Kartal Business District, Istanbul - bauwelt.de · Jahren, die der damalige Bürgermeister...

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Bauwelt 48 | 2008 54 Thema Kartal Business District StadtBauwelt 180 | 2008 55 Kartal Business District, Istanbul Aus einem städtebaulichen Wettbewerb gingen Zaha Hadid und Patrik Schumacher als Sieger hervor. Die schie- re Größe des Projekts verleiht dem städtebaulichen Unter- fangen eine Sonderstellung. Bauherrschaft und Politik beschwören sogar die Blüte- zeit der osmanischen Archi- tektur im 16. Jahrhundert wieder herauf. Um seine Rolle als Weltstadt zu verdeutlichen, wird Istanbul seinen Weg ins 21. Jahrhundert durch ein ungewöhnliches Stadtbauprojekt markieren. Der „Kartal Industrial Area Cen- tral Business District Plan“, bekannt unter dem Namen Kartal (ein Stadtteil in Istanbul), ist das ehrgeizigste Vorhaben der Stadt seit der Erneuerung der Infrastruktur in den achtziger Jahren, die der damalige Bürgermeister Bedrettin Dalan ausfüh- ren ließ. Das 555 Hektar große Gelände erstreckt sich vom Mar- marameer bis zu den Steinbrüchen nahe der Autobahn E5. Auf dem ehemaligen Industriegelände soll ein zweites Stadt- zentrum entstehen, mit einem Central Business District, hoch- wertigen Wohnanlagen, Konzerthallen, Museen, Theatern und einem ganzen Spektrum von Freizeiteinrichtungen ein- schließlich einer Marina. Der Ort ist durch alle möglichen Ver- kehrswege erschlossen: durch die Autobahn zwischen Europa und Asien, die Küstenstraße, durch Fähren, Eisenbahnen und Straßenbahnen, welche die Metropolenregion vernetzen. Eine osmanische Alternative | Das Projekt wurde von der Istanbuler Stadtverwaltung zusammen mit der regionalen Stadtplanungsbehörde und dem Urban Design Centre initi- iert. Angefangen hatte die Planung 2005 mit einem eingela- denen Wettbewerb, den Zaha Hadid 2006 gewann. Während der folgenden zwei Jahre blieb das Projekt in der Schwebe, weil die Grundstücksbesitzer untereinander im Streit lagen und dazu noch mit dem Bezirk Kartal und dem Ausschrei- bungsbüro Büyüksehir Belediye haderten. Erst im Februar 2008 kam das entscheidende Signal: Mit dem Bau kann 2009 begonnen werden. Die Stadtverwaltung hat besonders eins im Sinn: Hier endlich soll dem Einfluss Europas, der sich vor allem in den „Schlafstädten“ auf der asiatischen Seite Istanbuls manifestiert, eine Alternative entgegengesetzt werden. Der Masterplan von Zaha Hadid soll die Stadt städtebaulich aus- balancieren und ihr zu einer polyzentrischen Struktur verhel- fen (um die bisherige monozentrische Konzentration auf der europäischen Seite aufzuheben). Außerdem geht es um eine Umverteilung von Wirtschaftskraft, von der vor allem die Au- ßenbezirke rund um das Planungsgebiet profitieren sollen. Kalligraphische Muster | Ausgangspunkt für die Planung war die Verknüpfung all dessen, was man vorfindet: Bebauungs- cluster wie Infrastruktur. Zum Beispiel gibt es laterale Ent- wicklungslinien, die Kartal im Westen mit Pendik im Osten vernähen. Wenn man diese horizontalen Verbindungen mit der Hauptachse, die von Norden nach Süden führt, verbindet, entsteht ein leicht verzogenes Raster, dessen Verlauf und Ma- schenweite die gesamte Struktur bestimmen. Es gibt Orte, wo sich das Netz verdichten kann, um Zonen größerer Intensität auszubilden. Manchmal schiebt sich das Netz praktisch in die Höhe und verwandelt sich in ein Cluster von Türmen in der Landschaft, manchmal wird es engmaschiger, dichter, und wird von Straßen durchschnitten, dann wieder verschwindet Ort Istanbul, Türkei Architekten Zaha Hadid mit Patrik Schu- macher Projektleitung Bozana Komljenovic Mitarbeiter Dea-wah Kang, Saffet Kaya Bekiroglu (Projektleitung Wett- bewerb) Sevil Yazici, Daniel Widrig, Elif Erdine, Melike Altinisik, Cey- hun Baskin, Inanc Eray, Fulvio Wirz, Gonzalo Carbajo (Pro- jektteam Wettbewerb) Bozana Komljenovic, Dea-wah Kang (Projektleitung Phase 1) Sevil Yazici, Vigneswaran Ra- maraju, Brian Dale, Hi Joann, Jordan Darnell (Projektteam Phase 1) Amit Gupta, Marie-Perrine Placais, Susanne Lettau, Elif Erdine, Jimena Araiza (Pro- jektteam Phase 2) Anzahl Wohnungen ca. 15.000 Anzahl Einwohner 50.000 bis 70.000 Realisierungszeitraum 2009–2026 Bauherr Istanbul Metropolitan Munici- pality (MIP), Kartal Urban Development Association Planungsgebiet 5.500.000 m ² Geschossfläche Wohnnutzung ca. 1.200.000 m ² es komplett und macht Platz für Parks und große öffentliche Plätze. Es gibt Viertel, die bis ans oder ins Wasser reichen, dort befinden sich Marinas, Läden und Restaurants. In das Netz hineingewoben sind unterschiedliche Bautypologien, die in einem „urban script“ gesammelt wurden und je nach Bedarf eingesetzt werden. Das quasi kalligraphische Muster erlaubt Übergänge von Einzelhäusern zu Wohnblocks und weiter zu Zwittern aus beidem, woraus dann ein mit Leerstellen durch- setzter Mäander entstehen kann, in dessen Zwischenräumen sich grüne und andere öffentliche Plätze etablieren. Ein wich- tiges Thema sind die sanften Übergänge von den vorgefunde- nen, lockeren Strukturen zu den neuen, verdichteten. Die or- ganische Struktur lässt alle Möglichkeiten von Wachstum zu: Hochhäuser können aus einem Quartier herauswachsen, das ursprünglich niedrig bebaut war, oder sie okkupieren ein Ge- biet, das gerade dabei war, als Grünzone zu verwildern. Der Masterplan ist anpassungsfähig, er lässt jede erdenkliche städ-

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Bauwelt 48 | 200854 Thema Kartal Business District StadtBauwelt 180 | 2008 55

Kartal Business District, Istanbul

Aus einem städtebaulichen Wettbewerb gingen Zaha Hadid und Patrik Schumacher als Sieger hervor. Die schie-re Größe des Projekts verleiht dem städtebaulichen Unter-fan gen eine Sonderstellung. Bauherrschaft und Politik be schwö ren sogar die Blüte-zeit der osmanischen Archi-tektur im 16. Jahrhundert wieder herauf.

Um seine Rolle als Weltstadt zu verdeutlichen, wird Istanbul seinen Weg ins 21. Jahrhundert durch ein ungewöhnliches Stadtbauprojekt markieren. Der „Kartal Industrial Area Cen-tral Business District Plan“, bekannt unter dem Namen Kartal (ein Stadtteil in Istanbul), ist das ehrgeizigste Vorhaben der Stadt seit der Erneuerung der Infrastruktur in den achtziger Jahren, die der damalige Bürgermeister Bedrettin Dalan ausfüh-ren ließ. Das 555 Hektar große Gelände erstreckt sich vom Mar-marameer bis zu den Steinbrüchen nahe der Autobahn E5. Auf dem ehemaligen Industriegelände soll ein zweites Stadt-zentrum entstehen, mit einem Central Business District, hoch-wertigen Wohnanlagen, Konzerthallen, Museen, Theatern und einem ganzen Spektrum von Freizeiteinrichtungen ein-schließlich einer Marina. Der Ort ist durch alle möglichen Ver-kehrswege erschlossen: durch die Autobahn zwischen Europa und Asien, die Küstenstraße, durch Fähren, Eisenbahnen und Straßenbahnen, welche die Metropolenregion vernetzen.

Eine osmanische Alternative | Das Projekt wurde von der Istanbuler Stadtverwaltung zusammen mit der regionalen Stadtplanungsbehörde und dem Urban Design Centre initi-iert. Angefangen hatte die Planung 2005 mit einem eingela-denen Wettbewerb, den Zaha Hadid 2006 gewann. Während der folgenden zwei Jahre blieb das Projekt in der Schwebe, weil die Grundstücksbesitzer untereinander im Streit lagen und dazu noch mit dem Bezirk Kartal und dem Ausschrei-bungsbüro Büyüksehir Belediye haderten. Erst im Februar 2008 kam das entscheidende Signal: Mit dem Bau kann 2009 begonnen werden. Die Stadtverwaltung hat besonders eins im Sinn: Hier endlich soll dem Einfluss Europas, der sich vor allem in den „Schlafstädten“ auf der asiatischen Seite Istanbuls manifestiert, eine Alternative entgegengesetzt werden. Der Masterplan von Zaha Hadid soll die Stadt städtebaulich aus-balancieren und ihr zu einer polyzentrischen Struktur verhel-fen (um die bisherige monozentrische Konzentration auf der

europäischen Seite aufzuheben). Außerdem geht es um eine Umverteilung von Wirtschaftskraft, von der vor allem die Au-ßenbezirke rund um das Planungsgebiet profitieren sollen.

Kalligraphische Muster | Ausgangspunkt für die Planung war die Verknüpfung all dessen, was man vorfindet: Bebauungs-cluster wie Infrastruktur. Zum Beispiel gibt es laterale Ent-wicklungslinien, die Kartal im Westen mit Pendik im Osten vernähen. Wenn man diese horizontalen Verbindungen mit der Hauptachse, die von Norden nach Süden führt, verbindet, entsteht ein leicht verzogenes Raster, dessen Verlauf und Ma-schenweite die gesamte Struktur bestimmen. Es gibt Orte, wo sich das Netz verdichten kann, um Zonen größerer Intensität auszubilden. Manchmal schiebt sich das Netz praktisch in die Höhe und verwandelt sich in ein Cluster von Türmen in der Landschaft, manchmal wird es engmaschiger, dichter, und wird von Straßen durchschnitten, dann wieder verschwindet

OrtIstanbul, Türkei

ArchitektenZaha Hadid mit Patrik Schu-macher

ProjektleitungBozana Komljenovic

MitarbeiterDea-wah Kang, Saffet Kaya Bekiroglu (Projektleitung Wett- bewerb)Sevil Yazici, Daniel Widrig, Elif Erdine, Melike Altinisik, Cey-hun Baskin, Inanc Eray, Fulvio Wirz, Gonzalo Carbajo (Pro-jektteam Wettbewerb)Bozana Komljenovic, Dea-wah Kang (Projektleitung Phase 1) Sevil Yazici, Vigneswaran Ra-maraju, Brian Dale, Hi Joann, Jordan Darnell (Projektteam Phase 1)Amit Gupta, Marie-Perrine Placais, Susanne Lettau, Elif Erdine, Jimena Araiza (Pro-jektteam Phase 2)

Anzahl Wohnungen ca. 15.000

Anzahl Einwohner 50.000 bis 70.000

Realisierungszeitraum 2009–2026

Bauherr Istanbul Metropolitan Munici-pality (MIP),Kartal Urban Development Association

Planungsgebiet 5.500.000 m²

Geschossfläche Wohnnutzung ca. 1.200.000 m²

es komplett und macht Platz für Parks und große öffentliche Plätze. Es gibt Viertel, die bis ans oder ins Wasser reichen, dort befinden sich Marinas, Läden und Restaurants. In das Netz hineingewoben sind unterschiedliche Bautypologien, die in einem „urban script“ gesammelt wurden und je nach Bedarf eingesetzt werden. Das quasi kalligraphische Muster erlaubt Übergänge von Einzelhäusern zu Wohnblocks und weiter zu Zwittern aus beidem, woraus dann ein mit Leerstellen durch-setzter Mäander entstehen kann, in dessen Zwischenräumen sich grüne und andere öffentliche Plätze etablieren. Ein wich-tiges Thema sind die sanften Übergänge von den vorgefunde-nen, lockeren Strukturen zu den neuen, verdichteten. Die or-ganische Struktur lässt alle Möglichkeiten von Wachstum zu: Hochhäuser können aus einem Quartier herauswachsen, das ursprünglich niedrig bebaut war, oder sie okkupieren ein Ge-biet, das gerade dabei war, als Grünzone zu verwildern. Der Masterplan ist anpassungsfähig, er lässt jede erdenkliche städ-

Page 2: Kartal Business District, Istanbul - bauwelt.de · Jahren, die der damalige Bürgermeister Bedrettin Dalan ausfüh-ren ließ. Das 555 Hektar große Gelände erstreckt sich vom Mar-marameer

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tebauliche Form zu, dabei stellt sich einzig die Aufgabe, zwi-schen dem Neuen und nie zuvor Gesehenen und der sensiblen Fortführung alteingesessener Strukturen einen Ausgleich zu finden. Der Masterplan arbeitet mit einem Straßennetz, in das drei verdichtete Inseln eingefügt sind, womit eine abwechs-lungsreiche Skyline erzeugt wird, die auf die Küstenlage, den Blick vom Meer und andere Blickachsen eingehen wird, und er schlägt eine neue Achse vor, die von Norden nach Süden ver-läuft und dem städtebaulichen Konzept als Rückgrat dient. Sie verbindet die Metrostation im Norden mit den Auto- und Bahnverbindungen im Süden und wird von einer Straßen-bahn begleitet. Am Anfang und am Ende dieser Achse liegen zwei hoch aufragende Bankenviertel, um die jeweils anders gestaltete Quartiere entstehen sollen: Im Norden wird der Steinbruch als gestaltete Landschaft zum öffentlichen Erho-lungsgebiet, im Süden verbindet sich die Marina mit anderen Freizeiteinrichtungen. ZHA

Ein alter Steinbruch ganz im Norden des Planungsgebiets ist gewissermaßen Quellort des skulpturalen Städtebaus, dessen quasi organische Be-bauungscluster sich von hier aus ins Tal zu ergießen schei-nen. Der Steinbruch – um ei-nen See erweitert – wird zum Erholungsgebiet und findet sein Pendant ganz im Süden in der Marina und dem Thea-ter- und Museumsbezirk.