Kant und die Berliner Aufklärung (Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. I:...

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Kants Suche nach einem Maßstab für die Scheinbarkeit Shuku Funaki, Trier Zu Beginn der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft grenzt Kant die Begriffe ,Schein' und Wahrscheinlichkeit' folgendermaßen voneinander ab: „Wir haben oben die Dialektik überhaupt eine Logik des Scheins genannt. Das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit; denn diese ist Wahrheit, aber durch unzureichende Gründe erkannt, deren Erkenntnis also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trüglich ist, und mithin von dem analytischen Teile der Logik nicht getrennt werden muß [= darf]" (Β 349 1 ). Hier stellt Kant dem Schein die Wahrscheinlichkeit als eine bestimmte Art der Wahrheit gegenüber. Diese auf den ersten Blick klare Trennung ist jedoch keinesfalls selbstverständlich. Ihr liegt die Unterschei- dung von ,Scheinbarkeit' und Wahrscheinlichkeit' zugrunde. Im Kontext der Unterscheidung tritt der Begriff der partialen Wahrheit auf, welche der Sache nach in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema in der Erforschung der deutschen Aufklärung geworden ist. Die meisten Autoren der deutschen Aufklärung sehen ,Irrtum', ,Wahn', ,Überredung', ,Faulheit', ,Neigung' und ,Vorurteil' als Elemente an, die die Gewissheit der Erkenntnis bedrohen. Ihre Abgrenzung von der Wahrscheinlichkeit und ihre Bekämpfung nimmt in ihren Wahrscheinlichkeitslehren einen wichtigen Platz ein. Um die Aussage des zu Beginn angeführten Zitates ganz zu verstehen, ist es erforderlich, Kants müh- sames Ringen mit der Philosophie der deutschen Aufklärung nachzuvollzie- hen. Hierbei soll in fünf Schritten vorgegangen werden. 1. Kants Bemerkungen zu Georg Friedrich Meiers Begriff der ,partialen Wahrheit' 2. Wolffs Unterscheidung zwischen ,Meinung' und ,Überredung' (falschem ,Wahn') 3. Meiers Unterscheidung zwischen ,Meinung' und ,Überredung'. Seine Auseinandersetzung mit dem Wölfischen Begriff ,Wahn' Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Ausgabe von W. Weischedel, Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Darmstadt 6 1983 ('1956-1964) zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgabe der zweiten (B) Auflage. Kants Nachlass- reflexionen und Vorlesungsnachschriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (und Nachfolgern) zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen bzw. in petit die Zeilenzahlen dieser Ausgabe. Der Datierung der verschiedenen Logikvorlesungen wurden die Bände 3, 5, 6 u. 14 des Kant-Indexes von Norbert Hinske (= Forschungen und Materialien zur deutschen Außlärung [= FMDA], Abt. 3, Bd. 7, 9, 10 u. 18), Stuttgart-Bad Cannstatt 1989-1999 zugrunde gelegt. Brought to you by | National Dong Hwa University Authenticated | 134.208.103.160 Download Date | 3/27/14 9:26 AM

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Kants Suche nach einem Maßstab für die Scheinbarkeit

Shuku Funaki, Trier

Zu Beginn der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft grenzt Kant die Begriffe ,Schein' und Wahrscheinlichkeit' folgendermaßen voneinander ab: „Wir haben oben die Dialektik überhaupt eine Logik des Scheins genannt. Das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit; denn diese ist Wahrheit, aber durch unzureichende Gründe erkannt, deren Erkenntnis also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trüglich ist, und mithin von dem analytischen Teile der Logik nicht getrennt werden muß [= darf]" (Β 3491). Hier stellt Kant dem Schein die Wahrscheinlichkeit als eine bestimmte Art der Wahrheit gegenüber. Diese auf den ersten Blick klare Trennung ist jedoch keinesfalls selbstverständlich. Ihr liegt die Unterschei-dung von ,Scheinbarkeit' und Wahrscheinlichkeit' zugrunde. Im Kontext der Unterscheidung tritt der Begriff der partialen Wahrheit auf, welche der Sache nach in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema in der Erforschung der deutschen Aufklärung geworden ist. Die meisten Autoren der deutschen Aufklärung sehen ,Irrtum', ,Wahn', ,Überredung', ,Faulheit', ,Neigung' und ,Vorurteil' als Elemente an, die die Gewissheit der Erkenntnis bedrohen. Ihre Abgrenzung von der Wahrscheinlichkeit und ihre Bekämpfung nimmt in ihren Wahrscheinlichkeitslehren einen wichtigen Platz ein. Um die Aussage des zu Beginn angeführten Zitates ganz zu verstehen, ist es erforderlich, Kants müh-sames Ringen mit der Philosophie der deutschen Aufklärung nachzuvollzie-hen. Hierbei soll in fünf Schritten vorgegangen werden.

1. Kants Bemerkungen zu Georg Friedrich Meiers Begriff der ,partialen Wahrheit'

2. Wolffs Unterscheidung zwischen ,Meinung' und ,Überredung' (falschem ,Wahn')

3. Meiers Unterscheidung zwischen ,Meinung' und ,Überredung'. Seine Auseinandersetzung mit dem Wölfischen Begriff ,Wahn'

Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Ausgabe von W. Weischedel, Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Darmstadt 6 1983 ( '1956-1964) zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgabe der zweiten (B) Auflage. Kants Nachlass-reflexionen und Vorlesungsnachschriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (und Nachfolgern) zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen bzw. in petit die Zeilenzahlen dieser Ausgabe. Der Datierung der verschiedenen Logikvorlesungen wurden die Bände 3, 5, 6 u. 14 des Kant-Indexes von Norbert Hinske (= Forschungen und Materialien zur deutschen Außlärung [= FMDA], Abt. 3, Bd. 7, 9, 10 u. 18), Stuttgart-Bad Cannstatt 1989-1999 zugrunde gelegt.

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4. Die Begriffe .Meinung' und ,Überredung' zu Beginn der siebziger Jahre. Kants Auseinandersetzung mit Meier

5. Die klare Gegenüberstellung von praktisch hinreichender ,Überzeugung' und bloßer ,Überredung' im Zeitraum des Erscheinens der Kritik der reinen Vernunft.

1. Kants Bemerkungen zu Georg Friedrich Meiers Begriff der ,partialen Wahrheit'

Innerhalb der Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses zu Georg Fried-rich Meiers Auszug aus der Vernunftlehre (1752)2 tritt in der Reflexion 2209 eine terminologische Unterscheidung der ,probabilitas' von der ,verisimilitudo' auf (vgl. XVI 2724_5). Diese Reflexion ist nach der Datierung von Adickes zwischen 1773 und 1778 entstanden. Diese vorläufige Datierung bedarf einer weiteren Untersuchung. Die Reflexion nimmt den Angaben von Adickes zu-folge auf die Paragraphen 100 und 101 von Meiers Auszug aus der Vernunft-lehre Bezug. Paragraph 100 behandelt vorwiegend die Begriffe ,veritas et falsitas partialis', ,partíale Wahrheit oder Falschheit'; demnach haben viele unserer Erkenntnisse eine zum Teil wahre, zum Teil aber auch falsche Seite.3

In vielen Fällen der menschlichen Erkenntnis sei daher Vorsicht geboten: Auch wenn ,in einer Erkenntniß' ,viel Wahres' enthalten sei, dürfe sie deshalb doch nicht für ,ganz wahr' gehalten werden; ebenso nicht für ganz,falsch', obwohl in ihr ,viel Falsches' vorzufinden sei.4 Paragraph 100 behandelt der Sache nach die Frage der Eklektik. Dieser Begriff, der in der deutschen Frühauf-klärung in einem positiven Sinn verwendet wurde, ist in den letzten Jahren vor allem bei der Betrachtung von Kants Idee der allgemeinen Menschenvernunft zu einem zentralen Thema in der Erforschung der deutschen Aufklärung geworden.5 In diesem Zusammenhang stellt Kant in der Reflexion 2209 deut-lich die ,probabilitas' als eine bestimmte Art der partialen Wahrheit der

2 Vgl. Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, Halle Ί 7 5 2 [Wiederabgedruckt in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissen-schaften, Bd. XVI, Berlin u. Leipzig 2 1924 ( Ί 9 1 4 ) ] .

3 Vgl. Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 2), § 100, S. 25 [XVI 2633 7 .3 8]; ders., Vernunftlehre, Halle 1752, § 128, S. 140.

4 Vgl. Meieç Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 3), § 128, S. 140 f. S. a. ders., Auszug aus der Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 2), S 100, S. 25 [XVI 2633 8-2642 é .2 7].

5 Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, S. 36 ff.; ders., Artikel .Aufklärung' in: Staatslexikon, hrsg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. 1, Freiburg, Basel u. Wien 7 1985, Sp. 394 u. 398; ders., Eklektik, Selbstdenken, Mündig-keit - drei verschiedene Formulierungen einer und derselben Programmidee, in: Aufklärung, 1.1 (1986), S. 6; ders., Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Raffaele Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung, Stuttgart 1990, S. 4 1 7 ff.; ders., Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus (= FMDA, Abt. 2, Bd. 13), Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 83 f. S. a. Michael Albrecht, Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte (= Quaestiones. Themen und Gestalten der Philo-sophie, 5), Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 307-455 .

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,verisimilitude)' als ,Schein' gegenüber (vgl. XVI 2724_s). Dies legt die Vermu-tung nahe, dass sich die - wenn auch nur teilweise wahren - Gedanken bei der ,probabilitas' in einem Prozess Schritt für Schritt dem Ganzen der Wahrheit annähern.

2. Wolffs Unterscheidung zwischen ,Meinung' und ,Überredung' (falschem ,Wahn')

Kant ordnet in der Logik Blomberg bald nach 1770 die ,Überredung' nicht der Wahrscheinlichkeit', sondern der ,Scheinbarkeit' zu: „Das Urtheil nach dem Maaße der Wahrscheinlichkeit ist keine Überredung sonderen das Urtheil aus der blosen Scheinbahrkeit" (XXIV 14337.39). Sodann findet sich die Ge-genüberstellung von ,Meinung' und ,Überredung' gemäß Meier: „In diesem Paragrapho [= § 181] redet der Autor von einer Meinung überhaupt, sie ist aber der Überredung contradistinguiret" (XXIV 21816.17). Es erleichtert wohl die Unterscheidung zwischen ,scheinbar' und .wahrscheinlich', die Begriffe ,Meinung' und ,Überredung' zu analysieren. Dabei sind zunächst die histori-schen Vorlagen für Kants Äußerungen in Betracht zu ziehen.

In der Deutschen Logik von 1713 nennt Wolff „eine Ueberredung" „einen falschen Wahn".6 Zur Vermeidung des Wahns stellt Wolff vor allem die ,Mathematick' als Vorbild hin, welche in der Lage sei, die Remonstrierte Wahrheit' aufzuzeigen.7 In der Deutschen Metaphysik von 1720 unterschei-det Wolff zwischen ,Meinung' und ,Wahn' folgendermaßen: „[...] wer eine Meinung hat, der erkennet es, daß ihm noch zu völliger Gewißheit etwas fehlet; wer aber einen Wahn hat, erkennet es nicht".8 Ferner warnt Wolff in den Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik von 1724 im Kontext der Unterscheidung der Gewissheit vom Wahn davor, auf einer Meinung hartnäk-kig zu beharren: „Unterweilen erkennen auch wohl einige, daß sie keine Gewißheit haben, aber sie wollen nur dafür angesehen seyn, und geben es mit dem Munde anders vor, als sie es bey sich befinden. Und dieses sind die Hartnäckigen, mit denen kein Auskommen ist."9 In Wolffs Behandlung von Meinungen, insbesondere philosophischen Hypothesen als einer Art der

6 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit, Halle I41754 (Ί713) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. v. Jean École u. a., Abt. 1, Bd. 1, Hildesheim u. New York 1965], Kap. 13, § 13, S. 235.

7 Vgl. ebd. Kap. 13, § 14, S. 236. 8 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen,

auch allen Dingen überhaupt, Hal le n 1751 (Ί720) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, a.a.O. (wie Anm. 6), Abt. 1, Bd. 2, Hildesheim, Zürich u. New York 1983], § 394, S. 240.

9 Christian Wolff, Der vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Men-schen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Τheil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen, Frankfurt a.M. 41740 (Ί724) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, a.a.O. (wie Anm. 6), Abt. 1, Bd. 3, Hildesheim, Zürich u. New York 1983], § 125, S. 199 f.; vgl. ebd. §§ 123 u. 124, S. 197 ff.

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Meinung,10 spiegelt sich seine Absicht wider, die mathematische Methode auf das Wahrscheinliche anzuwenden. Im Paragraphen 139 des Discursus prae-litninaris von 1728, der von der „Identitas methodi philosophicae & mathe-maticae"11 handelt, betont Wolff die Wichtigkeit einer ununterbrochenen Untersuchung, damit Hypothesen, die vorläufig aufgestellt werden, einmal zur sicheren Erkenntnis der Wahrheit hinführen.12 Wolff war wohl bemüht, anhand der Gegenüberstellung von Meinungen, insbesondere philosophischen Hypothesen, und dem Wahn die jeweils unterschiedlichen praktischen Kon-sequenzen zu verdeutlichen: Bei den ersteren wird die Forschung, die mit dem Bewusstsein der Ungewissheit verbunden ist, solange weitergeführt, bis die Erkenntnis zur völligen Gewissheit gelangt, wogegen bei dem letzteren wegen der Einbildung der Gewissheit keine weitere Untersuchung stattfindet. Die Zielsetzung, Wahrscheinlichkeit in Gewissheit zu überführen, ist für Wolff wohl ein unentbehrlicher Bestandteil der Mathematisierung des Wahrschein-lichen. Die Sicherung der Prämissen stellt eine wichtige Aufgabe der mathe-matischen Methode dar.13

3. Meiers Unterscheidung zwischen ,Meinung' und ,Überredung'. Seine Auseinandersetzung mit dem Wolff sehen Begriff, Wahn'

Meier trennt im Auszug aus der Vernunftlehre in Übereinstimmung mit der Wölfischen Unterscheidung von Meinung und Wahn14 zwischen Meinung und Überredung. Erstere definiert er folgendermaßen: „Eine Meinung (opinio) ist eine jedwede ungewisse Erkenntniss, in so ferne wir sie annehmen, und zu-gleich erkennen, dass sie nicht gewiss sei".15 Hingegen sei der „Irrthum, durch welchen wir überzeugt zu sein uns einbilden, da [= während] wir doch nicht überzeugt sind, [...] Überredung im bösen Verstände [...] (persuasio malo

10 Vgl. Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur discursus praeliminaris de philosophia in genere, 3 Bde., Frankfurt a.M. u. Leipzig 3 1740 ( Ί 7 2 8 ) [Neudruck: Christian Wolff, Gesam-melte Werke, a.a.O. (wie Anm. 6), Abt. 2, Bd. 1, Hildesheim, Zürich u. New York 1983], § 606, S. 448: „[.. .] hypotheses philosophicae probatione sufficiente destituuntur, atque in numerum opinionum referendae [ . . . ]" .

11 Ebd. § 139, S. 69 (Marginalie). 12 Vgl. ebd. § 139, S. 70 (Scholion): „Si non ubivis statim voto respondeat eventus, hypotheses

tantisper admittimus continuata industria emendandas, donee tandem veritate liquida, quam quaerimus, potiamur."

13 Die mathematische Methode fußt auf drei Hauptbestandteilen: präzise Erklärung der Begrif-fe, strenge Durchführung der Beweise und sorgfältige Absicherung der Prämissen. Vgl. Chri-stian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben, Frankfurt a.M. 2 1 7 3 3 ( Ί 7 2 6 ) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, a.a.O. (wie Anm. 6), Abt. 1, Bd. 9, Hildesheim u. New York 1973], § 25, S. 61 f. S. a. Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik, a.a.O. (wie Anm. 5), S. 109.

14 Vgl. oben 2. 15 Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 2), § 181, S. 51 [XIV 46122.24]; vgl.

ders., Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 3), § 213, S. 2 9 9 f.

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significatu)".16 Bei der Betrachtung der ,gelehrten Meinungen' warnt Meier ferner in der großen Vernunftlehre ähnlich wie Wolff17 vor ,Hartnäckigkeit' oder ,Rechthaberey'.18 Auch findet sich bei Meier wie bei Wolff19 die Behaup-tung, dass die .Wahrscheinlichkeit' durch die stetige Untersuchung schließlich zur ,Gewißheit' werden muss.20 Sodann empfiehlt er ähnlich wie Wolff,21 der ,Mathematic' gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, die als Vorbild diene, um ein bestimmtes,Gefühl' zur Unterscheidung zwischen Meinung und Über-redung im bösen Sinn' zu gewinnen.22

Der „Ueberredung im bösen Verstände" stellt Meier jedoch die Überre-dung „im guten Verstände", die in der Ästhetik behandelt wird, gegenüber.23

Hier liegt ein wirklicher Unterschied zu Wolff voi; bei dem sich eine solche Unterscheidung nicht findet.24 In den Anfangsgründen aller schönen Wissen-schaften ( 1748-1750) nennt Meier „die aesthetische Gewisheit", d. h. die ,lebhafte Erkenntnis der ästhetischen Wahrscheinlichkeit', „die aesthetische Ueberredung im guten Verstände (persuasio aesthetica bono significatu)".25

Er stellt die Wirkung der .ästhetischen Überredung' am Beispiel der Reden Ciceros dar: „Diese Reden [= die Reden Ciceros] gleichen einem gewaltigen Strome, welcher alles mit sich fortreißt. Die Gemüther werden erobert, und durch eine Art einer Gewaltthätigkeit genöthiget dem Vortrage dieses grossen Redners Beyfal zu geben".26 Hier wird eine positive Seite der Überredung

" Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 2), § 184, S. 52 [XIV 47325.27]; vgl. ders., Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 3), § 216, S. 309.

17 Vgl. oben 2. 18 Vgl. Meier, Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 3), § 215, S. 306. 19 Vgl. oben 2. 20 Vgl. Meier, Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 3), § 215, S. 307 f. 21 Vgl. oben 2. 22 Vgl. Meier, Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 3), § 216, S. 310 f. 23 Ebd. § 216, S. 309. 24 Die Unterscheidung lässt sich möglicherweise auf Baumgartens Unterscheidung zwischen

,persuasio vera' und ,persuasio falsa' zurückführen; vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 2 Tie., Frankfurt an der Oder, 1750-1758 [Neudruck in einem Band: Hildesheim u. New York 2 1970 (11961)], § 832, S. 571: „Haec indistincta veritatis conscientia est, quemadmodum omnis cognitio, vel vera, vera persuasio, [...] vel falsa, falsa persuasio." S. a. ebd. §§ 831 u. 833, S. 571 f.

25 Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, 3 Bde., Halle 21754-1759 ( Ί 7 4 8 - 1 7 5 0 ) [Neudruck: Hildesheim u. New York 1976 (= Documenta Linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts, Reihe 5: Deutsche Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts)], Bd. 1, § 151, S. 352. Meier verwendet in den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften, a.a.O. Bd. 1, § 95, S. 202 für die .aesthetische Wahrscheinlichkeit' das lateinische Wort .verisimilitudo aesthetica': „[.. .] ja da die Erfahrung lehrt, daß die allermeisten Gedanken aller derer, die schön denken, nur wahrscheinlich sind; so wird die aesthetische Wahrheit überhaupt, eine aesthetische Wahrscheinlichkeit genent (verisimilitudo aesthetica [. . .])". Vgl. Baumgarten, Aesthetica, a.a.O. (wie Anm. 24), ξ 483, S. 309: „Est ergo Veritas aesthetica [...] a potiori dicta VERISIMILITVDO [. . .]" . Kant ge-braucht jedoch in der Logik Philippi ein Beispiel aus der Dichtkunst für eine Erklärung des Begriffs .scheinbar': „Objektive Gründe des Vorwahrhaltens, da sie im Objekt sind gelten für alle. Die Scheinbarkeit gilt nur für einzele Subjekte. Scheinbar ist es immer, daß der Mensch nach dem Tode vergehen wird. Die Poeten stellen es daher auch so vor" (XXIV 43617_30).

26 Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, a.a.O. (wie Anm. 25), Bd. 1, § 151, S. 352.

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aufgezeigt, welche sich in der starken Wirkung der ästhetischen Gedanken auf ein Subjekt äußert.

In den Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts (1766), deren Vorurteilsanalyse eine der vortrefflichsten der deut-schen Aufklärung ist, räumt Meier ein, dass das Vorurteil ,der Sekte und des Lehrgebäudes'27 sich als .Grundsatz'28 für die Wahrscheinlichkeit, insbeson-dere für die .ästhetische Wahrscheinlichkeit', sowie für die .Überredung', verwenden lässt: „Das Vorurtheil also, was ich jetzo untersuche, ist ein Grund-satz, den man in der Vernunftlehre des Wahrscheinlichen, und bey aller aesthetischen Wahrscheinlichkeit und Ueberredung, vortreflich brauchen kann".29 Im Anschluss daran warnt Meier zugleich vor dem .gefährlichen Vorurteil', das Wahrscheinliche aus Übereilung für wahr zu halten.30 Es sei .gefährlich', „weil die allerwahrscheinlichsten Dinge falsch seyn können".31

Seine differenzierte, nicht rein negative Konzeption des Vorurteils ermöglicht es Meier wohl, das Vorurteil auf das Wahrscheinliche anzuwenden.

4. Die Begriffe Meinung' und , Überredung' zu Beginn der siebziger Jahre. Kants Auseinandersetzung mit Meier

Bei Kant findet sich zunächst in der Logik Blomberg die Gegenüberstellung von .Meinung' und .Überredung', die den Ausführungen Meiers32 entspricht (vgl. XXIV 218 17_2o)·33 Bei der Betrachtung der Hypothesen als .einer ganz besonderen Art der philosophischen Meinungen' (vgl. XXIV 220i_2) warnt Kant wie auch Wolff und Meier34 vor der Hartnäckigkeit, mit der manche an einer Hypothese festhalten (vgl. XXIV 2241115). Kant betont jedoch die irrige Seite der .Überredung' nicht nur im .Logischen' Sinn, sondern auch im .Aesthetischen' Sinn (vgl. XXIV 22710.12). Darin spiegelt sich wohl Kants Auffassung von der ästhetischen Gewissheit im damaligen Zeitraum wider. Eine ästhetische Gewissheit zeigt sich insbesondere darin, dass man das .Gegentheil' seiner Meinung aus bloßer Gewohnheit und Bequemlichkeit für .unmöglich hält' (vgl. XXIV 19 823.25)· Als Beispiel nennt Kant die Religion

27 Vgl. Georg Friedrich Meiei; Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, Halle 1766, S 24, S. 49. S. a. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteils-kritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie (= FMDA, Abt. 2, Bd. 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 218 f.

28 Das Vorurteil als Grundsatz lautet: „[. . .] was unserer gesamten vorhergehenden Erkenntniß, die wir für wahr halten, gemäß ist, und aus derselben hergeleitet werden kan, ist wahr [ . . . ] " (Meier, Beyträge, a.a.O. [wie Anm. 27], § 21. S. 43) . Vgl. Schneiders, Aufklärung und Vor-urteilskritik, a.a.O. (wie Anm. 27), S. 218.

25 Meiern Beyträge, a.a.O. (wie Anm. 27), § 23, S. 47. Vgl. ders., Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, a.a.O. (wie Anm. 25), Bd. 1, § 174, S. 411. S. a. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik, a.a.O. (wie Anm. 27), S. 219.

30 Vgl. Meier, Beyträge, a.a.O. (wie Anm. 27), § 23, S. 48. 31 Ebd. Vgl. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik, a.a.O. (wie Anm. 27), S. 219. 32 Vgl. oben 3. 33 S. a. Logik Blomberg XXIV 2263 3 .3 5 ; Logik Philippi XXIV 4391 2 .1 4 . 34 Vgl. oben 2. u. 3.

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und den Glauben an ein Leben nach dem Tod (vgl. X X I V 1982J.27). Dabei wird das Problem des Irrtums der Überredung primär zum Gegenstand der Anthro-pologie. Ein ähnlicher Ansatz findet sich auch bei Christian August Crusius. Es gibt Fälle, in denen eine Meinung zu einer Frage davon abhängt, ob sie überhaupt einer Neigung des Willens entspricht. Es kann sein, dass die Erfor-schung eines Gedankens nur wegen des Gefühls der Abscheu abgelehnt wird.35

Kant konnte sich vermutlich wie Crusius am Anfang der siebziger Jahre angesichts der irrigen Seite der Überredung nicht mit der Warnung vor der Hartnäckigkeit begnügen, sondern wollte den Zustand des menschlichen Wollens bei der Überredung noch deutlicher darstellen. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Überredung und Überzeugung schätzt auch Kant wie Meier36 den Nutzen der ,Mathematic' hoch, da sie dazu beitrage, eine ,Empfindung' von dem hervorzubringen, was „zur wahren Überzeugung" gehört (XXIV 1463 1 .35).37 Ferner betont er, wie wichtig es ist, die Dinge aus der gegnerischen Perspektive zu betrachten.38 Im Kontext der ,Scheinbarkeit' verwendet Kant diese Maxime vor allem für die Schaffung eines Bewusstseins von der ,Ungewißheit' der Erkenntnis: „Bey der Scheinbahrkeit ist wircklich ein Irrthum anzutreffen, und zwar in der Form, da man sich nemlich der unzureichenden Gründe nicht Bewust ist. Die erste Regel ist also: bey allen, auch selbst bey wahren Erkenntnißen suche man zu allererst der ungewißheit Bewußt zu werden, die aus den unzureichenden Gründen entstehet, und je entstehen könnte, man stelle sich also gleichsam in die Situation des gegners [ . . . ]" (XXIV 19420. 26). An Meiers Behandlung von ,Überredung' und Über-zeugung' kritisiert Kant das Fehlen geeigneter Unterscheidungskriterien zwi-schen den beiden Begriffen (vgl. X X I V 22 627.32). Bei Meier wird, wie bereits ausgeführt, die Nützlichkeit des Vorurteils für die ästhetische Wahrscheinlich-keit sowie für die Überredung in den Vordergrund gestellt. Zwar findet sich zugleich die Warnung vor einem gefährlichen Vorurteil, doch diese Warnung beschränkt sich auf die Forderung, das logisch Ungewisse nicht für logisch gewiss zu halten.39 Die logische Gewissheit stellt also auch einen Maßstab für

35 Crusius sieht in seinem Werk Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden, Leipzig 1744 [Neudruck: Christian Au-gust Crusius, Die philosophischen Hauptwerke, hrsg. v. Giorgio Tonelli u. a., Bd. 1, Hildes-heim 1969], § 100, S. 120 einen möglicherweise schädlichen Einfluss eines,Triebs' oder einer .Begierde' auf unseren Verstand: „Es entdecket sich auch hieraus der Grund, warum ein Trieb veranlassen könne, daß man etwas leichte glaubt, und eine Sache nur auf derjenigen Seite betrachtet, welche unserer Neigung gemäß ist. Denn die Vorstellung des Gegentheils verab-scheuen wir. So lange wir dahero nach einer Begierde einmahl handeln [...], so verhindern wir die verdrießlichen Gegenvorstellungen." S. a. ebd. § 259, S. 315.

36 Vgl. oben 3. 37 Vgl. Logik Philippi XXIV 439, 38 Diese Verhaltungsregel, die als ein äußeres Kriterium der Wahrheit dient, lässt sich aus der

Idee des Pluralismus und aus der Idee der allgemeinen Menschenvernunft, insbesondere aus Kants zugespitzter These von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums, herleiten. Vgl. Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, a.a.O. (wie Anm. 5), bes. S. 62; ders., Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik, a.a.O. (wie Anm. 5), S. 88 f.

39 Vgl. oben 3.

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20 Shuku Funaki

die Überredung dar. Kants Äußerungen erlauben den Schluss, dass er am Anfang der siebziger Jahre die Elemente, die für Meier zur Wahrscheinlichkeit gehören, der Scheinbarkeit zuordnet40 und in ihr immer mehr die Gefahr sieht, in bloße Überredung abzugleiten; dabei empfindet er jedoch die Schwierig-keit, im Bereich der Scheinbarkeit ein treffendes Abgrenzungskriterium zu finden.41 Was die Auswirkung auf ein Subjekt betrifft, wirkt nämlich die Überredung ebenso stark wie die Überzeugung.42

5. Die klare Gegenüberstellung von praktisch hinreichender ,Überzeugung' und bloßer ,Überredung' im Zeitraum des Erscheinens der

Kritik der reinen Vernunft

In der Logik Pölitz, die in etwa zeitgleich mit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft entstanden sein dürfte, findet sich eine Parallelstelle zur Re-flexion 2209: „Wahrscheinlichkeit ist eine partiale Wahrheit. Schein ist der Wahrheit entgegen gesetzt aber nicht Wahrscheinlichkeit" (XXIV 5 0 7 2 3 . 2 4 ) · Dies legt als Entstehungszeitraum der Reflexion den Anfang der achtziger Jahre nahe. In dieser Logiknachschrift übersetzt Kant das Wort .verisimi-litudo' mit .scheinbar' in Abgrenzung zur ,probabilitas', die zur Wahrheit gehört (vgl. XXIV 55627_29). Darüber hinaus tritt die Gegenüberstellung von praktisch hinreichender ,Überzeugung' und ästhetischer ,Überredung' in den Vordergrund (vgl. XXIV 54220 .25 ). Hier stellt Kant der Überredung also nicht nur die logisch hinreichende Überzeugung, sondern auch die praktisch hinrei-chende Überzeugung gegenüber.

Ferner findet sich in der Wiener Logik, die mehr oder minder zeitgleich mit der Logik Pölitz entstanden ist, ein bemerkenswerter Vorschlag zur Unter-scheidung zwischen Überredung und Überzeugung. Kant empfiehlt nämlich die ,Wette' als Mittel zur Unterscheidung: „Die Wette ist ein Versuch, durch den man probirt, ob der Andere das, was er glaubt, auch mit festem Glauben für wahr halte und wisse. [...] Oft will man nur einen Dukaten wetten. Zwey schrecken schon Manchen von der Wette ab" (XXIV 85237-8533).

Kant verwendet in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, und zwar im zweiten Hauptstück, also im „Kanon der reinen Vernunft", zuerst das ,äußerliche' Kriterium der Wahrheit als Unterscheidungsmoment zwi-schen .Überzeugung' und .Überredung' (vgl. Β 848). Der .Versuch' der Mit-teilung diene zwar zur Aufdeckung .bloßer Überredung', trage aber nicht zur Schaffung von .Überzeugung' bei (vgl. Β 849). Scheidet das äußerliche Krite-

40 Vgl. oben Anm. 25. Als .scheinbar' betrachtet Kant in der Logik Blomberg ζ. B. den noch ganz am Anfang befindlichen Erkenntnisstand der Frage nach der Existenz von Leben auf dem Mond (vgl. XXIV 196 31-39)· Hingegen hält Meier die Erkenntnis eines Lebewesens auf dem Mond für wahrscheinlich. Vgl. Meier, Auszugaus der Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 2), § 171, S. 48 [XIV 42823.2J]; ders., Vernunftlehre, a.a.O. (wie Anm. 3), S 203, S. 281.

41 Vgl. Logik Blomberg XXIV 1465.7 u. 21826.27. 42 Vgl. ebd. XXIV 146 1 3 : „In einem Subject ist der Zustand einerley, ob die Erkenntniß [...] nur

eine Überredung, oder [...] eine Überzeugung sey [. . .]".

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Kants Suche nach einem Maßstab für die Scheinbarkeit 21

rium aus, so verweist Kant auch hier auf die Wette: „Der gewöhnliche Probierstein: ob etwas bloße Überredung, oder wenigstens subjektive Über-zeugung, d. i. festes Glauben sei, was jemand behauptet, ist das Wetten. [...] Bisweilen zeigt sich, dass er zwar Überredung genug, die auf einen Dukaten an Wert geschätzt werden kann, aber nicht auf zehn, besitze" (vgl. Β 852).43

Insbesondere die Wette um „das Glück des ganzen Lebens" (B 853) schlägt die Einbildung der Menschen nieder und bringt ihnen ihre Ungewissheit zum Bewusstsein. Denn erst die Wette um alle Vorteile des Lebens bringt Menschen in eine Dimension, in der sie sich ernsthaft mit Ja oder Nein auseinandersetzen müssen. Kant erkennt zugleich die Existenz einer Überzeugung an, die auch bei der Wette im extremen Fall nicht wankend ist (vgl. Β 855 f.), nämlich die auf »moralischer Gesinnung' beruhende .Überzeugung' (vgl. Β 857).

Im Ergebnis liegt es nahe, dass die Suche nach einem Maßstab für den Bereich der Scheinbarkeit zur Entwicklung der Unterscheidung zwischen Scheinbarkeit und Wahrscheinlichkeit beigetragen haben wird. Der Maßstab betrifft nicht nur die Logik, sondern, vielleicht in noch stärkerem Maße, die Anthropologie. Kant sah in seinen Bildungsjahren einerseits die Bedeutung, andererseits aber auch die Unzulänglichkeit mancher Elemente der Wölfischen und Wolffianischen Wahrscheinlichkeitstheorie, wie ζ. B. der Warnung vor Hartnäckigkeit, der Anlehnung an die Mathematik als Vorbild sowie des Maßstabs der logischen Gewissheit. Etwa im Zeitraum des Erscheinens der Kritik der reinen Vernunft tritt die Unterscheidung der Scheinbarkeit als Schein von der Wahrscheinlichkeit, die als Teil der Wahrheit zur Analytik der Logik gehört, immer stärker in den Vordergrund. Kant sieht für den Bereich der Scheinbarkeit einen wichtigen Maßstab in der auf moralischer Gesinnung beruhenden praktischen Überzeugung, die selbst vor einer Wette um alle Vorteile des Lebens Bestand hat.44

Hier könnte man ein weiteres Beispiel für die Nähe der Wiener Logik zur Kritik der reinen Vernunft sehen; vgl. Norbert Hinske, Einleitung zu: Kant-Index, Bd. 5: Stellenindex und Konkordanz zur „Wiener Logik". Erstellt in Zusammenarbeit mit Heinrich P. Delfosse u. Michael Oberhausen (= F M D A , Abt. 3, Bd. 9), 2 Teilbde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1 9 9 9 , S. X V I - X I X . Der Aufsatz basiert auf Teilen meiner Dissertation, die vom Fachbereich I der Universität Trier im Juli 2 0 0 0 als Promotionsleistung angenommen worden ist.

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