower Sparkassenräuber"75 hätte allerdings

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wenn Hitler auf diepolizeiliche Exekution verzichtet hätte und der außerordentliche Einspruch eingelegtworden wäre

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die Verurteilung der beiden Angeklagten zu Sicherungsverwahrungkaum mehr in der „unabhängigen" Entscheidung des Gerichts gelegen, da sie Hitlervon Gürtner quasi bereits zugesagt worden war.

Abschließend sei daran erinnert, daß der Richter neben den hier behandelten Ein-wirkungen der Justizverwaltung zusätzlich noch den in anderem Zusammenhang dar-gestellten Einflußnahmen von Stellen außerhalb der Justiz auf schwebende Verfahrenausgesetzt war. Dazu gehörten die Drohung der Gestapo, einen Freigesprochenen

73 In der Bespr. mit dem OReiA hielt Gürtner trotz Heydrichs Standpunkt eine Zuchthausstrafe für das Äu-ßerste. Näheres s. Kapitel VIII.2.f, S. 1080.

7< Vgl. dazu Kapitel VII.3.d, S. 894 ff. und 897 ff.75 Zu Hitlers Intervention in diesem Fall vgl. Kapitel VI.6.a, S. 679 ff.

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3. Die „Lenkung der Rechtsprechung" durch die Justizverwaltung 1111

oder nur zu kurzer Freiheitsstrafe Verurteilten in Schutzhaft zu nehmen und ins Kon-zentrationslager zu bringen, genauso wie der Druck, den die örtliche Parteipresse aufden Richter ausüben konnte. Dazu gehörten aber auch die unmittelbaren Einwirkun-gen und Einschüchterungsversuche auf Mitglieder des Gerichts durch Parteistellen-

die bei Nichterfüllung ihrer Wünsche neben der Anwendung anderer Druckmittelauch auf die Personalangelegenheiten der beteiligten Richter Einfluß nehmen konn-ten -, bei deren Abwehr die Richter allerdings in der Regel die Unterstützung der Ju-stizverwaltung fanden.76 Diese Unterstützung wurde gelegentlich sogar gegen füh-rende Persönlichkeiten des Regimes wirksam, wie die Behandlung einer

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in diesemFalle nachträglichen

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Urteilskritik Görings zeigt, die eine Änderung der künftigenRechtsprechung in Heimtückesachen bezweckte: Als das Sondergericht Hannover ei-nen Angeklagten, der sich mißliebig über Göring geäußert hatte, mit der Begründungfreisprach, daß die

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im übrigen nicht sicher nachzuweisende - Äußerung nicht öf-fentlich gemacht worden sei, kritisierte Göring am 7. Dezember 1935 in einem Schrei-ben an den Gerichtsvorsitzenden die Auslegung des Begriffs „Öffentlichkeit" durchdas Gericht und beschuldigte den Vorsitzenden, daß dieser ganz offensichtlich nichtwünsche, „daß die heute führenden Männer in ihrer Ehre besonders geschützt" wür-den. Dieses Verhalten sei „weit staatsgefährlicher und staatsfeindlicher" als das desAngeklagten, und „lediglich die Tatsache, die Justizverwaltung nicht allgemein öffent-lich zu blamieren", halte ihn davon ab, den Richter „in Schutzhaft zu nehmen"(!). Ob-wohl der Gerichtsvorsitzende daraufhin ein Dienststrafverfahren gegen sich selbst be-antragte und um einstweilige Beurlaubung bat, lehnte die Justizverwaltung

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die diekorrekte Anwendung des Heimtückegesetzes durch das Gericht anerkannte - die Ein-leitung eines solchen Verfahrens ab und erreichte, daß Göring seine Vorwürfe förm-lich zurücknahm.77

Aus der Reaktion der Justizverwaltung gegen Einwirkungen von außen wird deut-lich, daß sie die „Lenkung der Rechtsprechung" als ihre ureigenste Domäne ansah.Auch wenn diese verwaltungsmäßige Steuerung in der Ära Gürtner, die als generelle„Lenkung" durch die Übermittlung von Richtlinien und gelegentliche nachträglicheUrteilskritik sowie als konkrete „Lenkung" des Einzelfalles vor der Hauptverhandlungmittelbar über die weisungsgebundene Staatsanwaltschaft, und offenbar nur in Son-derfällen unmittelbar durch die Mitteilung der Ansicht des Ministeriums an den Rich-ter auf dem Weg über seinen Dienstvorgesetzten in Erscheinung trat, noch zurück-haltend gehandhabt wurde, kann auch in diesem Zeitraum von einer sachlichen Un-abhängigkeit des Richters nicht mehr gesprochen werden78: nimmt man die zahlreich76 Vgl. z.B. die Versuche Gauleiter Mutschmanns, das LG Dresden im Hohnstein-Prozeß vom Mai 1935 zu

beeinflussen, und Gürtners Protest an den St. d. F. Heß (s. Kapitel IV.3, S. 370 ff.).77 Vgl. Sehr. Görings an LGDir. Brandmüller v. 7.12.35 (Diensttageb. des RJM, Bd. 6, Eintr. v. 9.12.35, BA,Sign. R 22/1089). Brandmüller wurde daraufhin am 20.12.35 von seinen Kollegen demonstrativ in das Prä-sidium des LG Hannover wiedergewählt, nicht jedoch der Gaugruppenwalter des BNSDJ, LGDir. undAltpg. E., was den Protest des Gauführers des BNSDJ und seinen Ber. an Hans Frank auslöste (a.a.O., Eintr.v. 30.12.35). Zur Bereinigung der Sache zwischen Göring und der JVerw. s. H. Schorn, Der Richter imDritten Reich, Frankfurt a.M. 1959, S.258Í.; H. Schmid, Erinnerungen aus den Jahren 1930 bis 1945, in:250 Jahre Oberlandesgericht Celle 1711-1961, Celle 1961, S. 106 f.

78 Nach rechtsstaatlichen Vorstellungen. D. Simon, Waren die NS-Richter „unabhängige Richter" im Sinnedes § 1 GVG? (Rechtshistorisches Journal 1985, S. 102 ff.), führt aus, die Richter seien „nach den damaligenVorstellungen von der Bedeutung des § 1 GVG" unabhängig gewesen, bezieht jedoch „verschiedene For-men des physischen [!] und psychischen Dirigismus" in diese Vorstellungen ein. Zur Beseitigung der per-sönlichen Unabhängigkeit s. Kapitel III.l.a., insbesondere S. 13Qff., 137, 161, 164f., und I.e., S. 191 f., 195ff.

Page 182: Justiz im Dritten Reich 1933-1940 (Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner) || VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane: Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen

1112 VIII. Erhöhung der Wirksamkeit der Rechtsprechungsorgane

möglichen Einwirkungen von Stellen außerhalb der Justiz hinzu, so arbeitete derRichter in einer Atmosphäre erheblichen psychologischen Druckes, der vielleicht imkonkreten Fall häufig von ihm nur subjektiv empfunden, aber deshalb nicht wenigerwirksam war. Entscheidend war nicht, daß die Richter im überwiegenden Bereich ih-rer Betätigung

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etwa bei allen Bagatellsachen-

nicht „gelenkt" wurden und ihre Un-abhängigkeit hier nicht angetastet wurde, sondern daß die Justizverwaltung in wichti-gen Fällen jederzeit von der „Lenkung" Gebrauch machen konnte. Neben der Gesetz-gebung auf den Gebieten des Strafrechts, der Gerichtsverfassung und des Strafverfah-rensrechts stellte die „Lenkung der Rechtsprechung" somit eines der wichtigsten In-strumente des Reichsjustizministeriums dar, um die Anpassung der Strafjustiz an dieBedürfnisse des nationalsozialistischen Regimes zu erreichen.