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KELLY LINK

DIE ELBEN-HANDTASCHE

Erzählungen

Aus dem Amerikanischen vonUte Brammertz

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Titel der Originalausgabe

MAGIC FOR BEGINNERS

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zertifizierte Papier München Super

für Taschenbücher aus dem Heyne Verlag

liefert Mochenwangen Papier.

Deutsche Erstausgabe 02/2008

Redaktion: Ursula Bergenthal

Copyright © 2005 by Kelly Link

Copyright © 2005 der Coverillustration und der

Innenillustrationen by Shelley Jackson

Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Printed in Germany 2008

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-453-52276-3

www.heyne.de

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Für Gavinund den Avenue Victor Hugo Bookshop,

in dem ich ihm begegnet bin

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Inhalt

Die Elbenhandtasche 11

Hortlak 47

Die Kanone 93

Steintiere 105

Katzenfell 177

Ein paar Zombie-Notfallpläne 221

Die große Scheidung 259

Magie für Anfänger 281

Eingelullt 359

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Vor der Ankunft der feindlichen Hordepackten die Dorfbewohner

all ihre Habseligkeiten zusammenund zogen in die Handtasche.

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Die Elbenhandtasche

Früher besuchte ich mit meinen Freunden immer Se-condhandläden. Wir nahmen den Zug nach Boston undgingen ins Garment District, dieses riesige Kaufhaus vol-ler Vintage-Klamotten. Dort ist alles nach Farben sortiert,und irgendwie wirken die ganzen Kleidungsstücke da-durch wunderschön. Es ist ein bisschen, als wäre mandurch den Kleiderschrank in den Narnia-Büchern gestie-gen, bloß dass man statt auf Aslan und die weiße Hexeund den furchtbaren Eustachius auf diese magische Klei-derwelt stieß – anstelle von sprechenden Tieren gab esdort Federboas und Hochzeitskleider und Bowlingschuhe,Hemden mit Paisleymuster und Doc Martens, und alleshing an Kleiderständern; zuerst die schwarzen Kleider,alle zusammen, wie die größte überdachte Beerdigungder Welt, und dann blaue Kleider – sämtliche Blautöne, die man sich nur vorstellen kann – und dann rote Kleiderund so weiter. Rosarots und Orangerots und Purpurrotsund Ampelrots und Bonbonrots. Manchmal schloss ichdie Augen, und Natasha, Natalie und Jake zerrten mich zu einem Kleiderständer und rieben ein Kleid an meinerHand. »Rate, welche Farbe es hat.«

Wir hatten die Theorie, man könne lernen, die Farbeeines Gegenstands durch bloßes Tasten zu erkennen. Wenn

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man zum Beispiel auf einem Rasen sitzt, kann man mitgeschlossenen Augen sagen, welchen Grünton das Grashat, je nachdem wie seidig-gummiartig es sich anfühlt.Bei Kleidung fühlt sich elastisches Samtzeug mit geschlos-senen Augen stets rot an, selbst wenn es nicht rot ist. Natasha war beim Farbenraten immer am besten, ande-rerseits ist Natasha auch die beste Schummlerin und lässtsich nie dabei erwischen.

Einmal kramten wir in den Kinder-Shirts herum undfanden ein Muppets-T-Shirt, das Natalie gehört hatte, alssie in die dritte Klasse gegangen war. Wir wussten, dass es ihres gewesen war, weil innen immer noch ihr Name an der Stelle stand, wo ihre Mutter ihn mit Filzstift hin-geschrieben hatte, als Natalie ins Sommerlager gefahrenwar. Jake kaufte es ihr zurück. Er war der Einzige, der andem Wochenende Geld hatte. Er war der Einzige, der einenJob hatte.

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, was ein Typ wie Jake zu-sammen mit einem Haufen Mädchen im Garment Dis-trict verloren hatte. Aber Jake hat einfach immer Spaß,egal, was er macht. Er mag alles und er mag jeden, aber am allermeisten mag er mich. Ich wette, wo immer er jetzt sein mag, hat er Riesenspaß und fragt sich, wann ichendlich auftauche. Ich komme immer zu spät. Aber dasweiß er.

Wir hatten diese Theorie, dass Dinge Lebenszyklen haben, genau wie Menschen. Im Lebenszyklus von Hoch-zeitskleidern und Federboas und T-Shirts und Schuhenund Handtaschen spielt das Garment District eine Rolle.Sind Kleidungsstücke gut, oder zumindest auf interessanteWeise schlecht, landen sie nach ihrem Tod im Garment

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District. Dass sie tot sind, erkennt man an ihrem Geruch.Wenn man sie kauft und wäscht und wieder trägt und sieanfangen, nach einem zu riechen, dann sind sie wieder-geboren worden. Die Sache ist die: Wenn man etwas Be-stimmtes finden will, muss man einfach immer weitersu-chen. Man muss sich richtig Mühe geben.

Im Untergeschoss des Garment Districts verkaufen siepfundweise Klamotten und ramponierte Koffer und Tee-tassen. Man kann dort acht Pfund Ballkleider – ein haut-enges schwarzes Kleid, ein bauschiges lavendelfarbenesKleid mit Puffärmeln, ein rosafarbenes Kleid mit weitemGlockenrock, ein silbernes Paillettensternchenkleid, dasso hauchdünn ist, dass man es durch einen Schlüsselringziehen könnte – für acht Dollar erstehen. Ich gehe dortjede Woche auf die Jagd nach Großmutter Zofias Elben-handtasche.

Die Elbenhandtasche: Sie ist riesengroß und schwarz undirgendwie behaart. Selbst wenn man die Augen geschlos-sen hat, fühlt sie sich schwarz an. So schwarz, wie es ebennur geht. Als könne die eigene Hand darin stecken blei-ben, will man die Tasche berühren. Wie Teer oder schwar-zer Treibsand oder wie wenn man nachts die Hand aus-streckt, um das Licht anzuknipsen, aber nichts außerDunkelheit spürt.

Im Innern leben Elfen. Ich weiß selbst, wie das klingt,aber es ist so.

Großmutter Zofia sagte, die Handtasche sei ein Familien-erbstück. Sie sagte, sie sei über zweihundert Jahre alt. Siesagte, dass ich nach ihrem Tod darauf aufpassen müsse.

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Ihre Hüterin sein. Sie sagte, die Verantwortung läge dannbei mir.

Ich meinte, dass sie nicht so alt aussähe und es vorzweihundert Jahren keine Handtaschen gegeben hätte,aber das machte Zofia nur wütend. Sie meinte: »Dann verrate mir doch einmal, Genevieve, mein Schatz, wo diealten Damen früher deiner Meinung nach ihre Lesebrillenund ihre Herztropfen und ihre Stricknadeln aufbewahrthaben?«

Ich weiß, dass mir niemand auch nur ein Wort von alldem hier glauben wird. Das macht nichts. Wenn ich da-von ausginge, dass ihr es glaubt, könnte ich es euch nichterzählen. Versprich mir, dass du kein einziges Wort von all dem glaubst. Das sagte Zofia immer zu mir, wenn siemir Geschichten erzählte. Bei der Beerdigung meintemeine Mutter halb lachend, halb weinend, ihre Muttersei die beste Lügnerin der Welt gewesen. Ich glaube, siedachte, Zofia sei vielleicht gar nicht wirklich tot. Aber ichtrat an Zofias Sarg und sah ihr geradewegs in die Augen.Sie waren zu. In dem Bestattungsinstitut hatte man siegeschminkt, mit blauem Lidschatten und blauem Eye-liner. Sie sah aus, als würde sie als Nachrichtenspreche-rin bei Fox TV auftreten, anstatt tot zu sein. Das war un-heimlich und hat mich noch trauriger gemacht, als ich es ohnehin schon war. Doch davon ließ ich mich nicht ab-lenken.

»Okay, Zofia«, flüsterte ich. »Ich weiß, dass du tot bist,aber das hier ist wichtig. Du weißt ganz genau, wie wichtiges ist. Wo ist die Handtasche? Was hast du damit gemacht?Wie finde ich sie? Was soll ich jetzt tun?«

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Natürlich sagte sie kein Wort. Sie lag nur da, mit diesemAnflug von einem Lächeln im Gesicht, als halte sie dasGanze – den Tod, den blauen Lidschatten, Jake, die Hand-tasche, Elben, Scrabble, Baldeziwurlekistan, all das – füreinen Witz. Sie hatte schon immer einen eigenartigenSinn für Humor. Deshalb haben sie und Jake sich auch sogut verstanden.

Ich wuchs in dem Haus neben dem Haus auf, in dem meineMutter als kleines Mädchen gewohnt hatte. Ihre Mutter,Zofia Swink, meine Großmutter, passte auf mich auf, wennmeine Mutter und mein Vater in der Arbeit waren.

Zofia sah nie wie eine Großmutter aus. Sie hatte langesschwarzes Haar, das sie sich zu spitz nach oben stehendenTürmchen flocht. Sie hatte riesige blaue Augen. Sie wargrößer als mein Vater. Sie sah wie eine Spionin oder eineBallerina oder eine Seeräuberin oder ein Rockstar aus. Siebenahm sich auch so. Zum Beispiel fuhr sie nie mit demAuto. Sie fuhr mit dem Fahrrad. Meine Mutter trieb dasgeradezu in den Wahnsinn. »Wieso kannst du dich nichtdeinem Alter gemäß verhalten?«, fragte sie immer wieder,und Zofia lachte nur.

Zofia und ich spielten andauernd Scrabble. Zofia gewannjedes Mal, obwohl ihr Englisch nicht gerade berauschendwar, doch wir hatten beschlossen, dass sie baldeziwur-lekistanische Wörter benutzen durfte. Baldeziwurlekistanist das Land, in dem Zofia auf die Welt kam, vor über zwei-hundert Jahren. Das sagte jedenfalls Zofia. (Meine Groß-mutter behauptete, über zweihundert Jahre alt zu sein.Vielleicht noch älter. Manchmal behauptete sie, sogarDschingis Khan begegnet zu sein. Er war viel kleiner als

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sie. Wahrscheinlich habe ich aber keine Zeit, diese Geschich-te zu erzählen.) Baldeziwurlekistan ist außerdem ein Wort,das unglaublich viele Punkte beim Scrabble bringt, auchwenn es eigentlich gar nicht richtig auf das Spielbrettpasst. Zofia legte es bei unserer allerersten Partie. Ich warziemlich gut gelaunt, weil ich einundvierzig Punkte fürzappelig bekommen hatte.

Zofia ordnete immer wieder ihre Buchstaben um. Dannwarf sie mir einen Blick zu, als solle ich es nur wagen, sie aufzuhalten, und legte eziwurlekistan an bald an. Siebenutzte delikat, zappelig, Wunsch, Kismet und Nadel undmachte Teer aus Tee. Baldeziwurlekistan erstreckte sichüber das ganze Spielbrett und über den rechten Rand hinaus weiter.

Ich brach in Gelächter aus.»Ich habe alle meine Buchstaben aufgebraucht«, sagte

Zofia. Sie leckte ihren Bleistift und machte sich daran, diePunkte zusammenzuzählen.

»Das ist kein Wort«, sagte ich. »Baldeziwurlekistan istkein Wort. Außerdem geht das nicht. Du kannst kein Wortmit achtzehn Buchstaben auf einem Spielbrett legen, dasbloß fünfzehn Felder breit ist.«

»Warum nicht? Es ist ein Land«, sagte Zofia. »Dort binich zur Welt gekommen, mein kleiner Schatz.«

»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte ich. Ich holtedas Lexikon und schlug das Wort nach. »Es gibt kein Land,das so heißt.«

»Natürlich gibt es das heutzutage nicht mehr«, sagteZofia. »Es war kein sehr großes Land, selbst als es noch einLand war. Aber von Samarkand und Usbekistan und derSeidenstraße und Dschingis Khan wirst du ja wohl gehört

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haben. Habe ich dir nicht erzählt, wie ich Dschingis Khanbegegnet bin?«

Ich schlug Samarkand nach. »Okay«, sagte ich. »Samar-kand gibt es wirklich. Das ist ein richtiges Wort. Aber Bal-deziwurlekistan ist keines.«

»Jetzt nennen sie es anders«, sagte Zofia. »Aber ichfinde es wichtig, nicht zu vergessen, wo wir herstam-men. Wenn du mich fragst, ist es nur gerecht, wenn ich baldeziwurlekistanische Wörter verwenden darf. DeinEnglisch ist so viel besser als wie meines. Versprich mireins, mein kleiner Wonneproppen, eine klitzekleine Klei-nigkeit: Du wirst den echten Namen im Gedächtnis behal-ten, Baldeziwurlekistan. Und wenn ich nun alles zusam-menrechne, bekomme ich dreihundertundachtundsech-zig Punkte. Kann das sein?«

Wollte man die Elbenhandtasche bei ihrem richtigen Na-men nennen, müsste es Orzipanikanikcz oder so ähnlichlauten, was die »Hauttasche, in der die Welt lebt« bedeu-tet. Allerdings hat Zofia dieses Wort niemals gleich buch-stabiert. Sie sagte, man müsse es jedes Mal ein klein weniganders buchstabieren. Genau richtig buchstabiere man esbesser nicht, denn das sei gefährlich.

Ich nannte sie die Elbenhandtasche, denn einmal legteich Elben auf dem Scrabble-Spielbrett. Zofia meinte, manschreibe das Wort mit einem f, nicht mit einem b. Sieschlug es in einem Lexikon nach und musste eine Rundeaussetzen.

Zofia sagte, dass sie in Baldeziwurlekistan ein Brett undSteine für Prophezeiungen und Wahrsagerei benutzten,

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und manchmal auch einfach nur zum Spaß. Sie meinte, essei ein bisschen wie Scrabble-Spielen. Wahrscheinlich warsie deshalb so gut beim Scrabble. Die Baldeziwurlekista-ner benutzten ihre Steine und das Brett, um sich mit denMenschen zu verständigen, die unter dem Hügel lebten.Die Menschen unter dem Hügel kannten die Zukunft. Die Baldeziwurlekistaner gaben ihnen gegorene Milchund Honig, und die jungen Frauen aus dem Dorf hattendie Angewohnheit, auf den Hügel hinaufzugehen und unter den Sternen zu schlafen. Die Menschen unter demHügel mussten wohl ziemlich süß sein. Man durfte nurauf keinen Fall in den Hügel hinabsteigen und die Nachtdort verbringen, ganz egal, wie süß der Typ von unter demHügel sein mochte. Tat man es doch, und sei es nur füreine einzige Nacht, waren vielleicht hundert Jahre ver-gangen, wenn man wieder zurückkehrte. »Denk immerdaran«, sagte Zofia. »Es ist ganz egal, wie süß ein Typ ist.Wenn er will, dass du mit zu ihm nach Hause gehst, ist daskeine gute Idee. Ein bisschen herummachen ist in Ord-nung, aber verbring nicht die ganze Nacht bei ihm.«

Hin und wieder heiratete eine Frau von unter dem Hügel einen Mann aus dem Dorf, auch wenn die Sache niegut ausging. Die Frauen unter dem Hügel waren nämlichschreckliche Köchinnen. Sie konnten sich einfach nichtdaran gewöhnen, wie die Zeit im Dorf verstrich. Also wardas Abendessen immer angebrannt oder aber nicht ganzdurch. Sie konnten es jedoch nicht ausstehen, wenn mansie kritisierte. Das verletzte sie. Falls ihr Dorfehemann sichbeklagte oder auch nur aussah, als wolle er sich beklagen,war’s das. Die Frau von unter dem Hügel kehrte nachHause zurück, und selbst wenn ihr Ehemann bettelte und

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flehte und sich entschuldigte, konnte es drei Jahre oderdreißig Jahre oder ein paar Generationen dauern, bis siewieder hervorkam.

Sogar die besten, glücklichsten Ehen zwischen den Bal-deziwurlekistanern und den Menschen unter dem Hügelgingen in die Brüche, wenn die Kinder erst einmal alt ge-nug waren, um sich über das Abendessen zu beklagen.Aber jeder im Dorf hatte etwas Hügelblut in den Adernfließen.

»Du auch«, sagte Zofia und küsste mich auf die Nase.»Von meiner Großmutter und ihrer Mutter. Deshalb sindwir so schön.«

Als Zofia neunzehn war, warf die Schamanenpriesterinin ihrem Dorf die Steine und fand heraus, dass etwasSchlimmes geschehen würde. Eine feindliche Horde würdekommen. Es hatte keinen Zweck, gegen sie zu kämpfen.Sie würden sämtliche Häuser niederbrennen und die jun-gen Männer und Frauen versklaven. Und es würde nochschlimmer kommen. Obendrein würde es ein Erdbebengeben, was gar nicht gut war, denn gewöhnlich stiegen die Dorfbewohner bei Überfällen für eine Nacht in denHügel hinab, und wenn sie wieder hervorkamen, warenihre Feinde schon seit Monaten oder Jahrzehnten oder garhundert Jahren wieder verschwunden. Doch dieses Erd-beben würde den gesamten Hügel aufreißen.

Die Menschen unter dem Hügel steckten in Schwierig-keiten. Ihre Heimat würde zerstört werden, und sie wärenverdammt, weinend umherzuwandern und ihr Schicksalzu beklagen, bis die Sonne erlosch und der Himmel Rissebekam und die Meere brodelten und die Menschen ver-trockneten und zu Staub zerfielen und weggeweht wur-

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den. Also machte sich die Schamanenpriesterin daran,noch ein bisschen mehr zu prophezeien, und die Men-schen unter dem Hügel rieten ihr, einen schwarzen Hundzu töten und zu häuten und aus der Haut eine Tasche zu machen, in die ein Huhn, ein Ei und ein Kochtopf pass-ten. Das tat sie, und anschließend machten die Menschenunter dem Hügel das Innere der Tasche so groß, dass das ganze Dorf und alle Menschen unter dem Hügel undBerge und Wälder und Meere und Flüsse und Seen undObstgärten und ein Himmel und Sterne und Geister undsagenhafte Ungeheuer und Sirenen und Drachen undDryaden und Meerjungfrauen und Monster und all diekleinen Götter hineinpassten, die die Baldeziwurlekista-ner und die Menschen unter dem Hügel verehrten.

»Deine Tasche ist aus Hundeleder?«, fragte ich. »Das istja widerlich!«

»Liebes kleines Mäuschen«, sagte Zofia mit einem ver-sonnenen Blick, »Hund schmeckt köstlich. Bei den Balde-ziwurlekistanern gilt Hund als Delikatesse.«

Vor der Ankunft der feindlichen Horde packten dieDorfbewohner all ihre Habseligkeiten zusammen und zo-gen in die Handtasche. Die Schnalle bestand aus Knochen.Wenn man sie in die eine Richtung öffnete, dann war esbloß eine Tasche, in die ein Huhn, ein Ei und ein Kochtopfpassten, oder aber eine Lesebrille und ein Leihbuch undeine Tablettenschachtel. Wenn man die Schnalle anders-herum öffnete, befand man sich im nächsten Augenblickin einem kleinen Boot, das an einer Flussmündung trieb.Zu beiden Seiten war Wald, in dem sich die baldeziwurle-kistanischen Dorfbewohner und die Menschen unter demHügel nun niedergelassen hatten.

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Wenn man die Handtasche jedoch verkehrt herumaufmachte, geriet man in ein dunkles Land, in dem esnach Blut roch. Dort lebte nämlich der Hüter der Tasche(der Hund, aus dessen Haut man die Tasche genäht hatte).Der Hüter hatte keine Haut. Sein Jaulen ließ einem Blutaus den Ohren und der Nase fließen. Er riss jeden in Stücke, der die Schnalle in die entgegengesetzte Richtungdrehte und die Tasche falsch öffnete.

»So macht man die Handtasche verkehrt herum auf«,sagte Zofia. Sie drehte an der Schnalle und zeigte mir, wie.Dann öffnete sie die Tasche, aber nicht sehr weit, und hieltsie mir hin. »Los, mein Schatz, horch einmal.«

Ich senkte den Kopf zur Tasche, aber nicht zu nahe.Doch ich konnte nichts hören. »Ich kann nichts hören«,sagte ich.

»Der arme Hund schläft wahrscheinlich gerade«, sagteZofia. »Selbst Albträume müssen ab und an schlafen.«

Nachdem Jake von der Schule geflogen war, nannten ihndort alle Jake Houdini. Alle außer mir. Ich erkläre gleich, wa-rum, aber ihr müsst etwas Geduld haben. Es ist ganz schönschwierig, alles in der richtigen Reihenfolge zu erzählen.

Jake ist schlauer und auch größer als die meisten unse-rer Lehrer. Nicht ganz so groß wie ich. Wir kennen uns seitder dritten Klasse. Jake war schon immer in mich verliebt.Er sagt, er sei schon vor der dritten Klasse in mich verliebtgewesen, sogar schon, bevor wir einander zum ersten Malbegegneten. Bei mir dauerte es ein bisschen, bis ich michin Jake verliebt hatte.

In der dritten Klasse wusste Jake längst alles. Bloß da-von, wie man Freundschaften schloss, hatte er keine Ah-

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nung. Er blieb mir immer den ganzen Tag lang auf denFersen. Das machte mich so wütend, dass ich ihm einmalgegen das Knie trat. Als das nichts half, warf ich seinenRucksack aus dem Schulbusfenster. Das half auch nichts,aber im nächsten Jahr nahm Jake an Prüfungen teil, unddie Schule entschied, dass er die vierte und fünfte Klasseüberspringen konnte. Da hatte selbst ich Mitleid mit Jake.Das mit der sechsten Klasse klappte nicht. Als die Sechst-klässler nicht aufhören wollten, ihn mit dem Kopf in dieToilette zu tauchen, zog er los und fing einen Skunk, dener dann im Umkleideraum der Jungen freiließ.

Die Schule wollte ihn für den Rest des Schuljahres vomUnterricht suspendieren, aber stattdessen ließ sich Jakezwei Jahre beurlauben, und seine Mutter unterrichteteihn zu Hause. Er lernte Latein und Hebräisch und Grie-chisch, wie man Sestinen verfasst, wie man Sushi macht,wie man Bridge spielt und sogar, wie man strickt. Er lern-te Fechten und Gesellschaftstanz. Er arbeitete in einer Suppenküche und drehte einen Super-8-Film über einen historischen Verein, der Schlachten aus dem Bürgerkriegnachstellte, wobei die Mitglieder in OriginalkostümenKrocket spielten, anstatt Geschütze abzufeuern. Er fing an,Gitarre zu spielen. Er schrieb sogar einen Roman. Ich habeihn nie gelesen – er sagte, er sei schrecklich.

Als er nach zwei Jahren zurückkam, weil seine Mutterzum ersten Mal an Krebs erkrankt war, steckte die Schuleihn wieder in unsere Stufe, die siebte Klasse. Er war im-mer noch viel zu schlau, aber mittlerweile war er endlichschlau genug zu wissen, wie er nicht mehr aus der Reihefiele. Außerdem war er gut im Fußball und sah klasse aus. Erwähnte ich bereits, dass er Gitarre spielen konnte?

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