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Karbon, Kokos, Samt und Seide High-Tech-Fasern und edle Gewebe der Vergangenheit 150 Jahre Hochschule Reutlingen Heimatmuseum Reutlingen

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Karbon, Kokos, Samt und SeideHigh-Tech-Fasern und edle Gewebe der Vergangenheit150 Jahre Hochschule Reutlingen

Heimatmuseum Reutlingen

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Für die freundliche Unterstützungbei der Katalogherstellung danken wir herzlich der

© Reutlingen, 2005ISBN 3-933820-70-7

Begleitband zur Ausstellung des Heimatmuseums ReutlingenKarbon, Kokos, Samt und Seide.High-Tech-Fasern und edle Gewebe der Vergangenheit.150 Jahre Hochschule Reutlingen4. Juni - 23 Oktober 2005

HerausgeberHeimatmuseum beim Kulturamt der Stadt Reutlingen

AutorenProf. Harald Dallmann, Daniela Biermann M.A.,Dr. Lioba Keller-Drescher, Elisabeth Mosbacher M.A.,Dr. Werner Ströbele

Redaktionelle BearbeitungDr. Martina Schröder

AbbildungenHeimatmuseum Reutlingen: Gerlinde TrinkhausAufnahmen Hochschule Gewebesammlung: Karin Joas,Karl ScheuringDaimler Chrysler AG, SindelfingenInstitut für Textil- und Verfahrenstechnik, DenkendorfProspective Concepts AG, Ch-GlattburgWilhelm Karmann GmbH, Osnabrück

Kataloggestaltung und AusstellungsgrafikHajdi Meisel, panicDESIGN, Eggenstein

Ausstellungsarchitektur und -gestaltungvon Jacobs, StuttgartMarina von JacobsMatthias FalkeBirgit Römer

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Grußwort Seite 5Barbara Bosch,Oberbürgermeisterin Reutlingen

Grußwort Seite 7Georg Obieglo,Rektor Hochschule Reutlingen

Die Webschule Seite 8Werner Ströbele

Lehrmittel aus Samt und Seide: Seite 11Die historische Gewebesammlungder Hochschule ReutlingenLioba Keller-Drescher

Die japanische Stoffmustersammlung Seite 34der Hochschule ReutlingenElisabeth Mosbacher

Archäologische Textilien aus Peru Seite 43in der Gewebesammlungder Hochschule ReutlingenDaniela Biermann

High-Tech-Fasern Seite 50Harald Dallmann

Literatur Seite 64

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Als im 19. Jahrhundert in Reutlingen das industrielleHerz einer neuen Wirtschaftsentwicklung zu schla-gen begann, folgte den ersten, fast ausschließlichim Textilsektor produzierenden Fabriken bald dieEinrichtung einer Schule, die der Ausbildung einesqualifizierten Nachwuchses dienen sollte: die 1855gegründete Webschule, das spätere Technikum fürTextilindustrie und Vorgängerin der heutigenHochschule für Wirtschaft und Technik. In beispiel-hafter Zusammenarbeit von Stadt, lokaler Industrieund Staat ist damals eine Lehranstalt auf den Weggebracht worden, die bald einen überregionalenRuf als innovative Ausbildungsstätte erhielt undSchülerinnen und Schüler aus aller Welt nach Reut-lingen lockte. Die Erfolgsgeschichte der Webschuledauert bis heute an: In diesem Jahr können wir derHochschule Reutlingen als Nachfolgerin dieser frü-hen Reutlinger Bildungsinitiative zum 150-jährigenJubiläum gratulieren. Reutlingen ist stolz auf seineHochschule, die mit ihren technischen, wirtschafts-wissenschaftlichen und interdisziplinären Studien-gängen in zahlreichen Rankings der vergangenenJahre stets einen der vordersten Plätze belegte.

Die Suche nach Innovationen und das Vermittelnvon fortschrittlichem Denken ist seit 150 Jahrenkontinuierlicher bildungspolitischer Leitsatz. Alsdie Webschule 1856 ihren Betrieb aufnahm,befand sich das Textilgewerbe in Württemberg ineiner schweren Krise, ausgelöst durch die Umstruk-turierung zur Mechanisierung und Industriali-sierung. Damals brachte die Schule durch ihreAusbildung Impulse für die Zukunft der traditions-reichen Textilbranche. Auch heute im Umbruch indas digitale und globale Zeitalter setzt die Hoch-schule mit der interdisziplinären Verbindung vonWissenschaft, Forschung und Praxisorientierung

wichtige Akzente im Wissens- und Technologie-transfer. Mit ihrer überregionalen wie internatio-nalen Vernetzung spielt die Hochschule für die Stadteine wichtige Rolle, auch wenn sie seit den 1980erJahren nicht mehr baulich in der Innenstadt selbstpräsent ist. Denn mehrere Ortswechsel prägtenauch die Architekturgeschichte der Stadt. NachJahren im Spendhaus bezog die Schule das impo-sante Gebäude des Technikums an der Kaiserstraßeund ist heute im großzügigen Campus auf demHohbuch untergebracht.

Zum 150-jährigen Jubiläum der Hochschule Reut-lingen präsentiert das Heimatmuseum Reutlingeneine Ausstellung mit Begleitbroschüre, die von einerspannenden Gegenüberstellung lebt und gleich-zeitig an die Ursprünge der Schule in der Textilge-schichte erinnert. Edle historische Samt-, Seiden-und Wollstoffe treffen auf zeitgenössische Pro-dukte aus High-Tech-Fasern wie Karbon undAramid. Gemeinsam ist den so unterschiedlichenTextilien der Innovationsgedanke: Textil wurdeund wird als Material der jeweiligen Entwicklungangepasst und optimiert. Zu danken ist an dieserStelle allen, die zum Gelingen von Ausstellung undBroschüre beigetragen haben: insbesondere derHochschule, die das Projekt ideell, organisatorischund finanziell tatkräftig gefördert hat. Ein beson-derer Dank gilt dabei Herrn Professor Dr. GeorgObieglo, der dieses Vorhaben von Anfang an sehrwohlwollend unterstützt hat, und Herrn ProfessorHarald Dallmann, der ganz wesentlich die Aus-stellungsidee formuliert sowie tatkräftig mit aufden Weg gebracht hat. Mein Dank gilt auch demTeam des Heimatmuseums, insbesondere FrauDr. Martina Schröder, die sich besonders für dieAusstellung engagiert hat.

GrußwortOberbürgermeisterin Barbara Bosch

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Allen an der Stadt- und Industriegeschichte inter-essierten Bürgerinnen und Bürgern wünsche ich vielFreude bei diesem abwechslungsreichen Einblick indie historische wie zeitgenössische Textilgeschichte.Die Ausstellung zeigt, dass Textil nicht nur einMaterial mit großer Vergangenheit ist, sondern aucheine Technik mit unerwarteter Zukunft. Und so wie

bei dieser Ausstellung Hochschule und Stadt engzusammengearbeitet haben, so wünsche ich mirauch für die Zukunft ein konstruktives Miteinanderzum Wohl von Stadt und Land.

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Als 1855 weitsichtige Industrielle in Verbindung mitder Stadt Reutlingen und dem damaligen Wirt-schaftsminister des Landes Württemberg, Ferdinandvon Steinbeis, die Webschule aus der Taufe hoben,war klar, dass es sich hier um eine Technologieaus-bildung ausschließlich für den Bereich Bekleidunghandeln würde. Über viele Jahrzehnte hat die Web-schule, das spätere Technikum für Textilindustrieund die Staatliche Ingenieurschule in ihrem Ausbil-dungszweig Textiltechnik, bzw. dem später gegrün-deten Studiengang Textilchemie, Fachleute für dieTextilindustrie ausgebildet. Diese Industrie war inerster Linie für die Zulieferung in dem Bereich Beklei-dung wichtig.

Die Veränderung der Weltwirtschaftslage nach demZweiten Weltkrieg und das Aufkommen neuerStaaten als Produzenten auf den Weltmärkten habenzu einer gewaltigen Verlagerung dieses Geschehensin andere Kontinente geführt. Trotzdem spielt dieTextiltechnik in unserem Land immer noch einewichtige Rolle. Sie ist keine Massenindustrie, abersie ist in den letzten Jahren zu einer High-Tech-Industrie geworden. Dies hängt mit den neuenMarktfeldern für textile Produkte zusammen. Bio-kompatible Werkstoffe in der Medizin, Geotextilienfür die Anwendung im Land-, Strassen- und Deich-bau, hochwertige Werkstoffe für die Sport- undFreizeitindustrie, hochsensible Werkstoffe und Teilefür Luft- und Raumfahrt, innovative Anwendungenim Bereich der Sicherheits- und Gesundheitsüber-wachung u.a. mehr.

Die Hochschule versteht sich in ihrer Fakultät Textilund Design daher auch als Dienstleister in beidenFeldern, in der traditionellen textilen Welt und inder neuen, innovativen High-Tech-Welt. Dies wird

dem Betrachter auch in dieser Ausstellung des Hei-matmuseums Reutlingen zum 150-jährigen Jubiläumder Hochschule vor Augen geführt. Sie gibt eine guteÜbersicht über die verschiedenen Anwendungs-felder textiler Techniken und Produkte.

Die seit Jahrzehnten internationale Ausrichtung derAusbildung in Reutlingen kommt uns dabei sehrzugute, da hier Studierende aus vielen Ländern undKontinenten auch im Bereich Textil studieren undandererseits deutsche Studierende die Möglichkeithaben, in andere Länder und an Produktionsstand-orte weltweit zu gehen. Alles zusammen fördertden Wirtschaftsstandort Deutschland bzw. Reut-lingen und die Region mit einer Hochschule als Ortder Innovation für Technologien der Zukunft in langegelebter internationaler Tradition.

Ich wünsche den Besucherinnen und Besuchern vielFreude und danke all denen, die zum Gelingen die-ser Ausstellung beigetragen haben. Mein ganz be-sonderer Dank gilt natürlich der Stadt Reutlingenmit Herrn Dr. Ströbele als Leiter des Kulturamtes fürdie Bereitstellung des Heimatmuseums und der fach-lichen Hilfe bei der Organisation der Ausstellungsowie Herrn Kollegen Prof. Dallmann für die fachli-che Suche nach den entsprechenden Ausstellungs-objekten.

Ihr

GrußwortGeorg Obieglo, Rektor Hochschule Reutlingen

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„Die Woll- und Baumwollindustrie unseres Landesbefindet sich gegenwärtig in einer bedenklichenLage. Die Mode hat sich von den einfacherenFabricaten abgewandt. Am meisten gesucht sindgegenwärtig solche Webereien, in deren Verfer-tigung unsere noch keine Erfahrung hat.” Mit die-sen Worten begründete der Reutlinger Gewerbe-verein am 27. März 1855 die Notwendigkeit einerSchule für die Textilproduktion. Nachdem sich inWürttemberg und insbesondere auch in derReutlinger Region vor allem in den 40er und 50erJahren des 19. Jahrhunderts einige Textilfabrikenetabliert hatten, wuchs der Bedarf nach ausgebil-deten Fachkräften und nach modernen Produk-tionsmethoden angesichts der sich entwickelndenKonkurrenz ständig. Zwar hatte bereits 1849 dieZentralstelle für Handel und Gewerbe einen im Aus-land ausgebildeten Weblehrer im Lande umherge-sandt, der mit Musterwebstühlen Verbesserungender Textilproduktion bekannt machen sollte, docherwies sich schnell, dass diese Maßnahme völligunzureichend war. Spätestens seit dem Besuch derErsten Allgemeinen Deutschen Industrieausstellungin München 1854, auf der – nach Londoner Vorbildvon 1851 – der vielseitige Fortschritt des Gewerbe-fleißes präsentiert wurde, zeigte sich die Rückstän-digkeit der württembergischen Textilproduktion inaller Deutlichkeit. Insbesondere im Bereich derBildweberei, in der Jacquardtechnik, lag das Landzurück. Deshalb bemühte sich die Zentralstellenach dem Beispiel der „höheren Webschule” inElberfeld (heute Wuppertal) um die Errichtungeiner württembergischen Webschule, die letztlichin Reutlingen etabliert wurde.

Die Stadt Reutlingen, örtliche Unternehmer unddas Land einigten sich 1855 auf die Gründung einer

solchen Ausbildungsstätte. Kommerzienrat CarlFinckh, selbst Fabrikant in Reutlingen, Beiratsmit-glied der Zentralstelle für Gewerbe und Handel undVorsitzender des Reutlinger Gewerbevereins, brachtedie Partner zusammen. In dem oben erwähntenSchreiben des Gewerbevereins vom 27. März 1855an den Gemeinderat wurde die Einrichtung einerWebschule in Reutlingen damit begründet, dasssich hier „auf zwei Quadratmeilen in und umReutlingen ca. zwei Drittel der Stühle der Gesamt-weberei Württembergs befinden”. Die Stadt unter-stützte das Projekt von Anfang an und stelltezunächst in der Karlstraße 11 das Gebäude einerehemaligen Brauerei und drei Jahre später dasSpendhaus mitten in der Stadt zur Verfügung. ZurFinanzierung wurde 1855 eine Webschul-Aktien-gesellschaft gegründet: Die Tuchmacherzunft, dieStadt Reutlingen und einige Textilfabrikanten undTextilkaufleute zeichneten die Aktien im Wert vonje 25 Gulden. Das Land übernahm, zunächst auf einJahr beschränkt, die Kosten für das Personal. Der inFrankreich ausgebildete Weblehrer Samuel Winklerwurde als erster eingestellt. Am 2. Januar 1856begann der Betrieb mit acht Schülern und sechsWebstühlen. Wie in einer Bekanntmachung 1855angekündigt, verfolgte die Schule den Zweck, tüch-tige Weber, Werkmeister und Fabrikanten heran-zubilden sowie Verkäufern und Einkäufern Kennt-nisse in der Beurteilung der gewebten Waren zuvermitteln.

Die Schule florierte. 1865 wurden mechanischeWebstühle angeschafft, die von einer der erstenDampfmaschinen in der Stadt angetrieben wur-den. Das Spendhaus zierte damals ein Schornstein.1888 wurde die Produktion auf Handwebstühlenganz eingestellt. Die Reutlinger Webschule ent-

Die WebschuleWerner Ströbele

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wickelte sich zur bedeutendsten Fachschule fürTextiltechnik in Süddeutschland. Insbesondere dieEinführung des Jacquard-Webstuhls geht auf siezurück. Ein 1874 an der Webschule gewobenes Tuchbringt dies schön zum Ausdruck. Das etwa 70 x 70Zentimeter große, in Jacquardtechnik hergestellteBildtuch zeigt einen Engel als Heilsbringer: In seinenHänden hält er – wie ein Geschenk des Himmels –ein Band aus Jacquardkarten, die für die Bildwebereiund insbesondere für die Herstellung von vielfälti-gen bunten Mustergeweben benötigt werden. DerEngel schwebt unter einem Band mit der Auf-schrift „Webschule Reutlingen”. In den vier Drei-eckszwickeln der Ecken sind Symbole des Fort-schritts dargestellt: Die Weberschiffchen stehen fürdie Textilproduktion; drei Zahnräder sind Zeichender dampfmaschinenbetriebenen Mechanik; Zirkel,Winkeldreieck, Pinsel und Feder symbolisieren dieBedeutung der Entwurfsarbeit; Anker und Schlan-genstab des Heilgottes Asklepios sind Sinnbilder

der Hoffnung und des Glaubens, des Lebenswillensund der regenerativen Kräfte.

Die Textilindustrie im Land und besonders auch inReutlingen profitierte erheblich von der Webschule.An der Echaz entstanden große Schuhstofffabriken,die Fabrikation baumwollener Bettdecken blühteauf, Piqué- und Damastwebereien gingen un-mittelbar aus der Schule hervor, und auch diemechanische Baumwollbuntweberei zog aus derAusbildungsstätte ihren Nutzen. An der Webschulewurden viele Reutlinger ausgebildet; sie war aberauch international ausgerichtet und hatte schonin den ersten Jahren einen hohen Ausländeranteil.Die Studenten kamen vorwiegend aus Fabrikan-ten- und Kaufmannsfamilien.

Stetige Professionalisierung und Ausdifferenzie-rung kennzeichneten den weiteren Fortgang derSchule. 1878 wurde als neue Abteilung eine

Wirkerei eingerichtet, mit der Einfüh-rung der Abteilung Spinnerei war derAusbau zur „Fachschule für Spinnerei,Weberei und Wirkerei” vorläufig abge-schlossen. 1891 konnte der Neubau inder Kaiserstraße eingeweiht werden,der bereits 1903 aufgestockt und miteiner Fabrikanlage von 20 Shedhallenerweitert wurde. Mit Otto Johannsen –seit 1891 Spinnereidirektor und seit 1893Schulleiter – wurde aus der Webschuledas „Technikum für Textilindustrie”,1908 staatlich anerkannt, mit dem inFachkreisen berühmten und geschätz-ten „Reutlinger Diplom”. 1899 entstandeine Musterzeichenschule, 1906 eineSparte für Textilchemie und 1910 das„Staatliche Prüfamt für Textilstoffe”.Im Jahr 1921 konnte das „DeutscheForschungsinstitut für Textilindustrie”hier angesiedelt werden.

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Webbild „Webschule Reutlingen” Wolle, Leinen; Handjacquardgewebe 1874Heimatmuseum Reutlingen, Inv. Nr. 2001 a.

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Der Betriebsverein, der aus der Webschul AG ent-standen ist, finanzierte bis zur Übernahme derSchulträgerschaft durch das Land Baden-Württem-berg im Jahr 1965 den Aufwand für den Schul- undFabrikationsbetrieb. Mit dem Wandel der Textil-industrie und des Ausbildungsbedarfs verändertesich auch die Lehr- und Forschungsanstalt in derKaiserstraße. 1959 wurde aus dem Technikum dieStaatliche Ingenieurschule und in der Folge dieFachhochschule, die neben der Textiltechnik seit1971 mit den Fachbereichen Chemie, Maschinen-bau sowie den betriebswirtschaftlichen Fachberei-chen Außenwirtschaft, Fertigungswirtschaft undeuropäische Betriebswirtschaft neue Ausbildungs-felder erschloss. Auch wenn die Hochschule für

Technik und Wirtschaft – seit Ende der 80er Jahredes vergangenen Jahrhunderts auf dem Areal deraufgelösten Pädagogischen Hochschule im Hohbuchangesiedelt – sich über den textilen Bereich hinausweiterentwickelt hat, so wird in den traditionellenStudiengängen der Textiltechnik immer noch dasErbe der Webschule gepflegt. Hier wird nicht nureine bedeutende Gewebesammlung aufbewahrt,sondern nach wie vor gehen von hier zahlreicheFortschritte im Textilbereich aus: High-Tech-Textilien, die im Automobilbau ebenso Anwendungfinden wie in der Medizin, bei Spezialbekleidun-gen im Bereich des Sports, des Arbeitsschutzes undvielen Bereichen mehr.

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Lehrmittel aus Samt und Seide:Die historische Gewebesammlungder Hochschule ReutlingenLioba Keller-Drescher

Was wir heute als textile Lehrsammlung der Hoch-schule Reutlingen vorfinden, ist nicht eine einzigeSammlung, wenn auch eine einzigartige. Sie bestehtaus mehreren Teilsammlungen, die aus recht unter-schiedlichen Provenienzen, aber mit einer gemein-samen Absicht zusammenkamen. Sie umfasst einenZeitraum von über tausend Jahren und hat dochihren Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts. Ihre aktive Sammlungstätigkeit ist seit derMitte des 20. Jahrhunderts langsam zum Erliegengekommen, aber sie ist heute ein bedeutendesArchiv der Textilgestaltung, der europäischen undwürttembergischen Textiltechnologie und derUnterrichtsgeschichte der ehemaligen Webschuleund des späteren Technikums für Textilindustrie.

Als die Webschule 1855 gegründet und ihre Träger-schaft zwischen der Stadt Reutlingen, dem örtlichenTextilgewerbe und der Königlichen Zentralstelle fürGewerbe und Handel in Stuttgart aufgeteilt wurde,vereinbarte man, die Ausstattung mit Lehrmitteln imwesentlichen durch die Zentralstelle zu finanzieren.Die Zentralstelle unter ihrem Leiter Ferdinand vonSteinbeis unterstützte aktiv die württembergischeIndustrialisierung, in dem sie die gewerbliche Aus-bildung förderte und eine Mustersammlung vor-bildlicher Gewerbeprodukte anlegte. Der technologi-sche Fortschritt des 19. Jahrhunderts, die Krise dertraditionellen Gewerbe und die Notwendigkeit, füreinen überregionalen Markt und nicht mehr für ein-zelne Auftraggeber zu produzieren, machten neueAusbildungswege und eine Neuorientierung am Ge-schmack der Zeit notwendig. Das Textilgewerbe alstraditioneller Schwerpunkt der württembergischen

Produktion und als technologischer Schrittmacherdes Industriezeitalters bot den richtigen Ansatz-punkt zur Konversion.

Die Schüler der Reutlinger Webschule sollten genauauf diese neue Situation hin ausgebildet werden.Als Lehrmittel standen ihnen hierfür ein ständigmodernisierter Maschinenbestand und eine konti-nuierlich erweiterte Gewebesammlung mit Musternder aktuellen europäischen Textilproduktion undderen historischen Vorbildern zur Verfügung, ebensoeine Handbibliothek mit Werken der Webereilehre,der Musterbildung, der Bindungslehre und derMusterzeichnung, später auch mit Werken zurOrnamentik und zur Geschichte der Textilien. DieGestaltung des Unterrichts lässt sich heute noch anSchülermaterialien mit zahlreichen Handzeichnun-gen, eingeklebten Stoffproben und Aufschrieben inSchönschrift nachvollziehen, die als Schenkungenin die Sammlung zurückgekommenen sind.

Die enge Verbindung zur Königlichen Zentralstelleund dem daraus hervorgegangenen späterenLandesgewerbemuseum machte es möglich, dassauch kostspieligere historische Gewebe angekauftwerden konnten. Es fand ein ständiger Austauschzwischen der Mustersammlung in Stuttgart und derSchule in Reutlingen statt, die ihrerseits mit Stoffenaus der schuleigenen Produktion dort vertretenwar. Diese frühe Verbindung beider Institutionenerklärt auch, warum große Teile der textilen Muster-sammlung nach Reutlingen kamen, als das Landes-gewerbemuseum zwischen 1932 und 1934 seinehistorischen Bestände radikal ausschied. Die

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Sammlung des Landesgewerbemuseums ging ur-sprünglich aus dem so genannten Musterlager derZentralstelle hervor, das seit den späten 1840erJahren angelegt worden war. Letzteres wurde 1886zu einem eigenen Museum umgewandelt, das ab1896 in einem Museumsneubau residierte.

Mit der Übernahme der historischen Textilbeständeaus Stuttgart verdoppelte sich die Reutlinger Samm-lung auf einen Schlag und wurde dadurch auchinhaltlich deutlich aufgewertet. Rund 620 groß-formatige, einheitlich gebundene Stoffmusterbändeund einige kleinere Konvolute fanden so ihren Wegin die Lehrsammlung, deren eigener Bestand in denfolgenden Jahren systematisch an das Sammlungs-schema des Landesgewerbemuseums angepasstwurde. Ein neues Signaturensystem fasste schließ-lich die beiden Teile zu einer neuen Sammlungzusammen. In ihr findet sich heute fast jede Artvon textiler Archivalie: Stoffmusterbücher von1848 bis 1909, Musterordner von 1860 bis 1937,Kollektionsbücher deutscher Firmen um 1900 undaus der Mitte des 20. Jahrhunderts, Mappen mitauf Karton aufgebrachten Stoffmustern von 1400bis 1935, Stoffcoupons und Teppiche von ca. 600 bis1970, Tafeln mit seidenen Dekorationsstoffen von1880 bis 1921, Mappen von Musterdiensten von1937 bis 1963, gezeichnete Patronen für die Muster-weberei, Fahnen und textile Bilder, Kästen mit Ma-terialmustern und Materialproben für den Unter-richt, schriftliche und bildliche Unterrichtsmate-rialien und Dokumente ab 1836, darunter Schüler-hefte und Unterlagen ab Ende 19. Jahrhundert.Darüber hinaus enthält die Sammlung mehrereTeilsammlungen, teils aus Schenkungen, die heutezu ihren herausragenden Besonderheiten gehören:

historische japanische und chinesische Stoffmuster,die mit der Übernahme von Beständen des Landes-gewerbemuseums nach Reutlingen kamen, frühelateinamerikanische Stoffe, die im wesentlichen zueiner Schenkung aus den 1960er Jahren gehören,und eine Sammlung historischer italienischer undfranzösischer Stoffmuster aus der Zeit von Renais-sance und Barock. Gerade diese auf den ersten Blickfür eine schulische Lehrsammlung ungewöhn-lichen Bestände führen aber wieder auf den Sinnder Sammlung zurück: Sie war eine Vorbildsamm-lung und dazu gehörte in der Stilepoche desHistorismus, zu dessen Beginn sie gegründet wor-den war, die Orientierung an edlen historischenund exotischen Textilien. Deren technologischerVorsprung, deren materiale und ästhetische Qua-lität dienten der Anleitung zu einer aktualisiertenfabrikmäßigen Umsetzung und Angleichung an gül-tige Geschmacksentwicklungen des europäischenMarktes.

Die textile Lehrsammlung zeigt uns heute die euro-päische Stoffproduktion der damaligen ZentrenParis, Lyon, Brünn, Wien und London. In ihr sind diewichtigsten Design- und Technologieentwicklun-gen der Stoffproduktion zwischen Historismus unddem Stil der Wirtschaftswunderzeit, von der Mittedes 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, erhaltengeblieben. Ihr beeindruckender Umfang, ihre über-raschende Vielfalt an Mustern und Materialien,ihre lebendige Farbigkeit und ihr guter Erhaltungs-zustand geben der Sammlung der HochschuleReutlingen den Rang eines bedeutenden Archivsund einer spannenden Forschungsstätte für dieeuropäische Design-, Wirtschafts- und Techno-logiegeschichte der Textilien.

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Michael Hitzler, geboren 1855 in Heidenheim/Schnaitheim, besuchte vermutlich in den 1870erJahren die Webschule. Seine Unterrichtsaufschrie-be verfertigte er in Reinschrift und ließ sie sichdann als Buch binden – eine lange Zeit gängigeForm, das theoretisch und praktisch vermittelteWissen des Unterrichts für den späteren Gebrauchin der eigenen oder einer fremden Firma wiederparat zu haben. Eigentliche Schulbücher, dieüber die Gesamtheit des zu erwerbenden WissensAuskunft gaben, waren damals noch nicht üblich,obwohl es schon etliche Lehrbücher für Einzel-themen gab. Otto Johannsen (1863-1954), derlangjährige Leiter der Schule, gehörte mit sei-nen Publikationen zu den wichtigsten Autoren,die zum ersten Mal das technologische Wissender Textilwirtschaft auf einer breiten Basis ver-mittelten. Die Gewebesammlung verwahrtneben frühen Lehrbüchern eine Reihe solcherSchülerbücher und Hefte.

Auch Michael Hitzlers Materialien sind in diesem Zusam-menhang typisch und weisen doch eine Besonderheit auf:zwei Pergaminumschläge mit kleinen Stoffabschnitten und denzu ihnen passenden Musterzeichnungen bzw. Patronen, alsoden gezeichneten Plänen für die Einrichtung des Webstuhls,um ein bestimmtes Muster zu weben. An kleinen Stoffmusternwurde dieses wichtige Können eingeübt. Ob die Stoffmusterdazu gelegentlich aus den Musterbüchern unerlaubterweiseherausgeschnitten wurden, kann nur vermutet werden. In derSchule war das verboten, in der Mustersammlung der Zentral-stelle hingegen in Maßen erlaubt.

Schulmaterialien von Michael Hitzler

Schulmaterialien Michael Hitzler, um 1875Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Gabe Walter Hitzler, 1987.

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Auf cremefarbenem Seidenrips sind feine Girlanden gestickt, die auf ebenfalls bestickteMedaillons treffen. Diese haben einen violetten Grund, der auf den Seidenrips appliziert,dort mit Zierstich eingefasst und dann bestickt wurde. Das Medaillon zeigt eine klassi-zistisch anmutende Gartensituation: Bäume, Gerätschaften und eine vasenförmige Gieß-kanne. Um die Medaillons legt sich eine Girlande aus Schilfhalmen, die mit einer Schleifezusammengefasst wird. Zwischen den Medaillons, die in der Musterwiederholung leichtgedreht werden, befinden sich zarte Blumengirlanden. Die Stickerei wirkt mit ihrerGleichmäßigkeit zunächst wie eine Maschinenstickerei, aber der Fadenverlauf auf derRückseite lässt auf Handarbeit schließen.

Dies ist einer von mehreren Stoffcouponsim Louis XVI und Empire-Stil – Stilen desausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahr-hunderts –, die nachweislich von derKöniglichen Zentralstelle für Gewerbeund Handel für die Webschule erworbenwurden. Diese vorwiegend noch inHandarbeit hergestellten Stoffe waren alsVorbilder für die damals aktuellen Mode-strömungen des Historismus gedacht.Und sie sind über den Sammlungszeit-raum von 1855 bis 1937 in vielen Variantenimmer wieder vertreten. Die besticktenStoffe waren von ihrer Technik her inte-ressant und daher ein Vorbild für dieMaschinenstickerei, solange die Bunt-stickerei überhaupt noch en vogue war. Inder Hauptsache lag ihre Bedeutung aberdarin, dass ihre Musterungen einen Ideen-pool bildeten für immer neue Muster, dienun industriell und mit vereinfachtenMitteln als Web- oder Druckware anstattals Stickerei produziert werden konnten.

Dekorationsstoff

Seidenrips mit seidenen Applikationen und seidener Stickerei, vermutlich Frankreich, um 1790H 65, B 68 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Erwerb durch Königliche Zentralstelle, Inv. Nr. 90 008.

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Stile und Muster des 18. Jahrhun-derts und frühen 19. Jahrhunderts in neuer Zusammensetzung wieder aufgenommen wiebei diesem Stoff, bei dem biedermeierliche Streifen und symmetrische Muster mitKränzchen im Stile des späten 18. Jahrhunderts gemischt werden. Die Vorbildsammlungalter Stoffe findet hier eine moderne Umsetzung. Die ehemals aufwändige Handarbeitwird durch neue Technologien wie den Jacquardwebstuhl ersetzt. Dabei greift man aberauf die alten Muster der Handstickerei wie die Blumenkränzchen zurück. Die Seiden-gewebe werden am Ende des 19. Jahrhunderts durch die inzwischen maschinell gutverarbeitbare und sehr viel preiswertere Baumwolle und im 20. Jahrhundert danndurch Kunstseide ersetzt. In der Sammlung können anhand diverser Stoffcouponsdiese Spielformen und Mustervarianten im 19. und 20. Jahrhundert gut nachvollzogenwerden. Auch bei den Stoffabschnitten der umfangreichen Musterbände finden sichbiedermeierliche Streifen, gemischt mit Rokokoblumen, in vielen Varianten und in ver-schiedensten Ausführungen zu immer neuen Mustern zusammen.

Dekorationsstoff

Baumwolle, Jacquardweberei, 1880H 52, B 129 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 30 007.

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Auf goldenem Grund befinden sich hier stili-sierte Schwertlilien aus weinrotem Samt. DieseArt der Musterung, die sich an orientalischenVorbildern orientiert, ist neben anderen stili-sierten Pflanzenmustern wie Granatäpfeln,Pinienzapfen, Blüten und Ranken typisch fürdie italienische Samtproduktion der Renaissanceund des Frühbarocks. Diese Stoffe waren wegenihrer aufwändigen Produktion und ihrer edlenMaterialien kostbar und begehrt. Die Samtpro-duktion als solche war deshalb für die Luxusge-werbe seit der Renaissance von großem Interesse.Italien und später Frankreich waren in dieserBranche führend. Die Zweifarbigkeit diesesSamtes mit dem exakt herausgeschnittenen,erhabenen Muster macht die große Kunstfer-tigkeit deutlich, die beim Weben und beimScheren des Samtes notwendig waren, um zueinem solchen Ergebnis zu kommen. Nur einkleiner Abschnitt ist von dem großen Mustererhalten geblieben, das zusammen mit ande-ren Samtstücken auf einem Karton aufgebrachtwurde.

Hier handelt es sich um eine der Teilsammlungen der Gewebesammlung, die so genannteSammlung Florian Maroche. Sie widmet sich historischen italienischen und französi-schen Stoffen zwischen dem 15. und frühen 18. Jahrhundert. Die Stoffe sind auf thema-tisch zusammengehörigen Kartons montiert. Alte Nummern und Namen auf den Kartonsmachen deutlich, dass sich die Tafeln zumindest teilweise früher in anderem Besitz be-funden haben müssen. Vermutlich hat Florian Maroche eine ältere Sammlung erworben,die er später an die Schule abgab. Im 19. Jahrhundert haben Designer und Textilunter-nehmer solche Sammlungen angelegt, die sich oft – wie hier – aus zum Teil recht kleinenund willkürlich zerschnittenen Stoffstücken zusammensetzten. Vielleicht kam der Namens-geber der Sammlung aus diesem Umfeld.

Samtbrokat

Seidensamt, geschnitten auf Brokatgrundgewebe, Italien, 16. JahrhundertH 22, B 36 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Sammlung Florian Maroche, Inv. Nr. 63 847.

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Im Historismus blühte die Samtproduktion er-neut auf, nachdem sie mit dem Ende des 18. Jahr-hunderts in eine Krise geraten war. Die Nachfragewurde neu geweckt, als man Samt als Elementder Raumausstattung wieder entdeckte. Maninteressierte sich für die alten Vorbilder der ita-lienischen und französischen Produktion. Gleich-zeitig entwickelte sich in katholischen Kreisenein neues Verständnis für eine an mittelalter-licher Frömmigkeit orientierte Gestaltung litur-gischer Textilien, die sich ebenfalls an historischeVorbilder anlehnte. Erste Sammlungen alterTextilien entstanden. Aufgelöste Klöster, ver-armte Adelsfamilien und entmachtete Herrscher-häuser wurden zu Lieferanten historischer Stoffeaus zweiter Hand. Neue Zentren der Produk-tion nach historischen Vorbildern wurden auchin Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts gegründet. Krefeld war einer derwichtigen Produktionsstandorte dafür, und dieReutlinger Sammlung war mit diesem KrefelderMustercoupon auf der Höhe der Zeit.

Die aufwändige Produktion solcher Stoffe konnte durch den Jacquardwebstuhl ratio-nalisiert werden, allerdings blieben die Stoffe nach wie vor ein Luxusprodukt, vor allemwenn sie wie beim abgebildeten Mustersamt aus Seide waren. Die Jacquardsamtemachten in der Bekleidung des 19. Jahrhunderts als Stoff für die stark gemustertenHerrenwesten und als vielfältige Bänder und Besätze für die Damenoberbekleidungmodische Karriere. Weiter vereinfacht wurden die Samte, indem man sie aus Baum-wolle herstellte und die Muster aufdruckte, statt sie aufwändig einzuweben oder herauszu schneiden. Das große Interesse am damals modernen Samt zeigt sich in den vielfälti-gen Musterstücken, die sich in der Sammlung der Hochschule Reutlingen befinden: vombedruckten Baumwollsamt im Stil der englischen Arts and Crafts Bewegung um 1900 biszum Zylindersamt aus Kunstseide aus dem Jahr 1929.

Samtbrokat

Seidensamt auf Brokatgrundgewebe, Jacquardvelours nach Genueser Vorbildaus dem 15. Jahrhundert, Krefeld 1890 H 45, B 27 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 63 810.

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Goldene Ranken ziehen sich in großzügiger Wellenaufteilung mit kleinen blauen undroten Blüten auf grünen Blättchen und Stängeln über den grünen Grund, in den eben-falls ein kleines Blattmuster eingewebt ist. Schon klassizistisch gezähmt lässt sich in dieserGestaltung noch etwas von den sehr bewegten floralen Barock- und Rokokomusternerahnen, die einst für Bekleidung und Dekoration, also auch als Möbelbezugs- undWandbespannungsstoffe, verwendet wurden. Allerdings ist der Brokat nicht durchStickerei verziert wie die aufwändigeren Stoffe aus dem höfischen Gebrauch, sondernbroschiert. Broché werden Stoffe genannt, die ein Muster haben, das beim Webendurch einen zusätzlichen Vorgang und mit Hilfe zusätzlicher Geräte, Broschierlade undBroschierschütze, auf den Stoff aufgebracht wird. Wie bei der Stickerei liegt das ein-broschierte Muster auf dem eigentlichen Gewebe, und der rückseitig mitlaufende Faden

wird hinterher abgeschert. Brochésind in gewisser Weise eine techni-sche Lösung zwischen Stickerei undWebmuster.

Fein und edel, wie der Stoff heutenoch wirkt, stellt er doch technischeine Rationalisierung gegenüberder Handstickerei dar. Um 1850 wardas Interesse an broschierten Stoffenund an deren vereinfachter maschi-neller Herstellung groß, denn sokonnten die Effekte der Vergangen-heit mit den Möglichkeiten derGegenwart nachgeahmt werden.Ein großer Bestand in der Sammlungzeigt dies deutlich. Nicht nur beiden Mustercoupons finden sichüberraschend schöne und großeStücke wie das vorliegende, son-dern auch die Musterbände fürSeiden- und Seidenmischgewebewarten zahl- und musterreich da-mit auf.

Broschierter Dekorationsstoff

Seide, gemusterter Grund, broschiertes Muster, Handweberei, um 1800H 133, B 138 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung. Inv. Nr. 29 007.

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Die beiden beinahe komplementären Schleifendekore, einmal schwarz auf violett-rosaGrund und einmal violett-rosa auf grau-beigem Grund, stammen aus dem selben Jahr,haben die gleiche Provenienzangabe, zeigen aber unterschiedliche Archivierungsformender Sammlung. Der erste befindet sich eingeklebt in einem Band aus der Muster-sammlung der Zentralstelle mit der Aufschrift: „Muster aus Paris. Seidene und Seiden-gemischte Kleiderstoffe 1860” und der zweite in einem Ordner der Gewebesammlungdes Technikums für Textilindustrie, ehemals Webschule, auf einem Trägerpapier unterder Überschrift: „Broschierte Stoffe. Pariser Kollektion 1860”. Sie verweisen neben ihrenspannenden modischen und technologischen Aspekten auf die Sammlungsgeschichte,der mit diesen Dekoren hier sozusagen eine Geburtstagsschleife gebunden wird: BeideSammlungen, Zentralstelle/Landesgewerbemuseum wie Webschule, bezogen ihreStoffmuster ganz wesentlich durch so genannte Musterdienste. Diese informierten inmehreren Lieferungen im Jahr über die aktuellen Trends, in diesem Fall aus Paris, überdie Seidenstoffe des Jahres 1860. Die Zentralstelle begann damit etwas früher als dieWebschule und hat vor allem von Anfang an eine konsequente Einordnung undPräsentation der Muster in Folianten angelegt. Die Webschule bewahrte die Musterzunächst wohl in Schachteln und Klemmmappen auf. Seit den späten 1920er Jahren, alsman begann, die Sammlung neu zu ordnen, wurden sie, auf Trägerpapiere geklebt, inOrdnern untergebracht.

Kleiderstoffe

Abb. rechts: Wolle-Seide gemischt, broschiert, Frankreich, 1860H 12,2, B 14,5 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 29 901/36.

Abb. links: Seide, broschiert, Frankreich, 1860H 19,5, B 16,5cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 14 501.

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Muster aus Wollstoffen spielen in der Sammlung eine besonders große Rolle. Sie warenfür die regionale und örtliche Textilwirtschaft von besonderem Interesse, da Württem-berg neben der Leinwand hauptsächlich Wollstoffe produzierte, allerdings nicht mehrauf besonders erfolgreichem Niveau. Das sollte sich durch die Kenntnis der neuenMaschinentechnik der Wollverarbeitung, die in England und Frankreich entwickelt wor-

den war, und deren Produkte verbessern.Muster bezog man daher aus den französi-schen, englischen, mitteldeutschen undmährischen Wollzentren. Die Bände mitsolchen Wollstoffen sind oft über Seitenhinweg beinahe leer, weil sich die Benutzerhier Anregungen dinglich als Stoffprobenherausgeschnitten haben. Überraschend istdie damals übliche Muster- und Oberflä-chenvielfalt und die ansprechende Farbig-keit, die man heute wieder als dernier criempfindet, wenn farbige Tweeds für dieWintermode 2004/2005 im Chanelstil emp-fohlen werden.

Elbeuf (fälschlich immer Elboeuf geschrie-ben) und Louviers, östlich von Paris beiRouen an der Seine gelegen, waren Produk-tionszentren für Wolle in Frankreich. Hierwurden wichtige Erfindungen der Woll-technologie gemacht. Der berühmte Fach-buchautor P. Falcot, von dem ebenfalls einBuch in der Sammlung vorhanden ist, war

hier Dessinateur. Hier wurden Stoffe für den Pariser Geschmack hergestellt. An dieZentralstelle gelangten diese Stoffmuster aber nicht durch einen Musterdienst, sondernlaut Notiz im Band wurden sie von Herrn Peter Fastnacht (Elbeuf) und Herrn A. Bühler(Louviers) eingesandt. Hier zeigt sich ein Ergebnis der Arbeit von Ferdinand vonSteinbeis, seit 1856 Direktor der Zentralstelle, der eine grenzüberschreitende Aus- undWeiterbildung und den Technologietransfer förderte. Seine europäischen Kontakte ermög-lichten es württembergischen „Webzöglingen”, sich im Ausland umzutun. Der Erfolgkam zurück – in Wolle.

„Wollfabrikate aus Elboeuf und Louviers”

Wolle, gewoben, Frankreich, 1863H 43, B 29 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 84 704 D.

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Bereits 1844, also noch vor der eigentlichen Gründung der Zentral-stelle für Gewerbe und Handel 1848 und ihres Musterlagers 1850,hatte man in Stuttgart begonnen, Stoffmuster aktueller Kollek-tionen zu sammeln. Der Ludwigsburger Fabrikant Wilhelm Weiglewird hier als Initiator genannt. Aus dieser Zeit sind neun „Karten”in der Gewebesammlung vorhanden: Das sind Bände, die auf aus-klappbaren Karten ihre aufgeklebten Muster präsentieren. Sie erin-nern in ihrer Aufmachung an Musterkarten, mit denen Firmenver-treter für ihre Produkte werben. Weigle hat als Fabrikant vielleichtdiese ihm bekannte Form gewählt oder vielleicht sogar gebrauchteKartons dazu umgewandelt. Denn noch gab es keine staatlicheFörderung.

Die erhaltenen Musterkarten zeigen verschiedene thematischeZusammenstellungen von „seidenen Halsbindern” bis „Leinene undhalbleinene Sommerbeinkleiderstoffe” und eben auch „wollene Wes-tenstoffe”. Heute überrascht die Farbigkeit und lebhafte Musterung der Westenstoffefür Männer. In der damaligen Herrenbekleidung hatte sich der bürgerliche Anzug mitlanger Hose, Weste und Jackett fest etabliert, allerdings mit einer großen anlassorien-tierten Variationsbreite, nicht nur im heutigen Schwarz, Braun, Grau und Blau, die eine

vielfältige Stoffmusterung und Ab-wechslung der Stoffarten zuließ. Beider Weste war vor allem die Kon-trastwirkung zum Anzug ein langgepflegtes modisches Stilmittel.Westenstoffe waren ein wichtigesErzeugnis der Textilwirtschaft, weildie Weste ein unerlässlicher Bestand-teil der Herrenkleidung war. Nur einHemd zum Jackett zu tragen, galtals nicht schicklich.

Wollene Westenstoffe

Wolle, gewoben, Frankreich, 1849 H 32 cm B 19 cm, KlappbandHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 44 490.

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Als auf der Weltausstellung 1889 in Paris die erste Kunstseide präsentiert wurde, hatteeine neue Ära begonnen. Nach der Entwicklung der modernen Anilinfarben in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Erfindung der Kunstfasern der nächste ent-scheidende Schritt in der Entwicklung der Textiltechnologie ohne Naturstoffe. Bis dieStoffe sich allerdings durchsetzen konnten, dauerte es seine Zeit. Nicht nur, weil sie erstzur Fabrikreife gebracht werden mussten, sondern es hing ihnen lange der Ruch vonErsatzstoffen an, die man in Notzeiten hinnehmen musste, aber danach wieder ablegenwollte. Offensichtlich war ihre eigentliche Einführung während des Ersten Weltkriegs undihre damals noch äußerst mäßige Trageeigenschaft dafür mitverantwortlich gewesen.

Vistra, eine der deutschen Viskoseentwicklungen, sollte denn auch nicht eine eigen-ständige neue Oberflächentextur bekommen, sondern ahmte, eben doch ein Ersatzstoff,die bekannten Oberflächeneigenschaften wie Leinen, Seide oder Wolle nach. Die Suchenach Ersatzstoffen gehört zwangsläufig zur Massenproduktion, denn ihre vermeintlichRohstoff unabhängigeren Produktionsbedingungen und ihre auf besonders guteMaschinentauglichkeit hin entwickelten Eigenschaften sind eine Voraussetzung für eineununterbrochene Fabrikauslastung und damit maximierte Produktionsleistung.

„Vistra Wolle”

Kunstfaser, bedruckt, Deutschland, 1921 H 29,5, B 22 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 89962/12.

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Zusammen mit den Vistrastoffen befinden sich die Papierstoffe in einem Ordner, der dieAufschrift: „Waren aus der Kriegszeit” trägt. In ihm werden Stoffe aus der Zeit der bei-den Weltkriege und der Zwischenkriegszeit aufbewahrt. Darunter fallen Stoffe derMarine, verschiedene Kunstfaserstoffe und Entwicklungen aus Altstoffen und Papier.Die Umnutzung vorhandener Alttextilien ist so alt wie die Textilien selbst und war in derKnappheitsgesellschaft der Vormoderne normal. Die Rückverwandlung in einenRohstoff, der wieder neuwertige Textilien ermöglichte, gewann allerdings erst durchchemische und mechanische Verfahren der Aufbereitung, genannt Karbonisation –dafür finden sich auch Lehrbücher in der Sammlung – neue Impulse. Parallel dazu wurdenneue Verfahren entwickelt, Fasern aus natürlichen Rohstoffen zu gewinnen, die bishernicht zur Herstellung von Bekleidungsstoffen geeignet gewesen waren: Hanf, Jute,Ramie, Holz und Stroh. Aus letzterenentstanden die chemisch erzeugtenZellulosefasern und mit ihnen die Vis-kose. Die Papierstoffe waren im Vergleichdazu eigentlich wieder ein Rückschritt,da sie zwar auch aus Zellulose bestan-den, aber im Papierverfahren und nichtim Garnverfahren hergestellt wurden.Folglich hatten sie auch keine akzepta-blen Trageeigenschaften.

Wenn heute Papierstoffe Verwendungfinden, dann vorwiegend im modischenExperiment oder als Träger für andereMaterialien wie Linoleum oder als ge-drehte Papierschnur, Loom genannt, fürFlechtstühle.

Papierstoffe

Papier, gewoben, teilweise gefärbt, Deutschland, 1922H: 29,5 B: 22 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 89 963/3.

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In der Sammlung alter bedruckter Stoffe,zu der dieser gestreifte Stoff mit seinemkleinen Druckmuster mit Zackenband undBlattgirlanden gehört, befinden sich nochzeitlich ältere Muster französischerSeidenstoffe. Irritierend für den heutigenBetrachter ist, dass die Seidenstoffe wieBaumwolle wirken, erst beim genauerenHinsehen wird deutlich, dass es sich tat-sächlich um Seide handelt. Möglicher-weise imitieren die Stoffe das Aussehenvon bedruckter Baumwolle. Modischbetrachtet war die bedruckte Baumwolleseit dem 18. Jahrhundert in Europa sehrgefragt, ihre Herstellung aber limitiertbzw. in Frankreich bis Mitte des Jahrhun-derts ganz verboten. Wie so oft standendie Interessen des eingesessenen Gewer-bes, hier der Seidenweber, Färber undSticker, die hauptsächlich um Lyon ange-siedelt waren, gegen die Neuerungen, dieman deshalb mit Verboten und Schutz-maßnahmen aufzuhalten versuchte. DieOptik der gefragten modischen Baum-wollstoffe ahmte man stattdessen mitSeidenstoffen nach.

Andere Stoffe aus demselben Zusammenhang zeigen die an der asiatischen Ikattechnikorientierten Kettendrucke. Die spezielle Drucktechnik, bei der nicht der fertige Stoff,sondern die Kettfäden des erst noch zu webenden Stoffes bedruckt werden, führt zueinem verschwommenen, heute eher als weniger attraktiv empfundenen Druckbild, dasaber im ausgehenden 19. Jahrhundert für seidene Kleiderstoffe erneut sehr beliebt war.So verweisen die historischen Stoffe sowohl auf die modegeschichtliche Vergangenheitim allgemeinen als auch im speziellen auf die modischen Gegenwarttrends ihrer eige-nen Sammlungszeit.

Seidenatlas

Seide, Atlasgewebe, bedruckt, Frankreich, um 1780H 26,5, B 17 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Sammlung Florian Maroche, Inv. Nr. 160 003.

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Viele Stoffe der Sammlung lassen sich heute keinem eindeutigen Verwendungszweckmehr zuordnen. Anders verhält es sich mit diesem Muster, das mit der Angabe „Krino-linenstoff” geführt wird – eine Angabe, die sich dem heutigen Betrachter nicht mehrunmittelbar mitteilt. Die Krinoline, die ab 1830 die Damenmode zu bestimmen begann,löste die schmale Silhouette der Empirezeit ab. Die Frauenkleidung wurde wieder wieim 18. Jahrhundert voluminös. Die Weite des Rockes wurde zunächst mit Rosshaar ge-fütterten Unterröcken hergestellt, um 1850 aber mit einer neuen Konstruktion aus unter-schiedlich großen Stahlreifen sozusagen auf die Höhe der Zeit gebracht. Die Krinolinen-mode benötigte nicht nur immense Stoffmengen, sondern der Stoff musste auch genauzum Verlauf der Stahlkreise passen. Das wurde häufig mit übereinander liegendenVolants bewältigt. Den vorliegenden Stoff mit seinem farbigen Musterfeld in der Mitteund den unifarbenen braunen Feldern oben und unten kann man sich als eine solcheKaskade von Stoff vorstellen, die noch durch dieeingewebten, ebenfalls braunen Fransen im unterenFeld betont wird.

Die Kunst dieses Stoffes zeigt sich aber nicht nur inDetails wie der eingewebten Fransenborte, sondernauch in der verwendeten Drucktechnik und dem kunst-vollen Aufbau des Musters, das noch heute durchseine Eleganz besticht. Der obere rosengemusterteTeil wirkt fast monochrom in Braun und Grau. Derbeinahe spiegelbildliche untere Teil zeigt ein eben-falls überwiegend mit Rosen bestücktes, aber üppigbuntes Dekor. Das raffinierte Gegenüber dieser beidenBlumenmuster findet seine Entsprechung in der auf-wändigen Machart des damals wieder beliebtenKettendruckes. So nehmen die Form und das Materialder Kleidung Bezug auf das 18. Jahrhundert, das mitden Techniken der Industrialisierung wiederbelebtwird. In der ganzen Mustervielfalt, die in der ReutlingerSammlung vorhanden ist, sind sicher die Blumenmusteram häufigsten vertreten. In ihrer Fülle und ihren Varia-tionen zeigen sie, dass das Design trotz seiner ständigenNeuheiten immer wieder von den gleichen Themenund Motiven fasziniert wird.

Krinolinenstoff

Seide, Kettendruck, Frankreich, um 1860H 34, B 18 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 120 001.

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Bevor die modernen Anilinfarbstoffe ab der Mitte des19. Jahrhunderts entwickelt wurden, ging ihnen einelange Reihe von Farbentwicklungen und Verbesserun-gen auf der Basis der vorhandenen natürlichen Farb-stoffe voran. Rot auf der Grundlage der Krappwurzelwar dabei ein wichtiger Farbton. Je nach Farbzuberei-tung und Behandlung konnten damit unterschiedlicheRottöne erzielt werden. Besonders beliebt war dasTürkischrot, das der Färbekunst des Orients entlehntwar, und gerne für bestimmte Druckwaren mit orienta-lisch inspiriertem Muster verwendet wurde. DieseFärbekunst war in den Fabriken des Elsass, vor allem beiKoechlin in Mühlhausen, aber auch in Augsburg beiSchöppler und Hartmann, durch eigene chemische Ver-besserungen schon vor 1850 hochentwickelt.

Nachdem die Experimente mit Teerfarbstoffen schließ-lich 1856 zur Patentierung des ersten Anilinfarbstoffs,dem Mauvein, geführt hatten, wurden auf dieser Grund-lage bald eine große Anzahl neuer Farbtöne entwickelt.Unzählige Farbnuancen und Farbnamen entstanden.Das Türkischrot aus Krapp wurde nach und nach vomMarkt verdrängt, nicht so die Türkischrot-Artikel. Siewurden mit den neuen Farben in neuer Brillanz, aber inden alten Druckmustern weiter produziert.

Stoffe in Türkischrot

Seide, Baumwolle, Wolle (mehrere Stoffstücke), bedruckt, Frankreich, 1895H 43, B 63 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 110 636 B.

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Wolle, bedruckt, Frankreich, 1852H 28,5, B 21 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 110 593 A.

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Die kleinen und großgemusterten Stoffe in Mauve, Violett, Lila füllen viele Seiten derStoffmusterbände. Es handelt sich um einen äußerst beliebten Farbton der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts. Er wurde zunächst mit organischen Farben sehr aufwändig herge-stellt und trat dann als erster synthetischer Farbstoff, 1856 von William Perkins erfunden,einen wirtschaftlichen und modischen Erfolgszug an. Glaubt man der zeitgenössischenModeberichterstattung, dann ging das ganze modische und weibliche Europa in Mauve.

Die Teerfarbstoffe veränderten nicht nur die Färbetechnik grundlegend, sondern erweiter-ten die Farbpalette entscheidend. Der erste Farbton, das von Perkins so genannte Mauve,war eigentlich nur eine Verbesserung der bereits vorhandenen Lila-Varianten. Die Weiter-entwicklungen der Farbskala in Richtung Magenta, Pink und anderen leuchtenden Violett-Rot-Tönen war aber bisher nicht möglich gewesen. Mauve war nur der mehr oder wenigerzufällige Anfang einer wahren Farbenrevolution gewesen. Perkins und andere Chemikerhatten nicht in erster Linie nach einem Farbstoff gesucht, sondern nach Verwendungsmög-lichkeiten für ein Abfallprodukt der Industrialisierung, den Steinkohleteer. Anilinfarbenauf dessen Basis lösten dieses Problem zunächst, bis deren umwelt- und zeitweise auchgesundheitsschädigende Wirkung ebenfalls sichtbar wurde.

Stoffmuster in Lila

Baumwolle, bedruckt, Frankreich, 1869H 43, B 63 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 110 610 A.

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In leuchtenden Anilinfarben – sie wirkten auf Seide besonders gut – zeigt sich hier einesder beliebtesten Muster des ausgehenden 19. Jahrhunderts: das Karo. Alle Arten vonStoffen waren damit gemustert: Baumwolle, Wolle, Seide – ob gedruckt oder gewebt,ob auf Bändern, Paletotstoffen, Hosen, Westen oder Kleiderstoffen. Karos ließen ver-schiedenste Farbzusammenstellungen zu und waren ideal, um die neuen chemischenFarben zu erproben. Heute überrascht ihre Intensität und Kombinationsfreude, zumBeispiel wenn Grün, Lila und Schwarz aufeinandertreffen, und ihre Aktualität mit denan Indien erinnernden sanfteren Madraskaros.

Die kompliziert sich kreuzenden und ineinander übergehenden Farbfelder der Karos des19. Jahrhunderts waren neu. Sie entwickelten sich aus den unterschiedlichen Einflüssen,die für die englische Textilproduktion so prägend waren und von dort auf den Kontinentgelangten. Hier kamen die Technologien der Kolonialländer wie Indien mit ihren Kennt-nissen komplizierter Webmuster zusammen mit einer ganz anderen Entwicklung, nämlichder romantischen Erfindung einer urwüchsigen europäischen Kultur, für die exempla-risch Schottland stand. Mit Schottland verband man seine textilen Besonderheiten, dieWollstoffe in den Farben und Mustern der Clans, Tartan genannt. Diese beiden Orien-tierungen vermischten sich und brachten ein neues Muster hervor, eben das Karo.Unterstützt wurden solche Moden von einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Zeit,der englischen Königin Viktoria, 1819 bis 1901. Sie soll ihrer Begeisterung für Schottlandmit Karos aller Art Ausdruck verliehen haben.

Karostoffe

Seide, gewebtes Muster, Frankreich, 1896H 41, B 63 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 14 537 B.

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Kaschmirmuster, auch bekannt unter dem NamenPaisley, waren im 19. Jahrhundert eine der wichtig-sten Musterformen. Sie passten nicht nur zur immerwieder aktuellen Orientmode und -ausstattung, son-dern sie sind auch ein gutes Beispiel für Übernahmeund Anpassung exotischer Muster an den europäi-schen Geschmack und für die Ökonomie modischerLeitbilder. Die modische Begeisterung für Kaschmir-muster begann im ausgehenden 18. Jahrhundert inEngland und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf demKontinent, als zur neuen leichten Empiremode erst-mals Schals aus Kaschmir (Cashmere oder Cachemire)getragen wurden. Die Originalschals wurden in derindischen Himalaja-Region gewoben und kostetenein Vermögen. Die Sammlung in Reutlingen besitztsogar ein kleines Fragment eines solchen Tuches.Kaschmir bezeichnet hier dreierlei: die Herkunft, einebestimmte Materialqualität der Ziegenwolle und diebesondere Musterung.

Die große Nachfrage nach Schals mit exotischen Mustern ließ die europäischen Textil-unternehmer nach eigenen Produktentwicklungen suchen. In England und Frankreichwurde an einer Umsetzung der kunstvollen Webtechnik in europäische Industriepro-duktion gearbeitet, die aber erst mit der Erfindung des Jacquardwebstuhls Anfang des19. Jahrhunderts richtig gelang. Es blieb jedoch nicht bei der webtechnischen Adaption.Man nahm auch kostengünstigere Materialien wie Schafwolle und Baumwolle undbegann, die Muster nach europäischem Geschmack neu zu komponieren. Schließlichverbilligte man das Produkt nochmals, indem man Kaschmirmuster auf Wollstoffe auf-druckte, die wie die originalen Kaschmirschals als Umschlagtücher verwendet wurden.Schließlich löste man das Muster von diesem speziellen Verwendungszweck und nahmes auch für Kleider- und Westenstoffe. Paisley, ein bis heute nicht nur auf Krawattenaktuell gebliebenes Muster, ist übrigens der Name eines der wichtigsten frühen Produk-tionsorte für Kaschmir in England. Der Orient wurde und wird in Europa hergestellt.

Kaschmirmuster

Baumwolle, bedruckt, Frankreich, 1859H 32, B 26,5 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Bestand Landesgewerbemuseum, Inv. Nr. 110 600 D.

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Borte

Leinen und Seide, Italien, um 1400H 15,5, B: 55cm (Ausschnitt)Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 22 005.

Der alte Handkatalog der Sammlung datiert diese Borte in die Zeit um 1400. Ein ähnli-ches Stück befindet sich im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart und wirddort als Borte aus dem 17. Jahrhunderts bestimmt, als Herkunftsgebiet gilt aber eben-falls Italien. Die zeitlichen Zuschreibungen alter Kataloge muss man in der Regel kritischbetrachten. Oft kommt die Textilforschung heute aufgrund neuerer Forschungen zuanderen Ansichten und ist insgesamt vorsichtiger mit ihren Einschätzungen. DennDatierungen bei Textilien sind oftmals schwierig, vor allem wenn Muster über einenlängeren Zeitraum verwendet werden und das Gewebe, wie hier, Schädigungen auf-weist und nicht mehr vollständig ist.

Wie bei den anderen alten Musterstücken ist es aber vor allem wichtig zu erkunden,warum sie überhaupt in der Sammlung sind, also nach ihrem zeitgenössischen Sammlungs-kontext zu suchen. Die Borte wird in diesem Zusammenhang zu einem Beispiel fürMuster und Techniken, die man Mitte des 19. Jahrhunderts als mittelalterlich undarchaisch empfand und wieder zu sammeln begann. Die Mittelalter-, Burgen- undRitterromantik, die Neogotik bis hin zur Neorenaissance waren wichtige Strömungen,die sich auch im Textilen wiederfinden. Lebensbaum, Adler und Pfau, die hier in einemsymmetrischen Muster angeordnetsind, stammen zwar möglicherweiseaus dem arabischen Formenschatz, abersie wurden über Italien auch im restli-chen Europa heimisch. Die archaischen,altertümlichen Motive waren vor allemfür Dekorationsstoffe, Bildteppicheund Decken im 19. und 20. Jahrhun-dert beliebt. Beispiele in der Sammlungwie eine „Kaiserdecke” von 1880 mitentsprechend mittelalterlichen Moti-ven zeigen dies in ihrer nationalenSpielart deutlich.

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Teppiche, Bildweberei, Gobelingewebe, zeitgenössisch auch Tapestrygenannt, waren wichtige Sammlungs- und Ausbildungsthemen derWebschule. Schließlich wollten die württembergischen Textilunter-nehmen in allen Produktarten tätig werden. Neben den klassischenTeppichmustern interessierten hier besonders die an Renaissanceund Barock orientierten Blumendekore, die vor allem für Möbel-stoffe in Frage kamen. Ähnlich wie die wieder aufgelegten Samt-muster erlebten sie in den dichtgewebten und großgemustertenDeko- und Wohnstoffen eine Wiederaufnahme. Auch in der Kunst-gewerbebewegung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts parallel zum Historismus entwickelte, begann man sichintensiv mit den alten Textiltechniken auseinander zu setzen, diein Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kaum mehrangewandt wurden.

Mustermotiv und Farbigkeit des vorliegenden Stoffabschnittesweisen aber in eine neue Richtung: zum Art Deco. Ein Designstil,der Reduktion, Stilisierung und neue Farbkonstellationen zuließund der seine Motive nicht in der Vergangenheit, sondern in derGegenwart suchte. Die technischen Geräte der Moderne, hier stili-sierte Lampen im Art-Deco-Design, stehen in einem spannungs-vollen Verhältnis zur traditionell wirkenden Machart. Dazu trägtauch bei, dass die Lampen von Palmetten umgeben sind, die ausder traditionellen orientalischen Weberei stammen, hier aber ineine klassizistisch-europäisch wirkende, symmetrische Rahmunggestellt werden.

Dieser Stoff steht stellvertretend für avantgardistische Stoffent-würfe, die in ihrer Zeit ein eher kleines Publikum ansprachen, heuteaber hoch geschätzt werden. Zu diesem nicht sehr großen Bereichinnerhalb der Sammlung gehören auch Stoffmuster der WienerWerkstätte. Eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischenAvantgarde muss in der Entwurfsabteilung der Schule in der Zeitzwischen den Weltkriegen stattgefunden haben; erhaltene Stoffeder schulischen Produktion nach Entwürfen hauseigener und aus-wärtiger Designer belegen das.

Möbelgobelin

Wolle, 1912H 50, B: 34 cm (Ausschnitt)Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 50 002.

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Der Jugendstil in seinen verschiedenen europä-ischen Spielarten ist in der Sammlung sowohl inanspruchsvollen Entwürfen präsent als auch inseinen Umsetzungen für den täglichen Gebrauch.Zu letzteren zählen diese beiden Tischdecken inblauweiß und grünweiß. Das große dekorativePflanzenmuster ist in seiner Mischung aus natu-ralistischen und stilisierten Formen typisch fürdie neuen Gestaltungsvorstellungen um 1900.In dieser Zeit entstehen eine Reihe von Lehr- undVorlagebüchern für Dekorationszeichnungenund Musterentwürfe. Pflanzenmotiven wirddabei besonders viel Platz eingeräumt. Die Lehr-sammlung bewahrt etliche von diesen Büchernauf und ihr etwas abgegriffener Zustand zeigt,dass sie häufig benutzt wurden. Die diesen Tisch-decken zugrunde liegenden Musterentwürfeerwecken den Eindruck, als seien sie mehr oderweniger direkt aus den entsprechenden Vorlagenentnommen worden.

Gebrauchsstoffe wie Tisch-, Bett- und Küchen-wäsche standen sicherlich ganz oben auf derListe der Lehrinhalte der Webschule. Sie bildetenneben den Wollstoffen die Verknüpfung zu den

traditionellen Produkten der württembergischen Weberei. Ihre fabrikmäßige Her-stellung war neben den Kleiderstoffen eine wichtige Entwicklung für den Aufschwungder Textilindustrie, denn sie stellten im Raum Reutlingen und in vergleichbaren Regionenwie dem Wiesental in Baden lange Zeit einen wichtigen Produktionszweig dar. DieWebschule hat in der Zeit nach 1900 nachweislich eine ganze Reihe ihrer schulisch pro-duzierten Tischdecken in die Sammlung eingebracht. Vielleicht stammen diese zweiExemplare auch daher oder dienten zumindest als Anregung für die eigene Produktion.

Tischdecken

Baumwolle, Webmuster, Deutschland, 1905H 268, B 135 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 36 014.

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Baumwolle, Webmuster, Deutschland, 1910H 158, B 192 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 36 013.

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Der Musterrapport dieses bedruckten Stoffes, vermutlich ein Vorhangstoff, zeigt etlicheVersatzstücke des Japonismus: eine Frau mit geblümten Kimono und Fächer, dazu Bam-bus- und Blattmotive im Stil der japanischen Zeichnungen. 1914, als dieses etwas naiv-kitschig wirkende Dessin entstand, war die große „Japanwelle” schon fast vorüber, aberEuropas Interesse an Japan noch längst nicht zu Ende. Der Japonismus ist nur ein Beispielfür die Auseinandersetzung des europäischen Designs mit dem Exotischen. Allerdingsspielt Japan dabei eine besondere Rolle. Vergleicht man es mit den schon sehr frühen per-sischen und chinesischen Einflüssen auf europäische Stile, so kommt die Begegnung mitJapan erst relativ spät zustande. Denn Japans konsequente Abschottung bis Mitte des19. Jahrhunderts ließ wenig Austausch zu. Erst als japanische Kultur und Produkte in denWeltausstellungen in Europa besichtigt werden konnten, setzte die breite Rezeption ein.

Ähnlich wie beim chinesischen Porzellan im 18. Jahrhundert beeindruckte die japanischeOberflächengestaltung. Künstler und Kunsthandwerker entdeckten eine neue reduzierteAuffassung des Dekors, die sie dem überladenen Historismus entgegensetzten. Beson-ders der Jugendstil entnahm den japanischen Vorbildern viele Anregungen. Japan waraber für Europa nicht nur ein Reservoire für Stoffdesign, sondern auch Konkurrent sowiemöglicher zukünftiger Partner auf dem entstehenden Weltmarkt. Materialproben ausjapanischer Produktion für den europäischen Geschmack verweisen auf diesen Zusammen-hang. Vor diesem Hintergrund besitzen auch die historischen Japanstoffe aus der SammlungBaelz neben dem kulturgeschichtlichen Wert ihre Bedeutung als Teil einer markt- undanwendungsorientierten Lehrsammlung der konkurrenzbewussten württembergischenTextilindustrie.

Dekorationsstoff

Baumwolle, bedruckt, 1914H 13, B: 28cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 110 955/33.

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Die japanische Stoffmustersammlungder Hochschule ReutlingenElisabeth Mosbacher

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Die Hochschule Reutlingen besitzt eine sehr um-fangreiche japanische Stoffmustersammlung ausder Zeit von 1530 bis 1870, die unter den wenigenderartigen Sammlungen in Europa zu den bedeu-tendsten zählt.Der größte Teil dieser Sammlung stammt von demdeutschen Arzt Erwin (von) Baelz (13.1.1849 Bietig-heim – 31.8.1913 Stuttgart), der zwischen 1876 und1905 als Professor an der medizinischen Hochschulein To-kyo- lehrte und gleichzeitig Leibarzt des dama-ligen Kronprinzen und späteren Taisho- -Tenno- inJapan war. In dieser Zeit trug er eine umfangreicheSammlung an japanischer Kunst und Kunsthand-werk zusammen. Damit stand er ganz in der Tradi-tion vieler Deutscher, die in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts im Ausland Beispiele des künstle-rischen und handwerklichen Schaffens ihres Gast-landes erwarben und diese den neu entstandenenKunstgewerbemuseen und Mustersammlungenihres Heimatlandes als Anschauungsobjekte zur Ver-fügung stellten. Neben China übte Japan, das sichvom Beginn des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des19. Jahrhunderts von der Außenwelt abgeschottethatte, auf die Europäer einen besonders exotischenReiz aus. Umgekehrt war für die Japaner alles West-liche von besonderem Interesse. Dies ging so weit,dass sie ihre eigene Kultur in vielen Bereichen, z. B.in der Bekleidung, nicht mehr wertschätzten undunbesehen westliche Vorbilder übernahmen.

Die Baelzsche Sammlung, darunter auch die Stoff-mustersammlung, traf 1881 in Deutschland ein undwurde von der Familie Baelz dem Landesgewerbe-museum Stuttgart zur Ausstellung überlassen. Erst1891 ging die gesamte Baelzsche Sammlung inden Besitz des Museums über. Ein Großteil dieserSammlung befindet sich heute im Linden-Museum

in Stuttgart. 1933 wurde im Zuge einer Umstruktu-rierung des Landesgewerbemuseums die BaelzscheStoffmustersammlung an das Technikum für Textil-industrie in Reutlingen abgegeben. Zusammenmit der Baelzschen Sammlung erhielt das Technikumfünf japanische Musterbücher und circa 60 japa-nische Stoffcoupons, die das Landesgewerbe-museum aus anderer Quelle erworben hatte. Sechsweitere japanische Stoffmusterbücher übernahmdas Technikum 1934 von der Steinbeis-Stiftung.

Die japanische Stoffmustersammlung umfasst ins-gesamt elf Stoffmusterbücher und ungefähr 830Stoffcoupons, von denen etwa zehn chinesischerHerkunft sind. Die Coupons sind mit Faden aufKlappkartons montiert. An die meisten Stoffcou-pons der Baelzschen Sammlung sind kleine Zettelmit Faden geheftet, auf denen Datierung undjapanische Gewebebezeichnung notiert sind. DieBeschriftung stammt mit großer Wahrscheinlich-keit von Erwin (von) Baelz selbst, der im übrigen1905 nach seiner Rückkehr aus Japan von KönigWilhelm von Württemberg das Komturkreuz desKronenordens verliehen bekam, eine Auszeich-nung, mit der der persönliche Adel verbunden war.

Das Material der Stoffe ist, bis auf wenige Exemp-lare, Seide. Bei den Stoffcoupons fällt auf, dass fastalle Stücke teilweise sogar sehr starke Gebrauchs-spuren wie Verschmutzung, Abnutzung oder Naht-spuren aufweisen. Einige Stücke zeigen auchSpuren von Tierfraß. Diese Gebrauchsspuren sowiedie Muster lassen vermuten, dass die Stoffe über-wiegend Teile von Kimono und Kimonogürtel (obi),von Gewändern für das No--Theater oder vonbuddhistischen Mönchsumhängen (kesa) waren.Einige der Stoffe dürften jedoch auch zu Dekora-

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tionszwecken, beispielsweise als Tempelbanner, ent-standen sein. Bei vielen Stoffen gewinnt man denEindruck, dass sie nach ihrem ursprünglichen nocheinen zweiten Verwendungszweck hatten. Einigewurden wahrscheinlich zu kleinen Beuteln oderTaschen umgearbeitet, wofür Naht- und Knopfspurensowie Faltungen ein Indiz sein könnten. So gab esden Brauch, kostbare alte Stoffe zu Schutzum-hüllungen für wertvolle Teegefäße zu verarbeiten.Andere dienten wahrscheinlich als Randmontierungfür Rollbilder und Kalligraphien, worauf Papier-reste auf der Stoffrückseite hindeuten.

Trotz des Alters der Stoffe und der zum Teil erheb-lichen Gebrauchsspuren sind die Farben großen-teils noch erstaunlich gut erhalten. Einige derStoffe haben eine derartige Leuchtkraft, dass mansich ihre ursprüngliche Pracht sehr gut vorstellenkann. In zahlreiche Stoffe sind Gold- oder Silber-fäden als zusätzlicher Schuss eingetragen. Diesesind, anders als bei westlichen Textilien, keineGold- oder Silberlahnfäden, sondern Papierstreifen,die nur auf der Oberfläche mit Gold oder Silberbeschichtet sind. Goldfäden mit Seiden- oderLeinenseele finden sich in der Sammlung nur selten.Zum Teil hat sich das Metall farblich verändert, oft-

mals in ein Dunkelbraun, oder wurde abgewetzt.Bei einigen Stücken ist das Gold bzw. Silber in sei-nem vollen Glanz jedoch erhalten geblieben.

Die dargestellten Motive zeigen eine große Vielfalt.Neben rein geometrischen Formen finden sich zahl-reiche Abbildungen von Fabelwesen wie Dracheoder Phönix. Auch stilisierte oder naturgetreue Dar-stellungen von Pflanzen, Tieren und Menschen sindbeliebte Motive. Seltener sind realistische Dar-stellungen von Gegenständen aus unterschiedlichenBereichen, z. B. eine Steinlaterne, Teegeschirr undein Zugwebstuhl. Sogar Schrift, entweder als ein-zelnes Schriftzeichen oder als ganzer Text, wurdegewoben.

Mit ihrer Reichhaltigkeit an Farben, Formen undTechniken vermittelt die japanische Stoffmuster-sammlung einen faszinierenden Eindruck von derVielfalt und Pracht sowie dem handwerklichenKönnen der japanischen Weberei aus der Zeit zwi-schen dem 16. und dem 19. Jahrhundert. Im Rahmeneiner Dissertation wird die Autorin die Sammlungder Hochschule Reutlingen erstmals umfassendwissenschaftlich bearbeiten.

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Japanischer Zugwebstuhl (hanabata)

Seide, Leinwandbindung (Kohaku), ca. 1740H 29, B 19 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200039.

Wie schon die ältesten japanischen Chroniken vom Anfang des 8. Jahrhunderts berich-ten, hat das Weben in Japan eine sehr lange Tradition. Bereits im 5. und 6. Jahrhundertkamen Weber und andere Textilkünstler aus China und Korea nach Japan. Dadurchgelangten nicht nur kostbare Stoffe, sondern auch das technische Know-how zurHerstellung solcher Stoffe in das Land. Der Zugwebstuhl geht ebenfalls auf chinesischeVorbilder zurück. Mit ihm war es schon lange vor der Einführung des Jacquard-Web-stuhls in Japan im Jahre 1873 möglich, sehr komplexe Muster zu weben. Für das Weben

mit einem Zugwebstuhl benötigteder Weber einen Assistenten, den sogenannten Ziehjungen oder Zampel-buben, der oben im Webstuhl saß undauf Zuruf den Harnisch bediente.Diese Tätigkeit wurde in Japan oft vonFrauen ausgeführt.

Bei dem abgebildeten Stoff handeltes sich um ein leinwandbindiges Ge-webe mit doppelt so vielen Fäden inder Kette wie im Schuss. Dadurch ent-steht eine körnige Oberfläche, wie siefür die Kohaku-Technik üblich ist. DieGoldpapierfäden des Musters sind miteinem zweiten Schusssystem einge-tragen.

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„Chinesische Weberei” (karaori)

Abb. unten: Drache, Seide, Köperbindung (Atsuita-kara-ayaori), ca. 1750H 42, B 28 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200063.

Oben sind stilisierte Blüten und Blätter der Paulowniazu sehen. Dieser ursprünglich in China beheimateteBaum wird wegen seiner vielfältigen Verwendungs-möglichkeiten geschätzt. Das Holz ist sehr leicht undkann Klimaschwankungen gut ausgleichen. Daherwird es in Japan zur Herstellung von Möbeln, vorallem von Truhen zur Aufbewahrung von Kimonos,Musikinstrumenten oder Holzsandalen verwendet.Die Rinde dient als Färbemittel, die Blätter werdenals Insektenbekämpfungsmittel verwendet. Zusammenmit der Chrysantheme ist die Paulownia das Wappendes japanischen Kaiserhauses.

Die untere Abbildung zeigt ein Drachenmedaillonmit einem Durchmesser von 21 Zentimetern. In derchinesischen Mythologie ist der Drache ein Glücks-symbol. Er steht gleichzeitig für Männlichkeit undden Osten (Sonnenaufgang). Ihm wird auch die Fähig-keit des Regenmachens zugeschrieben. In China galter als Symbol des Kaisers.

Beide Stoffe sind in karaori, chinesischer Weberei,gewoben, in einer Technik, die seit dem 15. Jahr-hundert in Japan bekannt ist. Das Grundgewebe istin der Regel eine Köperbindung. Die Schussfäden fürdas Muster flottieren weit über die Gewebeober-fläche, so dass der Eindruck entsteht, das Muster seieingestickt.

Abb. oben: Paulownien (kiri), Seide, Köperbindung (Atsuita-karaori-nishiki), ca. 1750 (Ausschnitt)H 66, B 18 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200062.

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Schlitzwirkerei (tsuzure)

Abb. unten: Vögel und Kirschblütenzweig, Seide, Schlitzwirkerei in Leinwandbindung (Tsuzure-nishiki), ca. 1810H 25, B 17 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200375.

Das rituelle Zubereitenund Trinken des Tees, dieTeezeremonie, wird inJapan heute noch in vielenTeeschulen unterrichtet.Neben der Gestaltung desRaumes und der Auswahlder angemessenen Beklei-dung spielen die Teegeräteeine wichtige Rolle. Dielinke Abbildung zeigt

einige dieser Geräte, z. B. eine Teeschale, den eisernen Wasserkessel in der vierecki-gen Feuerstelle und ein Wassergefäß mit der Schöpfkelle aus Bambus.

Auf der Abbildung rechts sind Vögel in einem Kirsch-blütenzweig dargestellt. Die Kirschblüte wird alsNationalblume Japans bezeichnet. Ihre Faszinationliegt in dem kurzen schönen Aufblühen und demschnellen Dahinwelken. Damit galt sie als Vorbildfür die Samurai, die wie die Kirschblüte in der Blütedes Lebens den Tod nicht fürchten sollten.

Beide Stoffe sind in der tsuzure genannten Technikgewebt. Dies entspricht in etwa der Schlitzwirkereioder der Kelimtechnik. In der Literatur wird tsuzureoft mit Fingernagelweberei übersetzt. Dies kommtvermutlich daher, dass die Weber ihre Fingernägelin gezackter Form schneiden und diese als Werk-zeuge beim Weben, zum Beispiel zum Heben ein-zelner Kettfäden, einsetzen. Da es eine sehr auf-wändige Technik ist, können pro Tag nur wenigeZentimeter gewoben werden. Sehr teure Gürtel fürden Kimono werden oft in dieser Technik herge-stellt.

Abb. oben: Teegeräte, Seide, Schlitzwirkerei in Leinwandbindung (Tsuzure-nishiki), ca. 1760H 10, B 20 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200065.

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Links ist eine Steinlaterne abgebildet, die beim Haupttor des Zen-Tempels Nanzenji inKyo-to steht. Die in den Stoff eingewobene Inschrift nennt ein Datum, den 19. Tag des9. Monats im 5. Jahr der Periode Kanei, nach unserer Zeitrechnung das Jahr 1628. Indiesem Jahr wurde das Haupttor des Nanzenji wieder aufgebaut.Die Abbildung rechts zeigt zwei spielende Drachen. Anders als im europäischenKulturkreis gilt der Drache in China und Japan als Glückssymbol. Er verkörpert dasmännliche, zeugende Prinzip und die Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs (Osten).

Bei beiden Stoffen sind Papiergoldfäden als Muster bildender Lancierschuss eingewebt.Gold- und Silberfäden bestehen in japanischen Geweben in der Regel aus Papier, aufdessen Vorderseite Gold- oder Silberfolie aufgebracht ist. Gold- oder Silberfäden mitLeinen- oder Seidenseele sind selten. Da sich das Gold leicht abreibt, kommen die rot-braune Farbe des Klebers oder das Weiß des Papiers während des Gebrauchs zum Vor-schein, wie bei diesen beiden Stücken. Im Gegensatz zu den anderen Stoffen derSammlung handelt es sich hier eventuell um Solitärmotive, da keine Wiederholung desMusterrapports zu erkennen ist.

Papiergold

Abb. rechts: Zwei Drachen, Seide, Papiergold, Köperbindung (Atsuita-ayaji-kinran), ca. 1820H 19, B 15,5 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200435.

Abb. links: Steinlaterne, Seide, Papiergold, Köperbindung (Koyanagi), ca. 1780H 25,5, B 16 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200119.

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Wie die Schildkröte steht der Kranich in China und Japan als Sinnbild für langes Leben.In Japan sagt man, die Schildkröte lebe 10 000 Jahre, der Kranich 1 000 Jahre. Wegenseiner Langlebigkeit gilt er als Glück bringendes Symbol. Oft wird der Kranich auchzusammen mit anderen Glückssymbolen dargestellt, wie beispielsweise mit der Kiefer,die ebenfalls langes Leben symbolisiert. Wegen seiner Bedeutung als Glücksbringer ist derKranich ein beliebtes Ornament für den Hochzeitskimono. Außerdem wird er oft alsMotiv für Familienwappen verwendet.

Der abgebildete Stoff besteht auseinem Gewebe in Atlasbindung mitzwei Fadensystemen im Schuss. ImBereich des Vogelkörpers wurdedann noch ein zusätzlicher Lancier-schuss eingebracht. Die floralenMotive hinter dem Kranich sind mitPapiergoldstreifen gewoben. ImStoff zeigen sie sich eher braun alsgoldfarben. Dies ist vermutlich aufdie natürliche Alterung zurückzu-führen. Allerdings wurden Gold-und Silberfäden manchmal auchspeziell behandelt, um ihnen einegewisse Alterspatina zu verleihen.

Kranich (tsuru) – Glückssymbol

Kraniche (tsuru), Seide, Papiergold, Grundgewebe in Atlasbindung (Shusuji-nishiki), ca. 1810H 35, B 31 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200320.

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Für den japanischen Nationalsport Sumo-

werden seit Mitte des 18. Jahrhundertsvor jedem Turnier Listen veröffentlicht,die über den aktuellen Rang der einzelnenRinger Auskunft geben. Die Ranglistenweisen eine eigene Typographie auf. Titelund Namen sind beim Ranghöchsten amgrößten geschrieben und werden mitabnehmendem Rang kleiner. Jede Rang-liste ist in zwei Seiten unterteilt, links dieSeite Ost und rechts die Seite West. DieRinger, die auf der Seite Ost positioniertsind, hatten ein etwas besseres Ergebnisim letzten Turnier als die gleichrangigenRinger auf der Seite West.

Bei dem abgebildeten Stoff handelt essich um einen Ausschnitt aus der Ost-Seite einer Sumo--Rangliste, die etwa imJahr 1830 entstanden ist. Sie beginntrechts oben mit dem ranghöchsten Ringer. Die Leserichtung ist senkrecht von rechtsoben nach links unten. Nach dem Querstrich beginnt die zweite Reihe. Zwischen demRang und dem Namen wird in kleineren Schriftzeichen der Herkunftsort des Ringersangegeben. In der linken Spalte sind die Namen der Schiedsrichter genannt. Üblicher-weise werden solche Sumo--Ranglisten auf Papier gedruckt. Eine Liste in textiler Form,wie die abgebildete, ist daher außergewöhnlich. Die Schriftzeichen sind eingewobenund nicht mit Tusche aufgeschrieben, wie man zunächst vermuten würde.

Sumo--Rangliste (bantsuke)

Sumo--Rangliste (bantsuke), Ausschnitt, Seide, Leinwandbindung, ca. 1830H 12, B 21,5 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200525.

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Auf weißem Baumwollstoffsind vor einem geometrischenHintergrund Reisschalen mitDeckel, Blüten, Blätter undFrüchte aufgestickt. Bei denFrüchten könnte es sich umGranatäpfel handeln. Die Kon-turen der dargestellten Gegen-stände und Früchte sowie derHintergrund sind gestickt. Diebunten Flächen sind bemalt.Nur ganz wenige kleine Flächensind ausgestickt, so z. B. dieGriffe an den Deckeln sowieeinzelne Blüten, Blätter undFrüchte.

Die Stickerei ist in Japan bereits seit dem 6. Jahrhundert bekannt. Allerdings enthält diejapanische Stoffmustersammlung nur drei bestickte Stücke. Bei dem abgebildeten undeinem weiteren Stück bildet die Stickerei das Muster, bei einem dritten Exemplar dientsie nur zur Hervorhebung der Konturen. Es befinden sich zwar wesentlich mehr Stoffein der Sammlung, die zunächst wie gestickt aussehen, doch handelt es sich dabei jeweilsum karaori. Diese Webtechnik, erweckt durch die lange Flottierung der Musterfädenauf der Gewebeoberfläche den Eindruck, als sei das Muster gestickt (vergleiche Abb.Seite 37).

Stickerei

Blüten, Granatäpfel und Gefäße, Baumwolle, Stickerei, Bemalung, Leinwandbindung, ca. 1850H 20, B 30 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Inv. Nr. 200646

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Innerhalb der Studiensammlung der Hochschulenehmen die archäologischen Textilien aus Perueine Sonderstellung ein: Vier Fragmente konntenschon 1932 vom damaligen Staatlichen TechnikumReutlingen erworben werden. Bei den restlichen,über 70 Fragmenten handelt es sich um eine ge-schlossene Sammlung, die 1967 von GerhardWilhemi, einem ehemaligen Studenten der Fach-hochschule Reutlingen, als Schenkung aus Peruan die Schule gesandt wurde. Vermutlich kannteWilhemi die schon zu seinen Studienzeiten vorlie-genden vier Textilien aus Peru. Und eventuell regtenihn diese Stücke an, bei seinem Aufenthalt in Perudiesen Sammlungszweig durch eine Schenkung zuerweitern. Andere geschenkte Unterlagen ehemali-ger Studenten (z.B. Mitschriften oder Lernmateria-lien) zeigen, dass es nicht unüblich war, zu späterenZeiten Studiendokumente an die Hochschule zugeben. Eine Schenkung über Textilbeispiele für dieStudiensammlung ist jedoch ein Einzelfall undliegt nur in diesem Bereich vor.

Die Sammlung präsentiert sich in Bezug auf Tech-niken, Farbigkeit und Musterung als eine schöne,ausgewogene Einheit. Zeitlich lässt sie sich in einenZeitraum vom 9. bis zum 14./15. Jahrhundert ein-ordnen. Eingeteilt nach Kulturen sind in derSammlung Textilbeispiele aus der Spätphase derHuari-Kultur des Mittleren Horizontes (ca. 600 -ca. 1000 n. Chr.), aus den Kulturen Chancay, Chimúund Lambayeque der Späten Zwischenperiode(ca. 1000 - ca. 1450) und aus der Epoche der Inka imSpäten Horizont (ca. 1450 - 1532) vertreten.

Das südamerikanische Land Peru gliedert sich indrei landschaftliche und klimatische Einheiten: ent-lang der Pazifikküste in einen Wüstenstreifen mitFlussoasen, in das Andenhochland mit teilweiseüber 6000 Meter hohen Berggipfeln und in einfeuchtwarmes Urwaldgebiet östlich der Andenkette.Diese drei Regionen bilden drei Lebenszonen, dieohne die Ergänzung der anderen nicht bestehenkönnen. Der Handel mit Grundnahrungsmittelnund kultischen Gütern war lebensnotwendig.

Alle Kulturen der zentralen Andenregion zeichnensich durch die Tradition eines ausgeprägten Grab-kultes aus. Verstorbene wurden als Mumienbündelbestattet, denen reichlich Grabbeigaben, vor allemauch Textilien, mitgegeben wurden. Im Sand derWüstenküste konnten sich diese organischen Mate-rialien gut erhalten.

In den Flussoasen wurde Baumwolle angebaut.Wolle wurde von den im Hochland lebenden Lamasund Alpakas gewonnen. Ihre Wolle musste ausdem Hochland eingeführt werden und war an derKüste dementsprechend kostbar. Die Farbigkeitsteht in direktem Zusammenhang mit den Materi-alien. Die in der Natur vertretenen Farben Weiß,Creme und verschiedene Brauntöne – sowie beiWolle auch Schwarz – decken ein breites Spektrumab. Zusätzlich wurden die Fasern oder Garne mitpflanzlichen und tierischen Materialien eingefärbt.Tierische Fasern nehmen Farbpartikel besondersgut an und können in einer reichen Farbpalette inden Grundfarben und weiteren Zwischenschattie-rungen eingefärbt werden.

Archäologische Textilien aus PeruDie historische Gewebesammlungder Hochschule ReutlingenDaniela Biermann

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Schon in archäologischen Textilien des ersten vor-christlichen Jahrtausends sind alle textilen Grund-techniken vertreten – außer Stricken und Häkeln.Die ältesten Funde aus Peru zeigen Knoten undVerschlingungen; bald folgten Geflechte, dannkamen Gewebe hinzu. Zur Herstellung der Gewebedienten Rückengurtwebgeräte. Einfache Lein-wandgewebe wurden zum Teil zusätzlich mitLanzierungen oder Broschierungen verziert. In allenKulturen wurden Wirkereien gewebt. Mit mehrfa-chen Ketten oder Schusssystemen wurden Doppel-gewebe und Mehrfachgewebe hergestellt. Äußerstfeine, so genannte Schleiergewebe entstanden mitHilfe der Dreherbindung oder durch Verknotender Längs- und Querfäden bzw. weiterer Muster-fäden. Eine geschlossene Gruppe bilden bemalteGewebe, die schon sehr früh einen eigenen Stilinnerhalb den jeweiligen Kulturen ausgebildethaben.

In der Musterung sind Tiermotive sehr verbreitet.Diese bilden die Umwelt und den Alltag ab, sindaber zugleich Symbole für die Elemente der Natur.

Beispielsweise stehen Fische für Wasser, Vögel fürLuft. In den Wüstenregionen ist Wasser lebensnot-wendig. Fische und das Element Wasser verweisenauf eine weitere Symbolebene und verdeutlichensinnbildhaft die Verfügbarkeit bzw. den Wunschnach lebensspendendem Nass. In einem vergleich-baren Zusammenhang erscheinen Wellen- undTreppenmotive: Wellen symbolisieren ebenfallsWasser als die Quelle verschiedener Nahrungsmittelund Grundlage aller Fruchtbarkeit. Treppen sindwohl als Symbol für Felder, vor allem in Form vonTerrassenanlagen, zu deuten. AnthropomorpheFiguren lassen nicht erkennen, ob Gottheiten oderhochrangige Persönlichkeiten dargestellt sind. Inden altperuanischen Kulturen wurden diese aller-dings nicht ausdrücklich unterschieden; Priester undWürdenträger repräsentierten Gottheiten undnahmen die Funktion eines Mittlers zwischen denLebenden und den Göttern und Ahnen ein.

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Das gewirkte Band zeigt übereinander fünf Köpfe in unterschiedlicherFarbverteilung. An den Rändern und zwischen den Köpfen wechseln sichverschieden farbige Rechtecke ab. Ihre Farbigkeit zeigt besonders schöndas große Spektrum an Farbnuancen, die alle mit pflanzlichen oder tieri-schen Rohstoffen gefärbt wurden – und bis heute erhalten blieben.

Vermutlich handelt es sich hier um Trophäenköpfe, die im Weltbild deralten Peruaner im Kreislauf um Tod und Leben eine wichtige Rolle spielten. Imunsicheren Leben der Oasenbewohner, die extrem vom Wasserpegel derFlüsse abhingen, waren Opferrituale an die Gottheiten Gegenleistungenfür die ständige Menschenschuld gegenüber der Götterwelt. Menschen –Feinde oder Auserwählte aus der eigenen Gemeinschaft – waren das höchsteGut, das den Göttern geopfert werden konnte. Und erst durch den Tod,auch vorzeitig und gewaltsam, konnte neues Leben entstehen.

Band

Zentralküste, Späte Zwischenperiode, ca. 1000 - ca. 1450 n. Chr.Baumwolle, Kamelidenwolle; SchlitzwirkereiH 28,5, B 4,6 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Ohne Nummer

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Doppelgewebe der Späten Zwischenperiode be-stehen fast ausschließlich aus stark kontrastieren-den Baumwollfäden, hier in mittelbraun und grau.Die gleichzeitig gewebten, aber lose übereinanderliegenden Gewebelagen sind durch den Wechselder zwei Kett- und Schusssysteme miteinanderverbunden. Ober- und Unterseite sind nur an sehrfeinen Musterelementen zu unterscheiden. DerGewebestreifen zeigt auf der Vorder- und Rück-seite dieselbe Musterung im Positiv-Negativ-Effekt:Längs- und Querstreifen begrenzen Rechtecke, diejeweils eine zoomorphe Figur, vermutlich einLama, umrahmen. In den Längsstreifen sind feine,durchgehende Treppen- und Mäandermotive zusehen, in den Querstreifen ineinander greifendeS-Motive.

Peruanische Gewebe werden von beiden Kettkan-ten aus gearbeitet und an einer Stelle im Gewebeabgeschlossen. Bei diesem Gewebestreifen zeigendie obersten Quadrate, die durch eine geringereSchussdichte in die Länge gezogen sind, die Stelle,die im Herstellungsprozeß als letztes gewebtwurde.

Gewebestreifen

Zentralküste, Chancay-Kultur (?), Späte Zwischenperiode, ca. 1000 - 1476 n. Chr.Baumwolle; Doppelgewebe in Leinwandbindung mit WarenaustauschH 51,5, B 13,5 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Mappe 6

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Der Gewebestreifen ist ein Teil eines Hemdes,das auf der Vorder- und Rückseite vermutlichaus jeweils vier solcher Streifen bestand.Typisch ist die Borte im unteren Bereich, dieneben den gewebten Fransen in gelbemGrund eingewirkte Vögel zeigt. Ein schmalerStreifen mit ineinander greifenden Treppen-und Wellenmotiven rahmen den Mittelteil derBorte ein. Darüber schließt sich ein Leinwandgewebean, in das verschiedene Motive mit zusätzli-chen Wollfäden eingewebt sind (Broschie-rung). Diese zeigen wiederum entlang derrechten Kante einen Treppen- und Wellen-fries. Die einzeln eingewebten Motivekönnten kleine Tempel darstellen. Treppenund Wellen nehmen Bezug auf Terrassen-anlagen bzw. auf Felder und das ElementWasser, beides wichtige Vorraussetzungenfür die lebensnotwendige Landwirtschaft.Vögel sind in der Chancay-Kultur ein sehrbeliebtes Motiv, das auch wieder Wasserund Fruchtbarkeit symbolisiert.

Gewebestreifen – Teil eines Hemdes (unku)

Zentralküste, Chancay-Kultur, Späte Zwischenperiode, ca. 1000 - 1476 n. Chr.Baumwolle, Kamelidenwolle; Leinwandgewebe mit Broschierung, Borte mit Schlitzwirkerei, gewebte FransenH 126,0, B 19,5 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Mappe 2

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So genannte Schleiergewebe sind sehr verbreitet in der Chancay-Kultur, in der diese fei-nen Gewebe als Kopftücher verwendet und den Toten mitgegeben wurden. Durch dasstellenweise Versetzen der Kettfäden um ein oder zwei bzw. drei Fäden entstehen imLeinwandgewebe feine Lücken, die hier eine Musterung mit Rauten und einge-schriebenem Mustermotiv bilden. In den versetzten Rauten ist jeweils ein Tintenfisch zuerkennen, dessen Beine nach oben gebogen sind. Dieses Tiermotiv ist regelmäßig um180 Grad gedreht, so dass es jeweils in einer Querreihe auf dem Kopf steht.Als Meeresbewohner und Vertreter der Wasserwelt steht der Tintenfisch für das reicheNahrungsangebot, das den Anwohnern als Grundlage der Ernährung diente. Zusätzlich

verweist das Meerestier auf dieFruchtbarkeit, die in der trockenenWüstenregion nur durch regel-mäßig verfügbares Wasser möglichwird.

Schleiergewebe

Zentralküste, Chancay-Kultur, Späte Zwischenperiode, ca. 1000 - 1476 n. Chr.Baumwolle; Leinwandbindung mit Dreherbindung H 94,5, B 37,5 cmHochschule Reutlingen Gewebesammlung, Mappe 23

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Bei diesem bemalten oder mit Stempelnbedruckten Fragment wird besonders gutdeutlich, wie geschwungen der Duktusder Musterung sein kann, wenn dieLinienführung nicht mehr an die Technikbzw. den Fadenverlauf gebunden ist.Schon sehr früh bildete sich bei den be-malten Geweben ein eigener Stil inner-halb der jeweiligen Kulturen heraus.

Bei diesem Gewebefragment handelt essich um ein besonders feines Beispiel.Zwischen Längs- und Querstreifen mitWellenelementen, Zickzacklinien undgeometrisierten Vogelköpfen sind Qua-drate mit komplexen Motiven einge-schlossen. Diese Motive wiederholen sichmeist in der Diagonalen und bestehenaus zoomorphen und geometrischenElementen. Gut sind die von oben dar-gestellten Vögel zu erkennen, andereQuadrate zeigen Betonungen des Mittel-punktes und der Diagonalen, weitereQuadrate sind mit verschieden gemuster-ten Kreisen versehen. Die einzelnenElemente lassen sich schwer deuten.

Gewebefragment

Zentralküste, Chancay-Kultur, Späte Zwischenperiode, ca. 1000 - 1476 n. Chr.Baumwolle; Leinwandgewebe, bemalt oder StempeldruckH 27,3, B 22,0 cm Hochschule Reutlingen Gewebesammlung, Mappe 14.

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Seit je her macht sich der Mensch Fasern zunutze,die er aus der ihn umgebenden Natur, aus Pflanzenund von Tieren, gewonnen hat. Im mitteleuropäi-schen Raum war Flachs über Jahrtausende hinwegdie erste und einzige Kulturpflanze für die Faser-gewinnung. Mit ihrer relativ hohen Festigkeit undihrem guten Feuchteaufnahmevermögen wurdesie in großem Umfang für durchaus leichte und imSommer angenehm tragbare Kleidung verarbeitet.In Deutschland wurde der Flachs erst Ende des18. Jahrhunderts durch Baumwolle ersetzt, dieinzwischen billiger importiert werden konnte. Jutewurde ebenfalls sehr früh in Indien als Spinnfaserbenützt, fand aber in Europa erst Mitte des 19. Jahr-hunderts Eingang. Weitere Bastfasern wie die Ramie-faser erlangten trotz positiver Eigenschaften keinebesondere Bedeutung.

Die frühesten Nachrichten über Wolle als eine derwichtigsten Tierfasern für die textile Erzeugungstammen aus Babylon und Ninive um 1000 vorChristus. Auch bei den Ägyptern, Griechen undRömern waren Wollstoffe sehr beliebt. Die wär-mende und wasserabweisende Eigenschaft derWollfaser war ideal, um vor Kälte und Nässe zuschützen. Die Verspinnung von Wolle und Flachs-fasern wurde im Laufe der Jahrhunderte ständigverbessert, so dass Textilien über die reinen Schutz-funktionen hinaus zunehmend auch als Schmuckund modisches Accessoire des Menschen dienenkonnten.

Die Entdeckung der Nitrierung von Baumwolle zuNitrocellulose im Jahre 1846 legte den Grundsteinfür die Herstellung von synthetischen Fasern. DerEngländer Joseph W. Swan ließ sich 1884 die che-mische Herstellung von Glühfäden für Kohlefaden-

lampen patentieren. Aus in Eisessig gelöster Nitro-cellulose mit anschließender Carbonisierunggewann er Fäden, deren textile Verwendungsmög-lichkeit er schnell erkannte. Er nannte sie „artificialsilk”. Die Entwicklung des Cuoxam-Verfahrens unddes Viskose-Verfahrens erlaubten es, Cellulose groß-technisch in Lösung zu bringen und daraus Fasernzu spinnen.

Das erste Patent zur Erzeugung von Fasern auseinem synthetischen Rohstoff erhielt 1913 FritzKlatte, der auf Basis von Polyvinylchlorid Erfolghatte. Im Frühjahr 1935 gelang es amerikanischenForschern das Polyamid 6.6 herzustellen und darausfeine Endlosfasern – Filamente – zu spinnen. DerSiegeszug des „Nylons”, aber auch „der Nylons”war nicht mehr aufzuhalten! In Berlin gelang esschließlich Paul Schlack im Jahre 1938, aus Polyamid6 textile Fäden zu spinnen. Das „Perlon” war gebo-ren. Weitere wichtige synthetische Fasern wurdenfast alle in diesem einen Jahrzehnt erfunden. Unterihnen das Polyester, das hochelastische Elastan, diePolypropylenfasern und weitere Polyamide in zumTeil ringförmiger Struktur.

Chemiefasern lassen sich heute in drei Klassenhinsichtlich der zugrunde liegenden Polymere ein-ordnen. Zu den Fasern aus natürlichen Polymerenzählen die Viscose-, Modal- und Acetatfasern. Basisfür diese Fasern ist die Zellulose, die beispielsweiseaus Baumstämmen gewonnen wird. Unter dieGruppe der Fasern aus synthetischen Polymerenfallen Elastan, Elastodien, Polyacryl, Polyamid, Poly-vinylchlorid, Polyester, Polyethylen sowie Polyvinyl-alkohol. In der Gruppe der Fasern aus anorganischenStoffen finden sich schließlich Glas-, Kohlenstoff-und Metallfasern.

High-Tech-FasernHarald Dallmann

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Dem Konstrukteur textiler Produkte stehen somiteine Vielzahl von Werkstoffen mit unterschiedlich-sten Eigenschaften zur Verfügung. Neben Festigkeitund Dehnung der Fasern sind Eigenschaften wieelektrische Leitfähigkeit und Wärmeleitfähigkeit,Schmelztemperatur, Brennbarkeit, Feuchteauf-nahmevermögen bzw. Wasserrückhaltevermögen,Beständigkeiten gegen Licht, Wetter, Lösungsmittelusw. sowie Oberflächenstrukturen und Quer-schnittsformen – um nur einige zu nennen – vonentscheidender Bedeutung. In großem Umfanghaben bereits so genannte „Microfasern” im AlltagEinzug gehalten. Die Bezeichnung verweist auf dieBeschaffenheit der Faser, die bei einer theo-retischen Länge von 10.000 Metern eine Masse vonweniger als einem Gramm aufweist. Im Vergleichzu einem menschlichen Haar ist der Durchmessereiner Microfaser bis zu 60-mal kleiner.

Neben diesen vielfältigen Eigenschaften der Fasernspielen in der textilen Produktion von heute dieverschiedensten Modifikationen der Oberflächeneine große Rolle. Ziel dabei ist, unterschiedlicheEigenschaften für einen bestimmten Einsatzzweckgezielt miteinander zu kombinieren. Genanntseien hier Beschichtungen, die für die Wasserun-

durchlässigkeit des Textils sorgen sowie das Auf-bringen von Paraffinstrukturen, die in der Lagesind, Wärmeenergie zu speichern und bei Bedarfwieder abzugeben wie beispielsweise „Outlast®“.Durch das Auflaminieren von microporösenMembranen kann aber auch gezielt dafür gesorgtwerden, dass das Textil wasserdicht wird. DiePorengröße (0,5 - 2 mm) wird dabei jedoch so ge-wählt, dass Wasserdampfmoleküle ohne weiteresdiese Barriere überwinden können.

Die Vielzahl der heute zur Verfügung stehendenneuen Fasertypen mit ihren genau definiertenEigenschaften ermöglicht es, textile Produkte zukonstruieren, an die bis vor wenigen Jahren nichtzu denken war. Die gezielte Kombination von Faser-eigenschaften mit den vielen Möglichkeiten, texti-le Flächen und komplexe Formen herzustellen,eröffnen ein weites Feld neuer Produkte: von groß-flächigen Bauteilen im Flugzeugbau aus Kohle-faser bis hin zu resorbierbaren chirurgischenNähfäden. Textil ist ein Material mit Zukunft undder Beruf des „Textilers” umfasst mittlerweile einArbeitsfeld mit Anforderungen, die unterschied-licher nicht sein könnten.

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„Fiberglas” ist heute in vielen Produkten, bei denen hohe Belastbarkeit bei möglichstniedrigem Gewicht zu akzeptablem Preis gefordert wird, anzutreffen. Die Glasfaservlieseoder -gewebe, die mit Kunstharz getränkt werden, finden sich in vielen Produkten, spe-ziell im Bootsbau, Fahrzeugbau und bei Sportgeräten. Schon vor über 40 Jahren erkanntejedoch die US-Air-Force, dass dem Einsatz der ansonsten vielversprechenden hochfestenGlasfaser im Flugzeugbau auf Grund ihrer Kraft-Längenänderungseigenschaften Gren-zen gesetzt sind. Seit dieser Zeit wurde die Entwicklung der modernen, hochfestenKarbonfaser vorangetrieben.

Karbonfaserverstärkte Bauteile (CFK) sind mittlerweile aus dem modernen Flugzeugbauund Fahrzeugbau nicht mehr weg zu denken. Wesentlicher Vorteil gegenüber anderenWerkstoffen ist das geringere Gewicht der vergleichbaren Bauteile bei gleichzeitighöchster Belastbarkeit. Es werden die unterschiedlichsten textilen Konstruktionen wie

gewebte, geflochtene und gewirkte Flächengebilde, zumTeil multiaxial verwendet. Diese Materialien erlauben esdem Konstrukteur, die Bauteile exakt den Erfordernissenhinsichtlich der mechanischen Belastungen zu optimieren.Da in vielen Fällen große dreidimensionale Körper benötigtwerden, müssen die verschiedenen Teilflächen aus Kohle-faser vor dem Imprägnieren mit Harz durch so genannteEinseitnähtechniken zusammengefügt werden. Dies ge-schieht durch Nähroboter, die CNC-gesteuert äußerst präziseund reproduzierbar arbeiten. Besonders interessant ist beidiesen Produkten der Einsatz von Flechttechniken, die esermöglichen runde Hohlkörper mit unterschiedlichenQuerschnitten herzustellen, wie sie beispielweise in derTriebwerkstechnologie zum Einsatz kommen können.

Während bei diesen Anwendungen die funktionellenEigenschaften der Karbonfaser zum Tragen kommen, stehtin Anwendungen wie der Fahrzeuginnenausstattung der

optische Effekt der High-Tech-Faser im Vordergrund. Als Material für Mittelkonsolenoder für das Armaturenbrett vermittelt sie dem Fahrer von Fahrzeugen der gehobenenPreisklasse den gewissen Hauch von Luxus.

Karbon

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Karbonfaser-Preform für keramische Brennkammer in DüsentriebwerkenModell 1:5Hersteller: EADS European Aeronautic Defence and Space Company Deutschland GmbH, Ottobrunn 2005

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Die persönliche Schutzausrüstung ist für den Menschen im Grunde schon seit Jahr-hunderten von großer Bedeutung. Die besten Beispiele dafür sind die Kettenhemdenaus dem Mittelalter, die ersten Taucheranzüge bis hin zu den Anzügen der Raumfahrer.Das Tragen von Sport- und Arbeitsschutzkleidung ist inzwischen oftmals vorgeschrieben.Die europäische Richtlinie für Persönliche Schutzausrüstung (PSA-Richtlinie) gibt hierden gesetzlichen Rahmen.Der textile Schutz dient dazu, den Menschen vor Gefährdungen von außen, beispielsweisevor den Gefahren am Arbeitsplatz abzuschirmen. Genauso gilt aber auch die Umkehrung:Bei bestimmten Herstellungsprozessen muss das Produkt bzw. der Raum vor demMenschen geschützt werden. Im ersten Fall bedeutet dies, dass der Mensch vor mecha-nischen, chemischen, biologischen oder radioaktiven Risiken bewahrt werden soll. Beimletzteren ist es das Ziel, Arbeitsumfeld und Produkte vor den Ausscheidungen oderPartikeln, die der Mensch abgibt, zu sichern. Einige Beispiele wie Schweißeranzüge,Anzüge für Lackierer bis hin zu Reinraumanzügen für die Chipfertigung oder dergesamte Bereich der medizinischen Textilien, die im Operationssaal eingesetzt werden,stehen stellvertretend für diese breite Produktpalette.

Schutzweste – ballistischer KörperschutzGroßes Energiesabsorptionsvermögen und hohe Festigkeitbei geringem Gewicht sind Eigenschaften von hochfestenChemiefasern, die es ermöglichen, den ballistischenKörperschutz zu revolutionieren. Unterschieden wirdhierbei die Art der Faser und deren Verarbeitung, d. h.Gewebe oder Gelege. Für moderne ballistische Körper-schutzsysteme verwendet man die folgenden Fasern:Poly(p-phenylen-2,6)benzobisoxazol, Polyethylen undAramid. Für ballistische Schutzaufbauten werden dieseFasern zu einem Garn versponnen. Dieses Garn wirdwiederum zu einem Gewebe verwoben oder zu einemUnidirektional-Gelege weiter verarbeitet. Beim Gelegewird das Garn parallel nebeneinander in eine chemische Matrix eingebettet und obenund unten mit einer Deckfolie versiegelt. Je nach Faserfestigkeit und gewünschterHalteleistung ergeben mehrere Gewebe- bzw. Gelegelagen übereinander den ballisti-schen Schutzaufbau. Ballistische Schutzwesten werden in verschiedenen Schutzklassen angeboten. Die Funk-tionsfähigkeit der Westen wird in Deutschland anhand der Technischen Richtlinie durchBeschuss geprüft. Diese gibt der Unterausschuss Führungs- und Einsatzmittel (UA FEM)

Persönliche Schutzausrüstungen in Arbeit und Freizeit

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Kugelsichere Weste, AramidBSST Baumann und Steffen Sicherheitstechnik GmbH, Nellingen/Alb 2005

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des Arbeitskreises II „Innere Sicherheit” der Ständigen Konferenz der Innenministerund -senatoren der Länder (IMK) heraus. Die Überprüfung zur Einhaltung der Schutz-klassen geschieht im wesentlichen durch Art und Dimension der verwendeten Projektile.Deren Masse liegt zwischen 2,6 - 15,6 Gramm bei einer Geschwindigkeit von circa 310 bis870 Meter/Sekunde.

ReinraumanzugOhne Schutzanzüge, die das Produkt vor den Verunreinigungendurch den Menschen bewahren, wäre die Fertigung in dermodernen Halbleiterindustrie und in anderen Bereichen nichtmehr denkbar. Durch den Einsatz von modernen Endlos-Chemie-fasern ist es gelungen, partikeldichte Gewebe zu konstruieren,welche die hohen Anforderungen hinsichtlich Partikeldurch-gang und Tragekomfort erreichen. Die häufig eingewebtenGarne aus leitenden Materialien wie beispielsweise Karbonverhindern in Kombination mit geeignetem Schuhwerk eineelektrostatische Aufladung, die sonst unweigerlich zu Schädenam Produkt führen würde. Besonderes Augenmerk liegt beidiesen Ausrüstungen auf der Konfektion. Alle Nähte undSchnittkanten des Gewebes müssen so ausgeführt sein, dassFaserenden keine Partikel aufnehmen und im Reinraum wiederabgeben können. Aus diesem Grunde sind beispielsweise alleSchnittkanten mit einem Band eingefasst.

PilotenanzugBesatzungen von modernen Kampfflugzeugen sind den immensen Beschleunigungs-kräften nicht mehr gewachsen. Der Mensch ist hier zum limitierenden Faktor geworden,da bei engen Kurvenradien massive Wahrnehmungsstörungen bis hin zur Bewusstlosig-keit eintreten können. Auf einer Entwicklung aus den späten 1930er Jahren beruht dieso genannte G-Hose für Piloten. Hier werden über einen Regler Kissen im Bauch- undBeinbereich mit Druckluft aufgeblasen, um das Absacken des Blutes in die unteren Extre-mitäten zu verhindern. Da Luft kompressibel ist, reagiert die G-Hose jedoch langsamerals der Körper – der Schutz kommt zu spät. Die neueste Entwicklung nutzt dagegen dasphysikalische Prinzip der hydrostatischen Kompensation – umgeben von Flüssigkeit sollsich der Pilot wie ein Baby im Mutterleib fühlen. Das Vorbild selber kommt aus derBionik: Denn die Libelle ist in der Lage, bis zu 30 g Querbeschleunigung (g = Erdbeschleuni-gung) zu ertragen. Der Blutkreislauf des Insekts ist flüssigkeitsgelagert und damit hydro-statisch zu nahezu 100 Prozent kompensiert. Die ersten Versuche für einen mit Flüssigkeit gefüllten textilen Schutzanzug für Pilotenstarteten 1988 mit 28 Litern. Heute sind es nach einem umfangreichen Erprobungspro-gramm mit vielen Testflügen nur noch drei Liter, die in den so genannten Fluidmuskeln

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Schuhe eines ReinraumanzugsPolyester, antistatisch; Nähfaden: PolyesterfilamentDastex Reinraumzubehör GmbH & Co. KG, Muggensturm 2004

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Abb. oben: Beschleunigungsanzug LIBELLE G-Multiplus®Prospective Concepts, CH-Glattbrugg 2004

die hydrostatische Funktion übernehmen.Der Pilotenanzug „Libelle G-Multiplus”ist selbstregulierend und funktioniertohne Ventile und Elektronik; damit ent-fallen Installationen oder Anschlüsse imCockpit. Ausgerüstet mit der „Libelle G-Multiplus” sind Piloten in der Lage,höhere Beschleunigungen über längereZeit sicher und ermüdungsfrei zu ertra-gen. Beispielsweise kann dadurch ein Pilotbeim Einwirken von der 9 bis 10fachenErdbeschleunigung noch klar sprechenund den Arm heben – mit pneumatischenSystemen ein Ding der Unmöglichkeit. Die Entwicklung bis hin zu Vorserienmusternerfolgte bei dem Schweizer Unternehmen Prospective Concepts. Serienreife und Zerti-fizierung sind durch die deutsche Firma Autoflug erfolgt.Die „Libelle G-Multiplus” ist bei der German Airforce (deutsche Luftwaffe) auf demEurofighter bereits im Einsatz; andere Luftwaffen folgen in Kürze.

FechtkleidungDie Konstruktion einer Schutzausrüstung für den Fechtsport stellt besondere Anforde-rungen an Material und Konfektion. Der Sportler soll einerseits höchst beweglich bleiben,andererseits aber bestmöglichen Schutz vor der möglicherweise abgebrochenen Klingeder gegnerischen Waffe haben. In letzter Konsequenz hießedies, die Eigenschaften einer Ritterrüstung mit den Eigenschaf-ten der Bekleidung für einen Rennläufer zu kreuzen. Die An-forderungen sind durch die Fédération International d´Escrime(F.I.E) und die Europäische Richtlinie für persönliche Schutzaus-rüstung gegeben. Für Fechtbekleidung ist das wichtigste Merk-mal die Durchstoßfestigkeit des Materials. Hier werden Gewebeund Gewirke aus Hochleistungsfasern wie Polyethylen undAramid verwendet. Diese müssen Durchstoßkräften standhalten,die für Jacken und Hosen mindestens bei 800 Newton bzw.1600 Newton für den Maskenlatz liegen. Beim Test wird einDurchstoß mit einer abgebrochenen Klinge bei einer Auftreff-geschwindigkeit von 6 Meter pro Sekunde simuliert. DieseGeschwindigkeit entspricht in etwa der maximalen Trefferstärkeim Wettkampf.

Abb. unten: Fechtanzug, Elektrische Weste für Damen, Florett50 % Inox (stainless steel), 45 % Polyester; Futter: 100 % Polyamidallstar Fecht-Center GmbH & Co. KG, Reutlingen

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Rennanzug für den SkiabfahrtslaufIm modernen Hochleistungssport muss die Sportbekleidung denAnforderungen der Skirennläufer hinsichtlich Bewegungsfreiheitund minimalem Luftwiderstand gerecht werden. Perfekte Passformund optimale Bewegungsfreiheit sind nur zwei Attribute, die durchdie hohe Elastizität der Wirkware gewährleistet werden. Zudemlässt der Anzug den Körper des Sportlers atmen, er ist außerdem was-serabweisend und entspricht den hohen technischen Anforderun-gen der Fédération Internationale de Ski (FIS). Das 2-Lagen-Laminatdes Stoffes wird mit Schaum kaschiert, so dass die geforderte Luft-durchlässigkeit erfüllt wird. Diese ist mit einer Durchlässigkeit von30 l/m2 und Sekunden genauestens vorgeschrieben.

SkisprunganzugIm Gegensatz zum Skirennanzug besteht der Anzug für Skispringeraus einem 5-Lagen-Laminat. Obwohl beide Sportbekleidungen einehohe Elastizität aufweisen, ist der Skisprunganzug nicht körperan-liegend. Er soll eine gute Aerodynamik besitzen und gleichzeitigdas Wohlbefinden des Sportlers gewährleisten. Zudem muss er denstrengen Spezifikationen der FIS entsprechen: Die Dicke des Stoffsdarf eine Höchststärke von fünf Millimetern nicht überschreitenund das Ausmaß des Kragens darf maximal 55 Zentimeter betra-gen. Der Umfang des Anzugs selbst darf insgesamt höchstens sechsZentimeter größer sein als der Umfang des entsprechenden Körper-teils. Auch die Luftdurchlässigkeit ist ein wesentliches Kriterium. Diemittlere Luftdurchlässigkeit von minimal 40 l/m2 und Sekunde ist beider Ausgangskontrolle durch den Hersteller vorgeschrieben. Bei derWettkampfkontrolle dürfen 30 Liter nicht unterschritten werden.Auch nach einer eventuellen Dehnung durch oftmaliges Tragenmuss eine mindestens gleich hohe oder höhere Luftdurchlässigkeitin der Rückenpartie des Anzuges wie in den übrigen Teilen vorhan-den sein. Diese Anforderungen werden von der FIS vor jedem Rennengeprüft. Wenn der Anzug eine oder mehrere Anforderungen nichterfüllt, wird er von der FIS nicht plombiert und der Fahrer darf mitdiesem Anzug nicht starten. Sportbekleidung aus Funktions-textilien trägt mittlerweile stark zum sportlichen Erfolg bei – eineEntwicklung, bei der teilweise auch die Frage des „Materialdopings”im Raum steht.

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Abb. oben: Skirennanzug „Spyder Comfort”80% Polyester, 20% SpandexChristian Eschler AG, CH Bühler

Abb. unten: SkisprunganzugPolyester, MoltoprenschaumChristian Eschler AG, CH Bühler 2005

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Die Erforschung textiler „Ersatzteile für den Menschen” ist eng mit dem Institut fürTextiltechnik, das bis Ende der 1970er Jahre in Reutlingen beheimatet war, verbunden.So entstanden in der Reutlinger Burgstrasse mit der Diplomarbeit und der anschließendenDissertation von Herrn Professor Dr. Heinrich Planck die ersten künstlichen Arterien aufeiner Strickmaschine. Für diese Zeit ein fast unglaubliches Unterfangen. Die Erforschungtextiler und synthetischer Materialien für medizinische Anwendungen ist einer derForschungsschwerpunkte im Bereich Biomedizintechnik. Für viele Medizinprodukte hatsich der Einsatz resorbierbarer sowie nicht resorbierbarer Biomaterialien als geeigneterwiesen.

Das Skelettmodell „Charly” des Instituts für Textil- und Ver-fahrenstechnik in Denkendorf führt beispielshaft verschiedenemedizinische Implantate vor, die dort entwickelt wurden:chirurgisches Nahtmaterial, Netze, Bänder, Folien oder Mem-branen. Für die Verarbeitung sind spezielle Textilanlagen wieExtruder, Verstreckanlagen, Flecht-, Web-, Wirk- oder Strick-maschinen erforderlich.

Das Ziel aktueller Forschungsarbeiten ist, Ersatzmaterialienmöglichst nahe am Vorbild der Natur zu entwickeln. Nur dieinterdisziplinäre Zusammenarbeit, der Wissenstransfer und dieVerknüpfung von Biologie, Chemie, Physik, Textiltechnik undBiomedizin führen hier zu erfolgversprechenden Ergebnissen.Aktuelle Forschungen betrachten zum Beispiel das Wachstumder Knorpel am Außenohr oder die Reparaturmöglichkeitenfür Gelenkoberflächen. Für die Heilung von Frakturen ist manauf der Suche nach abbaubaren, sich im Körper auflösendenPlatten und Schrauben, die einen zweiten Eingriff zum Heraus-nehmen der Teile überflüssig machen. Gewirkte Röhren sollenden Ersatz von Arterien ermöglichen, Röhren aus Polyurethan-vliesen könnten Luftröhren ersetzen. Geflochtene Stents,Leistenhernienimplantate und gewirkte Gefäßprothesen sindweitere Produkte, die durch den Einsatz von Biomaterialiendem Menschen wichtige Hilfe leisten.

Textile Produkte und -entwicklungenals medizinische Implantate

Skelettmodell „Charly” mit medizinischen Implantaten aus TextilInstitut für Textil- und Verfahrenstechnik, Denkendorf

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Der Einsatz textiler Produkte im Fahrzeugbau nimmt seit Jahren stetig zu. So wird biszum Jahr 2010 ein durchschnittlicher Verbrauch von ungefähr 30 Kilogramm proFahrzeug prognostiziert. Der Verzicht auf Textilien im Automobil ist heute kaum mehrvorstellbar. Für den Autofahrer sind diese zunächst unmittelbar bei der tagtäglichenNutzung des Fahrzeuges im Interieur zu sehen: Neben Sitzen, Fußboden, Dachhimmel,Türverkleidungen, Hutablagen usw. finden sich viele auf den ersten Blick nicht zu er-kennende Komponenten. Zwar hat jeder Autofahrer über Sicherheitssysteme, bestehendaus Gurten und Airbags, möglicherweise bereits viel gehört und gelesen, andere textileMaterialien wie beispielsweise in Reifen, Schläuchen, Filtern oder Dämmsystemen ver-richten ihren Dienst dagegen meist im Verborgenen.

So unterschiedlich der Einsatz der verschiedensten Materialien ist, so verschiedenartigsind auch die Anforderungen an sie. Der Trend im Interieur geht augenblicklich hin zumehr Komfort und Behaglichkeit, verbunden mit großen Anforderungen an den Geltungs-wert wie Eleganz, Optik und Haptik. Dennoch dürfen die Ansprüche an den Gebrauchs-wert wie beispielsweise hohe Lichtechtheit, gutes Abriebverhalten und geringe An-schmutzneigung der Materialien nicht vernachlässigt werden. Kein Verbraucher würdeheutzutage einen Sitzbezugstoff akzeptieren, der nach wenigen Jahren bei täglichemGebrauch ausbleicht oder zerreißt. Nicht zuletzt kommen immer neue Kriterien, insbe-sondere ökologische Aspekte wie der Einsatz unbedenklicher Stoffe und die Recycle-fähigkeit der Materialien, hinzu.

Der textile Innenraum Dominierend im Inneren eines Fahrzeuges sind zweifellos dieAutositze. Auf ihnen sitzen Fahrer und Beifahrer oft stundenlangunter den verschiedensten klimatischen Bedingungen. Im Wintersind sie oft sehr kalt, im Hochsommer stellt sich schnell ein unan-genehmes Hitzegefühl ein. Neben dem ergonomischen Komfortmuss die Sitzkonstruktion höchste Anforderungen an Gebrauchs-und Nutzwert erfüllen. Zunächst erwartet der Käufer ein anspre-chendes Design des Bezugsstoffes, passend zum übrigen Innen-raum. Eigenschaften wie Lichtechtheit, mechanische Verschleiß-festigkeit, geringes Pillingverhalten – die Bildung von kleinenFaserverknotungen auf der Oberfläche – und möglichst keineelektrostatische Aufladung werden als selbstverständlich vorausge-

setzt. Für Bezugstoffe werden überwiegend Flachgewebe und Gestricke, bzw. Gewirkeeingesetzt. Wegen den hohen Anforderungen an die Lichtbeständigkeit der Farben

Textil im Automobil

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Autositz für Mercedes.Schnitt mit Schichtfolge: latexiertes Kokos, Faserverbund, Stoff, SitzheizungJonson Control GmbH, Espelkamp

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und an das Material sind dies überwiegend Polyester, aber auch Mischungen aus Wolleund Polyester. Wildlederartige Produkte wie Alcantara und Amaretta werden mittler-weile verstärkt als Lederersatz verwendet. Darüber hinaus möchte man gerade beilangen Fahrten auf einem möglichst bequemen Autositz Platz nehmen, der dem Körperden erforderlichen Halt gibt. Der Sitzkomfort wird im wesentlichen durch das persönlicheTemperaturempfinden definiert. Diese Forderungen erfüllen vor allem spezielle textileMaterialien sehr gut, da sie in der Regel gute hygroskopische Eigenschaften aufweisenund den erforderlichen Wärme- und Feuchtetransport gewährleisten.

Der Sitzaufbau kann zum Beispiel aus einem Schaumformteil oderaus einem Formteil aus latexierten Kokosfasern bestehen.Zwischen dem formgebenden Teil und dem Oberstoff könneneine Reihe von Komfortfaktoren eingebaut werden – hier ist dieSitzheizung wohl am bekanntesten. Neuere Entwicklungen derAutomobil- und Zulieferindustrie beschäftigen sich intensiv mitdem gezielten Temperatur- und Feuchteausgleich für dieAutoinsassen. Mittlerweile werden zwei Systeme angeboten, dieentweder eine passive oder eine aktive Klimatisierung verspre-chen. Das passive System sorgt durch einen Absorber unter demOberstoff und einem Abstandsgewirke dafür, dass Feuchtigkeitvom Körper wegtransportiert wird. Im Absorber erfolgt sozusageneine Zwischenspeicherung bis diese verdunsten kann. Bei aktiven Klimatisierungssys-temen wird dagegen durch einen definierten Luftstrom im Abstandsgewirke Feuchtigkeitund Wärme kontinuierlich abgeführt.

Besondere Anforderungen an textile Materialien im Interieurbereich stellen vor allemdie mit Stoff überzogenen verschiedenen Formteile dar wie Bodenbeläge, Kofferraum-und Seitenverkleidungen, Dachhimmel und Ablageflächen. Diese Formteile werdengrößtenteils bereits aus nachwachsenden Rohstoffen als Faserverbundwerkstoff herge-stellt und unterschiedlich verarbeitet, je nachdem wo sie im Automobil eingebaut werden.Für diese Arbeitsschritte ist es unbedingt erforderlich, dass die textilen Werkstoffe drei-dimensional verformbar sind, damit sie während und nach der Montage keinerlei Falten-bildung zeigen. Durch das zusätzliche Aufkaschieren eines Schaumstoffes erhält manvor allem bei Seitenverkleidungen textile Konstruktionen, die man zusammendrückenkann. Diese Oberflächen fühlen sich angenehmer an und betonen den gewünschtenwohnlichen Innenraumcharakter im Fahrzeug.

Naturfaseranwendungen im technischem BereichDer Einsatz von Naturfasern wie Flachs, Hanf, Sisal, Jute, Kokos etc. hat sich in vielentechnischen Bereichen fest etabliert. Sie können beispielsweise Glasfasern in Verbundwerk-stoffen für Autoteile oder in anderen technischen Anwendungen ganz oder teilweise

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Autositz für MercedesKokos, latexiertJonson Control GmbH, Espelkamp, Institut für Angewandte Forschung Reutlingen 2004

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ersetzen. Die wichtigsten Vorteiledieser nachwachsenden Rohstoffesind die Verringerung von Her-stellungskosten, Gewicht und Treib-stoffverbrauch, die Verbesserungder Verarbeitungseigenschaftenund des Crashverhaltens sowieökologische Vorteile wie biologi-sche Abbaubarkeit, Recyclingfähig-keit und CO2-Neutralität.

Heute werden allein in Deutsch-land ca. 45.000 Tonnen Naturfa-serverbundwerkstoffe mit steigen-

der Tendenz verarbeitet. In der Mercedes E-Klasse sind beispielsweise über 50 Bauteileganz oder teilweise aus nachwachsenden Rohstoffen gefertigt. Das entspricht einemGesamtgewicht von etwa 30 Kilogramm. Im Rahmen einer Umweltverantwortungstreben einige Autokonzerne an, diesen Anteil in Zukunft noch zu steigern.

Sicherheit aus TextilDie Studien des schwedischen Ingenieurs Niels Bohlin über Unfälle in Schweden ausdem Jahre 1966 waren Grundlage für die weltweite Verbreitung des Sicherheitsgurtes.Inzwischen gilt dieser textile Schutz als eine der acht wichtigsten technischen Erfindun-gen des 20. Jahrhunderts. Andere Ideen, wie man Autoinsassen wirksam bei Unfällenschützen kann, gab es ebenfalls bereits in den 1950er Jahren. In einigen Patentschriftenstellten Erfinder Alternativen zum Gurt vor, der zwar als sehr wirkungsvoll gilt, aberwegen seiner Trageeigenschaften oft als lästig empfunden wird. Die erste Idee, dieeinen Airbag beschreibt, wurde in der Bundesrepublik Deutschland von Walter Lindereram 6. Oktober 1951 zum Patent unter der Nummer 896312, Klasse 63c, Gruppe 70,angemeldet: „Gemäß der Erfindung wird vor dem Sitz der zu schützenden Person einaufblasbarer Behälter in zusammengefaltetem Zustand montiert, der sich im Falle derGefahr automatisch oder durch willkürliche Auslösung aufbläht, so dass die betreffendePerson bei einem Zusammenstoß gegen diesen weichen, elastischen Behälter geschleudertwird, wo sie keine Verletzung erleidet.” Das klingt plausibel: Energieabbau über längereDistanz, kein harter Aufprall, sondern ein weicher. Bis der Airbag allerdings in Seriegehen konnte, galt es eine Reihe Schwierigkeiten zu beseitigen: Je nach Unfall bleibengerade mal circa 50 Millisekunden, bis der Körper des Insassen vorzuschnellen beginnt.Der Luftsack muss also äußerst schnell gefüllt werden. Erst der Einsatz hochfesterPolyamid-Gewebe und die Erfindung der pyrotechnischen Treibsätze verhalfen demAirbag zum Markterfolg.

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Einbauteile aus Verbundwerkstoffen aus Naturfasern in der Mercedes E-Klasse.Daimler-Chrysler 2004

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Die Anforderungen an Airbags sind besondere Herausforderungen an die Entwickler.Ein Airbag muss funktionieren, ob ein Fahrer im Winter frühmorgens bei arktischenTemperaturen verunglückt oder ob ein Unfall im Sommer während der größten Mittags-hitze passiert. Salzhaltige Luft am Meer oder Wüstenstaub – auch diese Extremfällemuss der Airbag aushalten. Betrachtet man die Einbausituation vor den genanntenHintergründen und der Tatsache, dass er auch noch nach Jahren tauglich sein muss, wirddie besondere Anforderung an den textilen Werkstoff für das Produkt schnell klar.

Eine neue Entwicklung stellen die One-Piece-Woven-Airbags (OPW) dar. Diese werden an einemStück in der gewünschten Form gewebt, Konfek-tionsarbeiten entfallen somit. Man setzt dazu dieJacquardwebtechnik ein (Doppelgewebe). DieserAirbag wird als Side-Curtain benutzt, der währenddes Unfalls aus dem Dachholmen herunterfällt,aufgeblasen wird und den Seitenbereich einesFahrzeuges bis auf Fensterrahmenhöhe abdeckt.Dadurch werden die Insassen im Seitenbereich ge-schützt. Je nach Funktionszweck sind die Ober-flächen der Airbags modifiziert. Zur Erhöhungder Hitzebeständigkeit wird der Stoff mit Silikonbeschichtet. Folienlaminierte Konstruktionen erlau-ben selbst über eine längere Zeitphase einen defi-nierten Innendruck, wie er bei Unfällen mit Über-schlag, im Gegensatz zum Frontalaufprall, not-wendig ist. Die neuesten Unfallstatistiken zeigen,dass Sicherheitsgurte und Airbags unverzichtbareLebensretter im Automobil geworden sind.

Das Cabriodach als textiler Wetterschutz Ein Herausforderung der besonderen Art sind nach wie vor textile Cabriodächer, dennsie müssen im wahrsten Sinne des Wortes Wind und Wetter standhalten. Trotz der großenVerbreitung von klappbaren Metall-Cabriodächern werden textile Dachkonstruktionenauch in Zukunft nicht wegzudenken sein. Besonders schwierig ist es, bei verschiedenstenKlimazuständen eine exakte und über Jahre konstante Maßgenauigkeit des textilenDaches zu garantieren. Bereits bei der Konstruktion müssen die unvermeidbaren Längen-änderungen des Stoffes, bedingt durch hohe Temperaturdifferenzen und durch Durch-feuchtung des Stoffes bei Regen und Schnee, berücksichtigt werden. Neben den An-

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Abb. oben: Modul eines Beifahrer-Airbags Daimler Chrysler C-KlassePolyamid 6.6TRW Occupant Restraint Systems GmbH & Co. KG, Alfdorf 1998

Abb. unten: Side Curtain (Demonstrationsmodell)Polyamid 6.6TRW Occupant Restraint Systems GmbH & Co. KG, Alfdorf 2004

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sprüchen des Kunden an Optik und Haptikund an ein einwandfreies Faltverhaltenmuss die gesamte Dachkonstruktion außer-dem so aufgebaut sein, dass es bei hohenGeschwindigkeiten nicht zum so genannten„Ballooning-Effekt” kommt, einem Anhebendes Daches durch die Luftströmung. NeuesteEntwicklungen gehen dahin, das Dach ausStoff zusätzlich mit einem Schnittschutzgegen das Aufschlitzen zu versehen, so dassdie Diebstahlgefahr des Fahrzeuges vermin-dert wird.

Die Socke für das AutoDie Idee textiles Material einzusetzen, um die Reibung zwischenSchnee und Reifen zu erhöhen, ist bereits alt. Wer hat nicht schoneinmal eine Fußmatte vor das Rad gelegt, um im tiefen Schnee weg-fahren zu können. Schon Clara Ford, die Frau des AutoproduzentenHenry Ford soll dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgeschlagenhaben. Heute zeigt uns eine Erfindung aus Norwegen, dass dies sehrgut funktioniert.

Der Besitzer einer kleinen Reifenwerkstatt nördlich von Oslo, BördLo/ tveit, experimentierte Ende der 1990er Jahre an einer Anfahrhilfe

für das Auto. Er war überzeugt, dass man das „Fußmattenprinzip” auch anders anwen-den kann. Mit einfachsten Mitteln prüfte er verschiedene Textilien auf der Eisbahn sei-ner Heimatstadt und stellte fest, dass die von ihm ausgesuchten Gewebe, montiertunter einen Holzblock, sich mit unterschiedlicher Kraft über das Eis ziehen ließen.Angespornt von dieser Erkenntnis war sein Ziel klar: Die „Socke für das Auto”! Nach-dem Geldgeber und weitere Partner für diese Idee gefunden waren, konnte die Ent-wicklung vorangetrieben werden. Lo/ tveit kam zu dem Ergebnis, dass an und für sichBaumwolle die besten Traktionseigenschaften bietet. Da das Material aber sehr schnellverschleißt, mussten andere Materialien untersucht werden. Langwierige Entwicklungenhaben mittlerweile zu einem guten Kompromiss geführt. Die Basis für die „Socke” istein spezielles Polyestergewebe, das zur Zeit das Optimum zwischen „Microgrip” undminimalem Verschleiß darstellt. Mit der Autosocke ist es möglich, unter ungünstigenVerhältnissen auf Schnee und Eis sicher anzufahren. Zudem sprechen das geringeGewicht und die leichte Montage im Gegensatz zu den unhandlichen Schneeketten fürdie textile Variante.

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Abb. oben: Cabrio-Dach Audi A4Wilhelm Karmann GmbH, Osnabrück

Abb. unten: AutosockePolyesterAutosock, N-Oslo 2005

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Dankfür Informationen, Leihgaben und vielfältige Unterstützung

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Allstar Fecht-Center GmbH & Co. KG, Reutlingen

Autosock, N-Oslo

BMW AG, Landshut

BSST Baumann und Steffen Sicherheitstechnik GmbH,Nellingen/Alb

C. F. Ploucquet GmbH & Co. KG, Heidenheim

Christian Eschler AG, CH-Bühler

Ciba GmbH Deutschland, Langweid

DaimlerChrysler AG, Sindelfingen

Dastex Reinraumzubehör GmbH & Co. KG, Muggensturm

Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG, Zuffenhausen

EADS Deutschland GmbH, Ottobrunn

Fuchshuber Techno-Tex GmbH, Liechtenstein

Gaenslen & Völter GmbH & Co. KG, Metzingen

Gertex Textil GmbH, Gerstetten

Gütermann AG, Gutach

H. R. Rathgeber GmbH & Co. KG

Infineon Technologies AG, München

Institut für Angewandte Forschung, Reutlingen

Institut für Textil- und Verfahrenstechnik,Denkendorf

Johnson Controls GmbH, Espelkamp

Kelheim Fibres GmbH, Kelheim

Mattes & Amann KG, Meßstetten-Tieringen

Peter Müller Bandagen GmbH, Albstadt

Profil Textil GmbH & Co. KG, Liechtenstein

Prospective Concepts AG, CH-Glattbrugg

Reiff GmbH, Reutlingen

Rieter Automotive AG, Ch-Winterthur

Rökona Textilwerk GmbH, Tübingen

Seidenweberei Reutlingen GmbH, Reutlingen

Strähle + Hess GmbH & Co. KG, Althengstett

Tempex GmbH, Heidenheim

Trevira GmbH, Bobingen

Uhlsport GmbH, Balingen

Wilh. Jul. Teufel GmbH, Wangen

Wilhelm Karmann GmbH, Osnabrück

Willy Knecht

Hans-Jörg Spieß

Udo Stelzer

Prof. Dr. Dr. Eugen Wendler

Dr. Rainer YWürttembergisches Landesmuseum Stuttgart

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Literatur

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