K u l t u r s p i e g e l Kempowski – der Plankton-Fischer

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Schon lange bevor das Internet es ermöglichte, hatte Walter Kempowski die Vision, dass sich jeder an seinem „Plankton“ beteiligen, eigene Erinnerungen aufschreiben und in den Fundus geben könnte. Dafür gibt es nun die Homepage www.kempowski-plankton.de. Carolin Krü- ger , Mitarbeiterin im Kempowski-Archiv Rostock, hat sich die Fragen, die dort gestellt werden, schon einmal angesehen. Dazu gehören „Erinnern Sie sich an Ihren ers- ten Kuss?“ oder „Haben Sie Erinnerungen an Ihre Groß- eltern?“. Die Antworten können in den „Plankton“-Pool eingegeben werden. Wer vor der etwas größeren Ausgabe nicht zurückschreckt, kann sich sein „Plankton“-Exemp- lar aber sogar mit den eigenen Antworten individualisie- ren lassen – und so quasi zum Co-Autor werden. ........................................................................................................................................................................................................................................................................................................................ Mit Fragen entlockte der Rostocker Schriftsteller den Menschen ihre Erinnerungen / Simone Neteler hat sie nun herausgegeben ROSTOCK Plankton das sind kleinste Lebewesen, die im Wasser von der Strömung hin- und hergetrieben wer- den. Es gibt sie in den unter- schiedlichsten Formen und Größen. Mit dem bloßen Au- ge sind sie kaum sichtbar. Doch ihre Bedeutung, gerade auch als Nahrungsquelle für Fische und andere Meeresle- bewesen, ist nicht zu unter- schätzen. Für Walter Kempowski war Plankton aber auch noch et- was anderes. So nannte er Er- innerungsfetzen. Fragmente, die einzeln betrachtet nur ei- ne sehr persönliche Bedeu- tung entfalten, die in der Masse jedoch ein schillern- des Bild ergeben. Wenn er „Plankton fischen“ ging, wie er es nannte, dann entlockte er Menschen mit gezielten, mal ganz banal wirkenden, dann wieder existenziellen Fragen diese Erinnerungen – und schrieb sie auf. Heute, am 85. Geburtstag des Schriftstellers, wird Kempowskis „Plankton. Ein kollektives Gedächtnis“ in Berlin präsentiert. Nach dem Tod des in Rostock gebore- nen Autors hat seine langjäh- rige Mitarbeiterin Simone Neteler Kempowskis Arbeit an der Erinnerungen-Samm- lung fortgesetzt. Nun liegt das Ergebnis vor, erschienen im Knaus Verlag. Noch zu seinen Lebzeiten hat Walter Kempowski einige seiner Projekte an seine Mit- arbeiter verteilt, damit sie diese fortführen. „,Plankton’ hat mich interessiert“, sagt Simone Neteler. Vor allem auch, weil sie es war, die zu- sammen mit Kempowski die Arbeit zu dessen Monumen- talprojekt „Echolot. Ein kol- lektives Tagebuch“ begon- nen hat. Zwischen beiden ge- be es viele Gemeinsamkei- ten, sagt die Herausgeberin von „Plankton“, aber natür- lich auch Unterschiede. „Das Material ist ein anderes. Wal- ter Kempowski hat für ,Plankton’ die Menschen auf- gefordert, sich konkret zu er- innern“, sagt Neteler. Beim „Echolot“ hingegen handelt es sich um von den Autoren selbst verschriftlichte Erin- nerungen, Dokumente, Brie- fe, Biografien – alle im zeitli- chen Rahmen des Zweiten Weltkrieges eingefasst. „Plankton fischen“ ging Kempowski hingegen über Jahrzehnte, angefangen in den 60ern. Simone Neteler hat den Fundus an Erinnerungen ge- sichtet, ergänzt und, so wie es Kempowski sich gewünscht hatte, per Zufallsprinzip an- geordnet. So steht im rund 800 Seiten starken Buch die Kindheitserinnerung der Lehrerin, Geburtsjahr 1935, neben der Reise-Anekdote des Schriftstellers, geboren 1931, während der Buch- händler, geboren 1951, vom Mauerfall berichtet. „Die Partikel sind ehrlich, schön erzählt, teilweise literarisch. Sie fangen Momente ein“, sagt Neteler. „So verschie- den, wie die Menschen sind, so sind auch ihre Antwor- ten“, fügt sie hinzu. Darüber hinaus zeigt „Plankton“ einmal mehr, wie avantgardistisch Kempowski als Schriftsteller war. Denn er hatte die Idee, das Projekt fortzuführen. Jeder sollte sich daran beteiligen können, eine Art demokratisches Er- zählen entstehen. Dank des Internets lässt sich diese Vi- sion des Autors heute umset- zen. Dort kann jeder, der sich erinnern möchte, seine Ge- danken mit in die Sammlung geben. „Ich finde die Vorstel- lung faszinierend, dass so im Internet ein neuer Plankton- See entsteht“, sagt Simone Neteler. Juliane Hinz Kempowski, Walter: „Plankton. Ein kollektives Gedächtnis“, Hrsg. v. Si- mone Neteler, Knaus Verlag, 829 S., Preis: 49,99 Euro; ISBN: 978-3- 8135-0513-9 Als sie 17 Jahre alt war , lernte Simone Neteler Walter Kempowski kennen. Sie wurde seine längste Mitarbeiterin. Jetzt hat die 48-Jäh- rige Kempowskis „Plankton“ herausgegeben. FOTO: PRIVAT FOTO: GEORG SCHARNWEBER Das Internet macht die Vision möglich Kunsthalle zeigt Malerei von Rolf Werner Kempowski – der Plankton-Fischer

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Schon lange bevor das Internet es ermöglichte, hatteWalter Kempowski die Vision, dass sich jeder an seinem„Plankton“ beteiligen, eigene Erinnerungen aufschreibenund in den Fundus geben könnte. Dafür gibt es nun dieHomepage www.kempowski-plankton.de. Carolin Krü-ger, Mitarbeiterin im Kempowski-Archiv Rostock, hatsich die Fragen, die dort gestellt werden, schon einmalangesehen. Dazu gehören „Erinnern Sie sich an Ihren ers-ten Kuss?“ oder „Haben Sie Erinnerungen an Ihre Groß-eltern?“. Die Antworten können in den „Plankton“-Pooleingegeben werden. Wer vor der etwas größeren Ausgabenicht zurückschreckt, kann sich sein „Plankton“-Exemp-lar aber sogar mit den eigenen Antworten individualisie-ren lassen – und so quasi zum Co-Autor werden.

Kultur

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GREIFSWALD Das skandi-navische Kulturfest „Nor-discher Klang“ holt zum23. Mal die moderneKunst Nordeuropas nachGreifswald. Für zehn Tagestehen vom 2. Mai an mehrals 40 Konzerte, Ausstel-lungen und Lesungen mitKünstlern aus Nordeuro-pa auf dem Festivalpro-gramm. Schwerpunktlandist in diesem Jahr Finn-land. Den Auftakt bildendie Uraufführung des sin-fonischen Jazz-Poems„Suomi“ (Finnland) vonHeikki Sarmanto und einKonzert der schwedi-schen Jazzgröße NilsLandgren.

Wiener Designin PillnitzDRESDEN Modernes De-sign aus Wien trifft in derersten Sonderschau derSaison (ab 1. Mai) auf diebarocke Architektur imDresdner Kunstgewerbe-museum im Schloss Pill-nitz. „Design Engaging theCity“ (bis 27. August) ver-eint Projekte, die in Zu-sammenarbeit der Werk-Stadt Vienna mit jungenDesignern entstanden.Die Objekte zeigten, wieDesign die lokale Indus-trie neu inspirieren könne.

Gema ehrtUdo Jürgens

MÜNCHEN DerMusikrechte-verwerterGema ehrt Udo

Jürgens (79). Der Sängerwird am 8. Mai in Berlinmit dem Musikautoren-preis für sein Lebenswerkausgezeichnet. „Als Kom-ponist und Textdichter istes Udo Jürgens gelungen,unvergessliche Melodienmit mal heiteren, malnachdenklichen und phi-losophischen Texten zuvereinen“, teilte die Gemagestern in München mit.Sein größter Verkaufshitwurde „Buenos dias, Ar-gentina“, die Hymne zurFußball-WM 1978.

Cannes-Jurysteht fest

CANNES Nachder Bekanntga-be der Wettbe-werbsfilme in

Cannes steht auch die Juryfest. Neben der US-ameri-kanischen Schauspielerinund Regisseurin SofiaCoppola (42) werden un-ter anderem auch WillemDafoe und der dänischeFilmregisseur und Dreh-buchautor Nicolas Win-ding Refn über die Gewin-ner der Goldenen Palmeentscheiden. Geleitet wirddie Jury des 67. Festivals(14. bis 25. Mai) von derneuseeländischen Regis-seurin Jane Campion (59).

ROSTOCK Zum ersten Malzeigt die Kunsthalle RostockWerke des Malers Rolf Wer-ner (1916-1989). Die Aus-stellung ist seit Sonntag imErdgeschoss des Museumszu sehen. Etwa 50 Arbeitendes gebürtigen Leipzigers,der später seine Wahlheimatauf Usedom fand, umfasstdie Schau.

Werners Arbeit wird oftmit der so genannten naivenMalerei verglichen, wovonder Künstler sich selbst aberdistanzierte. „Man könnte

seine Kunst vielleicht besserals unbekümmert beschrei-ben“, sagt Kurator Dr. UlrichPtak, der die ausgestelltenWerke auswählte. „Rolf Wer-ner stellt sozusagen eineselbst erfundene Welt dar.“

Die Ausstellung fungiereals dritte Facette und Ergän-zung zu den beiden bereitsvor Ostern eröffneten Aus-stellungen der KünstlerClaude Viallat und CatalinaPabón, erklärte Kunsthallen-direktor Dr. Uwe Neumannbei der Eröffnung. Eine Be-

Er wirkte auf Usedom und stellte Städte sowie Landschaften in seinen Bildern dar

sonderheit im Stil Rolf Wer-ners ist beispielsweise das re-lativ kleine Format der Bil-der. „Dadurch hat man beimBetrachten den Eindruck, ineine kleine Schatzkiste odereinen Guckkasten hineinzu-schauen, die Werke wirkendadurch wie etwas besondersKostbares. Hier und da ent-deckt man kleine Details, dieeinem bisher entgangen wa-ren“, so Ptak. ribiDieAusstellung läuft bis zum 15. Ju-ni und ist dienstags bis sonntags von11 bis 18 Uhr geöffnet.

Dr. Ulrich Ptak FOTO: NNN

Mit Fragen entlockte der Rostocker Schriftsteller den Menschen ihre Erinnerungen / Simone Neteler hat sie nun herausgegeben

ROSTOCK Plankton – dassind kleinste Lebewesen, dieim Wasser von der Strömunghin- und hergetrieben wer-den. Es gibt sie in den unter-schiedlichsten Formen undGrößen. Mit dem bloßen Au-ge sind sie kaum sichtbar.Doch ihre Bedeutung, geradeauch als Nahrungsquelle fürFische und andere Meeresle-bewesen, ist nicht zu unter-schätzen.

Für Walter Kempowski warPlankton aber auch noch et-was anderes. So nannte er Er-innerungsfetzen. Fragmente,die einzeln betrachtet nur ei-ne sehr persönliche Bedeu-tung entfalten, die in derMasse jedoch ein schillern-des Bild ergeben. Wenn er„Plankton fischen“ ging, wieer es nannte, dann entlockteer Menschen mit gezielten,mal ganz banal wirkenden,dann wieder existenziellenFragen diese Erinnerungen –und schrieb sie auf.

Heute, am 85. Geburtstagdes Schriftstellers, wirdKempowskis „Plankton. Einkollektives Gedächtnis“ inBerlin präsentiert. Nach demTod des in Rostock gebore-nen Autors hat seine langjäh-rige Mitarbeiterin SimoneNeteler Kempowskis Arbeitan der Erinnerungen-Samm-lung fortgesetzt. Nun liegtdas Ergebnis vor, erschienenim Knaus Verlag.

Noch zu seinen Lebzeitenhat Walter Kempowski einigeseiner Projekte an seine Mit-arbeiter verteilt, damit siediese fortführen. „,Plankton’hat mich interessiert“, sagtSimone Neteler. Vor allemauch, weil sie es war, die zu-sammen mit Kempowski dieArbeit zu dessen Monumen-talprojekt „Echolot. Ein kol-lektives Tagebuch“ begon-nen hat. Zwischen beiden ge-be es viele Gemeinsamkei-ten, sagt die Herausgeberinvon „Plankton“, aber natür-lich auch Unterschiede. „DasMaterial ist ein anderes. Wal-ter Kempowski hat für,Plankton’ die Menschen auf-gefordert, sich konkret zu er-innern“, sagt Neteler. Beim„Echolot“ hingegen handeltes sich um von den Autorenselbst verschriftlichte Erin-

nerungen, Dokumente, Brie-fe, Biografien – alle im zeitli-chen Rahmen des ZweitenWeltkrieges eingefasst.„Plankton fischen“ gingKempowski hingegen überJahrzehnte, angefangen inden 60ern.

Simone Neteler hat denFundus an Erinnerungen ge-sichtet, ergänzt und, so wie esKempowski sich gewünschthatte, per Zufallsprinzip an-

geordnet. So steht im rund800 Seiten starken Buch dieKindheitserinnerung derLehrerin, Geburtsjahr 1935,neben der Reise-Anekdotedes Schriftstellers, geboren1931, während der Buch-händler, geboren 1951, vomMauerfall berichtet. „DiePartikel sind ehrlich, schönerzählt, teilweise literarisch.Sie fangen Momente ein“,sagt Neteler. „So verschie-

den, wie die Menschen sind,so sind auch ihre Antwor-ten“, fügt sie hinzu.

Darüber hinaus zeigt„Plankton“ einmal mehr, wieavantgardistisch Kempowskials Schriftsteller war. Denn erhatte die Idee, das Projektfortzuführen. Jeder solltesich daran beteiligen können,eine Art demokratisches Er-zählen entstehen. Dank desInternets lässt sich diese Vi-

sion des Autors heute umset-zen. Dort kann jeder, der sicherinnern möchte, seine Ge-danken mit in die Sammlunggeben. „Ich finde die Vorstel-lung faszinierend, dass so imInternet ein neuer Plankton-See entsteht“, sagt SimoneNeteler. Juliane HinzKempowski, Walter: „Plankton. Einkollektives Gedächtnis“, Hrsg. v. Si-mone Neteler, Knaus Verlag, 829 S.,Preis: 49,99 Euro; ISBN: 978-3-8135-0513-9

Als sie 17 Jahre alt war, lernte Simone Neteler Walter Kempowskikennen. Sie wurde seine längste Mitarbeiterin. Jetzt hat die 48-Jäh-rige Kempowskis „Plankton“ herausgegeben. FOTO: PRIVAT

FOTO: GEORG SCHARNWEBER

DIENSTAG, 29. APRIL 2014 SEITE 14. ............................................................................................................................................................................................................................................................................................

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Das Internet machtdie Vision möglich

Kulturfest mitFinnenjazz

Kul tursp iege l

Kunsthalle zeigt Malerei von Rolf Werner

Kempowski – der Plankton-Fischer