Karl-Heinz Aschenbrenner · 2 Der Titel meines Vortrags heißt „Aspekte des Lehrerberufs in einer...

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1 Karl-Heinz Aschenbrenner Forum Migration an der PH Ludwigsburg am 6.7.2017: Aspekte des Lehrerberufs in einer von Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft

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Karl-Heinz Aschenbrenner

Forum Migration an der PH Ludwigsburg am 6.7.2017:

Aspekte des Lehrerberufs in einer von

Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft

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Der Titel meines Vortrags heißt „Aspekte des Lehrerberufs in einer von

Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft“. Mit „Lehrerberuf“ sind

Lehrerinnen und Lehrer gemeint. Vorbereitet habe ich zwei Teile, die

zusammen etwa 50 Minuten beanspruchen.

Es geht mir darum, wissenschaftliches Denken (im Sinne des

Überdenkens und Fragenstellens) mit mehr oder weniger gesicherten

Fakten und eigenen Erfahrungen zu verknüpfen. Im zweiten Teil

geschieht dies ausgehend von Bildern, Dokumenten und Zitaten…

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a) Migration

„Migration“ meint Wanderung. Menschen wechseln den Ort ihres

Aufenthaltes, oft dauerhaft, was „Pendelbewegungen“ (zwischen zwei

Orten hin und her) nicht ausschließt.

Dies geschieht weltweit und schon immer. Und das Wandern in der Welt

wird weiter zunehmen.

Nach einem Modell von Everett S. Lee, das er in den 1960iger Jahren

entwickelt hat, gibt es „Push- und Pulleffekte“.

Pusheffekte vertreiben die Menschen aus einer Region. Ein solcher

Effekt kann damit zu tun haben, dass es dort z. B. zu wenig Wasser gibt.

Wenn anderswo die Aussicht auf einen guten Arbeitsplatz besteht,

gehört das dagegen zu den Pulleffekten, die Menschen anziehen. Beide

Effekte wirken auch innerhalb von Landesgrenzen.

Die Gründe für Migration sind vielfältig:

Klimaveränderungen

Ressourcenmangel

Stigmatisierung und Diskriminierung

Krieg

Verfolgung

Vertreibung

Mangel an Nahrungsmitteln, ärztlicher Versorgung und

Bildungsmöglichkeiten

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Hoffnungen auf ein friedliches Alltagsleben, Freiheit, Arbeitsplätze

Der Kontakt zu Familienmitgliedern und Freunden

Abenteuerlust

u.a.m.

In den allermeisten Fällen ist die Migration mit großen psychischen

und physischen, oft auch finanziellen Belastungen und mit Gefahren

verbunden. Sie kostet Kraft, viel Kraft und der Ausgang ist ungewiss.

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b) Auswanderung

Mit besonderem Nachdruck möchte ich an dieser Stelle daran erinnern,

dass einzelne Gesellschaften, einzelne Länder bzw. Staaten nicht nur

mit Zu- und Einwanderung zu tun haben, sondern häufig gleichzeitig

auch von Auswanderung, evtl. starker Auswanderung betroffen sind.

Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland der letzten

Jahrzehnte. Dazu einige statistische Daten für das Jahr 2015.

Der Einwanderung von 2.136.954 Personen stehen 997.551 Menschen

gegenüber, die Deutschland verlassen haben.

Die größte Zahl eingewanderter Menschen stammte aus Rumänien mit

213.037. Von Deutschland nach Rumänien migrierten 126.763.

Interessant auch, dass die entsprechenden Ein- und

Auswanderungszahlen für die Türkei und die USA ähnlich ausfallen,

jeweils bei etwa 30.000 liegen.

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Betrachtet man diese statistischen Angaben, so wundert es umso mehr,

dass Auswanderung in der öffentlichen bzw. politischen Debatte eine viel

geringere Rolle spielt als Zu- oder Einwanderung. Möglicherweise liegt

der Grund darin, dass sich Letztgenanntes besser für bestimmte

politische bzw. parteipolitische Positionen instrumentalisieren lässt.

Dabei gibt es durchaus bedeutsame Begleiterscheinungen der

Auswanderung. Man denke nur an die Abwanderung von (u.a. mit Mitteln

des deutschen Staates) gut oder sehr gut ausgebildeten Menschen.

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c) Einwanderung

Blickt man genauer auf die Einwanderung in die Bundesrepublik

Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, so können stichwortartig - und nicht

vollständig - folgende Hintergründe benannt werden:

In einer Zeit, in der die Nachwehen des genannten Krieges

(verbunden mit Flucht, Vertreibung bzw. Rückkehr aus der

Kriegsgefangenschaft) noch nicht überwunden waren, kam es

bereits zur Anwerbung der sogenannten Gastarbeiterinnen und

Gastarbeiter. Es gab verschiedene Abkommen, beginnend 1955

mit Italien. Die Leistung der Angeworbenen hat wesentlich zur

wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik beigetragen, was

selten in einer wertschätzenden und menschenwürdigen

Behandlung Ausdruck fand – ein eher „dunkles“, bislang nur partiell

aufgearbeitetes Kapitel der deutschen Geschichte mit wesentlichen

Auswirkungen auf die weitere Entwicklung von Einwanderung und

Integration in den folgenden Jahrzehnten.

Nach dem Anwerbestopp 1973 verstärkte sich der

„Familiennachzug“ in einem nicht erwarteten Ausmaß.

Später, v.a. in den 1980iger und -90iger Jahren kamen Angehörige

der „Deutsche Minderheiten“ in der Sowjetunion, aber auch in

Ländern wie Rumänien in großer Zahl in die Bundesrepublik.

Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, verbunden mit dem

Zerfall dieses Staates, brachten weiter Migrantinnen und Migranten

nach Deutschland.

1989 wurde die zwischen DDR und BRD bestehende Mauer

geöffnet, was eine beachtliche Wanderbewegung innerhalb

Deutschlands auslöste.

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Die Europäische Union ermöglichte für die Bürgerinnen und Bürger

dann das Arbeiten in anderen Mitgliedsstaaten unter dem

Stichwort „Freizügigkeit“, was insbesondere in den letzten Jahren

zu einer beträchtlichen Steigerung der Einwanderung nach

Deutschland beigetragen hat.

Schließlich, aber sicher nicht zuletzt, führten die Konflikte im

Nahen Osten und in Afrika in den letzten drei Jahren zu

Fluchtbewegungen, die dazu beigetragen haben, dass in diesem

Zusammenhang weit mehr als eine Million Menschen nach

Deutschland gekommen sind.

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d) Integration

Unabhängig von Fragen der Definition und Konzeption geht es für all

diese Menschen - Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder, Gesunde,

Kranke, Verletzte … - um eine Art Eingliederung. Der Eingewanderte

gliedert sich mehr oder weniger stark ein, er wird eingegliedert und die

Gesellschaft als ganze verändert sich dabei.

Der Begriff „Integration“ ist die Überschrift für diesen komplexen

Prozess. Er enthält eine Vielzahl von Aspekten.

Hier eine Auswahl:

Ankommen und Willkommenskultur

Asylanträge und ihre Bearbeitung

Aufenthaltsstatus

Abschiebungen

Staatsbürgerschaft

Unterkunft und Wohnung

Ärztliche Versorgung

Finanzielle Unterstützung

Sprachliches Lernen

Dolmetscher und Übersetzer

Arbeitsplätze

Anerkennung von Schul- und Ausbildungsabschlüssen

Erziehung und Bildung in Kindergärten

Schule und Hochschule

Chancen der Kinder und Jugendlichen

Beratungsangebote

Ehrenamtlich tätige Helferinnen und Helfer

Die Rolle der Medien

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Gleichberechtigung

Politische Partizipation der Migrantinnen und Migranten

Konflikte in den Herkunftsländern und daraus resultierende

Auswirkungen auf das Zusammenleben in Deutschland

Religionsausübung

Interreligiöser Dialog

Kulturelle Teilhabe und Kulturprojekte

Sport

Vereine

Fragen der Identität („Zwischen oder auf allen Stühlen?“)

Fremdenfeindlichkeit und Rassismus

Prognosen und Visionen

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e) Bildung

Bildung, so heißt es, spielt eine zentrale Rolle im Integrationsprozess.

Das klingt zunächst plausibel. „Integration durch Bildung“ lautete/lautet

das daraus abgeleitete Motto, das sich sowohl in schulpädagogischen

und didaktischen Debatten als auch im öffentlichen Diskurs durchgesetzt

zu haben scheint.

Dabei bildet es nur einen Teil der Realität ab, ja kann sogar irreführend

sein.

Selbstverständlich können Bildungserfolge das Gelingen von

Integrationsprozessen mit bewirken. Andererseits muss beachtet

werden, dass Bildungserfolge von der Motivation der Lernenden und der

Möglichkeit, Gelerntes in das alltägliche Leben einzubringen, abhängig

sind. Wer am gesellschaftlichen Leben wenig partizipiert bzw.

partizipieren kann und darf, dem wird auch das Lernen schwerer fallen.

In dieser Hinsicht die sinnvolle und notwendige Ausgewogenheit

herzustellen, ist eine der großen Herausforderungen in den stark von

Migrationsprozessen geprägten Gesellschaften.

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f) Sprachliches Lernen

Veranschaulichen lässt sich das sehr gut am Beispiel des sprachlichen

Lernens. Wer z.B. in Deutschland im Kindergarten, in der Schule oder in

einem Kurs die deutsche Sprache neu erlernt, der kann gut

vorankommen, wenn

seine Motivation,

die verantwortlichen Erzieherinnen und Erzieher oder Lehrkräfte

sowie Didaktik, Methodik

und die Rahmenbedingungen passen.

Sollte er dazu noch Kommunikationspartnerinnen und –partner

außerhalb der Förderung, des Unterrichts oder der Kurse finden, die mit

ihm deutsch sprechen, so sollte dies die Lernerfolge noch wesentlich

steigern.

Deutschland ist nach wie vor monolingual ausgerichtet. Es gibt die für

alle gleiche Landessprache.

Das erleichtert einerseits die Eingliederung der Migrantinnen und

Migranten – sie können sich mit einer neu erlernten Sprache überall

verständigen -, andererseits bringt es die Gefahr mit sich, dass

Deutschkenntnisse überbewertet und andere Sprachkenntnisse

marginalisiert werden.

In von Migrationsprozessen geprägten Gesellschaften leben in der Regel

Menschen mit vielfältigen Sprachkompetenzen zusammen. Auch

diejenigen, die die Landessprache(n) nicht so gut oder kaum

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beherrschen, besitzen meistens umfassende Fähigkeiten in einer oder

sogar in mehreren anderen Sprachen.

Die Qualität des Zusammenlebens in Gesellschaften, die von

Einwanderung und Auswanderung geprägt sind, hängt u.a. davon ab, ob

und wie es gelingt, die sprachliche Vielfalt wertzuschätzen und in die

Alltagskommunikation, in die Angebote der Medien und in kulturelle

Projekte einfließen zu lassen.

Der deutschen Gesellschaft hätte es gut getan, wenn schon vor

Jahrzehnten viele Bürgerinnen und Bürger (egal welcher Herkunft) eine

der nach Deutschland „eingewanderten“ Sprachen gelernt hätten.

Vielleicht ist es dafür noch nicht zu spät.

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g) Bildungsbenachteiligung

Für unseren Zusammenhang muss der Blick nun stärker auf Kinder und

Jugendliche gerichtet werden.

Ihre „Eingliederung“ erfordert u.a. schulische Erfolge im Unterricht, bei

Prüfungen und bei Abschlüssen sowie positiv verlaufende Fortführungen

auf dem Weg zur beruflichen Tätigkeit.

Es muss konstatiert werden, dass es trotz einiger Verbesserungen in

den letzten Jahren nach wie vor empirisch/statistisch nachweisbare

Benachteiligungen der Kinder und Jugendlichen „mit

Migrationshintergrund“ gegenüber sogenannten „Einheimischen“ gibt. Im

Grunde zeigen das alle Faktoren, die für „Schulerfolg“ stehen:

das Einschulungsalter,

die Versetzungshäufigkeit,

die Anzahl der Wechslerinnen und Wechsler auf „höhere“

Sekundarschulen nach der Grundschule,

die Zahl der Schulabbrecherinnen und -abbrecher,

die Zahl derjenigen, die Prüfungen nicht bestehen bzw. die sie

wiederholen müssen.

Sogar die Abbruchquote bei Studierenden „aus Zuwandererfamilien“ liegt

mit 41% gegenüber 28% bei denjenigen „ohne Migrationshintergrund“

wesentlich höher, so jedenfalls das Ergebnis einer ganz neuen Studie

des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und

Migration (SVR).

Auch wenn die eine oder andere Bildungsstudie (z. B. im PISA-Prozess)

zeigt bzw. glaubt zeigen zu können, dass prekäre soziale Hintergründe

und nicht der „Migrationshintergrund“ selbst die Ursache für schlechtere

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Schul-, Bildungs- und Ausbildungserfolge sind, so sollte m. E. nach wie

vor davon ausgegangen werden, dass Integrationsprozesse weiter

optimiert werden müssen, um auch die Chancen der betroffenen Kinder

und Jugendlichen zu verbessern.

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h) Schule, Lehrkräfte und Lehrkräfteausbildung

Damit sind wir bei Schule und Lehrerbildung angekommen.

Die allgemeinbildende Schule, v.a. die Grundschule, hat traditionell

integrativen Charakter.

Das Allgemeinbildende ist m. E. in den letzten 25 Jahren in allen

Schularten sukzessive zurückgedrängt worden. Die Ausrichtung auf die

angeblichen oder tatsächlichen Anforderungen der beruflichen

Lebenswelt hat zugenommen und nimmt ständig weiter zu.

Die schulische Integrationskraft leidet, obwohl sie mit Blick auf die

gesamtgesellschaftlichen Prozesse mehr denn je gebraucht würde.

Entsprechende pädagogische Überlegungen und Vorgehensweisen

sollten wieder gestärkt werden. Das Curriculum muss dazu breiter

ausgelegt werden, sollte bspw. ausdrückliche Spracherwerbselemente

im Sinne einer „durchgängigen Sprachbildung“ enthalten.

Die zunehmende Heterogenität erfordert u.a. den Ausbau der Bedeutung

der Sicht auf das individuelle Lernen unter Berücksichtigung der

Ausgangslagen, der vorhandenen Fähigkeiten und Möglichkeiten.

Dazu benötigen Lehrkräfte Kompetenzen, die traditionell nicht vorrangig

zu ihrem Repertoire gehören (z. B. in Sachen Diagnose), andererseits

enthielt dieses Repertoire früher Elemente, die wieder stärker Beachtung

finden sollten. Ich denke hier z. B. an das Üben im Unterricht.

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Die Lehrerbildung macht seit 40 Jahren Angebote zur

Auseinandersetzung mit Fragen der Beschulung von „Ausländerkindern“

bzw. Kindern und Jugendlichen „mit Migrationshintergrund“.

Die Zahl der Angebote reicht aber nicht, diese führen eher ein

Schattendasein und bleiben bei vielen Absolventinnen und Absolventen

ohne wesentliche Konsequenz, was u. a. an den Bewertungskriterien bei

Unterrichtsbeurteilungen und Prüfungen liegt.

Nun bin ich in meinem Vortrag an einer Zäsur angelangt.

Meine bisherigen Ausführungen bezogen sich auf die

Migrationsgesellschaft im Allgemeinen.

Nun sollen die Lehrerinnen und Lehrer, nun soll der

Lehrberuf in den Mittelpunkt gerückt werden. „Aspekte“

gibt es in großer Zahl. Sechs davon habe ich ausgewählt.

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1.

„Ich habe keine getrocknete Feige verstanden.“ … ist die wörtliche

Übersetzung einer italienischen Redewendung: „Non ho capito un fico

secco.“

„Ich schaue wie ein Schaf auf ein neues Tor.“ … ist die wörtliche

Übersetzung folgender russischer Redewendung: „Ja smotrju kak baran

na novye vorota.“

Martina Koch hat 2001 in einem Magazin der Süddeutschen Zeitung

solche Redewendungen in insgesamt 15 Sprachen zusammengestellt

und veröffentlicht.

Sie alle haben in etwa die Bedeutung: „Ich verstehe nur Bahnhof!“

Viele der in dieser Sammlung vertretenen Sprachen sind im öffentlichen

Leben unseres Landes zu hören: neben Russisch und Italienisch auch

Türkisch, Spanisch, Polnisch, Griechisch, Französisch, Englisch und

Arabisch.

Zahlreiche Sprachen sind im Rahmen von Migrationsprozessen in den

letzten Jahrzehnten nach Deutschland „eingewandert“. Das Land ist

multilingual geworden, obwohl, wie u.a. die Erziehungswissenschaftlerin

Ingrid Gogolin schon lange und immer wieder kritisiert, der Habitus

„monolingual“ geblieben ist.

Auch in den Schulen tauchen diese Sprachen inoffiziell auf und

Lehrkräfte haben mit ihnen zu tun, selbst wenn es nur darum geht, die

Namen der Schülerinnen und Schüler korrekt auszusprechen.

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Die deutsche Sprache ist parallel dazu nicht mehr nur

Unterrichtssprache und Gegenstand des Deutschunterrichts. Dazu

gekommen sind Bemühungen um Spracherwerb, verbunden mit

unterschiedlichsten Formen der Sprachförderung.

Alle Lehrkräfte in allen Fächern und Fächerverbünden, in allen

Schulstufen und Schularten sind angesprochen und tragen

Verantwortung für den förderlichen Umgang mit den sprachlichen

Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen.

Das wirkt teilweise wie ein Zurück in die Zeiten, als es zum

Grundrepertoire der unterrichtlichen Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern

gehörte, ein Wechselspiel zwischen sprachkundlichen Elementen und

fachlichen Inhalten zu initiieren, wofür es auch entsprechende Hilfsmittel

gab, beispielsweise die Veröffentlichungen von Richard Alschner.

Hier ein Buch von 1952 mit dem Titel „Deutsch und Deutschkunde im

Rahmen des Sachunterrichts. Auswertung geschichtlicher Stoffgebiete.“

(Bonn: Verlag der Dürrschen Buchhandlung)

Im Vorwort heißt es:

„Richard Alschner ist ein anerkannter Wegbereiter der Deutschkunde in der Volksschule. Seinen Büchern verdankt die Schule vielfache Anregung und Förderung. In ihrer Stoffülle haben sie die Mittel bereitgestellt, um vom Sachgebiet her die Sprache zu bilden. So ist der „Alschner“ in der Volksschule schon seit mehr als einer Lehrergeneration ein Begriff.“ (S.3)

„Gedacht ist dieses Buch auch nicht nur für die Volksschule, sondern für die Mittelschulen und die unteren Klassen der Oberschulen …“ (S.5)

Der Band enthält Texte, Wortschatzlisten und Aufgaben.

Auf S. 324 wird beispielsweise die „Kanzleisprache der Gegenwart“

thematisiert:

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„Die Behördensprache hat von jeher das Bestreben gehabt, sich unter allen Umständen klar und unzweideutig auszudrücken, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dadurch schwerfällig und umständlich wurde.

Die neuzeitliche Kanzleisprache und Geschäftssprache bevorzugt das Hauptwort vor dem Zeitwort: Beiträge kommen zur Annahme (statt werden angenommen), Gehälter zur Auszahlung (werden ausgezahlt), Fundgegenstände zur Versteigerung, Gewinnanteile zur Ausschüttung, Gebühren zur Erhebung …

Es wird das umständlichere und längere Wort dem schlichten kürzeren vorgezogen: Bescheinigung statt Schein, Belobigung statt Lob, Schlafgelegenheit statt Bett, Dafürhalten statt Meinung, Genehmigung statt Erlaubnis, in Bälde und in Kürze statt bald …“

Auch wenn wir heute nicht mehr in diesen Spuren unterrichten können

und wollen, so darf doch gefragt werden, warum der an

wissenschaftlichen Grundsätzen orientierte Unterricht der letzten 40

Jahre diese Sprachperspektive ein Stück weit aus den Augen verloren

hat.

Auf jeden Fall taucht etwas Ähnliches beim Unterricht mit

mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen jetzt wieder auf: der

„sprachsensible Fachunterricht“.

These 1:

Die Rolle der Sprache, der Umgang mit Sprache und Sprachen, das

sprachliche Lernen im Unterricht haben sich in der von

Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft wesentlich verändert,

ob gewollt oder nicht, ob gestaltet oder nicht gestaltet.

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2.

Einer meiner Lieblingsautoren ist Per Olov Enquist, ein Schwede,

geboren 1933 in der nordschwedischen Provinz Västerbotten,

aufgewachsen in einem Dorf namens Hjoggböle.

Das erste Buch, das ich vor 20 Jahren von ihm las, heißt: „Die

Kartenzeichner. Filigrane Utopien“ (Enquist, Per Olov (1997). München

und Wien: Hanser).

Auf S. 292 steht folgender Abschnitt:

„Die normalen Lehrer wußten ja, was das Erlaubte war. Dafür waren sie

ausgebildet. Sie waren geschult in der Normalität, und wie man die

maximale Normalität korrekt erlangen konnte. Sie waren nicht für das

andere ausgebildet; nicht im Suchen nach den kleinen bizarren

Abweichungen des Schöpferischen. Sie waren nicht böse, nicht

destruktiv, sie waren nur ausgebildet in der Norm.“

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht? Als Lehrer erschrecke ich!

Was? – Ich, zuständig für Normalität?

Ich habe doch meine Arbeit immer verbunden mit den Kategorien

Phantasie, Kreativität, Originalität, Offenheit und mit konstruktiv-kritischer

Distanz zum Arbeitgeber, zum Staat und zur Mehrheitsgesellschaft.

Und jetzt: „Normalität“? Enquist meint doch bestimmt die Lehrer, die er

als Jugendlicher vor 70 Jahren in Schweden erlebt hat.

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Oder ist an dem Zitat auch mit Blick auf die aktuelle Lage etwas dran?

Z. B. mit Blick auf die Arbeit von Lehrkräften mit mehrsprachig lebenden

Kindern und Jugendlichen ? War ich nicht auch immer damit befasst,

diesen Schülerinnen und Schülern „auf die Sprünge zu helfen“, noch

besser im alltäglichen Leben das Normale hinzubekommen, ihnen zu

zeigen, zu erklären, wie in Deutschland gehandelt, gedacht, gelebt wird?

Hat das die Gesellschaft, haben das nicht die Menschen „mit

Migrationshintergrund“ auch von mir erwartet? War ich nicht eine Art

vom Staat eingesetzter „Assimilationsbeauftragter“?

Ein Blick auf die öffentlichen und schulpädagogisch-fachlichen Debatten

der letzten drei Jahre in Sachen „Flüchtlinge“ ergibt eine klare Antwort

auf diese Fragen. Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen sind zuständig und

teilweise verantwortlich für die schnelle Eingliederung, die nicht an den

realen Verhältnissen vorbei gelingen kann.

These 2:

Lehrkräfte in einer von Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft

sind mehr als andere Lehrerinnen und Lehrer Vertreterinnen und

Vertreter bzw. Erklärerinnen und Erklärer der Normalität.

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3.

Auszug aus einem Formblatt „Wohnungsgeberbestätigung“:

„Es ist verboten, eine Wohnungsanschrift für eine Anmeldung anzubieten

oder zur Verfügung zu stellen, wenn ein tatsächlicher Bezug der

Wohnung weder stattfindet noch beabsichtigt ist. Ein Verstoß gegen

dieses Verbot stellt eine Ordnungswidrigkeit dar und kann mit einer

Geldbuße bis zu 50000 Euro geahndet werden. Das Unterlassen einer

Bestätigung des Einzugs* sowie die falsche oder nicht rechtzeitige

Bestätigung des Einzugs* können als Ordnungswidrigkeiten mit

Geldbußen bis zu 1000 Euro geahndet werden.“

(https://formulare.esslingen.de/intelliform/forms/es/32-Ordnungsamt/32-

Wohnungsgeberbestaetigung/show;jsessionid=40CAAD9293230C3485D81DB571490CF2.IF0)

„Herr Aschenbrenner, können Sie uns helfen? Meine Eltern verstehen

das nicht!“

Die Alltagsarbeit reicht oft weit über den Unterricht und schulische

Belange im engeren Sinne hinaus. Mehrsprachig lebende Schülerinnen

und Schüler, Kinder und Jugendliche „mit Migrationshintergrund“ und

ihre Familien benötigen Hilfe, Beratung und Unterstützung bei der

Bewältigung der zahlreichen Anforderungen im Alltag.

Lehrkräfte kümmern sich um regelmäßigen Schulbesuch und

Pünktlichkeit,

sie unterstützen bei der Anschaffung von Materialien für den

Unterricht und bei deren Ordnung.

Es geht um die Beschaffung finanzieller Mittel, die eine Teilnahme

an Schulausflügen und Schullandheimaufenthalten ermöglichen.

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Wenn nötig, wird dabei geholfen, Einreisegenehmigungen für

Aufenthalte in anderen Ländern zu beschaffen.

Lehrkräfte geben Erziehungstipps und beraten bei

Sprachlernfragen.

Sie dolmetschen und erklären schwer verständliches Deutsch, z.

B. auf amtlichen Formblättern.

Sie verfassen Begleitschreiben für Arztbesuche und korrigieren

Bewerbungsschreiben der erwachsenen Familienmitglieder.

Werden Kinder und Jugendliche unterrichtet, die erst kurze Zeit in

Deutschland sind, so kommen weitere Aufgaben dazu. Dabei spielt die

Zusammenarbeit mit Personen, Gruppen und Institutionen eine wichtige

Rolle, die professionell oder caritativ mit diesen Menschen arbeiten.

Da die individuelle Lage und die individuellen Voraussetzungen der

Kinder und Jugendlichen sehr unterschiedlich sind, ist dieser eher

sozialpädagogisch geprägte Anteil der Arbeit der Lehrkräfte von einer

beachtlichen Heterogenität geprägt.

These 3:

Lehrkräfte in einer von Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft

sind in einem hohen Ausmaß mit Aufgaben befasst, die außerhalb

des traditionellen unterrichtlichen Rahmens angesiedelt sind.

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4.

Dieses Foto stammt von Toni Schneiders. Es wurde 1954

aufgenommen. Schneiders war Mitglied der am Bodensee ansässigen

Gruppe „Fotoform“.

Man sieht zwei Personen. Sie sind damit beschäftigt, ein Netzwerk zu

reparieren, zu erneuern oder auszubauen. Sie arbeiten in luftiger Höhe,

wahrscheinlich ohne Höhenangst und schwindelfrei. Sie wirken

zielstrebig, entschlossen, sicher, obwohl von einer Sicherung nichts zu

sehen ist. Eine schmale, angelehnte Leiter stellt die einzige Verbindung

zum Boden her.

Mich erinnert dieses Foto an Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen. Sie

erledigen eine notwendige, sehr wichtige Arbeit, wenig unterstützt, kaum

abgesichert, sozusagen mit erheblichem persönlichem Risiko. Würden

sie nichts wagen, käme nicht viel dabei heraus. Sie müssen Netzwerke

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aufbauen. Es braucht Helferinnen und Helfer, Mitarbeiterinnen und

Mitarbeiter, Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartner,

Beraterinnen und Berater, es braucht Ressourcen, Beziehungen usw.

These 4: Lehrkräfte in einer von Migrationsprozessen geprägten

Gesellschaft sind mehr denn je Netzwerkerinnen und Netzwerker.

Netzwerke sind notwendig, aber nicht immer in einem Zustand, der den

Menschen und der Sache dient. Sie müssen gepflegt und sich

verändernden Bedingungen angepasst werden, damit sie ihren Nutzen

entfalten und zum erfolgreichen Arbeiten beitragen können. Pflegt man

sie schlecht, bringen sie oft nur viel Aufwand mit sich, verstärken die

Unübersichtlichkeit, stiften Verwirrung und erhöhen die Unzufriedenheit

bei den Mitgliedern.

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5.

Die beschriebene Netzwerkarbeit führt Lehrerinnen und Lehrer in ein

Grenzland zwischen ihrer Schule und dem Umfeld. Sie werden nicht

umhin können, hier als „Grenzgänger“ eine Eigenständigkeit zu

entwickeln, die auf beide Regionen bezogen ist.

Nicht immer wird es möglich sein, das eigene Vorgehen, die Beiträge

zum Netzwerk und die konkreten Kontakte mit einzelnen

Kooperationspartnern mit der im Prinzip verantwortlichen Schulleitung

bzw. dem eigenen Kollegium vorzubereiten und entsprechend

abzustimmen.

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In einer Besprechung z.B. eines Arbeitskreises „Sprachförderliche

Arbeit“ sitzen Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster Institutionen,

deren Positionen zu einzelnen Inhaltspunkten zunächst teilweise eine

geringe Schnittmenge ergeben können. Die Besprechung dient dann

nicht nur dem Austausch, es kommt – wenn es gut läuft - auch zu

Annäherungen und Beschlüssen, die die teilnehmende Lehrkraft

verantworten muss und erst im Nachgang mit den innerschulischen

Verantwortlichen und Gremien klären kann. Das kann durchaus

Konfliktpotenzial enthalten. Wie mit diesem umgegangen wird, hängt in

besonderer Weise von Bereitschaft und Fähigkeit der Schulleitung ab,

Kompetenzen abzugeben und den eigenen Mitarbeiterinnen und

Mitarbeitern auch außerhalb der Schule Handlungsspielräume zu

eröffnen, in denen sie selbstverantwortlich agieren können.

Ich verdanke diesen Gedanken Friedrich Kümmel, dem pensionierten

Philosophieprofessor der PH Ludwigsburg, der in einer 2011

veröffentlichten Abhandlung zur schulpraktischen Ausbildung im

Rahmen des Lehramtsstudiums an einer Pädagogischen Hochschule

ähnliche Aussagen zur Rolle der Ausbildungslehrkräfte an den Schulen

formuliert. Er bezieht sich dabei u.a. auf Luhmanns Systemtheorie.

These 5:

Lehrkräfte, die vermehrt mit Kindern bzw. Jugendlichen „mit

Migrationshintergrund“ arbeiten, sind „Grenzgängerinnen und

Grenzgänger“ zwischen ihrer Schule und dem sie umgebenden

Netzwerk. Sie erlangen dadurch Zuständigkeiten, die das an

Schulen übliche Maß überschreiten und übernehmen besondere

Verantwortung, was beides die Attraktivität des Lehrberufes

wesentlich steigern kann.

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Das waren fünf Aspekte, die in einem theoretisch und praktisch

engen Zusammenhang zu sehen sind: Sprache und

Mehrsprachigkeit, Normalität, Sozialarbeit, Netzwerkbildung und

Grenzgängertum. Der letzte von mir vorbereitete Aspekt bringt

einen Perspektivenwechsel.

6.

Patrick Bauer, ein Journalist, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel

„Die Parallelklasse. Ahmed, ich und die anderen – Die Lüge von der

Chancengleichheit“ (2011: München: Luchterhand).

Im Wesentlichen handelt das Buch von den Mitschülerinnen und

Mitschülern Bauers in der Grundschule. Als etwa 30-jähriger macht er

sie ausfindig, besucht sie und schreibt über ihren bisherigen Lebensweg.

Ich lese eine etwas längere Sequenz, in der er sich mit einem Bekannten

über Schule unterhält (S. 29-31).

»Wir ziehen weg aus Neuhausen«, sagte der Bekannte, »an den Stadtrand. Vor der Haustür ist dann der Wald.« »Schön. Aber ihr zieht doch bestimmt nicht wegen den Ausländern weg?«, fragte ich. »Nun«, sagte der Bekannte, »so einfach ist das nicht.« Der Bekannte hat zwei Kinder, Tochter und Sohn. Die Tochter steht kurz vor der Einschulung. Gleich um die Ecke von der hellen Altbauwohnung, in der die Familie des Bekannten bis dahin gelebt hatte, liegt eine Grundschule. 2025 Grundschüler gibt es in ganz Neuhausen-Nymphenburg. 400 davon sind laut Städtischem Taschenbuch der Stadt München ausländischer Herkunft. Das sind 19,75 Prozent. »Wir haben uns die Grundschule gleich angeschaut«, sagte der Bekannte. Er machte eine lange Pause. »Ja, und?«, fragte ich. Da brach es aus ihm heraus: Ihm sei das unangenehm. Ich wisse doch, dass er politisch links stehe, irgendwie, in den meisten Fragen. Er habe bisher immer die Grünen gewählt. Er habe wirklich, das sei ja wohl klar, nichts gegen Ausländer. Gar nichts. Null. Aber! In ihrer Nachbarschaft, da stünde doch dieser Sozialbau, ebenfalls im Einzugsbereich der Grundschule. Und nun ja, was solle er sagen: In diesem Sozialbau lebten viele Ausländer, und man wisse schließlich, wie das sei, darunter gäbe es schwierige Kinder aus schwierigen Familien. Und dann, fuhr der Bekannte fort, habe er mit seiner Frau den Infoabend dieser Grundschule besucht und die Frage habe sie beschäftigt: Gehen all die schwierigen Kinder auf diese Schule? Doch die Direktorin habe partout nicht den — da fiel das Wort endlich — Ausländeranteil ihrer Einrichtung nennen wollen. Und schließlich habe seine Frau eine Idee

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gehabt: Sie seien die Gänge entlanggelaufen und hätten auf jedem einzelnen Klassenfoto nichtdeutsche Kinder gezählt. Auf einen Anteil von mindestens dreißig Prozent seien sie gekommen. Ich versuchte, mir das vorzustellen: Da geht ein junges Paar aus der Mitte der Mittelschicht den Gang einer Grundschule entlang und zählt Ausländer. Ein süßer Junge mit dunkler Haut, ein kleines Mädchen mit schwarzen Haaren und braunen Augen, ein frecher Asiate in der ersten Reihe. »Hast du die Kleine mit dem Kopftuch notiert, Schatz?« Woher wissen der Bekannte und die Bekanntenfrau, dass der vermeintliche Asiate nicht tausendmal besser rechnen kann als ihre Tochter? Dass nicht der blonde Junge in der letzten Reihe ein fieser Schläger ist? Wer sagt ihnen, dass das türkische Mädchen nicht viel schönere Aufsätze schreiben wird als ihr blauäugiges Mädchen und mehr über die deutsche Revolution von 1848 weiß? Wieso ist das türkische Mädchen überhaupt türkisch? Weil es so aussieht? Haben sie ihren Pass kontrolliert? Wie kommen diese behütet aufgewachsenen, beschaulich lebenden, anständig verdienenden Menschen darauf, dass Horrormeldungen aus dem tiefsten Neukölln etwas mit ihrer heilen Welt in München-Neuhausen-Nymphenburg zu tun haben? Wie konnte es so weit kommen, dass der Bekannte die Gleichung verinnerlicht hat: »Ausländer = Gefahr?« Und sich trotzdem noch für liberal hält. »Dreißig Prozent Ausländeranteil«, sagte mein Bekannter, »das ist mir einfach zu viel.«

»Warum?« »Na, wegen der Sprache! Die sprechen doch oft nur schlecht Deutsch!« »Die? Wer sind die?« »Die Kinder aus nichtdeutschen Familien! Ich habe doch nichts gegen die, aber meine Tochter kann deutsch, die kann auch schon schreiben und lesen, die braucht keine Deutschnachhilfe! Vielleicht widerspreche ich meinen politischen Überzeugungen, aber ich will meine Tochter nicht opfern!«

„Ausländer zählen“, ein Beispiel für vielfältige Formen der Missachtung,

der Ungleichbehandlung, der Benachteiligung und Diskriminierung. Auch

verantwortet von Lehrkräften.

Lehrkräfte,

die nicht angemessen reagieren, wenn Kinder oder Jugendliche

von Mitschülerinnen oder Mitschülern wegen ihrer Herkunft

angegangen werden,

Lehrkräfte, die selbst gegenüber Kindern und Jugendlichen „mit

Migrationshintergrund“ problematisch handeln,

Lehrkräfte, die eine Schulentwicklung mittragen, im Rahmen derer

Benachteiligungen und Stigmatisierungen verankert werden, z. B.

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durch das Erlassen von Verboten, andere als die deutsche

Sprache zu verwenden,

Lehrkräfte, die amtliche Vorgaben umsetzen bzw. umsetzen

müssen, die ohne wenn und aber eine Benachteiligung bedeuten,

so z. B. die geringen Wochenstundenzahlen in Vorbereitungs-

klassen oder Bewertungsmaßstäbe, die es erfordern, die

Leistungen von Schülerinnen und Schülern miteinander zu

vergleichen, die unterschiedlich lang mit der deutschen Sprache zu

tun hatten.

ABER:

Gehören Lehrkräfte, die mit zahlreichen mehrsprachig lebenden Kindern

und Jugendlichen arbeiten, nicht auch selbst zu den Benachteiligten und

Diskriminierten?

Selbst wenn sie diese Arbeit freiwillig und gerne tun: Werden sie im

Rahmen der Benachteiligung und Diskriminierung der Kinder und

Jugendlichen nicht mit benachteiligt und diskriminiert…

… durch die Gesellschaft, den Arbeitgeber, die Schulverwaltung, die

eine oder andere Schulleitung sowie durch Kolleginnen und Kollegen,

die sich mit diesem Zustand zufrieden geben?

In den letzten Jahren konnte ich eine große Zahl (mehrere Hundert) von

Lehrkräften kennenlernen, die diese Frage sofort und eindeutig mit „ja“

beantworten würden.

Diese Lehrerinnen und Lehrer untermauern ihre Position und die

entsprechende Antwort in der Regel mit dem Erzählen von

erstaunlichen, teils unglaublichen, manchmal schockierenden

Geschichten. Viele von uns können sich gar nicht vorstellen, was sich -

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neben dem Positiven - in dieser Hinsicht in den Schulen des Landes

alles ereignet.

Ich denke z.B. an den Kollegen, der eine Sprachlernklasse im Keller, in

der ehemaligen Küche, die nur notdürftig dafür hergerichtet wurde,

unterrichtet, für den dann aber in den oberen Stockwerken ein anderes

Zimmer vorbereitet wird, als sich der SWR mit einem Filmteam

ankündigt.

Der Kollege hat den Wechsel erfreulicherweise abgelehnt, was aber

dazu geführt hat, dass man im Fernsehbeitrag die Küche doch nicht zu

sehen bekam.

These 6: Lehrkräfte, die benachteiligte und teilweise diskriminierte

Kinder und Jugendliche unterrichten, gehören dadurch zu den

Benachteiligten und teilweise Diskriminierten ihrer Berufsgruppe.

Ein Teil der hier angesprochenen Lehrerinnen und Lehrer

verliert im Laufe der Zeit die Motivation,

resigniert,

„flüchtet“ wenn möglich in andere Tätigkeitsbereiche

oder wird schlicht krank.

Andere halten dem Stand. Warum? Und wie?

Resilienz? Hoffnung auf Besserung? Oder ein beständiges sich zur

Wehr setzen gegen diese Verhältnisse?

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Dass das Letztgenannte nicht nur mit Ärger, Widerstand, Protest u. ä. zu

tun haben muss, kann man von Carolin Emcke, der Trägerin des

Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016, lernen.

Sie schreibt in ihrem Buch „Gegen den Hass“ (2016. Frankfurt a. M.: S.

Fischer) ganz am Ende auf S. 216f – ich zitiere mit kleinen nicht

sinnentstellenden Auslassungen:

„Zum zivilen Widerstand (…) gehört für mich auch, sich die Räume der Phantasie zurückzuerobern. Zu den (…) Strategien gegen Ressentiments und Missachtung gehören auch (…) die Geschichten vom Glück. Angesichts all der unterschiedlichen Instrumente und Strukturen (…), die Menschen marginalisieren und entrechten, geht es beim Widerstand gegen (…) Missachtung auch darum, sich die verschiedenen Möglichkeiten des Glücklichwerdens und des wirklich freien Lebens zurückzuerobern. (…) zu widersprechen bedeutet immer (…) auch: die Rolle der Unterdrückten, Unfreien, Verzweifelten nicht zu akzeptieren. Stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden heißt ja nicht allein, in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt zu werden, sondern es raubt allzu oft schon die Kraft und den Mut, für sich etwas fordern zu können, was allen anderen gegeben und normal erscheint: nicht nur Rechte auf Teilhabe, sondern auch die Phantasie des Glücks.“

Damit endet mein Vortrag.

Ich danke für das Zuhören und bin gespannt auf Fragen

und Diskussionsbeiträge.