KATHLEEN E. WOODIWISS Auf den W ogen der Sehnsucht · 2019-01-18 · Kathleen E. Woodiwiss wurde in...

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KATHLEEN E. WOODIWISS Auf den Wogen der Sehnsucht 1

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KATHLEEN E. WOODIWISS

Auf den Wogen der Sehnsucht

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Buch

Allein und hungrig in den Straßen Londons, gibt es für die bezau-bernde Cerynise Kendall nur eine einzige Rettung: ihren geliebtenOnkel in Charleston. Aber wie soll es ihr gelingen, eine Schiffspas-sage dorthin zu bezahlen? Völlig erschöpft bricht sie eines Tagesohnmächtig am Pier zusammen. Als sie in einer luxuriösen Schiffs-kajüte wieder erwacht, blickt sie mitten in die unergründlichen Au-gen von Beau Birmingham, dem Schwarm ihrer Jugend, aus dem in-zwischen ein überaus attraktiver Kapitän geworden ist. Aus sehrpersönlichen Gründen verweigert Beau ihr jedoch seine Hilfe. Undso kann die temperamentvolle Cerynise den kühnen, geheimnisum-witterten Mann selbst dann nicht um Beistand bitten, als sie ihr Le-

ben bedroht sieht …

Autorin

Kathleen E. Woodiwiss wurde in Alexandria im amerikanischenBundesstaat Louisiana geboren. Seit dem Erscheinen ihres Welt-bestsellers »Shanna« Ende der siebziger Jahre haben ihre Büchereine Auflage von über 35 Millionen Exemplaren erreicht. Kathleen

E. Woodiwiss lebt mit ihrem Mann in Minnesota.

Von Kathleen E. Woodiwiss bereits erschienen:

Hochzeitsnacht im Paradies (35070) ⋅ Shanna (35407) ⋅ Wie Staub imWind (35448) ⋅ Wohin der Sturm uns trägt (35723) ⋅ Wie Sterne überdem Meer (35485) ⋅ Was der Sturmwind sät (36013) ⋅ Die Rose von

Cornwall (36016) ⋅ Shanna/Wie Staub im Wind (36072)

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Kathleen E. Woodiwiss

Auf den Wogender Sehnsucht

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Elke Iheukumere

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel»The Elusive Flame« bei Avon Books,The Hearst Corporation, New York.

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Dezember 2006 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH, München

Copyright © by Kathleen E. Woodiwiss 1999Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by

Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagillustration: CorbisRedaktion: Petra Zimmermann

ES ⋅ Herstellung: HNDruck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN-10: 3-442-36612-7

ISBN-13: 978-3-442-36612-5

www.blanvalet-verlag.de

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1. Kapitel

24. Oktober 1825London, England

Cerynise Edlyn Kendall stand an den hohen Fenstern desvorderen Wohnzimmers und beobachtete durch einen Trä-nenschleier die Leute, die über den Weg eilten, der den Ber-keley Square teilte. Sie schienen es eilig zu haben, einen Un-terschlupf zu finden, ehe die sich auftürmenden Wolken siemit einem Sturzbach von Regen überschütten würden. Dereisige Wind, der die aufziehenden Wolken begleitete, zerrtean der Kleidung von Jung und Alt, von Frauen und Männern,er spielte mit den Redingoten der Vorübergehenden, die sichbemühten, ihren Zylinder, ihre modischen Hauben oder ihreUmhänge festzuhalten. Wangen und Nasen waren gerötet,und diejenigen, die nicht so warm gekleidet waren, zittertenvor Kälte. Zum größten Teil bemühten sich die Einwohnerder Stadt mehr oder weniger hastig oder resigniert, zu ihrenFamilien, ihren Häusern oder ihrem einsamen Leben zu eilen.Sie kümmerten sich wohl kaum darum, darüber nachzuden-ken, wie bequem ihr Leben war oder wie zerbrechlich es seinkonnte.Eine große Porzellanuhr, die auf dem Kaminsims im Wohn-zimmer stand und kunstvoll mit Figuren verziert war, schluganmutig die vierte Stunde. Cerynise ballte ihre schlankenHände zu Fäusten und vergrub sie im steifen schwarzen Taftihres weiten Rockes, während sie tapfer gegen den Schmerzkämpfte, der sie zu überwältigen drohte. Als das melodischeLäuten der Uhr aufhörte, widerstand sie dem Wunsch, überihre Schulter zu blicken, mit der gleichen Erwartung, die ihrschon zur Gewohnheit geworden war in den letzten fünf Jah-

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ren, weil sie täglich zur gleichen Zeit mit ihrem Vormund Ly-dia Winthrop das Ritual des Teetrinkens geteilt hatte. Derplötzliche Tod der Frau hatte Cerynise fassungslos gemacht,und selbst jetzt noch fiel es ihr schwer, ihn zu begreifen. Lydiawar ihr so voller Leben erschienen, so energiegeladen für eineFrau, die beinahe siebzig Jahre alt war. Noch am Abend ihresTodes hatte ihre Schlagfertigkeit und ihr Humor beinahe ge-strahlt im Gegensatz zu der säuerlichen Langweile ihres Groß-neffen, der sie an diesem Abend besucht hatte. Doch sosehr essich Cerynise auch anders wünschte, Lydia war tot und begra-ben. Erst gestern hatte Cerynise wie gebannt auf den Sarg ausMahagoniholz gestarrt, während die letzten Gebete für dieSeelenruhe der Frau gesprochen worden waren. Es schien ihrin ihrem Kummer schon eine Ewigkeit her zu sein, seit eineHandvoll Erde, die die Rückkehr des Menschen zu Asche undStaub symbolisierte, auf den Sarg geworfen worden war. Diesefreundliche, liebevolle Frau, die Cerynise als ihre Beschütze-rin, ihre Vertraute, ihren Elternersatz und ihre liebste Freun-din geliebt hatte, war nun für immer für sie verloren.Trotz all ihrer Bemühungen, ihren Kummer zu vertreiben,zitterten ihre sanften Lippen und öffneten sich ein wenig, umihre weißen Zähne zu enthüllen, während neue Tränen auf-stiegen und ihr den Blick aus ihren haselnußbraunen Augenmit den dichten Wimpern trübte. Nie wieder würden sie bei-de fröhlich plaudern, während vor ihnen die gefüllten Teetas-sen und kleine Kuchen standen, oder am Abend zusammenvor einem knisternden warmen Feuer sitzen, während Cery-nise der älteren Frau aus einem ihrer geschätzten Bücher Verseoder einen Roman vorlas. Im Wohnzimmer würden nichtlänger die fröhlichen Melodien erklingen, die Cerynise gesun-gen hatte, während Lydia dazu Klavier spielte. Und sie wür-den auch nie wieder an einem belebten Strand entlangspazie-ren oder ihre Gedanken austauschen, während sie am Ufer derSerpentine durch den Hyde Park spazierten, und sie würdenauch nicht mehr die Anwesenheit des anderen genießen kön-nen in der Ruhe und dem Frieden einer Lichtung. Für immer

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verschwunden war die liebevolle Unterstützung ihres Vor-mundes, die, trotz all der Hindernisse der Gesellschaft, dieTräume des jungen Mädchens mit realisiert hatte, eine so be-deutende Malerin zu werden, daß sogar Ausstellungen ihrerWerke stattgefunden und Gemälde für große Summen anwohlhabende Gönner verkauft worden waren, wenn auchunter einer gewissen Geheimhaltung, bei der nur die InitialenCK auf die Identität des Künstlers hinwiesen. Selbst jetzt, alsbei den wehmütigen Erinnerungen wieder eine neue Wogedes Kummers über sie hinwegging, konnte Cerynise sich diegroße schlanke, schwarz gekleidete Gestalt der älteren Frauvorstellen, die ein Stück rechts hinter ihr stand, während sie anihrer Staffelei arbeitete, wie so oft, wenn Cerynise gemalt hat-te, und die in ihrer ein wenig rauhen Stimme ihrem Schütz-ling riet, sich immer selbst treu zu sein, ganz gleich, was auchgeschah.Cerynises Verzweiflung und ihre Einsamkeit waren mehr, alssie im Augenblick ertragen konnte. Sie fühlte sich vollkom-men ausgelaugt und erschöpft. Es war keine Überraschung,daß das Zimmer sich auf einmal ungewöhnlich zu bewegenschien und sie schwankte und mit den Augen blinzelte, weilihr schwindlig wurde. In ihrer Verzweiflung klammerte siesich an den Fensterrahmen und legte die Stirn an das kühle,dunkle Holz, bis der Schwindel langsam verschwand. Sie hatteseit Lydias Tod kaum etwas gegessen. Es gelang ihr nicht,mehr als nur ein paar Schluck Brühe und ein trockenes StückToast herunterzubringen. Und der Schlaf, den sie schließlichin ihrem Schlafzimmer im oberen Geschoß gefunden hatte,war nicht der Rede wert gewesen. Sie zweifelte daran, daß sieTrost würde finden können in all ihrem Schmerz, auch wennsie wußte, daß Lydia nicht gewollt hätte, daß sie über ihrenplötzlichen Tod so verzweifelt war. Die ältere Frau hatte ihreinmal Trost und Mitleid gespendet, als sie ein verängstigtesKind von zwölf Jahren gewesen war, das gerade in einemschrecklichen Unwetter seine Eltern verloren hatte, als eingroßer Baum auf das Haus gefallen war, in dem sie mit ihren

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Eltern lebte. Cerynise hatte sich Vorwürfe gemacht, weil sienicht zu Hause gewesen war, um sie zu retten, doch Lydia, diein dieser Gegend aufgewachsen war und seit ihrer Kindheitmit Cerynises Großmutter befreundet gewesen war, die einpaar Jahre vor ihrer Tochter gestorben war, hatte dem Mäd-chen behutsam geholfen zu begreifen, daß wohl auch sie um-gekommen wäre, wenn sie nicht zu dieser Zeit eine Schule fürjunge Mädchen besucht hätte. Selbst wenn sie harte Zeitenhatte erleiden müssen, so war doch die ältere Frau für sie daund darauf bedacht gewesen, ihr zu helfen und sie davon zuüberzeugen, daß das Leben weiterging. Lydia hätte jetzt vonihr erwartet, daß sie sich daran erinnerte.Dennoch ist es so schwer, stöhnte Cerynise innerlich. WennLydia in den letzten fünf Jahren auch nur einen Tag lang krankgewesen wäre oder wenn es vorher irgendeine Warnung ge-geben hätte, wäre der ganze Haushalt vielleicht besser auf ih-ren Tod vorbereitet gewesen. Doch andererseits hätte Cery-nise nicht gewollt, daß die ältere Frau eine lange, unheilbareKrankheit hätte erleiden müssen. Nein, wenn schon die Handdes Todes nicht aufgehalten werden konnte, dann war dieTatsache, daß Lydia trotz anscheinend so guter Gesundheitgestorben war, ein Segen, auch wenn es die junge Frau, die siegeliebt hatte und die jetzt unendlich um ihren Verlust trauerte,bis ins Tiefste ihrer Seele erschüttert hatte.Regentropfen schlugen gegen das Fenster und rannen über dasGlas, und Cerynise kam in die Wirklichkeit zurück. Durch dasUnwetter, das durch die Stadt fegte, waren die Straßen fastvöllig leer. Nur noch wenige Fußgänger eilten durch die Stra-ßen, um Schutz vor dem Regen zu finden. Kutschen fuhrenschnell vorüber, die Kutscher hatten sich tief zusammenge-duckt und blinzelten in den Regen.Cerynise hörte, wie sich leise Schritte dem Wohnzimmer nä-herten. Als sie sich umsah, blickte sie in die geröteten Augendes Hausmädchens, das genau wie die anderen Mitglieder desHaushaltes den Tod ihrer Herrin betrauerte.»Entschuldigung, Miss Cerynise«, murmelte das Mädchen.

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»Ich habe mich gefragt, ob Sie Ihren Tee trinken möchten,jetzt, wo Sie wieder hier sind.«Cerynise hatte kein Interesse daran, jetzt etwas zu essen, abereine Tasse Tee würde sie vielleicht wärmen nach ihrem Be-such auf dem Friedhof. Ihr war eiskalt von dem ungewöhnlichkalten Wetter, das momentan herrschte, und sie dachte daran,daß es ihr eine Ahnung von dem gab, was sie im kommendenWinter würde erleiden müssen.»Eine Tasse Tee wäre gut, Bridget. Danke.« Ihre Worte klan-gen noch sanfter durch den leisen Anflug ihres Akzents, der sotypisch war für ihren Geburtsort in Carolina. Auch ihr Auf-enthalt in England hatte daran nichts ändern können. Inmittenall ihrer anderen Studien hatten ihre Lehrer immer wiederversucht, ihr die richtige englische Aussprache und Etikettebeizubringen. Aber weil Cerynise keinen ihrer Lehrer für soweise oder so fähig hielt wie ihre eigenen gelehrten Eltern,machte es ihr Spaß, sie in ihrem Bemühen, ihre Aussprache zukorrigieren, zu ärgern wie ein altkluges Kind, das seine Lehrernecken möchte. Selbst wenn sie so gestelzt und vornehm spre-chen konnte, daß auch dem aufmerksamsten Zuhörer keinDialekt auffiel, hatte sie sich doch störrisch geweigert, ihrer ei-genen Heimat fremd zu werden. Sie hatte sich nämlich ent-schieden, noch ehe sie Carolina verlassen hatte, daß sie einesTages zurückkehren würde.Das Mädchen verneigte sich höflich und eilte davon, erleich-tert, daß sie etwas zu tun hatte, denn im Haus war es in denletzten Tagen traurig und still gewesen, als würde sogar dasGemäuer über den Tod der Herrin trauern. Manchmal glaub-te Bridget sogar, daß sie die unverwechselbare, leicht rauheStimme hören konnte, die in den letzten Jahren ihr Leben mitFreude und Freundlichkeit erfüllt hatte.Ein Teewagen, beladen mit einem silbernen Teeservice undMeißner Porzellan, wurde schon bald in das Wohnzimmergeschoben. Neben dem dampfenden Tee stand ein Teller mitkleinen Brötchen mit cremiger Butter und ein Kristallschäl-chen mit Erdbeermarmelade.

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Mit einem nachdenklichen Seufzer wandte sich Cerynise vomFenster ab und setzte sich auf eines der beiden Sofas, die einan-der vor dem Kamin gegenüberstanden. Bridget rollte denTeewagen neben sie, verbeugte sich noch einmal höflich undverschwand wieder. Cerynises Hände zitterten, als sie die Tee-kanne nahm und ihre Tasse füllte. Sie gab Sahne und Zuckerin ihren Tee, ein kleines Zugeständnis an die englischen Sit-ten, doch eines, das ihr besonders gefiel. Sie dachte daran, ei-nes der Brötchen zu essen. Sie nahm es sich wirklich vor.Doch nachdem sie eines davon auf ihren Teller gelegt hatte,hatte sie mit einem Mal keinen Appetit mehr. Sie konntenichts anderes tun, als blicklos darauf zu starren. Zwischen ih-rem Entschluß und seiner Ausführung lag ein großer Ab-grund, den sie einfach nicht überschreiten konnte.Ich werde es später essen, nahm Cerynise sich vor, und stellte denTeller mit einem leisen Schaudern der Abneigung beiseite. Siehob die Tasse und nahm einen Schluck Tee, weil sie hoffte, erwürde ihren Magen und auch ihre Nerven beruhigen. Es dau-erte nicht lange, bis sie wieder am Fenster stand und auf daselegante Mayfair blickte, wo sie lebte. Hinter den Grenzen ih-res Blickfeldes schien ihr die Welt weit und ungezähmt, unddas Ausmaß ihres Verlustes weckte in ihr die Überlegung, wiesie es unter den gegebenen Umständen wohl am besten schaf-fen würde, ihr Leben weiterzuführen, jetzt, nachdem sie alleinund gerade einmal siebzehn Jahre alt war.Cerynise schloß die Augen, ein dumpfer Schmerz hatte sich inihrem Kopf eingenistet, seit sie an diesem Tag nach Hause ge-kommen war. Zweifellos war er das Ergebnis ihrer Anspan-nung und der vielen schlaflosen Stunden. Der Schmerz in ih-ren Schläfen wurde immer stärker, ihr Kopf dröhnte, bis es ihrschien, als würde jede einzelne Haarnadel auf ihrem Kopf kei-nen anderen Zweck haben als den, ihr Unbehagen zu vergrö-ßern. Sie stellte ihre Teetasse beiseite, dann suchte sie in ihremHaar nach den peinigenden Haarnadeln. Sie löste sie aus demfesten Knoten auf ihrem Kopf und fuhr dann mit den Fingerndurch ihr Haar, bis es in dichten, weichen Locken über ihre

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Schultern und ihren Rücken fiel. Doch der Schmerz wurdedadurch nicht geringer, er schien ihr wie mit Nadeln in ihrGehirn zu stechen, bis Cerynise gezwungen war, nach eineranderen Erleichterung zu suchen. Sie begann ihre Kopfhautzu massieren und achtete nicht darauf, wie sie ihr helles gold-braunes Haar zerzauste. Immerhin stand sie in einem Wohn-zimmer, wo man förmlich gekleidet zu sein hatte. Doch nurdie Dienerschaft war im Haus, und auch wenn Lydias Groß-neffe manchmal unangekündigt zu den ungewöhnlichstenZeiten erschien, so hatte er es nicht einmal für nötig gehalten,zur Beerdigung zu erscheinen. Als er beim letzten Mal seineTante besucht hatte, war er so wütend auf sie gewesen, daß ergeschworen hatte, in den nächsten beiden Wochen nicht wie-derzukommen. Und das war erst drei Tage her.Der Schmerz in ihrem Kopf ließ geringfügig nach und erlaub-te Cerynise, etwas ausführlicher über ihre Zukunft nachzu-denken. Sie begann, ruhelos im Wohnzimmer hin und her zulaufen, während sie gleichzeitig versuchte, ihr Leben nüchternzu überdenken. Sie hatte nur noch einen lebenden Verwand-ten, und das war ein Onkel, der in Charleston lebte. Er warsein ganzes Leben lang Junggeselle geblieben, weil er seineBücher und Studien einer Ehe und Familie vorgezogen hatte,doch Cerynise zweifelte nicht daran, daß er sie mit offenenArmen willkommen heißen würde. Vor ihrer Abreise hatte erihr versichert, daß er nicht an seiner Fähigkeit zweifelte, siewie ein erfahrener Vater zu versorgen, und daß er auch in derLage war, ihr all das beizubringen, was eine Frau wissen sollte.Er hatte sie gar nicht gehen lassen wollen. Doch nach sorgfälti-gem Abwägen der Vorteile, die sie haben würde, wenn eineältere Frau sich um sie kümmerte, hatte er sich mit LydiasVorschlag einverstanden erklärt und seine Nichte unter Trä-nen dazu gedrängt, nach England zu gehen, um dort Kunstund Sprachen zu studieren und all das zu lernen, was eine ele-gante Dame wissen mußte, und dann sozusagen als polierterEdelstein nach Hause zurückzukehren. Auch wenn er weitweg war, so war Sterling Kendall doch ihre sichere Zuflucht.

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Wenigstens würde sie sich eine Zeitlang keine finanziellenSorgen machen müssen, überlegte Cerynise erleichtert. Mitdem Geld, das sie mit ihren Bildern verdient hatte, konnte sieein Weile gut leben, während sie neue Bilder schuf. InCharleston gab es eine Menge wohlhabender Plantagenbesit-zer und Händler. Viele von ihnen waren begeisterte Kunst-sammler. Dennoch wären sie vielleicht nicht ganz so begei-stert von ihren Werken, wenn sie erfuhren, daß der Künstlerrelativ unbekannt und dazu noch ein Mädchen war. Um inCarolina erfolgreich zu sein, war es ratsam, einen Agenten zufinden, der bereit war, ihre Bilder zu verkaufen, ohne das Ge-heimnis ihrer Identität zu lüften. Wenn sie darüber nachdach-te, was sie bereits verdient hatte, so glaubte sie nicht, daß essehr schwer sein würde, das Interesse eines erfahrenen Kunst-händlers zu wecken, der zu einer solchen Zusammenarbeit be-reit war.Cerynise blieb abrupt stehen. Sie war einen Moment lang ver-wirrt, als sie ihr Bild in dem vergoldeten Spiegel in der Ein-gangshalle entdeckte. Ihr leicht derangiertes Aussehen warhier, im vorderen Wohnzimmer, wirklich unerwartet. Was sieallerdings noch mehr erstaunte, war die Tatsache, daß sie mitihrem langen Haar und den hellen Strähnen, die ihr wild zer-zaust über die Schultern fielen, einem wilden Zigeunermäd-chen ähnlich sah, wenn auch einem gut gekleideten.Ihr Kopf auf dem anmutigen Hals legte sich etwas zur Seite,während sie sich kritisch betrachtete und sich fragte, ob ihrOnkel wohl glaubte, daß sie sich während ihrer langen Abwe-senheit sehr verändert hatte. Als er ihr nachgeschaut hatte, wiesie davongesegelt war, war sie nicht mehr als ein hoch aufge-schossenes dürres Kind gewesen, das sich Sorgen um seineGröße machte. Jetzt war sie eine ausgewachsene Frau undnoch immer größer als die meisten ihres Geschlechtes. Auchwenn sie schlank war, so war ihre Figur doch so wohlgerun-det, daß sie eine kleine Gefolgschaft junger Kavaliere anzog,die Lydia keine Ruhe ließen, um Einzelheiten über ihre Ein-führung in die Gesellschaft zu erfahren. Nachdem sie in letzter

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Zeit sowenig gegessen hatte, sahen ihre haselnußbraunen Au-gen mit den dichten Wimpern unter den nach oben gewölb-ten Augenbrauen noch viel größer aus. Ihre Wangenknochenwaren hoch und standen vielleicht zur Zeit deutlicher hervorals üblich. Ihre Nase war gerade, schmal und ihrer Meinungnach recht gewöhnlich. Ihre vollendet geschwungenen Lip-pen, auf denen sich kein Lächeln zeigte, waren blutleer.Bis auf die winzigen Rüschen aus weißer Spitze an ihrem Halsund an ihren Handgelenken war sie total schwarz gekleidet.Ihre modische Spenzerjacke aus Samt, mit schwarzer gefloch-tener Borte besetzt, die über der Brust in der Art der Militär-jacken geschlossen wurde, endete in der Taille. Die Ärmel wa-ren an den Schultern gebauscht, doch sonst lagen sie eng anund endeten am Handgelenk in Falten, die mit der gleichenkostbaren weißen Spitze besetzt waren. Ihr Rock war überdem Saum mit der gleichen dekorativen geflochtenen schwar-zen Borte verziert, er war modisch kurz, zumindest kurz ge-nug, um ihre schlanken Fesseln und die flachen Schuhe zuzeigen.Kurze Belustigung lag auf Cerynises Lippen, als sie ihr Bild imSpiegel betrachtete. Sie war sicher, daß es Lydia gefallen hätte,auch im vorderen Wohnzimmer, ihre Reserve außer acht zulassen und ihr Haar zu öffnen. Auch wenn die ältere Frau einevollkommene Lady gewesen war, so war sie doch vernünftiggenug gewesen zu wissen, wann man auf den Anstand achtenmußte und wann man ihn dem gesunden Menschenverstandund schlichter Ehrlichkeit unterordnen sollte. Cerynise konn-te sich nicht vorstellen, daß sie in all den Jahren sehr viel Weis-heit aus den mannigfaltigen Ratschlägen der älteren Frau hättelernen können, wenn diese nicht erlaubt hätte, daß dieseswertvolle Körnchen der Logik in ihr gewachsen wäre.Man hörte das Geräusch einer Kutsche, die vor dem Win-throp Haus hielt, und schon bald darauf klopfte es laut an derHaustür. Das eindringliche Klopfen dröhnte durch das ganzeHause, als der Butler mit seinem gewöhnlichen ruhigenSchritt durch die Halle zur Tür schritt. Während Cerynise ihn

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dabei beobachtete, faßte sie schnell ihr Haar zusammen undsteckte den Knoten im Nacken mit den Haarnadeln wiederfest. Es wäre sicher nicht anständig für eine vornehme Lady,Gäste zu begrüßen, wenn sie aussah wie ein Wildfang.Ein lärmender Wortwechsel, unterbrochen vom Kichern einerFrau, erfüllte die Eingangshalle und zeugte von der ungebühr-lichen Ankunft einiger Leute. Noch ehe Cerynise nachsehenkonnte, betraten zwei Männer durch den Bogen-Eingang dasWohnzimmer, gefolgt von einem aufgelösten Butler, der überdiese Unverschämtheit entsetzt war.»Es tut mir schrecklich leid, Miss«, entschuldigte sich Jasper,und sein alterndes Gesicht blickte betroffen. »Ich hätte Mr.Winthrop und Mr. Rudd angekündigt, aber sie haben mirnicht die Möglichkeit gegeben.«»Kein Grund zur Beunruhigung, Jasper. Es ist alles in Ord-nung«, versicherte ihm Cerynise. Sie machte ein paar Schritteauf die Männer zu und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Sorg-fältig verbarg sie ihre zitternden Hände in den Falten ihresRockes. Sie kannte Lydias Neffen besser, als ihr lieb war, trotzder Tatsache, daß dieser, wann immer er ihren Vormund be-sucht hatte, stets um eine private Unterhaltung gebeten hatte.Er war groß und hager und schien in seinen schlaksigen Bewe-gungen nicht koordiniert. Sein schwarzes Haar war glatt ausdem Gesicht nach hinten gekämmt, der Backenbart hob seinabgezehrtes Gesicht noch hervor. Im Profil schien seine dünneNase herunterzuhängen, nur ein kurzes Stück ragte sie übersein scharf hervorstehendes Kinn heraus. Er war absolut keingutaussehender Mann, doch offensichtlich hatte er eine Men-ge Geld an seine Ausstattung verschwendet, denn er warextravagant gekleidet, ohne jegliche Zurückhaltung.Sein Begleiter, Howard Rudd, war genauso groß wie er, dochtrug er einen massigen Bauch vor sich her. Auf seiner knolligenNase hoben sich dunkle Adern hervor, und ein kleines rotesMuttermal zeichnete seine linke Wange. Obwohl Ceryniseden Anwalt seit zwei oder drei Jahren nicht mehr gesehen hatte,so erinnerte sie sich doch daran, wie er jedes einzelne kostbare

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Stück in seiner Reichweite gierig betastet hatte, während erdarauf wartete, daß er in Lydias Privatgemächer vorgelassenwurde. Der Glanz, der dabei in seine Augen getreten war, hatteihr seine Begehrlichkeit gezeigt, und sie hatte sich oft gefragt,ob er sich nicht vielleicht mit etwas Wertvollem davonmachenwürde. Cerynise war es schwergefallen, sich vorzustellen, daßLydia einem solchen Mann vertraute, denn nach dem Geruch,den er damals verströmte und der auch heute wieder zu riechenwar, war es offensichtlich, daß er dazu neigte, starke Getränkezu sich zu nehmen.»Mr. Winthrop ist hier allzeit willkommen gewesen, Jasper«,begann Cerynise ruhig und richtete ihre Aufmerksamkeit aufden Butler. Lydia war stets bemüht gewesen, ihren Neffen mithöflicher Achtung zu behandeln, auch wenn seine Ankunft ofteine Störung für sie bedeutet hatte, weil sie gerade aßen oderGäste hatten. Die ältere Frau würde von ihrem Schützling diegleiche Höflichkeit erwarten. »Und natürlich Mr. Ruddauch …«Rauhes, verächtliches Lachen unterbrach sie, und Cerynisesah Alistair an, überrascht durch seine Unhöflichkeit. Bei sei-nen eigenartigen Bewegungen hatte sie sich oft schon gefragt,ob er überhaupt einen festen Knochen in seinem Körper hat-te. Auch jetzt mußte sie daran denken, als er mit schlenkern-den Schritten auf sie zukam und seine dunklen Augen böseblitzten.»Wie liebenswürdig von Ihnen, Miss Kendall«, spottete er,und sein großer Mund schien genauso unbeherrscht wie seinganzer Körper. »Wie sehr, sehr aufmerksam Sie doch sind.«Cerynise versuchte, sich auf das, was jetzt kommen würde,vorzubereiten, denn sie hatte das Gefühl, es würde nicht gera-de angenehm werden. Ihre Begegnungen mit diesem Mannwaren bis jetzt nicht mehr gewesen als kurze Begrüßungen inden Fluren oder einem der Zimmer. Dennoch hatte sie einerecht schlechte Meinung von Alistair Winthrop. Während ih-rer knappen Erfahrungen mit ihm hatte sie festgestellt, daß erein eingebildeter Angeber war, der zu denken schien, daß er

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einen Anspruch auf Ruhm und Reichtum hatte, weil er derGroßneffe, wenn auch nur durch Einheirat, einer ungeheuerwohlhabenden Frau war. Cerynise hatte oft vermutet, daß erein Verschwender war, doch was noch schlimmer war – erhatte nie auch nur die leiseste Wertschätzung für seine Tantegezeigt. Lydia hatte zwar geschwiegen, wenn es um die Anläs-se seiner Besuche ging, aber Alistair zählte stets sein Geld,wenn er das Haus verlassen hatte, oder er war wütend aus demHaus gelaufen und hatte sich über ihre sogenannte Knauserig-keit aufgeregt, wie bei seinem letzten Besuch. Seine wütendenAusbrüche hatten Cerynises Abneigung diesem Mann gegen-über noch verstärkt, so sehr, daß sie es jetzt als einen Test ihrerschauspielerischen Fähigkeiten ansah, in seiner Gegenwarteine ruhige Liebenswürdigkeit aufrechtzuerhalten.Alistair deutete mit seiner blassen, behaarten Hand in Rich-tung auf den Anwalt. »Sagen Sie es ihr!« befahl er mit lauterStimme.Howard Rudd wischte sich mit der Hand über seinen ständigfeuchten Mund und trat ein paar Schritte vor, um AlistairsAufforderung zu folgen. Doch noch ehe er das tun konnte,betrat eine anzüglich gekleidete junge Frau das Wohnzimmerund zog eine grellfarbene Federboa hinter sich her. Ihr Busenund ihre ausladenden Hüften waren betont, ersterer durch ei-nen tiefen Ausschnitt und letztere durch das eng anliegendeKleid. Das Haar hatte sie in einer Masse grellgoldener Lockenauf ihrem Kopf aufgetürmt, einer Farbe, die man in der Naturnur mit größter Schwierigkeit finden würde. Schwarze Koh-lestriche umrahmten ihre braunen Augen, und ein Schön-heitsfleck saß auf ihrem rechten Wangenknochen über einerdicken Schicht Rouge, die gleiche Farbe, so nahm Cerynisean, die Alistairs weißen Kragen beschmutzte.Die Frau schmiegte sich mit einem kindischen Kichern an ih-ren Begleiter. »Oh, Al, bitte sei nicht böse, und laß mich nichtin der Halle auf dich warten«, flötete sie. Sie schürzte die Lip-pen in einem übertriebenen Schmollmund und klimperte mitden überlangen Wimpern, dabei fuhr sie liebevoll mit der

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Hand über seine Weste. »Ich bin noch nie in einem Haus ge-wesen, das so großartig ist wie dieses, aber ich erkenne guteManieren, wenn ich sie sehe. Also, die Diener haben mir nochnicht einmal einen Stuhl angeboten oder einen Schluck Tee,seit wir gekommen sind. Kann ich nicht bitte, bitte, hier beidir bleiben? Ich kann es einfach nicht ertragen, in dieser gro-ßen Halle allein zu sein. Es läßt mir einen Schauer über denRücken laufen, wenn ich daran denke, daß deine arme alteTante vielleicht dort draußen umgekippt ist.«Alistair knurrte unwillig und schob ihre Hand weg. »Oh, alsogut, Sybil! Aber denke daran, du sollst ruhig sein, verstanden?Ich will von deinem Gejaule nichts hören.«»Ich habe dich verstanden, Al«, antwortete sie und lachtenervös.Jasper schnüffelte verächtlich, dann löste er den Blick von derAnstoß erregenden Kreatur und hob seine Hakennase vollerhochmütiger Würde, als er Alistairs wütendem Blick begeg-nete. Doch er ignorierte den Mann und richtete seine Frage anden Schützling seiner verstorbenen Herrin. »Entschuldigung,Miss, soll ich bleiben?«»Verschwinden Sie!« bellte Alistair und deutete mit der Handzur Tür. »Nichts von alldem geht Sie etwas an!«Jasper blieb unbeweglich stehen, bis Cerynise leicht nickteund ihm so erlaubte, das Zimmer zu verlassen.Alistair glotzte dem Diener nach, als würde er ernsthaft darandenken, ihn für eine Beleidigung auszuschelten, doch dannschob er den Vorfall beiseite, um sich wichtigeren Dingen zu-zuwenden, und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf denAnwalt. »Sprechen Sie weiter, Mr. Rudd.«Der Anwalt reckte sich zu seiner vollen Größe, und als er Ce-rynises Blick auf sich gelenkt hatte, zeigte er eine Besorgnis,die offensichtlich den Ernst der Lage unterstreichen sollte.»Miss Kendall, Sie müssen wissen, daß ich die Ehre hatte,mehrere Jahre als Mrs. Winthrops Rechtsanwalt zu agieren.Ich war es, der ihren letzten Willen und ihr Testament aufge-setzt hat. Ich habe es hier bei mir.«

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Cerynise betrachtete ihn mit wachsamer Vorsicht wie jemandeine Schlange betrachtet, die zustoßen könnte. Sie sah, wieder Mann ein Schriftstück aus der Innentasche seiner Jacke zogund mit wichtigtuerischer Förmlichkeit das Siegel aufbrach.So schwer es ihr auch fiel, Lydias andauernde Treue zu Ho-ward Rudd zu begreifen, er war hier, und offensichtlich warer im Besitz gesetzlicher Dokumente. Langsam sank sie aufden nächsten Stuhl, ihre Gedanken waren wie erstarrt. »HabenSie die Absicht, Mrs. Winthrops letzten Willen jetzt vorzu-lesen?«»Es muß getan werden«, antwortete Howard. »So muß essein.« Dennoch blickte er, um Zustimmung heischend, zuAlistair.»Machen Sie weiter«, fuhr Alistair ihn an, er hob mit einerübertriebenen Geste die Frackschöße und setzte sich in einengroßen Lehnsessel auf der anderen Seite des Tisches, Cerynisegegenüber. Er bedachte die junge Frau mit einem selbstgefälli-gen Lächeln, dann begann er mit ein paar Figuren aus Meiß-ner Porzellan zu spielen, die vor ihm standen.Sybil war gar nicht erfreut darüber, daß ihr Geliebter seine ge-samte Aufmerksamkeit der jungen Dame schenkte. Sofort pla-zierte sie sich mit ihrem ausladenden Hinterteil auf die Lehneseines Sessels. Ihre Augen betrachteten eisig die Frau auf deranderen Seite des Tisches, während sie gleichzeitig besitzer-greifend einen Arm um Alistairs knochige Schultern legte. Erhatte versäumt, ihr zu erzählen, daß der Schützling seinerTante so hübsch war, und jetzt erinnerte sie sich auch lebhaftdaran, wie eindringlich er versucht hatte, sie davon abzuhal-ten, ihn zu begleiten. Die Erinnerung an seinen ärgerlichenProtest bestätigte ihr, daß er sie nur deshalb nicht hatte mit-nehmen wollen, weil er vorgehabt hatte, Dinge mit diesemMädchen zu tun, die er sonst nur mit ihr tat, in der Abgeschie-denheit seiner Wohnung … und seines Bettes.Howard Rudd räusperte sich und sehnte sich heftig nach et-was zu trinken, um seine Stimmbänder zu schmieren. Doch erwußte, daß Alistair ihm nicht einen Schluck gönnen würde,

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bis ihr Geschäft erledigt war. Er entrollte das Pergament, dasmit Siegeln und Bändern versehen war, und warf dann einenBlick darauf. »Es ist recht ausführlich. Ein keiner Betrag fürdiesen und jenen, hauptsächlich für Diener, entfernte Ver-wandte, nichts von Bedeutung. Was wirklich wichtig ist: Mrs.Winthrop hat den überwiegenden Teil ihres Besitzes, ein-schließlich dieses Hauses und seines Inhaltes, und all ihr Ver-mögen ihrem einzigen Blutsverwandten hinterlassen, ihremNeffen Mr. Alistair Wakefield Winthrop. Alles soll sofort inseinen Besitz übergehen.«»Sofort?« keuchte Cerynise auf. Es hatte nie einen Grund ge-geben, mit ihrem Vormund über diese Dinge zu reden, dochsie hatte immer geglaubt, daß Lydia sehr viel an ihr lag unddaß sie ihr wenigstens die Zeit gegeben hätte, sich auf einengeruhsamen Übergang in eine andere Wohnung vorzuberei-ten, ehe sie das Haus jemand anderem übergab. Da sie selbstmit der Frau nicht verwandt war, hatte Cerynise wirklichnicht mehr erwartet, nur diese schlichte Höflichkeit. Es fiel ihrschwer, sich vorzustellen, daß die ältere Frau so grob undgleichgültig gegenüber ihrem Schützling hatte sein können,daß sie so etwas hatte übersehen können.»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir das Testament ein-mal ansehe?« fragte sie und haßte sich dafür, daß ihre Stimmezitterte. Sie stand auf und streckte dem Mann die Hand entge-gen, um die Papiere entgegenzunehmen.Rudd zögerte, er blickte zu Alistair, und dieser nickte ihm zuund erlaubte ihm, dem Mädchen die Dokumente zu reichen.Obwohl Cerynise keine Expertin für solche Dinge war, so be-trachtete sie doch sorgfältig die eng beschriebenen Seiten. Fürein ungeübtes Auge schien alles in Ordnung zu sein. Es gabkeine Frage, daß Lydias Initialen auf jeder Seite des Textesstanden und daß ihre elegante Unterschrift auf der letzten Sei-te prangte.Abwesend bemerkte Cerynise, daß der Anwalt unruhig voneinem Fuß auf den anderen trat, während sie das Dokumentüberflog, und schließlich, als seine Geduld zu Ende war,

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streckte er ihr die Hand entgegen, um ihr das Testament wie-der abzunehmen. Auf diese Weise war sie gezwungen, denRest des Dokumentes hastig zu überfliegen. Erst jetzt bemerk-te sie das Datum neben Lydias Unterschrift, und mit einemAusdruck von Überraschung sah sie den Mann an.»Das Testament wurde vor sechs Jahren geschrieben!«»Das ist richtig«, antwortete Rudd, nahm ihr das Dokumentab und rollte es wieder zusammen. »Das hat nichts zu bedeu-ten. Viele Menschen kümmern sich um solche Dinge, langebevor es nötig ist. Sehr vernünftig.«»Aber das war, bevor meine Eltern umkamen und Lydia meinVormund wurde. Unter diesen Umständen, scheint mir, hättesie doch ihr Testament geändert …«»Um Sie mit einzuschließen?« unterbrach Alistair sie bissig.Mit einem mißmutigen Schnaufen stand er von seinem Sesselauf, wobei er Sybil beinahe zu Boden stieß, und begann, indem großen Zimmer hin und her zu laufen wie ein Raubtier.Dabei berührte er jedes Möbelstück, all die kleinen kostbarenNippessachen, sogar die Vorhänge aus Damast, als fühlte ersich getrieben, alles auf diese Weise zu seinem Eigentum zumachen. »Das haben Sie doch damit gemeint, nicht wahr, MissKendall? Sie finden, daß meine Tante Ihnen etwas hätte hin-terlassen sollen.«Obwohl die Ablehnung gegen diesen Menschen wie bittereGalle in ihr emporstieg, zwang sich Cerynise, besonders ruhigzu sprechen. »Ich denke, Ihre Tante war sehr methodisch inihren geschäftlichen Angelegenheiten, deshalb kann ich nichtumhin zu glauben, daß sie ihr Testament noch einmal über-dacht hätte, wenn sich etwas Wichtiges in ihrem Leben verän-dert hätte. Wenigstens hätte sie mir genügend Zeit gelassen,um mir zu erlauben, meine Abreise vorzubereiten, ehe sie allesIhnen übergeben hätte.«»Nun, das hat sie nicht getan!« giftete Alistair und beugte denOberkörper in einer ärgerlichen Bewegung vor. »Sie hat genugfür Sie getan, als sie noch lebte, und das hat sie, verdammt nochmal, auch gewußt! Sie all die Jahre hier wohnen zu lassen, Ihnen

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alle Wünsche zu erfüllen, Sie elegant zu kleiden und ihr gutesGeld dafür zu verschwenden, diese absurden Ausstellungen fürIhre Bilder zu organisieren … Wirklich, Sie sollten auf die Kniesinken und dem Himmel dankbar sein für die Großzügigkeitmeiner Tante, anstatt darüber zu jammern, daß man Ihnennicht noch mehr Zeit läßt, mein Erbe zu verschwenden.«Cerynise keuchte auf, seine Worte hatten sie zutiefst beleidigt.»Ich habe ganz sicher nicht damit gerechnet, irgend etwas vonihrem Vermögen zu erben, Mr. Winthrop«, erklärte sie steif.»Ich habe nur gemeint, daß es eigenartig ist, daß Ihre Tantemich überhaupt nicht erwähnt hat, trotz der Tatsache, daß ichnoch nicht volljährig bin. Sie war immerhin mein gesetzlicherVormund, oder haben Sie das vergessen?«Alistair lächelte süffisant. »Vielleicht hat das liebe Tantchen jaauch geglaubt, daß sie längst mit Ihnen fertig wäre, ehe siestarb. Wahrscheinlich hatte sie die Absicht, Sie mit irgendei-nem wohlhabenden Mann zu verheiraten und dafür zu sor-gen, daß jemand anderes die Verantwortung für Sie über-nimmt. Ich bin sicher, daß sie bei ihrer Gesundheit nichtvorhatte, schon so bald zu sterben.«Die haselnußbraunen Augen hinter den seidigen Wimpernblitzten feurig. »Wenn Sie Ihre Tante gekannt hätten, Mr.Winthrop«, brachte Cerynise zwischen zusammengebissenenZähnen hervor, »dann würden Sie auch begreifen, daß Lydiasich ernsthaft um andere Menschen gekümmert hat und sienicht sorglos beiseite schob, nur um sie loszuwerden.«»Was Sie denken, ist doch völlig gleichgültig!« bellte Alistairund umklammerte eine zierliche Schäferin aus Porzellan. Ce-rynise erwartete, daß das zerbrechliche Stück in seiner Handzersplittern würde, als er damit herumfuchtelte, um seineWorte zu unterstreichen. »Alles, was zählt, ist das Testament!Sie haben gehört, was sie verfügt hat. Ich bin jetzt hier derHerr, und was ich sage, ist in diesem Haus Gesetz!«Sybil kicherte fröhlich auf und klatschte in die Hände, wie einKind, das sich über ein Puppentheater freut. »Gib es ihr, Al!Was glaubt dieses junge Ding eigentlich, wer sie ist?«

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»Offensichtlich glaubt Miss Kendall, daß sie eine bedeutendeLady ist«, spottete Alistair, stellte die Schäferin beiseite undkam mit glänzenden schwarzen Augen auf Cerynise zu.Instinktiv wich Cerynise vor ihm zurück. Sie kannte denMann nicht gut genug, um sicherzugehen, was er tun würde,wenn er zornig war, doch sie war sicher, daß er kein Gentle-man war und daß er gewalttätig werden würde, wenn man ihnwütend machte. Zu ihrem Erschrecken stieß sie gegen dieCouch und konnte nicht weiter zurückweichen. Sie war ge-zwungen, stehenzubleiben und dem Blick seiner wild glit-zernden Augen standzuhalten, während er sie angrinste.Als Alistair begriff, daß sie sich fürchtete, verspürte er ein Ge-fühl der Macht. »Aber Miss Kendall irrt sich natürlich«, meinteer genüßlich. »Sie ist ein Niemand, nur eine kleine Bettlerin,die sich all die Jahre von meiner Tante hat verhätscheln lassen,aus dem einzigen Grund, so viele Vorteile aus der alten Frauzu ziehen, wie sie nur konnte, wie zum Beispiel dieses Kleid,das sie trägt.«Er streckte die Hand aus, griff nach der weißen Spitze undzerrte daran. Das Mädchen stieß einen erschreckten Schreiaus, als die Spitze abriß.»Nehmen Sie Ihre Hände von mir!« rief Cerynise, und ihrZorn machte ihr Mut, als sie seinen Arm wegstieß. »Ihnenmag vielleicht dieses Haus gehören, Sir, aber ganz sicher gehö-re ich nicht Ihnen!«Alistairs Mund verzog sich zu einem selbstgefälligen Grinsen,als seine dunklen Augen begehrlich auf ihrem Busen ruhten.Immerhin war sie ein verlockendes kleines Ding. Es wäre kei-ne Schande, sie einmal zu kosten. »Das kann sich ändern, meinhübscher kleiner Pfirsich.«»Al?« Sybil war sofort aufmerksam geworden. Sie hatte nichtdie Absicht, ihn mit einem jungen Frauenzimmer zu teilen,das ihr das Gefühl gab, nur eine dumme Kröte zu sein. Es be-stand schließlich die Möglichkeit, daß er einen frischerenHappen demjenigen vorzog, dessen er bereits überdrüssig war.Nicht, daß ihr übermäßig viel an diesem Kerl lag. Weit mehr

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