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Katrin Bastian

Die Europäische Union und Russland

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Die Europäische Union und RusslandMultilaterale und bilaterale Dimensionen in der europäischen Außenpolitik

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1. Auflage Juni 2006

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergSatz: Dr. Henri BandDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN-10 3-531-15099-5ISBN-13 978-3-531-15099-4

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail-lierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis meines Promotionsstudiums am Institut für Sozial-wissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Meine Aufnahme in das DFG-Graduiertenkolleg „Das Neue Europa“ (heute: Berlin Graduate School of Social Sciences) erwies sich als Glücksfall. Die professionelle Betreuung seitens der beteiligten Hochschul-lehrer verband sich mit einem interessanten Studien- und Veranstaltungsprogramm. In bester Erinnerung bleiben die Diskussionen innerhalb der Gruppe der Doktoranden und Doktorandinnen.

Ohne das Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft hätte ich das Dissertati-onsprojekt nicht in dem Zeitraum durchführen können. Aus meiner Sicht schafft dieses Format der Doktorandenausbildung optimale Arbeitsbedingungen. In der Endphase konnte ich darüber hinaus von dem Promotionsabschlussstipendium profitieren, das die Kommis-sion für Frauenförderung der Humboldt-Universität im Rahmen des „Berliner Programms zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“ vergibt.

Mein besonderer Dank gilt freilich meinem Doktorvater, Professor Dr. Michael Kreile, der mich in dem Forschungsvorhaben unterstützte und mir zugleich den nötigen Freiraum ließ. Ebenso herzlich möchte ich mich bei meinem Zweitgutachter, Professor Dr. Gert-Joachim Glaeßner, bedanken, der für meine Anliegen immer ein offenes Ohr hatte. Auch Professor Dr. Helmut Hubel von der Friedrich-Schiller-Universität Jena bin ich zu Dank verpflichtet. Er gab mir vor allem in der Anfangsphase einige wichtige Impulse.

Ein großes Dankeschön richtet sich an die Gesprächspartner in Moskau, Helsinki, Brüssel und Berlin, deren Ausführungen zum Verständnis der komplexen Abläufe in der europäischen Außenpolitik erheblich beigetragen haben. In dem Zusammenhang möchte ich mich insbesondere bei Dr. Tapani Vaahtoranta vom Finnischen Institut für Internationa-le Angelegenheiten in Helsinki, Rolf Schütte vom Auswärtigen Amt sowie bei Dr. Roland Götz und Dr. Hannes Adomeit von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin bedan-ken, die mir manche Türen geöffnet haben. Dr. Henri Band möchte ich für seine Unterstüt-zung bei der Endredaktion des Buches danken.

Schließlich möchte ich mich bei meiner Familie und meinen Freunden für die Geduld und das aufgebrachte Verständnis bedanken. Warum eine Dissertation viel Zeit in An-spruch nimmt, ist von außen nicht immer nachvollziehbar. Umso dankbarer bin ich für die moralische Unterstützung, die ich erhalten habe.

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis ......................................................................................................... 9

Einführung ......................................................................................................................... 11

1 Multilateralismus, Bilateralismus und europäische Außenpolitik ....................... 25

1.1 Begriffsdefinition im Lichte der Integrations- und Vertragsentwicklung .............. 25 1.2 Theoretische Beiträge zum Forschungsfeld „europäische Außenpolitik“ .............. 30

1.2.1 Klassischer Intergouvernementalismus .......................................................... 32 1.2.2 Liberaler Intergouvernementalismus .............................................................. 36 1.2.3 Neo-Institutionalismus .................................................................................... 38

1.2.3.1 Historischer Institutionalismus ............................................................... 39 1.2.3.2 Rational choice-Institutionalismus ......................................................... 41 1.2.3.3 Internationaler Institutionalismus ........................................................... 44

1.2.4 Europäische Außenpolitik im europäischen und internationalen Recht ........ 49 1.2.5 Sozialkonstruktivismus und Europäisierung .................................................. 52 1.2.6 Foreign Policy Analysis (FPA) – Außenpolitikanalyse ................................. 57 1.2.7 Internationale Präsenz und Akteursfähigkeit der Europäischen Union .......... 59 1.2.8 Kurze Zwischenbilanz .................................................................................... 63

1.3 Ein integrierter Bezugsrahmen: Multilaterale und bilaterale Dimensionen in der europäischen Außenpolitik ........ 64

1.3.1 Akteure und außenpolitischer Prozess ............................................................ 65 1.3.2 Außenpolitische Agenda und Instrumente ..................................................... 68 1.3.3 Kontext und Output ........................................................................................ 69

2 „Strategische Partnerschaft“ EU–Russland? ......................................................... 73

2.1 Strukturelle Asymmetrien und normative Divergenzen im Verhältnis EU–Russland .................................................................................... 73

2.2 Politischer Dialog und wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens (PKA) ...................................... 78

2.2.1 Politischer und sicherheitspolitischer Dialog EU–Russland .......................... 79 2.2.2 Streitpunkt Tschetschenien: Die Grenzen der politischen Konditionalität .... 95 2.2.3 Streitpunkt Kaliningrad: Der bestandene Test? ............................................ 100

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8 Inhalt

2.2.4 Der Gemeinsame Europäische Wirtschaftsraum: Ein langfristiges Projekt ............................................................................... 105

2.2.5 Energiepartnerschaft EU–Russland: Rhetorik und Substanz ....................... 108 2.3 Die Gemeinsame Strategie der EU gegenüber Russland:

Ein neues Instrument mit begrenztem Mehrwert .................................................. 115 2.4 Technische Hilfe im Rahmen von TACIS ............................................................ 122 2.5 Regionale Zusammenarbeit mit Russland:

Die Nördliche Dimension der EU-Außenpolitik ................................................... 126 2.6 Diskussion: Die EU als internationaler Akteur? ................................................... 133

3 Die deutsche Russlandpolitik im multilateralen Kontext .................................... 145

3.1 Historische Voraussetzungen der deutschen Russlandpolitik ............................... 147 3.2 Politischer Dialog und Kulturaustausch ................................................................ 155 3.3 Tschetschenien und Kaliningrad: Zurückhaltung oder offene Kritik? ................. 169 3.4 Wirtschaftsbeziehungen, Energiepartnerschaft

und technische Zusammenarbeit ........................................................................... 177 3.5 Diskussion: Multilateralisierung der deutsch-russischen Beziehungen? .............. 186

4 Die finnische Russlandpolitik im multilateralen Kontext ................................... 199

4.1 Historische Voraussetzungen der finnischen Russlandpolitik und Finnlands EU-Beitritt: „Nie mehr mit Russland allein“ ................................ 202

4.2 Russland als Faktor der finnischen Sicherheitspolitik .......................................... 211 4.2.1 Die Nördliche Dimension ............................................................................. 214 4.2.2 Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ................. 226

4.3 Tschetschenien und Kaliningrad: Zurückhaltung oder offene Kritik? ................. 235 4.4 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Wirtschaftsbeziehungen ................. 243 4.5 Diskussion: Gestaltungskraft eines kleinen EU-Mitgliedstaates .......................... 250

5 Europäische Außenpolitik: Europäischer Mehrwert oder nationales Instrument? ........................................ 261

Bibliographie ..................................................................................................................... 277

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Abkürzungsverzeichnis

AA Auswärtiges Amt BIOst Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien BMWA Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit CFP Comparative Foreign Policy CIS Commonwealth of Independent States (GUS) COEST Ratsarbeitsgruppe Osteuropa und Zentralasien DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DG Direction Générale (Europäische Kommission) DIHK Deutsche Industrie- und Handelskammer EAPC Euro-Atlantic Partnership Council EBRD European Bank for Reconstruction and Development ECHO European Community Humanitarian Aid Office ECV Energiecharta-Vertrag EFTA European Free Trade Area EG Europäische Gemeinschaft EIB Europäische Investitionsbank ENP Europäische Nachbarschaftspolitik EPZ Europäische Politische Zusammenarbeit ESVP Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EUPM European Union Police Mission (in Bosnien und Herzegowina) EUR Euro Euratom Europäische Atomgemeinschaft EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft EWR Europäischer Wirtschaftsraum FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FHZ Freihandelszone FIIA The Finnish Institute of International Affairs (UPI) FPA Foreign Policy Analysis FTD Financial Times Deutschland FZB-Vertrag Finnisch-Sowjetischer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und

gegenseitigen Beistand (1948) G7/8 Gipfel der sieben/acht Industrienationen GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GATT General Agreement on Tariffs and Trade GEWR Gemeinsamer Europäischer Wirtschaftsraum (EU–Russland) GSR Gemeinsame Strategie der EU gegenüber der Russischen Föderation GTZ Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten HKA Handels- und Kooperationsabkommen (EU–Russland) IEP Institut für Europäische Politik

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10 Abkürzungsverzeichnis

Ifa Institut für Auslandsbeziehungen IFIs International Financial Institutions IFOR Peace Implementation Force IMA Interministerieller Ausschuss INTERREG Inter-Regional Programme InWEnt Internationale Weiterbildung und Entwicklung GmbH ISAF International Security Assistance Force ISPA Instrument for Structural Policies for Pre-Accession IWF Internationaler Währungsfonds KAS Konrad-Adenauer-Stiftung KFOR Kosovo Force KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Minatom Russische Atomenergiebehörde MNEPR Multilateral Nuclear Environment Programme in the Russian Federation MOE Mittel- und Osteuropa NACC North Atlantic Cooperation Council NATO North Atlantic Treaty Organization ND Nördliche Dimension/Northern Dimension NDEP Northern Dimension Environmental Partnership NGO Non-Governmental Organization/Nichtregierungsorganisation NIB Nordische Investitionsbank NZZ Neue Zürcher Zeitung OECD Organization for European Co-operation and Development OPEC Organization of Petrol Exporting Countries OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PARP Planning and Review Process PfP Partnership for Peace PHARE Poland and Hungary Action for the Reconstruction of the Economy PKA Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (EU–Russland) RGW Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe RÖE Rohöleinheit SAG Strategie-Arbeitsgruppe SALT Strategic Arms Limitation Talks SAPARD Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development SFOR Peace Stabilization Force SWP Stiftung Wissenschaft und Politik SZ Süddeutsche Zeitung TACIS Technical Assistance to the Commonwealth of Independent States TEMPUS Trans-European Mobility Programme for University Studies TR Transferrubel UN United Nations UPI Ulkopoliittinen instituutti (FIIA) USD U. S. Dollar VN Vereinte Nationen WEAG Western European Armaments Group WEU Westeuropäische Union/Western European Union WTO World Trade Organization

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Einführung

Das Ende des Ost-West-Konfliktes, die deutsche Vereinigung, die Auflösung der Sowjet-union und das Großprojekt Erweiterung der Europäischen Union haben die internationale Politik in den 90er Jahren nachhaltig verändert. Das europäisch-russische Verhältnis wurde vor neue Aufgaben gestellt und sein Profil grundlegend modifiziert. Die Russische Födera-tion, die im Dezember 1991 die staatliche Rechtsnachfolge der UdSSR antrat, konnte in den Folgejahren nicht an deren Weltmachtstatus anknüpfen. Das enorme militärische Po-tential und die politische Verantwortung für die Implementierung des deutschen Einigungs-vertrags, die Ende August 1994 mit dem vollständigen Abzug des russischen Militärs aus Deutschland ihren Abschluss fand, konnten die Schwäche des neuen Russland nicht verde-cken. Politische Krisen, interne Machtkämpfe und der marode Zustand der russischen Wirt-schaft führten nicht nur dazu, dass die Föderation in ihren ersten Jahren sehr mit sich selbst beschäftigt war, sondern machten sie aus westeuropäischer Sicht zu einer unbekannten, wenn nicht gar unberechenbaren Größe. Russisches Großmachtbewusstsein und militäri-sches Potential auf der einen Seite, Abhängigkeit von internationalen Finanzhilfen seitens IWF und Weltbank sowie pro-westliche Rhetorik auf der anderen Seite, sorgten Anfang der 90er Jahre in Westeuropa für Unsicherheit und Skepsis. Es schien angebracht, Russland wie einen angeschlagenen Bären zu behandeln, der jederzeit zu unkontrollierbaren Aktionen ausholen könnte.

Den Verschiebungen im internationalen System, die das Ende der Bipolarität herbeige-führt hatte, musste sich auch die russische Außenpolitik anpassen. Den mittel- und osteuro-päischen Staaten (MOE) wurde auf dem EU-Gipfel von Kopenhagen im Juni 1993 das Signal für einen möglichen Beitritt zur Union gegeben. Zwar hatte die Europäische Ge-meinschaft bis zu den Umbrüchen von 1989 weder eine gezielte Ostpolitik verfolgt, noch lag in der Folgezeit ein Generalplan für die Osterweiterung in den Brüsseler Schubladen bereit. Die Entscheidungen zum Abschluss von Handels- und Kooperationsabkommen mit zehn MOE-Staaten1, die dann über den Weg der substanzielleren Europa-Abkommen hin zur Aufnahme von konkreten Beitrittsverhandlungen führten, wurden Schritt für Schritt gefällt.2 Aus russischer Sicht zogen diese Entwicklungen einen klaren Einflussverlust in Mittel- und Osteuropa nach sich. Besonders sichtbar wurde dieser Prozess an den drei balti-schen Staaten, die bis zu ihren Unabhängigkeitserklärungen von 1991 zum sowjetischen Territorium gehörten. Dass die EU mit Estland, Lettland und Litauen erst 1995 zum Ab-schluss von Europa-Abkommen kam, während diese Assoziierungsverträge mit den ande-

1 Dazu zählten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und

Ungarn. Weitere Beitrittsanwärter waren Malta und Zypern. Die Türkei hat inzwischen den Status eines Bei-trittskandidaten.

2 Vgl. Barbara Lippert (2000): Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union – Stabilitätsexport mit Risi-ken. In: dies. (Hrsg.): Osterweiterung der Europäischen Union – die doppelte Reifeprüfung. Bonn: Europa Union, S. 105-164, hier S. 107 ff.

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12 Einführung

ren MOE-Staaten (ausgenommen Slowenien) bereits 1993 und früher erfolgten, zeigt die Sensibilität in dieser Frage.

Problematischer als die Osterweiterung der Europäischen Union stellt sich aus Mos-kauer Sicht die NATO-Erweiterung dar. Auf den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zum transatlantischen Bündnis während des Washingtoner Gipfels von 1999 folgte die Prager Erweiterungsrunde im November 2002 mit der Aufnahme sieben weiterer Staaten.3 Trotz der Einrichtung eines neuen NATO-Russland-Rates Ende Mai 2002, der Russland in ausgewählten Sicherheitsfragen eine gleichberechtigte Stimme einräumt, steht doch eines fest: Sowohl NATO- als auch EU-Erweiterung sind Zeichen der ordnungspolitischen Po-tenz des „Westens“ in Mittel- und Osteuropa – und Zeugnis der veränderten Rolle Russ-lands in dieser Region.

Für die Moskauer Führung stellte sich in der letzten Dekade eine Reihe weiterer au-ßenpolitischer Fragen, die hier nur in Stichpunkten angedeutet werden sollen. Sie betreffen das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, die Rolle Russlands in der Gemeinschaft Unab-hängiger Staaten (GUS), den militärischen Konflikt in Tschetschenien, die Beziehungen zu China, schließlich die russische Rolle im Nahen und Mittleren Osten, aber auch die Positi-on zur europäischen und amerikanischen Balkanpolitik. Das politisch-ökonomische Interes-se lief in den letzten zehn Jahren erkennbar auf die gleichberechtigte Mitgliedschaft in der WTO/GATT und der Gruppe der reichsten Industrienationen G7/G8 hinaus.

Außenpolitische Ambitionen reflektierten stets auch die Suche nach der eigenen Iden-tität und brachten in unterschiedlichen Phasen verschiedene Prioritäten zum Vorschein. Suchte Präsident Boris Jelzin noch zu Beginn der 90er Jahre ein sehr enges Verhältnis zu Westeuropa, so folgte ab 1994 eher eine Periode der nüchternen Abwägung russischer Inte-ressen. Enttäuschungen über das beschränkte Engagement der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten in und gegenüber Russland und die Erkenntnis, dass die EU sowohl mit ihrem inneren Integrationsprozess als auch mit der geplanten Osterweiterung und schließlich dem Konfliktmanagement auf dem Balkan vollends ausgelastet war, führten auf russischer Seite zur Besinnung auf die eigene Größe und Bedeutung. Die russischen Inte-ressen gegenüber dem „nahen Ausland“4 wurden zu einem zentralen Thema der außenpoli-tischen Diskussion. Manche Vorstellungen von der Ausstrahlungskraft Russlands auf seine Nachbarregionen waren dabei nicht ohne nationalistische Färbung, andere Vertreter der politischen Klasse wünschten sich Russland eher als einen Teil eines föderalistischen Mo-dells nach dem Vorbild der europäischen Integration. Gemeinsam blieb den verschiedenen Ansätzen zur außenpolitischen Positionsbestimmung die bis heute immer wieder diskutierte Frage, ob Russland ein europäisches oder asiatisches Land sei.

Der völlige Zusammenbruch der russischen Währung im August 1998 brachte all jene, die ihre Hoffnungen in ein starkes und unabhängiges Russland gesetzt hatten, in unsanfter Landung auf den harten Boden der Tatsachen zurück. Auch das Vertrauen der Westeuropä-er in den gesundheitlich angeschlagenen Präsidenten Boris Jelzin, der seine Ministerpräsi-denten in immer rascherer Abfolge kommen und gehen ließ und bei internationalen Treffen mit denkwürdigen Auftritten von sich reden machte, schien Ende der 90er Jahre allmählich erschöpft. Die Übernahme der Präsidentschaft durch Wladimir Putin im Frühjahr 2000

3 Hierzu zählten Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. 4 Unter dem gängigen Schlagwort sind die russischen Beziehungen zu den (un)mittelbaren Nachbarländern in

Osteuropa, in der Kaukasus-Region sowie in Zentral- und Ostasien zu verstehen. Viele, aber nicht alle dieser Staaten sind Mitglieder der GUS.

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Einführung 13

wurde nicht nur in Westeuropa mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen, wenn-gleich der geheimdienstlichen Vergangenheit dieses Mannes auch Skepsis entgegenge-bracht wurde.

Die Bedeutung des russischen Führungswechsels für das europäisch-russische Ver-hältnis war auf Anhieb nicht erkennbar. Die administrativen Maßnahmen zur Straffung und Zentralisierung der föderativen Strukturen und die Ankündigung zügiger Reformen zur politischen Demokratisierung und wirtschaftlichen Stabilisierung wurden in der Europäi-schen Union aufmerksam verfolgt. Im Laufe der letzten Jahre wurde der Wechsel im au-ßenpolitischen Führungsstil jedoch spürbar. Präsident Putin verfolgt schrittweise die Annä-herung seines Landes an die Europäische Union und die Integration in internationale Orga-nisationen und Steuerungsgremien wie die G7/G8, die WTO/GATT und partiell sogar in die NATO. Die politische Assoziierung Russlands mit der G7 erfolgte während der 90er Jahre in mehreren Etappen. Seit 1998 ist parallel zum G7-Format auch von der „Gruppe der 8“ die Rede. Der Gipfel von Kananaskis/Kanada im Juni 2002 beschloss schließlich die Aufnahme Russlands als gleichberechtigtes Mitglied ab dem Jahr 2006. Russland wird dann selbst zum ersten Mal den Weltwirtschaftsgipfel ausrichten; sein neuer Status wird die volle Mitbestimmung nicht nur in politischen, sondern auch in finanzpolitischen und öko-nomischen Fragen erlauben.5 Die Einstufung Russlands als Marktwirtschaft durch die EU und das US-Handelsministerium wurde als Erfolg Putins auf dem Weg in die Welthandels-organisation gewertet.6 Die russische Kooperationsbereitschaft im Rahmen der internatio-nalen „Anti-Terror-Koalition“ nach den Ereignissen des 11. September 2001, welche auch die Duldung amerikanischer Truppen im Kaukasus umfasst, dürfte für diese Aufwertung eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Anders als die Vereinigten Staaten zählt Russ-land zu den Signatarstaaten des Internationalen Strafgerichtshofes und hat nach langem Zögern das Kyoto-Protokoll ratifiziert.7 Solche Entwicklungen werden von der Europäi-schen Union begrüßt. Ein neuralgischer Punkt im europäisch-russischen Verhältnis bleibt hingegen der Tschetschenien-Konflikt, wenngleich sich auf europäischer Seite ein gewisser Pragmatismus im Umgang mit dem Thema eingestellt hat.8 In jüngster Zeit mehren sich auch die Zweifel an dem russischen Demokratisierungsprozess. In den Jahren 2003 und 2004 setzte der russische Präsident seinen Zentralisierungskurs fort. Das russische Regime nahm in der Folge zunehmend autokratische Züge an.

Wie Russland musste sich auch die Europäische Gemeinschaft an die neue internatio-nale Ordnung anpassen. Gerade in den frühen 90er Jahren mangelte es nicht an großen Herausforderungen und Weichenstellungen. Die Integration des vereinigten Deutschlands in die Gemeinschaft, der Golfkrieg, die Gewalteskalation in Jugoslawien, die Regierungs-konferenz zur Aushandlung des Maastricht-Vertrags und zur Verwirklichung der Wirt-schafts- und Währungsunion sowie die Überlegungen zur Osterweiterung waren Prozesse, die zwischen 1990 und 1993 nahezu gleichzeitig verliefen. Diese Faktoren erklären zumin- 5 Vgl. FAZ vom 28. 06. 2002, „Russland von 2006 an eine führende Industrienation“. 6 Die Anerkennung als Marktwirtschaft hatte US-Handelsminister Don Evans bereits bei seinem Moskau-

Besuch im Oktober 2001 angekündigt, eine offizielle Mitteilung an Putin erfolgte am 6. Juni 2002. Die EU sprach ihre Anerkennung auf dem EU-Russland-Gipfel in Moskau am 28. Mai 2002 aus. Vgl. die dpa-Meldungen vom 17. 10. 2001 und 07. 06. 2002.

7 Russland hat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, der am 1. Juli 2002 in Den Haag seine Arbeit aufnahm, am 13. September 2000 unterzeichnet. Die Ratifizierung steht noch aus. Am 22. Oktober 2004 ratifizierte die Staatsduma das Kyoto-Protokoll. Die russische Zustimmung war für das Inkrafttreten des Abkommens ausschlaggebend.

8 So ein Vertreter der EU-Delegation in Moskau, Interview in Moskau am 27. 08. 2001.

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14 Einführung

dest teilweise, warum die EU erst auf dem Europäischen Rat von Korfu im Juni 1994 die zweijährigen Verhandlungen mit Russland über ein Partnerschafts- und Kooperationsab-kommen (PKA) durch Unterzeichnung abschließen konnte. Ein Handels- und Kooperati-onsabkommen (HKA) mit der UdSSR hatte es schon seit Ende 1989 gegeben, doch sein Inhalt erschien schon kurze Zeit später durch die neuen politischen Rahmenbedingungen der europäisch-russischen Beziehungen überholt.

Wenngleich die Russische Föderation aufgrund ihrer enormen Größe, ihrer Human- und Rohstoffressourcen, ihres Atommachtstatus und wegen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse der post-sowjetischen Gesellschaft schnell als die größte Herausforderung unter den osteuropäischen Nachbarn erkannt wurde, zeichneten sich die ersten Ansätze der EG eher durch improvisierte ad hoc-Lösungen als durch strategische Weitsicht aus.9 Etwas anderes war in der unmittelbaren Folge der Umbrüche von 1989/90 aufgrund der Dichte und Dynamik der Ereignisse, aber auch wegen der Unvorhersehbarkeit des russischen Ent-wicklungsweges vielleicht nicht möglich.

Mit dem TACIS-Programm startete die Europäische Gemeinschaft im Jahr 1991 ein technisches Hilfsprogramm für Russland und zwölf weitere Länder der Gemeinschaft Un-abhängiger Staaten.10 Anfangs als Soforthilfe für den Transitionsprozess konzipiert, wurde das Programm in den Folgejahren zunehmend mit den Bestimmungen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens (PKA) von 1994 kombiniert und abgestimmt. Erst mit dem PKA, das bis heute die vertragsrechtliche Basis für die Beziehungen zwischen der EU und Russland darstellt, gab die EU ihrem Verhältnis zu Moskau konkretere Formen. Das 178 Seiten starke Dokument ist die Grundlage für einen kontinuierlichen politischen Dialog auf mehreren Ebenen.11 Mit dem Angebot einer „strategischen Partnerschaft“12 signalisierten die EU und ihre Mitgliedstaaten zugleich, dass eine russische EU-Mitgliedschaft jenseits ihrer Vorstellungen lag – im Unterschied zum möglichen Beitritt der MOE-Staaten.

Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen trat allerdings erst am 1. Dezember 1997 in Kraft. Der Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges im Dezember 1994 führte nur wenige Monate nach der Unterzeichnung des Vertrags zur Unterbrechung des Ratifika-tionsprozesses. Weil die EU die Zusammenarbeit mit Russland an politische Konditionen knüpfte, insbesondere die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte und demokrati-scher Prinzipien, sah sie sich unter dem Eindruck des harten russischen Vorgehens in Tschetschenien zu Sanktionen bzw. zur Aussetzung der vereinbarten Kooperation gezwun-gen. Ähnliches wiederholte sich fünf Jahre später. Erst im Juni 1999 war auf dem Europäi-schen Rat von Köln die „Gemeinsame Strategie der Europäischen Union gegenüber Russ-

9 Vgl. Hiski Haukkala (2001): The Making of the European Union’s Common Strategy on Russia. In:

ders./Sergei Medvedev (Hrsg.): The EU Common Strategy on Russia. Learning the Grammar of the CFSP. Kauhava: The Finnish Institute of International Affairs (FIIA)/Institut für Europäische Politik (IEP), S. 22-80, hier S. 24 f.

10 TACIS: „Technical Assistance to the Commonwealth of Independent States“. Neben der Russischen Födera-tion werden die folgenden Länder aus diesem Hilfsprogramm gefördert: Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Moldau, Mongolei, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan. Russland allein wurde zwischen 1991 und 2000 mit 2,281 Mrd. Euro von der EU gefördert. Der größte Teil dieser Summe stammt aus dem TACIS-Programm. Siehe http://www.europa.eu.int/comm/external_ relations/russia/intro/ass.htm [zuletzt am 06. 11. 2002].

11 Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland findet sich unter http://europa.eu.int/comm/ external_relations/ceeca/pca/pca_russia.pdf [zuletzt am 10. 09. 2002].

12 So Heinz Timmermann (1996): Relations Between the EU and Russia: The Agreement on Partnership and Co-operation. In: Journal of Communist Studies and Transition Politics, Nr. 12, S. 196-223, hier S. 206.

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Einführung 15

land“13 (GSR) verabschiedet worden, als sich im August desselben Jahres der zweite Tsche-tschenienkrieg anbahnte.14

Europäische Initiativen gegenüber Russland wurden damit zum zweiten Mal kurz nach ihrem Zustandekommen durch den Krieg in der Kaukasusrepublik überschattet. Allerdings blieb der zweite Tschetschenienkrieg (1999–2002) folgenlos, was die Implementierung von europäisch-russischen Projekten oder die Gültigkeit der Gemeinsamen Strategie15 betrifft. Ohnehin enthält die Strategie keine Bestimmungen, mit deren Aussetzung sich der russi-sche Partner unter Druck setzen ließe. In den Augen vieler Experten und europäischer Dip-lomaten ist der politisch-strategische Gehalt dieses EU-Dokuments sehr begrenzt.16 Einige sehen darin nicht mehr als den Versuch, die nationalen Außenpolitiken der EU-Mitgliedstaaten und die Aktivitäten der Europäischen Kommission gegenüber Russland besser zu koordinieren.17 Andere halten die Gemeinsame Strategie für komplett irrelevant.18 Immerhin sah sich die russische Seite zu einer „strategischen“ Antwort veranlasst: auf dem EU-Russland-Gipfel in Helsinki im Oktober 1999 präsentierte die russische Führung ihre „Mittelfristige Strategie zur Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union (2000–2010)“.19 Wenngleich auch deren strategische Relevanz frag-lich bleibt, so hat die russische Führung zumindest signalisiert, dass gute Beziehungen zur Europäischen Union zu ihren höchsten Prioritäten zählen. Es war das erste Mal überhaupt, dass Moskau in dieser Form Stellung zur EU bezog.20

Obwohl die militärische Auseinandersetzung zwischen Moskau und den nach mehr Autonomie bzw. Unabhängigkeit strebenden Rebellen in der Teilrepublik Tschetschenien bis heute andauert, hat sich das europäisch-russische Verhältnis grundsätzlich positiv wei-terentwickelt und an Substanz gewonnen. Die Initiierung eines Energiedialogs EU–Russland, die Einsetzung einer „High-Level Group“ zur Konzipierung eines Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraumes sowie die geplante engere Zusammenarbeit in Fragen der

13 Die Gemeinsame Strategie gegenüber Russland findet sich unter http://europa.eu.int/comm/external_

relations/ceeca/com_strat/russia_99.pdf [zuletzt am 08. 11. 2002]. 14 Vgl. Haukkala (2001): S. 52 f. 15 Das Instrument der „Gemeinsamen Strategie“, das vom Europäischen Rat beschlossen wird, wurde mit dem

Amsterdamer Vertrag eingeführt (Art. 13 EUV). Auf der Grundlage Gemeinsamer Strategien sind Entschei-dungen des Rates der EU mit qualifizierter Mehrheit möglich (Art. 23 EUV). Im Vergleich zum Maastrich-ter Vertrag ist damit die Möglichkeit zu Mehrheitsentscheidungen im Bereich der GASP erweitert worden.

16 So zum Beispiel Alexei M. Salmin, Präsident des „Russian Public Policy Center“ in Moskau (Interview am 20. 08. 2001), Dmitri V. Trenin, stellvertr. Direktor des „Carnegie Moscow Center“ (Interview am 28. 08. 2001) oder ein Vertreter der politischen Abteilung der deutschen Botschaft in Moskau (Interview am 22. 08. 2001).

17 So etwa die Gesandte der finnischen Botschaft in Moskau (Interview am 31. 08. 2001). Vgl. auch Stephan de Spiegeleire (2001): The Implementation of the EU’s Common Strategy on Russia. In: Hiski Haukkala / Sergei Medvedev (Hrsg.): The EU Common Strategy on Russia, S. 81-116.

18 In diesem Sinne ein Vertreter der politischen Abteilung der britischen Botschaft in Moskau (Interview am 23. 08. 2001).

19 Die Mittelfristige Strategie findet sich in einer inoffiziellen Übersetzung unter http://europa.eu.int/ comm/external_relations/russia/russian_medium_term_strategy/index.htm [zuletzt am 08. 11. 2002].

20 Zu einem Vergleich der beiden Dokumente (Gemeinsame Strategie der EU und Mittelfristige Strategie der Russischen Föderation) siehe Yuri Borko (2001): The European Union’s Common Strategy on Russia: A Russian View. In: Hiski Haukkala/Sergei Medvedev (Hrsg.): The EU Common Strategy on Russia, S. 117-141. Vgl. auch Heinz Timmermann (2000): Russlands Strategie für die Europäische Union: aktuelle Ten-denzen, Konzeptionen und Perspektiven. Köln: Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst).

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europäischen und internationalen Sicherheit sind ausbaufähige Kooperationsfelder.21 Im Ostseeraum hat sich die „Nördliche Dimension“ zu einem regionalen Kooperationsinstru-ment entwickelt, das Russland als gleichberechtigten Partner einschließt. Die europäische Unterstützung für einen russischen GATT/WTO-Beitritt ist zumindest in der Rhetorik offi-zieller Dokumente in den letzten Jahren konstant geblieben. Den Rahmen für die genannten Initiativen bilden wiederum die Konsultationsmechanismen des Partnerschafts- und Koope-rationsabkommens. Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen der EU und Russ-land22 hat nach der vorübergehenden Abkühlung der Beziehungen während des NATO-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999 wieder an Perspektive gewonnen und zu einer bemerkenswerten Annäherung geführt. Die Ereignisse des 11. Sep-tember 2001 haben diese Entwicklung noch beschleunigt. Der Brüsseler EU-Russland-Gipfel vom 3. Oktober 2001 ebnete den Weg für eine russische Beteiligung an EU-geführten Interventionen ziviler wie militärischer Art und trug so zur konkreten Ausgestal-tung der Kooperation zwischen Russland und der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik (ESVP) bei.23

Ein heikler Punkt im europäisch-russischen Verhältnis bleibt das Thema „Kalinin-grad“. Die kleine russische Exklave zwischen Polen und Litauen wurde mit dem Unions-beitritt der beiden Länder zu einer Enklave der EU. Durch die damit einhergehende Erwei-terung des Schengen-Raums ergaben sich für die Bevölkerung in Kaliningrad und im russi-schen Kernland Einschränkungen für den Reiseverkehr. Mit dem Beginn konkreter Bei-trittsverhandlungen mit Polen (März 1998) und Litauen (Februar 2000) war das Problem zunehmend in das Bewusstsein der Akteure und auf die Brüsseler Tagesordnung gerückt.24 Im Laufe des Jahres 2002 spitzte sich der Streit zu, nachdem der russische Präsident die Lösung der Kaliningrad-Frage zu einem Testfall der europäisch-russischen Beziehungen erklärt hatte. Der EU-Russland-Gipfel in Brüssel am 11. November 2002 verabschiedete jedoch einen Kompromiss, der den Reiseverkehr mit vereinfachten Transitdokumenten regelt und sich bisher als tragfähig erweist. Die russische Seite behält sich allerdings die Neuverhandlung dieser Bestimmungen im Falle von auftretenden Komplikationen vor.

Das Verhältnis EU–Russland zeichnet sich nunmehr durch ein dichtes und institutio-nalisiertes Netzwerk von Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen aus. Die Bandbreite gemeinsam erörterter Themen und konkreter Zusammenarbeit hat sich im Laufe der letzten Dekade ständig erweitert. Die heutige Kooperation im sicherheitspolitischen Bereich wäre noch vor 15 Jahren undenkbar gewesen. Die Wirtschaftsbeziehungen stehen im Zeichen allgemeiner Globalisierungstendenzen und wachsender Interdependenz. Das Profil der

21 Der Energiedialog wurde auf dem EU-Russland-Gipfel in Paris am 30. 10. 2000 beschlossen, die Entschei-

dung über einen Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum fiel auf dem nächsten Gipfel in Moskau am 17. 05. 2001, und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit trat wiederum bei dem Pariser Treffen im Okto-ber 2000 in eine neue Phase.

22 Einen guten Überblick bietet Mark Webber (2001): Third-Party Inclusion in European Security and Defence Policy: A Case Study of Russia. In: European Foreign Affairs Review, Nr. 6, S. 407-426.

23 Siehe die Gemeinsame Erklärung des EU-Russland-Gipfels in Brüssel vom 3. 10. 2001 unter http://www.europa.eu.int/comm/external_relations/russia/summit_10_01/dc_en.htm, Annex 4 [zuletzt am 11. 09. 2002].

24 Sehr anschaulich zu dieser Problematik Heinz Timmermann (2001): Kaliningrad. Eine Pilotregion für die Gestaltung der Partnerschaft EU–Rußland? In: Osteuropa, Nr. 9, S. 1036-1066; Ingmar Oldberg (2001): Kaliningrad: Russian exclave, European enclave. Stockholm: Swedish Defence Research Agency; sowie Lyndelle Fairlie/Alexander Sergounin (2001): Are Borders Barriers? EU Enlargement and the Russian Region of Kaliningrad. Kauhava: FIIA/IEP.

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politischen Beziehungen hat sich gründlich verändert. Die EG/EU ist im Prozess von Ver-tiefung und Erweiterung zu einem internationalen Akteur herangewachsen, den auch die russische Seite zunehmend ernst nimmt.25 Der russische Einfluss auf Westeuropa hat hin-gegen mit dem endgültigen Ende der Nachkriegsordnung und dem Zerfall der Sowjetunion stark abgenommen. Für die politische Stabilität in ganz Europa bleibt die Russische Föde-ration jedoch der wichtigste Partner der erweiterten EU.

Russland ist zu einem zentralen Bezugspunkt der europäischen Außenpolitik gewor-den. Das TACIS-Programm, das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, die Gemein-same Strategie und die Nördliche Dimension zählen zu den wichtigsten Instrumenten der europäischen Russlandpolitik.26 Welche Akteure stehen aber hinter dieser Politik? Wie kommen die Entscheidungen zustande und wie groß ist der Einfluss der europäischen Ge-meinschaftsorgane auf den außenpolitischen Prozess? Welche Rolle spielen einzelne EU-Mitgliedstaaten bei der Formulierung europäischer Außenpolitik? Und wie fügen sich die bilateralen Beziehungen zu Moskau in den multilateralen Rahmen EU–Russland ein?

Grundsätzlich wird man davon ausgehen dürfen, dass alle EU-Mitglieder ein natürli-ches Interesse an guten Beziehungen zu Russland haben. Es sind jedoch insbesondere Deutschland und Finnland, die durch eine aktive Russlandpolitik zu wichtigen Initiativen im europäischen Rahmen beitragen. Für die Außenpolitik dieser beiden Länder führt aus geographischen und historisch-politischen Gründen kaum ein Weg an Russland vorbei. Finnland teilt mit der Föderation eine 1.300 km lange Grenze, die zehn Jahre lang (1995–2004) zugleich die einzige EU-Außengrenze zu Russland bildete. Beide Länder verband insbesondere im 20. Jahrhundert eine problematische Geschichte. Während des Ost-West-Konfliktes pflegten Helsinki und Moskau eine Sonderbeziehung. Das Stichwort „Finnlandi-sierung“ beschreibt den Zwangscharakter des finnisch-sowjetischen Verhältnisses. Selbst nach der historischen Zäsur von 1989/91 und dem Beitritt Finnlands zur Europäischen Union bleibt Russland ein zentraler Faktor in der finnischen Außenpolitik.

Auch das deutsch-russische Verhältnis ist historisch extrem vorbelastet. Für Deutsch-land sind die Erfahrungen von Aggression und Niederlage, von Teilung und Wiederverei-nigung auf das engste mit Russland verknüpft. Die Rolle der Sowjetunion als alliierte Sie-germacht und die deutsche Teilung prägten vierzig Jahre lang die deutsch/deutsch-sowjetischen Beziehungen. Der russische Truppenabzug aus Ostdeutschland fand erst 1994 seinen Abschluss. Heute pflegt die Bundesrepublik mit Russland eine enge Wirtschaftsko-operation, deren Anfänge in den 70er Jahren liegen. Inzwischen ist Deutschland der wich-tigste Außenhandelspartner der Russischen Föderation. Während der 90er Jahre bauten beide Länder ihre politischen Kontakte aus und setzten sich auch für die Wiederbelebung ihrer kulturellen Beziehungen ein.

Bei aller Unvergleichbarkeit der konkreten historischen Erfahrung mit der Sowjetunion / Russland spielt doch das historische Bewusstsein in Finnland wie in Deutschland eine große Rolle, wenn es um die Gestaltung des europäisch-russischen Verhältnisses geht. Für beide Länder zählen freundschaftliche, jedenfalls aber konfliktfreie Beziehungen mit Moskau zu den außenpolitischen Prioritäten. Wie also fügen sich die bilateralen Beziehungen Helsinki–Moskau und Bonn/Berlin–Moskau in die EU-Politik gegenüber Russland ein? Liegen die 25 Interview mit Alexei M. Salmin, Präsident des „Russian Public Policy Center“ in Moskau am 20. 08. 2001.

Nach Einschätzung Salmins kann man von diesem Perzeptionswandel erst seit Ende der 90er Jahre spre-chen.

26 Vgl. Margot Light (2001): The European Union’s Russia Policy. In: Katlijn Malfliet/Lien Verpoest (Hrsg.): Russia and Europe in a Changing International Environment. Leuven: Leuven University Press, S. 13-24.

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finnischen und deutschen Prioritäten gegenüber Russland zugleich auch im gesamteuropäi-schen Interesse? Ist europäische Außenpolitik lediglich die Summe der nationalen Außen-politiken? Oder gibt es einen multilateralen Mehrwert, eine europäische Stilrichtung, in der nationale Interessen und bilaterale Außenbeziehungen aufgehen?

Das politikwissenschaftliche Interesse dieser Arbeit richtet sich auf das Zusammen-spiel der bilateralen und multilateralen Dimensionen europäischer Außenpolitik. Wie agiert die Europäische Union als kollektives Ganzes gegenüber Drittstaaten, und welche Rolle spielen dabei die bilateralen Beziehungen und nationalen Interessen einzelner Mitgliedstaa-ten? Wie nutzen EU-Mitglieder den multilateralen Rahmen zur Platzierung außenpoliti-scher Themen, die ihnen in ihrem bilateralen Verhältnis zu einem Drittstaat besonders wichtig sind? Wie funktioniert das außenpolitische Agenda-Setting in der Europäischen Union? Wie wird der europäische Rahmen möglicherweise umschifft, wenn bestimmte Initiativen nicht auf die Brüsseler Tagesordnung gebracht werden konnten oder bewusst nicht mit den anderen EU-Partnern abgestimmt wurden? Wie stark ist der europäische „Koordinierungsreflex“? Und mit welcher Berechtigung lässt sich die Europäische Union als außenpolitischer bzw. internationaler Akteur charakterisieren?

Die Fragen sollen am Beispiel der europäischen Russlandpolitik und anhand der bei-den Fallstudien „Deutschland“ und „Finnland“ untersucht werden. Für diese Länderwahl sprechen trotz des enormen Größenunterschiedes die Gemeinsamkeiten. Wie bereits ange-deutet, betreiben Deutschland und Finnland innerhalb der EU eine aktivere Russlandpolitik als viele andere Mitgliedstaaten und legen zugleich großen Wert auf gute bilaterale Bezie-hungen zu Moskau. Sicherlich trifft das letzte Merkmal auch auf Frankreich, Italien, Groß-britannien, Schweden oder Dänemark zu. Doch im Unterschied zu diesen Ländern enga-gierten sich Deutschland und Finnland in den letzten zehn Jahren sichtbarer für eine multi-laterale Russlandpolitik im Rahmen der EU.

Trotz vieler guter Ansätze fehlt bis heute eine übergreifende Theorie zur europäischen Außenpolitik. Dies erklärt sich vor allem aus der Schwierigkeit, die supranationalen, inter-gouvernementalen und nationalen Elemente der europäischen Außenbeziehungen in einem einzigen Ansatz miteinander zu verbinden. Eine wichtige Aufgabe der Studie besteht des-halb darin, die einschlägigen Theorien aus den Bereichen der europäischen Integration und der Internationalen Beziehungen zu der hier aufgeworfenen Fragestellung zu konsultieren. Welche Erklärungen bieten die verschiedenen Theorierichtungen an, um die Spannung zwischen bilateraler und multilateraler Außenpolitik zu beschreiben?

Aus diesem Forschungsüberblick wird ein analytischer Bezugsrahmen abgeleitet, der die theoretisch-methodische Grundlage für alle drei Fallstudien (EU–Russland, Deutsch-land–Russland, Finnland–Russland) bildet. Der Bezugsrahmen greift den Vorschlag von Brian White27, Ian Manners und Richard Whitman28 auf, die für eine Anpassung der klassi-schen Außenpolitikanalyse (Foreign Policy Analysis) an die europäischen Verhältnisse plädieren. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in der Anerkennung des europäischen Integra-tionsprozesses und damit auch der europäischen Außenpolitik als sui generis. Die Europäi-sche Union stellt demnach eine organisatorische Sonderform in der internationalen Politik dar – sie ist komplexer und integrierter als andere internationale Organisationen, aber weit von den Qualitäten eines Staates entfernt. Daher ist ihre Außenpolitik auch nicht mit der

27 Brian White (2001): Understanding European Foreign Policy. Basingstoke: Palgrave. 28 Ian Manners/Richard G. Whitman (2000): The Foreign Policies of European Union Member States. Man-

chester: Manchester University Press.

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eines Nationalstaates vergleichbar. Der gewählte Bezugsrahmen integriert beide Ebenen, indem er von vornherein von der Interaktion nationaler und europäischer Akteure ausgeht und europäische Außenpolitik als ein gemischtes Akteurssystem versteht. Das Interesse dieser Studie richtet sich nicht auf die Bewertung der europäischen Außenpolitik im Sinne von „Erfolg“ oder „Scheitern“, sondern vielmehr auf das Wechselspiel ihrer bilateralen und multilateralen Mechanismen.

Die Untersuchung geht von drei zentralen Hypothesen aus, die auf ihre Triftigkeit und Haltbarkeit geprüft werden sollen. Erstens wird unterstellt, dass multilaterales Handeln drei zentrale Funktionen erfüllt. Es verleiht erstens der Stimme eines EU-Mitgliedstaates größe-res Gewicht und kann jenen Interessen, die erfolgreich auf die gemeinsame Tagesordnung gebracht werden, zu einer Sichtbarkeit und Bedeutung verhelfen, die sie im nationalen Rahmen bzw. bilateralen Verhältnis vermutlich nicht erreicht hätten. Eine zweite Funktion wird in der Reduktion von Transaktionskosten durch gemeinsame Informationspolitik und Informationsbeschaffung gesehen. Auch die Finanzierung technischer Hilfs- und Entwick-lungsprogramme aus dem Gemeinschaftsbudget – wie im Falle Russlands das TACIS-Programm – dürfte ein starker Anreiz für kollektives Handeln und die Schonung eigener Ressourcen sein. Eine dritte Funktion besteht schließlich darin, auf bilateraler Basis nicht handeln zu müssen. Themen, die innenpolitisch zu kontrovers debattiert werden oder das bilaterale Verhältnis belasten, können in den multilateralen Rahmen umgeleitet werden. Multilaterales Handeln kann also entlastend wirken.

Die zweite These bezieht sich konkreter auf die Fälle „Deutschland“ und „Finnland“. Die Studie geht einerseits davon aus, dass multilaterales Handeln im Rahmen der EU für beide Länder grundsätzlich vorteilhaft ist, insbesondere gegenüber Russland. Finnland kann als kleines Land an der nordeuropäischen Peripherie seinen Einfluss sowohl innerhalb der EU als auch gegenüber dem russischen Nachbarn vergrößern. Auch Deutschland nutzt die EU als Multiplikator seiner Interessen. Für die deutsche Regierung erfüllt die Multilaterali-sierung seiner Beziehungen zu Russland aber noch einen weiteren Zweck. Sie kann die potenziellen, größtenteils irrationalen Befürchtungen der anderen EU-Partner, insbesondere Frankreichs und Großbritanniens, eines „zu engen“ bilateralen deutsch-russischen Verhält-nisses oder eines neuen „deutschen Weges“ zerstreuen. In diesem Sinne wirkt Multilatera-lismus auch hier nicht nur nach außen, sondern ebenso nach innen. Ein EU-Mitgliedstaat wie Deutschland kann seine Partner regelmäßig von seiner Zuverlässigkeit und seinem Engagement für multilaterale Lösungen überzeugen. Andererseits wird man damit rechnen dürfen, dass es sowohl in den finnisch-russischen als auch deutsch-russischen Beziehungen Themen und Interessen gibt, die vorzugsweise und hauptsächlich auf der bilateralen Ebene verhandelt werden. Gedacht ist hier vor allem an Wirtschafts- und Handelsinteressen.

Die dritte Hypothese betrifft die Weiterentwicklung der Europäischen Außenpolitik. Der individuelle Einfluss einzelner EU-Mitgliedstaaten auf die wirtschaftliche, politische und demokratische Entwicklung in Drittstaaten wie Russland dürfte sehr begrenzt sein. Deshalb wird unterstellt, dass Deutschland und Finnland sich zusammen mit anderen Part-nern für weitere Integrationsschritte in der GASP und ESVP einsetzen, um die internationa-le Akteursfähigkeit der Europäischen Union zu stärken. Die finnische Unterstützung für die ESVP dürfte allerdings in der Frage einer kollektiven Verteidigungsklausel für die Europäi-sche Union an ihre Grenze stoßen.

Der Untersuchungszeitraum der Studie erstreckt sich von 1993 bis 2003/2004, also auf gut zehn Jahre. Ausschlaggebend für die Wahl dieser Zeitspanne ist das Inkrafttreten des

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Maastrichter Vertrages und damit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik am 1. November 1993. Je nach Notwendigkeit rücken auch vorherige Entwicklungen ins Blick-feld, so zum Beispiel die Vorgeschichte des finnischen EU-Beitrittsantrages im März 1992. Die Erweiterung der EU um zehn neue Mitgliedstaaten im Mai 2004 findet in der Arbeit keine Berücksichtigung mehr.

Die Studie nimmt eine europäische Perspektive ein. Das europäisch-russische Verhält-nis wird aus dem Blickwinkel der Brüsseler Institutionen und der Mitgliedstaaten Finnland und Deutschland analysiert, um so die Mechanismen der europäischen Außenpolitik zu identifizieren. Die russische Außenpolitik gegenüber der EU und den beiden Ländern wird so weit wie möglich integriert, spielt aber insgesamt eine untergeordnete Rolle. Die institu-tionellen Bedingungen finnischer, deutscher und gesamteuropäischer Außenpolitik werden jeweils zu Beginn der drei Kapitel vorgestellt, um die außenpolitischen Akteure in ihren jeweiligen Handlungskontext einordnen zu können.

Die Untersuchung bewegt sich auf den offiziellen Regierungsebenen zwischen Helsin-ki und Moskau, Bonn/Berlin und Moskau sowie Brüssel und Moskau. Neben der einschlä-gigen Sekundärliteratur greift die Arbeit auf die Bestimmungen des EU-Vertrags (EUV), auf europäisch-russische Abkommen und die Instrumente der GASP zurück. Gleiches gilt für die bilateralen Regierungsabkommen zwischen Deutschland bzw. Finnland und Russ-land. An geeigneter Stelle werden öffentliche Reden, Protokolle, interne Arbeitspapiere, Presseerklärungen und die Tagespresse einbezogen. Ein wichtige Informationsquelle sind die Interviews mit nationalen Regierungsvertretern und Diplomaten, EU-Repräsentanten aus Rat, Kommission und Europäischem Parlament sowie mit Wissenschaftlern und unab-hängigen Experten. Die Studie stützt sich auf rund vierzig Interviews bzw. Hintergrundge-spräche, die zwischen August 2001 und März 2005 in Moskau, Helsinki, Brüssel und Ber-lin geführt wurden.

Ein pragmatisches Kriterium für die getroffene Fallauswahl war die Literaturlage und die Zugriffsmöglichkeit auf offizielle Dokumente. Die drei Untersuchungsstränge „EU–Russland“, „Deutschland–Russland“ und „Finnland–Russland“ sind in der wissenschaftli-chen Literatur hinreichend bearbeitet worden, um die Arbeit auf eine solide Grundlage zu stellen. Zu den Beziehungen EU–Russland sind im Laufe der 90er Jahre einzelne Mono-graphien und mehrere Sammelbände erschienen, insbesondere von russischen, britischen und deutschen Autoren.29 In der deutschsprachigen Literatur sind es vor allem die Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst), die prak-tisch jährlich die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im europäisch-russischen

29 Dazu zählen u. a. Neil Malcolm (Hrsg.) (1994): Russia and Europe: an End to Confrontation? London/New

York: Pinter; Wladimir Baranovsky (Hrsg.) (1997): Russia and Europe. The Emerging Security Agenda. Oxford: University Press; Armand Clesse/Vitaly Zhurkin (Hrsg.) (1997): The Future Role of Russia in Eu-rope and in the World. Luxembourg Institute for European and International Studies; Yvette Gerner (1997): Die Europäische Union und Rußland: Unterstützung der EU für die Transformationsprozesse in Rußland am Beispiel des technischen Hilfsprogramms Tacis. Frankfurt a. M. et al.: Lang; Matthias Niedobitek (1997): Die Beziehungen der Europäischen Union zu Russland. Speyer: Forschungsinstitut für Öffentliche Verwal-tung; Hans-Joachim Spanger (Hrsg.) (1998): Russland und der Westen: von der „strategischen Partner-schaft“ zur „Strategie der Partnerschaft“. Frankfurt a. M.: Campus; Mark Webber (Hrsg.) (2000): Russia and Europe: Conflict or Cooperation? London/New York: Macmillan; Katlijn Malfliet/Lien Verpoest (Hrsg.) (2001): Russia and Europe in a Changing International Environment. Leuven: Leuven University Press; Michael Emerson (2001): The Elephant and the Bear. The European Union, Russia and their Near Abroads. Brüssel: Centre for European Policy Studies; Katinka Barysch (2004): The EU and Russia. Strategic part-ners or squabbling neighbours? London: Centre for European Reform.

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Verhältnis zusammengefasst und bewertet haben. Die Berichte variieren vor allem in der Perspektive, indem sie mal die europäische, mal die russische Sicht zum Ausgangspunkt nehmen.30 Ihr großer Vorteil besteht in ihrer Kontinuität. Anhand der Berichte lässt sich das europäisch-russische Verhältnis von 1989 (und früher) bis heute in seinen wichtigsten Etappen rekonstruieren. Andere europäische Forschungsinstitute in Berlin, Brüssel, Bir-mingham, Helsinki oder Kopenhagen widmen sich ebenfalls regelmäßig dem Thema „EU–Russland“.31 Auf russischer Seite sind es vor allem die Studien des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften oder das Carnegie Endowment Moscow, die zu diesem Forschungsbereich beitragen.

Darüber hinaus wird das Thema „EU–Russland“ in der EU-Erweiterungsliteratur mit-behandelt oder gestreift, und häufig wird es in Darstellungen über die EU als internationa-lem Akteur in einem eigenen Kapitel als Fallstudie gewählt.32 Schließlich widmen sich auch sicherheitspolitische Studien über die Rolle von NATO und ESVP dem europäisch-russischen Verhältnis.33 Seit 1998 hat sich die wissenschaftliche Literatur extensiv mit dem Themenkomplex „Kaliningrad“ auseinander gesetzt.34 Die plötzliche Inflation der Studien über die russische Exklave hängt einerseits mit der Aufnahme von EU-Beitritts-verhandlungen mit Polen (1998) und Litauen (2000) zusammen. Die Konsequenzen der EU-Erweiterung für Kaliningrad wurden damit sichtbarer – und strittiger. Andererseits war es die russische Führung selbst, die Kaliningrad 1999 in ihrer „Mittelfristigen Strategie“ in den Rang einer „Pilotregion“ für das russisch-europäische Verhältnis hob. Des Weiteren sind regionalwissenschaftliche Studien zu berücksichtigen, die sich auf den Ostseeraum und auf das Beziehungsdreieck „EU–Russland–baltische Staaten“ konzentriert haben. In

30 Das BIOst fusionierte 2001 mit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die ehemaligen „Berichte des

BIOst“ werden in abgewandelter Form als „SWP-Studien“ fortgeführt. Die zahlreichen Studien, insbesonde-re von Heinz Timmermann, werden hier nicht einzeln aufgeführt, sondern an entsprechender Stelle zitiert.

31 Gedacht ist hier beispielsweise an die regelmäßigen Studien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), des Centre for European Policy Studies (CEPS), des Centre for Russian and East European Studies (CREES), des Finnish Institute of International Affairs (UPI) oder des Danish Institute of Internatio-nal Affairs (DUPI). Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig, benennt aber einige der zentralen For-schungseinrichtungen zum Thema „EU–Russland“.

32 Siehe Helmut Hubel (Hrsg.) (2002a): EU Enlargement and Beyond: The Baltic States and Russia. Berlin: Spitz; Antje Herrberg (1998): The European Union and Russia: Toward a New Ostpolitik? In: Carolyn Rho-des (Hrsg.): The European Union in the World Community. Boulder/London: Lynne Rienner, S. 83-104, oder Christian Meier (2000): EU–Rußland: Von pragmatischer Zusammenarbeit zu strategischer Partner-schaft? In: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet/Klaus Schubert (Hrsg.): Die Europäische Union als Akteur der Weltpolitik. Opladen: Leske + Budrich, S. 103-120.

33 So Peter van Ham (2000): Europe’s New Defence Ambitions. Implications for NATO, the US and Russia. Garmisch-Partenkirchen: George C. Marshall Center for Security Studies; Stephan de Spiegeleire/Dmitry Danilov (1998): From Decoupling to Recoupling. A new security relationship between Russia and Western Europe? Chaillot Papers, Nr. 31. Paris: WEU Institute for Security Studies; und Dov Lynch (2003): Russia faces Europe. Chaillot Papers, Nr. 60. Paris: EU Institute for Security Studies (Nachfolge-Institut des WEU Institute).

34 Hier sind die folgenden Arbeiten zentral: James Baxendale/Stephen Dewar/David Gowan (Hrsg.) (2000): The EU & Kaliningrad. Kaliningrad and the Impact of EU Enlargement. London: Federal Trust; Pertti Joen-niemi/Lyndelle Fairlie/Stephen Dewar (2000): The Kaliningrad Puzzle – A Russian Region within the Euro-pean Union. Karlskrona: The Baltic Institute; Pertti Joenniemi/Jan Prawitz (Hrsg.) (1998): Kaliningrad: The European Amber Region. Alderhot et al.: Ashgate; Richard J. Krickus (2002): The Kaliningrad Question. Lanham/Maryland: Rowman & Littlefield, und Natalia Smorodinskaya (2001): Kaliningrad Exclave: Pro-spects for Transformation Into a Pilot Region. Moskau: Russische Akademie der Wissenschaften. Daneben hat das BIOst/die SWP regelmäßig und auch schon vor 1998 zur Kaliningrad-Problematik publiziert.

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22 Einführung

ihnen kommen die Probleme und Perspektiven der europäisch-russischen Zusammenarbeit ebenfalls zum Ausdruck.35

Die deutsch-russischen Beziehungen seit Ende des Ost-West-Konfliktes sind in der angloamerikanischen Literatur am umfassendsten bearbeitet und analysiert worden.36 Deutschsprachige Autoren stellen die bilateralen Beziehungen stärker in den multilateralen europäischen Zusammenhang37 oder legen den Akzent auf die historischen Rahmenbedin-gungen.38 Andere Arbeiten konzentrieren sich auf die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit zwischen Bonn/Berlin und Moskau.39

Die Beziehungen zwischen Finnland und der Russischen Föderation in den 90er Jah-ren lassen sich (aus finnischer Sicht) mit vier Schlagwörtern umreißen: Sicherheit, Neutrali-tät bzw. militärische Bündnisfreiheit, eine gemeinsame Grenze und europäische Integration. Die Bedeutung dieser Faktoren spiegelt sich auch in der Literaturlage wider. Regelrechte Konjunktur hatten seit etwa Mitte der 90er Jahre Arbeiten zu Finnlands Stellung im europä-ischen Integrationsprozess – bedingt durch den finnischen EU-Beitritt im Jahr 1995.40 Die gemeinsame Grenze mit Russland hat auch nach dem finnischen EU-Beitritt nicht an Be-deutung verloren; sie ist in ihrer Eigenschaft als EU-Außengrenze eher wichtiger gewor-den.41 Die Faktoren Sicherheit, Neutralität und/oder militärische Bündnisfreiheit sind auf das engste miteinander verknüpft – auch eine potenzielle NATO-Mitgliedschaft wird in diesem Zusammenhang diskutiert.42 Besondere Berücksichtigung finden jene Arbeiten, die einen direkten Bezug zwischen Finnland und Russland herstellen und das bilaterale Ver- 35 Siehe z. B. Arkady Moshes (2002): The Double Enlargement, Russia and the Baltic States. Working Paper,

No. 4. Copenhagen: Danish Institute of International Affairs. 36 Hier stechen vor allem zwei Monographien heraus: Angela E. Stent (1999): Russia and Germany Reborn:

Unification, the Soviet Collapse, and the New Europe. Princeton: Princeton University Press, sowie Celeste A. Wallander (1999): Mortal Friends, Best Enemies: German-Russian Cooperation After the Cold War. Ithaca, N. Y.: Cornell University Press.

37 So etwa Hans-Joachim Spanger/Aleksandr Kokeev (1995): Brücken, Achsen – und neue Gräben: die deutsch-russischen Beziehungen im multilateralen Spannungsfeld. Frankfurt a. M.: Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, oder Heinz Timmermann (1995): Rußland und Deutschland: ihre Bezie-hungen als integraler Bestandteil gesamteuropäischer Kooperation. Köln: BIOst.

38 Vgl. Ludger Kühnhardt/Alexander Tschurbarjan (Hrsg.) (1999): Rußland und Deutschland auf dem Weg zum antitotalitären Konsens. Baden-Baden: Nomos, oder Boris Meissner (Hrsg.) (2000): Auf dem Wege zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Normalisierung der deutsch-russischen Beziehungen. Berlin: Spitz.

39 Siehe Stephan Bierling (1998): Wirtschaftshilfe für Moskau. Motive und Strategien der Bundesrepublik Deutschland und der USA 1990–1996. Paderborn et al.: Schöningh, sowie Hans-Hermann Höhmann / Christian Meier/Heinz Timmermann (1997): Russia and Germany in Europe: recent trends of political and economic relations. Köln: BIOst.

40 Siehe u. a. Teija Tiilikainen/Ib Damgaard Petersen (Hrsg.) (1993): The Nordic Countries and the EC. Ko-penhagen: Political Studies Press; Lee Miles (Hrsg.) (1996): The European Union and the Nordic Countries. London/New York: Routledge; Teija Tiilikainen (1998): Europe and Finland. Defining the Political Identity of Finland in Western Europe. Aldershot et al.: Ashgate; Lene Hansen/Ole Wæver (Hrsg.) (2002): European Integration and National Identity. The challenge of the Nordic States. London/New York: Routledge. Da-rüber hinaus gibt es natürlich eine ganze Reihe von Publikationen in finnischer und schwedischer Sprache.

41 Dazu vor allem Hans Mouritzen (Hrsg.) (1998a): Bordering Russia: Theory and Prospects for Europe’s Baltic Rim. Aldershot et al.: Ashgate, und Anssi Paasi (1996): Territories, Boundaries and Consciousness. The Changing Geographies of the Finnish-Russian Border. New York et al.: John Wiley & Sons.

42 Siehe Bo Huldt/Teija Tiilikainen/Tapani Vaahtoranta/Anna Helkama-Rågård (Hrsg.) (2001): Finnish and Swedish Security. Comparing National Policies. Stockholm: Swedish National Defence College; Tapani Vahhtoranta/Tuomas Forsberg (2000): Post-Neutral or Pre-Allied? Finnish and Swedish Policies on the EU and NATO as Security Organisations. UPI Working Papers, Nr. 29. Helsinki: FIIA, sowie Christer Pursiainen / Sinikukka Saari (2002): Et tu Brute! Finland’s NATO Option and Russia. Helsinki: FIIA.

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Einführung 23

hältnis beleuchten.43 Ebenso wichtig ist die Literatur, die sich mit der finnischen EU-Initiative der Nördlichen Dimension beschäftigt.44 Schließlich basiert die Untersuchung auch auf jenen Arbeiten, die sich gezielt mit den Rahmenbedingungen der finnischen Au-ßenpolitik auseinander setzen.45

Eine wichtige Ressource ist das Internet. Neben offiziellen EU- und Regierungsdoku-menten finden sich hier in zunehmendem Maße auch wissenschaftliche Texte. Um die Prü-fung der herangezogenen Quellen und Materialien zu gewährleisten, bemüht sich die Auto-rin, nur solche Internet-Adressen als Referenzen anzugeben, bei denen von einer gewissen Zuverlässigkeit und Seriosität auszugehen ist. Die Angabe des Tagesdatums nach der zitier-ten Internet-Adresse belegt jeweils den letzten Zugriff. Die Bibliographie enthält eine Liste mit den in der Arbeit genutzten Web-Seiten.

Problemstellung, Thesen und die ausgewählten Fallstudien legen folgende Vorge-hensweise nahe: Das einleitende und theoriebezogene Kapitel erfüllt drei grundlegende Funktionen: erstens die Definition der Begriffe „Multilateralismus“, „Bilateralismus“ und „europäische Außenpolitik“, zweitens die Vorstellung der relevanten Theorien zu diesem Begriffsschema und drittens die Erarbeitung des analytischen Bezugsrahmens, der die em-pirische Untersuchung anleitet. Kapitel 2 spannt den Bogen der Themen auf, die das multi-laterale europäisch-russische Verhältnis prägen. Hier werden die Politiken der europäischen Gemeinschaftsorgane beleuchtet. Das Ziel der Analyse soll darin bestehen, einen Gesamt-eindruck von der multilateralen (und damit auch der institutionellen/interinstitutionellen) Funktionsfähigkeit der Europäischen Union gegenüber einem Drittstaat wie Russland zu gewinnen. Zugleich sollen bereits jene Politikbereiche angedeutet werden, in denen einzel-staatliche Interessen eine große Rolle spielen.

Vor dem Hintergrund der multilateralen, europäischen Außenpolitik analysieren Kapi-tel 3 und 4 die deutsche und finnische Russlandpolitik in ihrer bilateralen Dimension. Wie im Verhältnis „EU–Russland“ fächert auch die Fallstudie „Deutschland“ die bilaterale Agenda auf, um zu sehen, welche Interessen in den multilateralen Rahmen gezogen wer-den, welche Überschneidungen vorliegen und welche Themen vorzugsweise bilateral ver-handelt werden. Die gleiche Vorgehensweise gilt für Finnland in Kapitel 4. Beide Untersu-chungen (Deutschland und Finnland) greifen so weit wie möglich die Politikbereiche auf, die auch die Agenda im gesamteuropäischen Verhältnis zu Russland bestimmen. Dies ge-währleistet die Analyse der entsprechenden Themenfelder sowohl aus multilateraler als auch aus bilateraler Perspektive. Aus diesem Grunde weisen alle drei Fallstudien eine ge-wisse Spiegelbildlichkeit auf. Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse knüpft 43 Dazu zählen u. a. Daniel F. Austin (1996): Finland as a Gateway to Russia: Issues in European Security.

Aldershot et al.: Avebury; The Finnish Institute of International Affairs (Hrsg.) (1992): Different develop-ment alternatives in Russia and their influence on Finnish-Russian relations in the 1990s. Helsinki: FIIA; Sergei Medvedev (1998): Russia as the Subconsciousness of Finland. UPI Working Papers, Nr. 7. Helsinki: FIIA, sowie Christer Pursiainen (1999): Finland’s Security Policy Towards Russia: From Bilateralism to Multilateralism. UPI Working Paper, Nr. 14. Helsinki: FIIA.

44 Zu der finnischen Initiative, die inzwischen ein integraler Bestandteil der europäischen Russlandpolitik ist, sind seit 1998 zahlreiche Publikationen erschienen, die an dieser Stellen nicht einzeln aufgeführt werden können. Einige zentrale Studien sind im Rahmen des gleichnamigen Forschungsprogramms entstanden, dem „Programme on the Northern Dimension of the CFSP“ – ein mehrjähriges Gemeinschaftsprojekt des Finnish Institute of International Affairs (FIIA/UPI) und dem Institut für Europäische Politik (IEP).

45 Darunter Hanna Ojanan (1998): The Comfort of Ambiguity, or the advantages of the CFSP for Finland. UPI Working Papers, Nr. 11. Helsinki: FIIA, oder Burkhard Auffermann (1994): Die Außenpolitik Finnlands 1944–1991. Ein Sonderfall europäischer Ost-West-Beziehungen in der Ära des kalten Krieges. Diss., Berlin: Freie Universität.

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24 Einführung

Kapitel 5 an die theoretischen Ausgangspunkte an. Die multilateralen und bilateralen Di-mensionen der europäischen Außenpolitik werden in theoretischer Perspektive diskutiert. Abschließend wird auch der methodisch-theoretische Ansatz des gewählten Bezugsrahmens einer kritischen Prüfung unterzogen.

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1 Multilateralismus, Bilateralismus und europäische Außenpolitik

1.1 Begriffsdefinition im Lichte der Integrations- und Vertragsentwicklung

Die Versuche, „europäische Außenpolitik“ theoretisch zu erfassen, gleichen einem Puzzle mit mehreren Lösungen. Schon die begriffliche Definition dieses Phänomens bereitet Schwierigkeiten, denn sie variiert je nach Bestimmung der Grundvoraussetzungen, der Untersuchungsebene, der theoretischen Perspektive und nicht zuletzt auch der europäischen Überzeugung. Bis etwa Mitte der 90er Jahre dominierten Arbeiten das Feld, die zwischen der intergouvernemental angelegten Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) bzw. der mit dem Maastrichter Vertrag von 19931 geschaffenen Gemeinsamen Außen- und Si-cherheitspolitik (GASP) einerseits und den supranational geprägten Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft (EG) andererseits die analytische Trennlinie ansetzten. Viele Untersuchungen zur „europäischen Außenpolitik“ konzentrierten sich entweder auf die im engeren Sinne „außenpolitische“ Zusammenarbeit der EG/EU-Mitgliedstaaten oder auf die „Außenbeziehungen“ der Gemeinschaft, unter denen die im EG-Vertrag festgelegte Ge-meinsame Handelspolitik, die Entwicklungszusammenarbeit und die Kooperation mit den AKP-Staaten zu verstehen sind.2 Sprach man überhaupt von „europäischer Außenpolitik“, so war allerdings in den meisten Fällen die außenpolitische Zusammenarbeit der Mitglied-staaten, also die EPZ/GASP gemeint.

Die politikwissenschaftliche Literatur reflektiert mit dieser Differenzierung die Reali-tät der unterschiedlichen historischen und vertraglichen Entwicklung beider Teilbereiche von europäischer Außenpolitik. Während die Außenbeziehungen der EG und die Rolle der Gemeinschaftsinstitutionen in diesem Bereich bereits in den Römischen Verträgen von 1958 verbindlich zugrunde gelegt wurden, erfuhr die in den frühen 1970er Jahren schritt-weise institutionalisierte EPZ erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1987 eine vertragliche Verankerung. Die Gründung der Europäischen Union mit dem Ver-trag von Maastricht und seine Reformierung durch die Verträge von Amsterdam (1999) und Nizza (2003) gewährleistet zwar, dass sowohl die Außenbeziehungen als auch die GASP von einem „einheitlichen institutionellen Rahmen“ der Union geregelt werden3, aber die

1 Als Datum für die verschiedenen Verträge bzw. deren Revisionen durch weitere Regierungskonferenzen

wird vom Zeitpunkt des jeweiligen Inkrafttretens ausgegangen. Der Maastrichter Vertrag wurde im Februar 1992 unterzeichnet und trat im November 1993 in Kraft.

2 Siehe dazu die Artikel 131-134, 177-181, den neuen Art. 181a und 182-188 des EG-Vertrags in der Fassung von Nizza (künftig EGV). Mit den AKP-Staaten sind jene Staaten und Hoheitsgebiete in Afrika, in der Ka-ribik und im Pazifischen Raum gemeint, mit denen die Europäische Gemeinschaft aufgrund der kolonialen Vergangenheit einiger EU-Mitgliedstaaten besondere Beziehungen in Form von Assoziierungsabkommen unterhält.

3 Siehe Art. 3 des EU-Vertrags in der Fassung von Nizza (künftig EUV). Dass die gleichen Institutionen, wenn auch in jeweils unterschiedlicher Kompetenz und nach unterschiedlichen Verfahren, für alle Politiken der EU verantwortlich sind, soll die Kohärenz und Kontinuität vor allem in der Außen-, Sicherheits-, Wirt-

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26 1 Multilateralismus, Bilateralismus und europäische Außenpolitik

vertragliche Dichotomie zwischen beiden Bereichen konnte nicht überwunden werden. Bis heute sind die Außenbeziehungen ein integraler Bestandteil des EG-Vertrags, der im ersten Pfeiler des übergreifenden Unionsvertrages angesiedelt ist, während die Gemeinsame Au-ßen- und Sicherheitspolitik den zweiten Pfeiler und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres den dritten Pfeiler des Unionsvertrages bilden. Die unterschiedlichen Kompetenzen von Rat, Kommission, Europäischem Parlament und Europäischem Ge-richtshof je nach Politikbereich und Vertragsgrundlage und die damit einhergehenden Vari-anten in den Entscheidungsverfahren machen die Definition von europäischer Außenpolitik nicht einfach. Schließlich stellt sich die wichtige Frage, wo die nationalen Außenpolitiken der EU-Mitgliedstaaten zu verorten sind und ob sie ein konstitutiver Bestandteil einer im engeren Sinne „europäischen“ Außenpolitik sind oder nicht.

In der Beurteilung der außenpolitischen Qualitäten der EU werden die altbekannten Fragen immer wieder neu aufgeworfen: Ist die EU ein Staatenbund oder ein im Entstehen begriffener Bundesstaat? Ist sie eine internationale Organisation oder ein supranationales Regime? Und schließlich: Was soll sie einmal sein?

Obwohl sich in den letzten Jahren zunehmend die Ansicht durchgesetzt hat, dass die EU nichts von alledem sei, sondern eine ganz eigene Form von regionaler Integration dar-stelle (sui generis), schwingen die alten Fragen bei der Auseinandersetzung um den Cha-rakter von europäischer Außenpolitik mit. Denn je nach Standpunkt werden andere Maß-stäbe angelegt. Legt man die Kriterien nationalstaatlicher Außenpolitik zugrunde, so ist die EU zwar eine „wirtschaftliche Supermacht“, aber ein „politischer Zwerg“4, denn ihr fehlen die Attribute, die Christopher Hill wie folgt zusammengefasst hat:

„A European foreign policy worthy of the name will require an executive capable of taking clear decisions on high policy matters, and of commanding the resources and instruments to back them up. They will need to enjoy democratic legitimacy and also to have a sophisticated bu-reaucracy at their disposal.“5

Europäische Außenpolitik sei deshalb eher ein „System von Außenbeziehungen“ (system of external relations), zu verstehen als ein Subsystem des internationalen Systems, und zu-gleich ein System, das selbst internationale Beziehungen generiere. Nach Hill gibt es auf europäischer Ebene keine klar definierbare Außenpolitik, sondern ein dezentralisiertes System von kollektiven und individuellen ökonomischen und politischen Beziehungen nach außen. Zu diesem System zählten die Außenbeziehungen der EG (Bestandteil der ersten Vertragssäule der EU), die zwischenstaatliche GASP (zweite Vertragssäule der EU) und die Summe der nationalen Außenpolitiken der Mitgliedstaaten.6 Diese holistische Sichtweise, die alle außenpolitischen Dimensionen der EU und ihrer Mitgliedstaaten umfasst, wird auch die Definitionsgrundlage der vorliegenden Arbeit sein. Hills Definition muss freilich um

schafts- und Entwicklungspolitik sicherstellen. Für die Gewährleistung der Kohärenz sind der Rat und die Kommission gemeinsam verantwortlich.

4 Das Bild vom „politischen Zwerg“ und „wirtschaftlichen Riesen“ zur Charakterisierung der internationalen Rolle der EU wurde mehrmals herangezogen bzw. in Frage gestellt. Vgl. z. B. die Rede des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Santer (1998): The European Union’s external relations in the 21st centu-ry. Political dwarf or world actor? Bologna: The Johns Hopkins University, oder Roy Ginsberg (2001): The European Union in International Politics. Baptism by Fire. New York et al.: Rowman & Littlefield, S. 1 ff.

5 Christopher Hill (1993): The Capability-Expectations Gap, or Conceptualizing Europe’s International Role. In: Journal of Common Market Studies, Jg. 31, Nr. 3, S. 305-328, hier S. 316.

6 Ebd., S. 322.

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1.1 Begriffsdefinition im Lichte der Integrations- und Vertragsentwicklung 27

die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) erweitert werden, die inzwi-schen in die zweite Säule integriert wurde. Darüber hinaus fallen auch die außenpolitischen Aspekte der dritten EU-Vertragssäule („Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“) in das ganzheitliche Verständnis von europäischer Au-ßenpolitik. Da jedoch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten in den Bereichen Justiz und Inneres nach den Verfahren der GASP7 oder nach den Bestimmungen so genannter „ge-mischter Verträge“8 läuft, wird die dritte Säule im Kontext der europäischen Außenpolitik bislang selten ausdrücklich genannt. Ihre Politiken gehören aber zweifelsfrei zum außenpo-litischen acquis der Union, wenn entsprechende Abkommen mit Drittstaaten geschlossen werden.

Dem Begriff „europäische Außenpolitik“ stehen all jene Autoren kritisch gegenüber, für die sich trotz der dynamischen Vertragsentwicklung in den 90er Jahren die fortbeste-hende Bedeutung nationaler Außenpolitik bestätigt hat. Einige sehen gerade in den einge-schränkten Wirkungsmöglichkeiten der GASP die nationalstaatliche Autonomie in politi-schen Fragen nachhaltig gewährleistet.9 Für andere bleibt der Begriff eine leere Hülse, eben weil die EU kein Staat ist10 und weil sie (anders als die EG) im Sinne internationalen und diplomatischen Rechts keine Rechtspersönlichkeit besitzt.11 Viele Autoren sprechen der EU wegen ihrer schwachen militärischen Dimension die Fähigkeit zu einer wirksamen Außen-politik ab12 oder weisen auf das Manko einer gemeinsamen europäischen Identität hin, die eine Vorbedingung für die Formulierung europäischer Interessen und ein kohärentes Auf-treten nach außen sei.13 Den meist von der realistischen Denkschule beeinflussten Skepti-kern ist gemeinsam, dass sie den Begriff der europäischen Außenpolitik – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt gelten lassen. Sie beziehen ihn vorwiegend auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, die aus ihrer Sicht häufig zum Scheitern verurteilt sei, weil sie in der Substanz nur den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der verschiedenen

7 Siehe Art. 38 EUV. Das Schengen-Abkommen liegt wiederum teilweise im Kompetenzbereich der EG. Vgl.

Art. 61-69 EGV und das Protokoll 2 zum EU-Vertrag. 8 In den „gemischten Verträgen“ gibt es drei Vertragspartner: die Europäische Gemeinschaft, die EU-

Mitgliedstaaten und den betreffenden Drittstaat. Auf europäischer Seite teilen sich die EG und die Mitglied-staaten die Kompetenzen zum Abschluss und zur Implementierung solcher Abkommen.

9 Siehe David Allen (1996): Conclusions: The European rescue of national foreign policy? In: Christopher Hill (Hrsg.): The Actors in Europe’s Foreign Policy. London: Routledge, S. 288-304. Allen greift darin die zentrale These von Alan S. Milward auf, wonach die europäische Integration nach 1945 nicht zur Erosion, sondern zum Fortbestand der westeuropäischen Nationalstaaten geführt habe. Siehe Alan S. Milward (1992): The European Rescue of the Nation-State. London: Routledge.

10 Vgl. David Allen/Michael Smith (1998): The European Union’s Security Presence: Barrier, Facilitator, or Manager. In: Rhodes (Hrsg.): S. 45-63.

11 Dominique Moisi (1999): Iraq. In: Richard N. Haass (Hrsg.): Transatlantic Tensions: The United States, Europe, and Problem Countries. Washington D. C.: Brookings Institution, S. 35-64.

12 So z. B. Alfred Pijpers (1991): European Political Cooperation and the Realist Paradigm. In: Martin Holland (Hrsg.): The Future of European Political Cooperation. Essays on Theory and Practice. London: Macmillan, S. 8-35, oder François Heisbourg (2000): European Defence: Making it Work. Paris: Institute for Security Studies. Die Kritik an der mangelnden militärischen Interventionsfähigkeit der EU wurde vor allem nach dem mißglückten Krisenmanagement in Bosnien-Herzegowina und im Kontext des Kosovo-Krieges laut. Die zahlreichen politikwissenschaftlichen Beiträge zu diesem Thema können hier nicht aufgeführt werden.

13 So etwa Philip H. Gordon (1997/98): Europe’s Uncommon Foreign Policy. In: International Security, Jg. 11, Nr. 3, S. 27-74.

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28 1 Multilateralismus, Bilateralismus und europäische Außenpolitik

nationalen Interessen widerspiegele. Beschreibungen der EU als ein broken-backed interna-tional actor14 oder einer hydra-headed agency15 sind Ausdruck dieser Skepsis.

Die anhaltenden Vertragsrevisionen von „Maastricht“ über „Amsterdam“ bis „Nizza“ haben die Komplexität der europäischen Außenpolitik eher erhöht als reduziert. Zum einen wurde innerhalb der zweiten Säule eine Vielzahl neuer Institutionen geschaffen, die der dynamischen Entwicklung der die GASP flankierenden Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) Rechnung tragen. Auch innerhalb der Europäischen Kommis-sion sind die außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Zuständigkeiten immer wieder zwischen den einzelnen Kommissaren und Generaldirektionen neu geordnet worden, um die Effizienz zu erhöhen.16 Zum anderen ist es in der Praxis zunehmend zu Berührungs-punkten zwischen erster und zweiter Säule und damit zu Verwischungen zwischen suprana-tional und intergouvernemental geregelten Politikfeldern gekommen.17 Diese Tendenzen dürften mit dazu beigetragen haben, dass seit Mitte/Ende der 90er Jahre verstärkt nach anderen Maßstäben und infolge dessen nach anderen Definitionen und Konzepten gesucht wurde, um europäische Außenpolitik greifbar zu machen. Mehrere Autoren vermeiden inzwischen den „Umweg“ über die vor allem von der US-amerikanischen Wissenschaft geprägten Theorien der Internationalen Beziehungen, weil die Übertragbarkeit ihrer Ansät-ze auf die europäischen Verhältnisse fragwürdig erscheint. Nimmt man das sui generis-Argument ernst, so ist es in der Tat problematisch, sich im Falle der europäischen Außen-politik auf die Frage zu beschränken, warum und unter welchen Umständen die einzelnen Mitgliedstaaten miteinander kooperieren. Die Frage vernachlässigt die supranationale Di-mension der europäischen Außenpolitik. Legt man also breitere Maßstäbe als die der natio-nalen Außenpolitik an, indem man die supranationalen, intergouvernementalen und natio-nalen Komponenten sowie deren variierendes Mischungsverhältnis je nach Politikbereich in das Verständnis von europäischer Außenpolitik einbezieht (denn nichts anderes bedeutet in dem Fall sui generis), so gelangt man zwangsläufig zu einem anderen oder neuen Begriff von „Außenpolitik“.

In diesem Lichte sind jene Arbeiten zu sehen, die von der EU als „internationaler Prä-senz“18 oder „internationalem Akteur“19 sprechen, oder europäische Außenpolitik als Euro- 14 Christopher Hill (1997): The Actors Involved: National Perspectives. In: Elfriede Regelsberger/Philippe de

Schoutheete de Tervarent/Wolfgang Wessels (Hrsg.): Foreign Policy of the European Union. From EPC to CFSP and Beyond. Boulder: Lynne Rienner, S. 85-97, hier S. 85.

15 Christopher Hill/William Wallace (1996): Introduction: Actors and actions. In: Hill (Hrsg.) (1996): S. 1-16, hier S. 14.

16 Einen guten Überblick bieten Ben Soetendorp (1999): Foreign policy in the European Union. Theory, histo-ry and practice. London/New York: Longman, S. 68 ff. sowie die jährlich aktualisierten Beiträge von Elfrie-de Regelsberger (zur GASP) und Mathias Jopp (zur ESVP) im „Jahrbuch der Europäischen Integration“, hrsg. von Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels. Bonn: Europa Union Verlag. Zu den Entwicklungen seit „Nizza“ siehe Jahrbuch 2000/2001.

17 Dazu ausführlich Johannes Burkard (2001): Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und ihre Berüh-rungspunkte mit der Europäischen Gemeinschaft. Berlin: Duncker & Humblot.

18 David Allen/Michael Smith (1990): Western Europe’s Presence in the Contemporary International Arena. In: Review of International Studies, Jg. 16, Nr. 1, S. 19-37; auch abgedruckt in: Holland (Hrsg.) (1991): S. 95-120.

19 Darunter Charlotte Bretherton/John Vogler (1999): The European Union as a Global Actor. London/New York: Routledge; Roy Ginsberg (1999): Conceptualizing the European Union as an International Actor: Narrowing the Theoretical Capability-Expectations Gap. In: Journal of Common Market Studies, Jg. 37, Nr. 3, S. 429-454; Robert J. Guttman (Hrsg.) (2001): Europe in the New Century: Visions of an Emerging Su-perpower. Boulder: Lynne Rienner; Müller-Brandeck-Bocquet/Schubert (Hrsg.) (2000); Rhodes (Hrsg.) (1998); Christopher Piening (1997): Global Europe. The EU in World Affairs. Boulder: Lynne Rienner.

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1.1 Begriffsdefinition im Lichte der Integrations- und Vertragsentwicklung 29

pean governance in foreign policy20 oder als mixed-actor, multi-level system21 bezeichnen. Die Konzepte von der EU als Präsenz oder Akteur sind keineswegs neu22, doch sie werden seit Ende der 90er Jahre gern herangezogen, um der Komplexität der EU gerecht zu wer-den. Möglicherweise spielen auch Erwartungen einer kontinuierlichen Integration im au-ßenpolitischen Bereich und eine antizipierte Vereinfachung der EU-Verträge eine Rolle. In diesem Fall erhielte etwa die Bezeichnung der EU als „Akteur“ noch eine größere Berech-tigung.

Die theoretischen Implikationen dieser Konzepte werden unten ausführlicher bespro-chen. An dieser Stelle soll es genügen festzuhalten, dass das begriffliche Verständnis von europäischer Außenpolitik von der Auswahl der konstitutiven Bestandteile abhängt. In dieser Studie wird, wie bereits angedeutet, eine ganzheitliche Definition gewählt. Unter europäischer Außenpolitik sind demnach die Außenbeziehungen der EG, die GASP/ESVP, die außenpolitischen Aspekte der dritten Vertragssäule und die nationalen Außenpolitiken der EU-Mitgliedstaaten zu verstehen.23 Die Definition muss dahingehend eingeschränkt bzw. erweitert werden, dass nationale Außenpolitik zugleich innerhalb und außerhalb des EU-Rahmens zu verorten ist. Für analytische Zwecke lassen sich die verschiedenen Berei-che idealtypisch in supranationale, intergouvernementale und nationale Stränge unterteilen. Das sui generis-Argument wird mit dieser Definition bestätigt. Es wird davon ausgegangen, dass sich europäische Außenpolitik nicht mit nationaler Außenpolitik oder den Außenbe-ziehungen von internationalen Organisationen vergleichen lässt, sondern in ihrer Form und Funktionsweise einzigartig ist.24

Da sich die Arbeit auf die Frage nach den multilateralen und bilateralen Dimensionen europäischer Außenpolitik konzentriert, müssen beide Begriffe zu der hier vorgeschlagenen Definition in Beziehung gesetzt werden. Mit der multilateralen Dimension sind in dieser Arbeit sowohl die Außenbeziehungen der EG als auch die GASP/ESVP gemeint. Der Mul-tilateralismus-Begriff, der sich ursprünglich auf die Kooperation von drei oder mehr Staa-ten bezieht25, lässt sich für den europäischen Kontext wie folgt modifizieren: die GASP/ESVP kann als intergouvernementale Form des Multilateralismus und die EG-Außenbeziehungen können als supranationale Form des Multilateralismus bezeichnet wer-den. Von welcher der beiden Formen im Text die Rede ist, wird entweder ausdrücklich klargestellt oder ergibt sich aus dem Kontext.

Mit der bilateralen Dimension sind jene außenpolitischen Aktivitäten der EU-Mitgliedstaaten gemeint, die außerhalb des EG/EU-Vertrags liegen und nicht Teil des ac-quis communautaire oder des acquis politique sind.26 Das Wort „bilateral“ oder „Bilatera-lismus“ bezieht sich auf die zwischenstaatlichen (oder Regierungs-)Beziehungen zwischen

20 Knud E. Jørgensen (Hrsg.) (1997): Reflective Approaches to European Governance. London: Macmillan. 21 Christopher Hill (1997): Convergence, Divergence & Dialectics: National Foreign Policies & the CFSP.

EUI Working Papers RSC Nr. 97/66. San Domenico: EUI. 22 Allen und Smith brachten das Konzept der „Präsenz“ mit ihrem Artikel von 1990 in die wissenschaftliche

Debatte ein. Die Bezeichnung der EG/EU als internationalem Akteur geht auf Gunnar Sjöstedt (1977): The External Role of the European Community. Westmead: Saxon House, zurück.

23 So auch Brian White (1999): The European Challenge to Foreign Policy Analysis. In: European Journal of International Relations, Jg. 5, Nr. 1, S. 37-66, hier S. 44.

24 Vgl. Ginsberg (2001): S. 12; Hill (1993): S. 316; White (1999): S. 39. 25 Siehe John G. Ruggie (Hrsg.) (1993): Multilateralism Matters: The Theory and Praxis of an Institutional

Form. New York: Columbia University Press. Warum die Übertragung von Ruggie’s Multilateralismus-Begriff auf die europäischen Verhältnisse problematisch ist, siehe Punkt 1.2.3.3.

26 Vgl. dazu die Definition von europäischer und nationaler Außenpolitik bei Ginsberg (2001): S. 49.

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30 1 Multilateralismus, Bilateralismus und europäische Außenpolitik

einzelnen EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten. Im Folgenden werden damit die deutsch-russischen und finnisch-russischen Beziehungen gemeint sein. Eine andere Verwendung dieser Begriffe wird ebenfalls aus dem Kontext ersichtlich. „Bilateralismus“ und „bilaterale Außenpolitik“ können auch Synonyme für „unilaterale“ oder „nationale Politik“ sein. Die Begriffe „Bilateralismus“, „Unilateralismus“ und „nationale Außenpolitik“ werden insofern gleichbedeutend benutzt, als mit ihnen die Politiken außerhalb des EG/EU-Rahmens ge-meint sind.

1.2 Theoretische Beiträge zum Forschungsfeld „europäische Außenpolitik“

Es mag paradox erscheinen, dieses Kapitel mit der Feststellung zu beginnen, dass es keine übergreifende Theorie zur europäischen Außenpolitik gibt. Vor dem Hintergrund der be-schriebenen Komplexität und des unterschiedlichen Verständnisses dieses Phänomens ist das aber keine Überraschung. Die politikwissenschaftliche Literatur greift auf die Theorien der Internationalen Beziehungen (IB), auf die Theorien der europäischen Integration, auf (neo)institutionelle, konstruktivistische oder rational choice-Ansätze zurück, um europäi-sche Außenpolitik nachzuvollziehen oder zu erklären. Häufig werden Einzelteile aus ver-schiedenen Theorierichtungen zu neuen theoretisch-analytischen Konzepten zusammenge-fügt. An „theoretischen Angeboten“ mangelt es dazu nicht.

Obwohl der Forschungsbereich „Internationale Beziehungen“ stets ein starkes Interes-se an der Theoriebildung gezeigt hat, fanden die EPZ/GASP oder die EG-Außen-beziehungen wie auch die holistische Perspektive nur wenig Berücksichtigung in der Inter-national Relations-Literatur. Hingegen gibt es unter den vielen Autoren, die sich mit euro-päischer Außenpolitik beschäftigen, nur wenige, die zur Theoriebildung beigetragen haben. Knud Erik Jørgensen fasst das Problem treffend zusammen:

„It appears (…) that the supply of theories by far exceeds the demand. An almost unlimited number of theories are directly or with modifications applicable to the analysis of EC external relations. The state of affairs includes a paradox with unfortunate implications. On the one (American) side the predominant interest in theory mirrors the ignorance of EC external rela-tions. On the other (European) side the interest of the EC foreign policy has not been absent, but the phenomenon has been analyzed in predominantly non-theoretical ways. Thus, the conclusion is that some sort of mutual spill over would be desirable.“27

Dass die IB-Theorien den Forschungsgegenstand „europäische Außenpolitik“ vernachläs-sigt haben, hat möglicherweise mit ihrem universellen Anspruch zu tun. So argumentieren viele Autoren, dass diese Theorien zu allgemein seien, um sie auf das einzigartige Phäno-men der europäischen Außenpolitik anzuwenden.28 Hier stehen sich das sui generis-Argument und der Anspruch auf Allgemeingültigkeit diametral entgegen. Freilich gibt es auch Stimmen, die den Universalismus der vorwiegend US-amerikanisch geprägten IB-Theorien in Frage stellen und die Theoriebildung gerade im Kontext der amerikanischen politischen Debatten und Verhältnisse sehen. Auch in diesem umgekehrten Fall erscheint 27 Knud E. Jørgensen (1993): EC External Relations as a Theoretical Challenge: Theories, Concepts and

Trends. In: Frank Pfetsch (Hrsg.): International Relations and Pan-Europe: Theoretical Approaches and Em-pirical Findings. Münster: Lit-Verlag, S. 211-234, hier S. 230.

28 Ebd., S. 231.

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1.2 Theoretische Beiträge zum Forschungsfeld „europäische Außenpolitik“ 31

die Übertragbarkeit auf den europäischen Kontinent problematisch. Steve Smith warnt davor, die im US-amerikanischen Kontext entwickelten Theorien blindlings auf europäi-sche Fragestellungen anzuwenden, nur weil erstere die Literatur zu den Internationalen Beziehungen dominierten.29 Die Argumente sind berechtigt. Aber sie geben keine Antwort auf die Frage, warum die Theoriebildung zur europäischen Außenpolitik bislang so eklekti-zistisch und fragmentarisch geblieben ist.

Ein Grund für den Mangel einer übergreifenden Theorie besteht darin, dass sich die Europäische Union und ihre auswärtigen Beziehungen nur schwer in Beziehung zu dem bekannten agency-structure-Problem setzen lassen. Europäische Außenpolitik umfasst nach der hier vorgeschlagenen Definition nationale und europäische Akteure. Europäische und nationale Außenpolitik überschneiden sich, aber verlaufen je nach Politikbereich auch pa-rallel. Bestimmt man die nationalen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten als „Akteure“, kann man dann gleichzeitig von der EU als „Akteur“ sprechen? Sind die europäischen Insti-tutionen und Mechanismen nicht vielmehr die Umgebung, die „Struktur“ für die nationalen Akteure? Kann die EU zugleich Struktur und Akteur sein? Schließlich kommt die Struktur des internationalen Systems hinzu, die sowohl die EU-Mitgliedstaaten als auch die EU als Ganzes beeinflusst. Was ist im Falle europäischer Außenpolitik structure, was ist agency?

Viele Studien, die vorliegende Untersuchung eingeschlossen, versuchen beides. Das heißt, dass sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union als außenpolitische Akteure ver-standen werden – wenn auch nicht uneingeschränkt und in jedem Einzelfall. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die nationale Außenpolitik der Mitgliedstaaten stark von ihrer europäischen Umgebung, aber auch von der internationalen Politik beeinflusst wird. Ole Waever kritisiert zwar, dass die Sichtweise der doppelten Akteursfähigkeit zu einem unge-lösten Dualismus geführt habe und schlägt vor, dass man die Gleichzeitigkeit von europäi-scher und nationaler Politik untersuchen müsse. Wie diese Aufgabe analytisch und metho-disch zu bewältigen ist, führt er jedoch nicht aus.30

Der von Jørgensen geforderte spill-over-Effekt ist bislang ausgeblieben. Solange euro-päische und nationale Außenpolitik parallel existieren, d. h. nur teilweise in einer gemein-samen Politik aufgehen, und das sui generis-Argument seine Berechtigung findet, gestaltet sich die „europäische“ Theoriebildung höchst problematisch. Die Beschäftigung mit euro-päischer Außenpolitik bewegt sich daher meist unterhalb der Schwelle der eigentlichen Theoriebildung. Einige Autoren nehmen dem Leser gleich zu Beginn ihrer Studien die Hoffnung auf neue theoretische Erkenntnisse:

„A single theory of EFP [European Foreign Policy] is not offered because of the complexity and multidimensionality of EFP, which does not lend itself to a single theory; the moving nature and unfinished construction of the CFSP and ESDP; the still elementary level of theoretical analysis of EFP; the still limited scope of empirical research; and the remaining differences among scholars over concepts most suitable to explaining the role of the EU in international politics.“31

29 Steve Smith (1994): Foreign Policy Theory and the New Europe. In: Walter Carlsnaes/ders. (Hrsg.): Euro-

pean Foreign Policy. The EC and Changing Perspectives in Europe. London: Sage, S. 1-20, hier S. 11. 30 Ole Waever (1994): Resisting the Temptation of Post Foreign Policy Analysis. In: Carlsnaes/Smith (Hrsg.):

S. 238-273, hier S. 247 f. Siehe zu dieser Diskussion auch White (1999): S. 48. 31 Ginsberg (2001): S. 21.

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32 1 Multilateralismus, Bilateralismus und europäische Außenpolitik

„(…) the whole enterprise is essentially pre-theoretical in the sense that it fashions certain gen-eral ideas and arguments which might be useful in the construction of a wider theory, without attempting the systematic linking together characteristics of theory proper.“32

Wie Hill und Ginsberg arbeiten die meisten Autoren mit „prototheoretischen Ansätzen“ und „analytischen Konzepten“, und die Forschungslandschaft zeichnet sich wegen des Rückgriffs auf unterschiedliche Theorien unterschiedlichster Provenienz durch einen aus-geprägten Pluralismus aus.

Der folgende Forschungsüberblick soll die theoretischen Einordnungsversuche der eu-ropäischen Außenpolitik illustrieren. Er beschränkt sich auf Ansätze, die sich explizit mit europäischer Außenpolitik auseinander gesetzt haben oder potenziell zur Theoriebildung beitragen und die für die hier gestellte Frage nach multilateralen und bilateralen Mechanis-men relevant sind. Dazu zählen Arbeiten aus den folgenden Forschungsrichtungen: Klassi-scher und liberaler Intergouvernementalismus, Neo-Institutionalismus, Konstruktivismus und Europäisierung, Außenpolitikanalyse (Foreign Policy Analysis) und Ansätze zur inter-nationalen Präsenz und Akteursfähigkeit der Europäischen Union. Auch die Beiträge aus dem Bereich des europäischen und internationalen Rechts sollen kurz diskutiert werden. Die Aufgabe kann nicht darin bestehen, Literaturlage und Forschungsstand dieser Richtun-gen vollständig wiederzugeben.33 Vielmehr steht die Theoriediskussion vollkommen im Dienste einer angemessenen Konzeptualisierung von europäischer Außenpolitik.

1.2.1 Klassischer Intergouvernementalismus

Der Intergouvernementalismus kennt zwei Varianten: eine realistische/klassische und eine liberale. Die realistische Variante ist die ältere und wendet die Grundannahmen des Rea-lismus, eine der „Großtheorien“ der Internationalen Beziehungen34, auf die Bedingungen des westeuropäischen Integrationsprozesses an. Vor dem Hintergrund der stagnierenden politischen Integration Mitte der 60er Jahre und entgegen den Prämissen des (Neo-)Funktionalismus35 kam Stanley Hoffmann, einer der Hauptvertreter des klassischen Intergouvernementalismus, zu dem Schluss, dass weitere Integrationsschritte von der jewei-ligen Interessenlage der nationalen Regierungen selbst abhingen und nicht etwa von sachli-

32 Hill (1993): S. 306. 33 Siehe dazu die Überblickswerke von Ben Rosamond (2000): Theories of European Integration. Basingstoke:

Macmillan; Wilfried Loth (Hrsg.) (2001): Theorien europäischer Integration. Opladen: Leske + Budrich; Walter Carlsnaes/Thomas Risse/Beth A. Simmons (Hrsg.) (2002): Handbook of International Relations. London: Sage; Christiane Lemke (2000): Internationale Beziehungen. Grundkonzepte, Theorien und Prob-lemfelder. München: Oldenbourg.

34 Zu den beiden anderen IB-Strömungen zählen die marxistische und die neoliberale Theorie, wobei sich die Debatte in den vergangenen Jahren auf eine neorealistisch-neoliberalistische Kontroverse verkürzt hat. Siehe David Baldwin (Hrsg.) (1993): Neorealism and neoliberalism. The contemporary debate. New York: Co-lumbia University Press. Die Weiterentwicklung des Realismus (nach Hans Morgenthau) zum Neorealismus (nach Kenneth Waltz) hat den Intergouvernementalismus im europäischen Kontext nur bedingt beeinflusst. Vgl. Rosamond (2000): S. 132 ff.

35 Vor allem Ernst B. Haas (1958): The Uniting of Europe. Political, Social and Economic Forces, 1950–1957. Stanford: Stanford University Press; ders. (1964): Beyond the Nation State: Functionalism and International Organization. Stanford: Stanford University Press; und David Mitrany (1966): A Working Peace System. Chicago: Quadrangle Books.