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KINDLER KOMPAKTREISELITERATUR

Ausgewählt von Andreas Erb, Christof Hamann und Julian Osthues

J. B. Metzler Verlag

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Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbeiteten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert.

Andreas Erb ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich der Ger-manistik/Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

Christof Hamann ist Professor für neuere deutsche Literaturwissen-schaft und Literaturdidaktik an der Universität zu Köln und publiziert neben wissenschaftlichen Arbeiten vor allem literarische Texte.

Dr. Julian Osthues ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bremen.

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Inhalt

ANDREAS ERB · CHRISTOF HAMANN · JULIAN OSTHUESLiteratur und Reisen. Eine Einführung 9

Gilgamesch-Epos 31HOMEROdyssee / Odysseia 34HERODOTOS VON HALIKARNASSOSHistorien / Historiēs apodexis 39HELIODOROS VON EMESADie äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia / Syntagma tōn peri Theagenēn kai Charikleian Aithiopikōn. 44THE TRAVELS OF SIR JOHN MANDEVILLEDie Reisen des Ritters Sir John Mandeville 47WU CHENG’ENDie Pilgerfahrt nach dem Westen / Xiyou ji 49MIGUEL DE CERVANTES SAAVEDRALeben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha / El ingenioso hidalgo don Quixote de la Mancha 51FRANCIS GODWINDer Mann im Mond / The Man in the Moone. Or a Discourse of a Voyage thither. By Domingo Gonsales. The speedy Messenger 61JOHANN JACOB CHRISTOPH VON GRIMMELSHAUSENDer abentheurliche Simplicissimus Teutsch 64JOHN BUNYANPilgerreise / The Pilgrim’s Progress from This World, to That which Is to come 70BASHŌAuf schmalen Pfaden durchs Hinterland / Oku no hosomichi 74DANIEL DEFOERobinson Crusoe / The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner 77

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JONATHAN SWIFTGullivers Reisen in verschiedene entfernte Gegenden der Welt / Travels Into Several Remote Nations of the World 81VOLTAIRECandide oder der Optimismus / Candide ou l’optimisme 85LAURENCE STERNEYoricks Reise des Herzens durch Frankreich und Italien / A Sentimental Journey Through France and Italy. By Mr. Yorick 89GEORG FORSTERA Voyage Round the World 92KARL PHILIPP MORITZAnton Reiser. Ein psychologischer Roman 95XAVIER DE MAISTREDie Reise um mein Zimmer / Voyage autour de ma chambre 98JOHANN WOLFGANG VON GOETHEItalienische Reise 100LUDWIG TIECKFranz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte 104JEAN PAULDes Luft schiff ers Giannozzo Seebuch 106NOVALISHeinrich von Oft erdingen 108JOHANN GOTTFRIED SEUMESpaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 112Mein Leben 114ALEXANDER VON HUMBOLDTAnsichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas / Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de l’Amérique 117ADELBERT VON CHAMISSOPeter Schlemihl’s wundersame Geschichte 120JOSEPH VON EICHENDORFFAus dem Leben eines Taugenichts 123HEINRICH HEINEReisebilder 127

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HANS CHRISTIAN ANDERSENDie Reisebücher 132THEODOR FONTANEWanderungen durch die Mark Brandenburg 135JULES VERNEDie Abenteuerromane 138WILHELM RAABEAbu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge 142KARL MAYDas erzählerische Werk 144MARK TWAINDie Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn / Adventures of Huckleberry Finn 151CARLO COLLODIDie Abenteuer des Pinocchio / Le avventure di Pinocchio. Storia di un burattino 155JOSEPH CONRADHerz der Finsternis / Heart of Darkness 157OTTO JULIUS BIERBAUMEine empfi ndsame Reise im Automobil. Von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein in Briefen an Freunde geschildert 161SELMA LAGERLÖFWunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen / Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige 163LOUIS-FERDINAND CÉLINEReise ans Ende der Nacht / Voyage au bout de la nuit 165JACK KEROUACUnterwegs / On the Road 168PETER HANDKEDer kurze Brief zum langen Abschied 171URS WIDMERDie Forschungsreise. Ein Abenteuerroman 173HUBERT FICHTEXango. Die afroamerikanischen Religionen. Bahia, Haiti, Trinidad 175

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CHRISTA WOLFKindheitsmuster 178BRUCE CHATWINIn Patagonien / In Patagonia 180BERNWARD VESPERDie Reise. Romanessay 183ROLF DIETER BRINKMANNRom, Blicke 186ITALO CALVINOWenn ein Reisender in einer Winternacht / Se una notte d’inverno un viaggatore 188CHRISTOPH RANSMAYRDie Schrecken des Eises und der Finsternis 191FELICITAS HOPPEDas Prosawerk 194DANIEL KEHLMANNDie Vermessung der Welt 201ILIJA TROJANOWDer Weltensammler 204WOLFGANG HERRNDORFTschick 206

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Literatur und Reisen. Eine Einführung

Andreas Erb · Christof Hamann · Julian Osthues

Herrlich ist es, auf Reisekörben stillzusitzen und dabei von Reisen um die Welt zu phantasieren. Diese feine, nette und hübsche Übung kann jedermann von Herzen empfohlen werden.(Robert Walser)

Reisetypologien. Zuerst der Versuch, die Masse an Reiseliteratur zu sortieren. Robert Prutz, Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutsch-

land überregional bekannter Journalist, schafft 1847 in einem Artikel mit dem Titel Ueber Reisen und Reiseliteratur der Deutschen Ordnung: Im 16. und 17. Jahrhundert sei man »fürs Leben, nicht für die Literatur« gereist, danach habe man ›enzyklopädisch‹ übers Reisen berichtet und schließlich sei mit Laurence Sternes A Sentimental Journey through France and Italy (1768) »Reiseliteratur in die schöne Literatur« überführt worden. So weit, so gut. Einige Jahrzehnte früher, genauer: 1793, stellt Jean Paul in seinem Roman Die unsichtbare Loge eine Typologie des Spaziergängers auf. Homogenisieren wir zur Probe einmal den Spa-ziergänger und den Reisenden, fassen wir sie als Geschwisterpaar. Sie werden von Jean Paul »wie die Ostindier, in vier Kasten unterworfen«: Die erste reist »nicht bloß mit den Augen, sondern mit dem ganzen Herzen«, die zweite wegen schönen oder erhabenen Landschaften, zur dritten, schon weitaus negativer bewerteten Kaste zählen diejenigen, die aus bloßer »Eitelkeit und Mode« reisen, und zum Schluss kommen die »Gelehrten und Fetten«, die reisen, »weniger um zu genießen, als um zu verdauen, was sie schon genossen haben«. Nehmen wir eine weitere Typologie hinzu, dieses Mal aus dem bereits erwähnten Meilenstein der Reiseliteratur, Sternes A Sentimental Journey. Gleich in der Vorrede werden Menschen, die sich nicht an die »boundaries and fencies« der Natur halten, folgendermaßen gruppiert: Faulenzer, »idle

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people«, gehören dazu, die sich u. a. aus Dummheit auf Reisen bege-ben, und »peregrine martyrs«, wozu Sterne nicht nur Pilger, sondern auch junge Adlige zählt. Der Grausamkeit ihrer Eltern haben sie es zu verdanken, dass sie unter der Aufsicht von Hofmeistern in die Fremde ziehen müssen. Aber das ist nur der Anfang der Liste. Ihr gehören wei-terhin lügende, eitle, griesgrämige, unglückliche, verbrecherische und neugierige Reisende an, schließlich auch »The Sentimental Traveller«, ein Typus, dem sich der Ich-Erzähler selbst zurechnet. Die Aufzählung zu systematisieren, ihr eine Rangfolge, eine Hierarchie gar aufzuzwin-gen, hieße, ihrer Unabgeschlossenheit, ihrer Kontingenz, ihrem Witz Gewalt anzutun. Eine Systematik widerspräche auch dem sprunghaf-ten und abschweifenden, dem digressiven Erzählen von A Sentimental Journey, ein Erzählen übrigens, das dem Reisen oft entspricht … Und so wollen wir es auch halten. Unsere Lesereise durch die Reiseliteratur weist insofern Parallelen zu Sternes Vorrede auf, als auch sie keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ihre Durchführung ist das Ergeb-nis unvollkommener Recherchen ebenso wie von Vorlieben und Zufällen. Viele Orte, d. h. Texte und Themen, lassen wir links liegen, anderen statten wir eine Stippvisite ab, an wenigen nur verweilen wir etwas länger – und das machen wir, wie Jean Paul meinte, mit ganzem Herzen, auch aus Lust an der Schönheit in Buchstabenform.

Der Sündenfall. Der Mensch mag ein zōon polikon und ein zōon logon echon sein, ein politisches ebenso wie ein sprachbegabtes Lebe-

wesen, vielleicht ist er auch eines, das mit Vernunft ausgestattet ist. Doch auf jeden Fall gehört zum Menschsein auch die Mobilität dazu. Wiederholt wird Reisen als Grundbedürfnis des Menschen bezeich-net, als anthropologische Konstante, als conditio humana. Mensch-heitsgeschichtlich war der homo sapiens zunächst ein Reisender, ein Nomade. Der von Anthropologen als dramatisch eingestufte Wandel vom Jäger und Sammler zum Bauern und Viehzüchter sei mit großen Schwierigkeiten verbunden gewesen, er stelle sogar, schenkt man Evo-lutionsbiologen Glauben, den eigentlichen Sündenfall der Mensch-heit dar. Auskunft darüber gibt auch die Bibel, die zwar, beginnend mit der Vertreibung aus dem Garten Eden, vollgepackt mit Geschichten vom Reisen ist. Liest man sie aber wie der Evolutionsbiologe Carel

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van Schaik und der Historiker Kai Michel in ihrer Studie Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät (2016), dann war der Genuss des Apfels und der nachfolgende Verlust des Paradieses schlimm, aber das eigentlich Schlimme folgte erst noch. Die biblischen Geschichten vom Mord Kains an Abel, von der Sintflut, vom Turmbau zu Babel, von Sodom und Gomorrha würden vielmehr zeigen, dass die Welt vor dem Sesshaftwerden ohne, danach hingegen voller Katas-trophen gewesen sei. Denn: »Gewalt gelangte auf die Tagesordnung, die Menschen wurden kleiner, hungerten öfter, starben früher. Als begonnen wurde, Tiere zu domestizieren, sprangen Krankheitserreger von Haustieren auf die Menschen über. Pest und Pocken, Karies und Masern, Grippe und Cholera machten sich erstmals über die Men-schen her. Zugleich sorgte die Erfindung des Eigentums an Grund und Boden dafür, dass Ungleichheit und Unterdrückung in die Gesellschaf-ten einzogen; Frauen hatten besonders darunter zu leiden. Den apo-kalyptischen Reitern gleich kam all das über die Menschen und plagte sie jahrtausendelang. Doch ein Zurück gab es nicht.« Wäre Leben mal nur lebenslanges Reisen geblieben …

Das Leben als Reise. … ist es auch, jedenfalls im Sinne einer Allegorie: Mit der Geburt bricht man auf, begibt sich, zumindest im christ-

lichen Kontext, hinein in das »Jammertal« des Lebens, auf einen zeit-lich begrenzten Leidensweg, auf dem einen Schmerz, Krankheit und Gefahren etc. begegnen. Das Leben zum Tode wird allerdings zugleich als Reise zur ewigen Heimat verstanden, in der aller Kummer ein Ende hat. Manfred Frank zufolge wird dieses Reisekonzept von einer »Ökonomie des Heils« konturiert, in die auch diejenigen integriert sind, die aus eigener Kraft nicht in den Himmel gelangen können. Denn in diesen Fällen darf der Schwache oder Herumirrende in aller Regel auf den göttlichen Vater hoffen, der als »Komplement des unvollkomme-nen Lebens« die für das Überschreiten der Ziellinie notwendige Hilfe leistet. Dass die Bewegung zwischen Ursprung und Heimat trotz himmlischen Beistands keineswegs gerade verläuft, sondern perma-nent Gefahren drohen, vom rechten Weg abzuweichen, belegt eines der am meisten übersetzten Werke der Weltliteratur, John Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678) mit dem beredten Untertitel: »From This

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World To That which is to come: Delivered under the Similitude of a Dream Wherein is Discovered, The manner of his setting out, His Dangerous Journey; And safe Arrival at the Desired Countrey«. Auf dem gefahrvollen Weg muss der Pilger Christian gleich zu Beginn den »Slough of Dispond«, den Sumpf der Verzagnis durchqueren, danach wird er von den verschiedensten Sünden und Versuchungen bedroht: »Shame«, »Vanity Fair«, »Money-Love«, »Ignorance« und viele andere mehr. Erst nachdem er das Tal der Erniedrigung durchschritten hat, liegt »the beautiful Gate« vor ihm, durch das er ins ewige Leben treten darf. Garantiert die göttliche Heilsordnung hier noch ein Ankom-men, so geraten viele gefährliche zu unendlichen Fahrten, wenn sie ohne einen jenseitigen heimatlichen Hafen auskommen (müssen). Figuren wie der u. a. von Richard Wagner adaptierte Ewige Holländer oder Franz Kafkas Jäger Gracchus (1917) sind dann dazu verurteilt, in einer, wie Frank schreibt, »nicht endenden Endlichkeit« ihr Dasein zu fristen. Tragisch für viele Reisende, aber nicht für alle. Die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach etwa, für die Unterwegs-sein ein »konzentriertes Abbild unserer Existenz« darstellt, feiert in ihren zahlreichen Reisebüchern das »Aufbrechen ohne Ziel«.

Warum und wohin reisen die Reisenden. Jenseits des allegorischen Konzepts der Lebensreise ist die Literatur bevölkert von unter-

schiedlichen Reisenden, die zumeist aus einem bestimmten Grund (oder grundlos), zu einem bestimmten Ziel (oder ziellos), mit einem bestimmten Transportmittel (oder auch keinem) aufbrechen. Helden in der Literatur ziehen, wie Montaigne in seinem Essay Über die Eitel-keit schreibt, wegen ihrer »Gier auf neue und unbekannte Dinge« los (Daniel Defoes Robinson Crusoe, 1719), sie reisen freiwillig (Jack Kerouacs On the road, 1957) und unfreiwillig (Karl Roßmann in Franz Kafkas Der Verschollene, 1911/14, 1927), weil sie von den Göttern dazu verdammt wurden (Homers Odysseus), weil sie sich bilden wollen (Anton Reiser bei Karl Philipp Moritz, 1785-90), etwas erfor-schen möchten (Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, 2005) oder auch einfach nur, um Urlaub zu machen (Wolfgang Herrndorfs Tschick, 2010). Sie reisen von Kopen-hagen nach Kopenhagen (Hans Christian Andersen in Fodreise fra

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Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829, 1829), sie reisen in ein verheißenes Land (Goethe in Italienische Reise, 1816/1817/1829), in viele (Candide in Voltaires Candide ou l’optimisme, 1759) oder in phantastische Länder (Swift in Jonathan Swifts Gulliver’s Travel, 1726), sie fahren um die Welt (Pigafetta in Felicitas Hoppes Pigafetta, 1999), auf den Mond (Francis Godwins The Man in the Moone or a Discourse of a Voyage thither, 1638), ins Innere der Erde (Otto Lidenbrock in Jules Vernes Voyage au Centre de la Terre, 1864/67). Manche begeben sich, wie Xavier de Maistre in Voyage autour de ma chambre (1794), auf eine aben-teuerliche Expedition durch ein Zimmer, manche bleiben sitzen und reisen im Kopf oder mit dem Finger auf einer Karte: Judith Schalansky versteht in ihrem Atlas der abgelegenen Inseln (2009) den reisenden Finger als »erotische Geste«, was ihr in der Berliner Staatsbibliothek beim Abtasten der Tiefen und Höhen auf einem »reliefierten Globus« bewusst wird.

Transportmittel und Wahrnehmung. Wenn aber Reisende die eigenen vier Wände verlassen, dann benötigen sie ein Transportmittel,

einen Ballon, ein Boot, eine Kutsche, ein Auto. Wer in der Luft unter-wegs ist, der sieht anders als der, der sich auf der Erde bewegt, wer auf Siebenmeilenstiefeln Kontinente durchquert, der nimmt anderes wahr als derjenige, der mit der Schneckenpost reist. Auch haben tech-nische Innovationen wie das Auto oder, zuvor, die Eisenbahn und das Dampfschiff seit dem 19. Jahrhundert Raum auf eine für Zeitgenossen verstörende Weise verkleinert oder gar aufgelöst: »Welche Verände-rungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen«, schreibt Heinrich Heine 1843 in Lutetia, als die Linie von Paris nach Rouen und Orléans eröffnet wird, und er fährt fort: »Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig […]. Was wird das erst geben, wenn die Linie nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bah-nen verbunden sein werden! Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt.« Aber die neuen Verkehrsmittelt tra-gen auch zur Demokratisierung des Reisens bei: Viel mehr Menschen können viel schneller die Ferne durchmessen. Nicht alle jedoch wollen von Ort zu Ort rasen. Der Journalist und Schriftsteller Otto Julius

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Bierbaum schwärmt zwar in seinem 1903 erschienenen Reisebericht Eine empfindsame Reise im Automobil von dem damals noch relativ neuen Transportmittel, aber nicht deshalb, weil es mit hoher Geschwindig-keit zu reisen erlaubt. Er sieht sich nicht als »sportsman«, sondern als jemand, der die Kunst der langsamen, empfindsamen Reise (durch Italien) pflegt, ohne dabei auf die Annehmlichkeiten moderner Tech-nik zu verzichten. So reiht sich dieser frühe Autoreisebericht explizit in die Gattung klassischer Bildungsreisetexte ein, für die Goethes Italienische Reise den Prototyp bildet.

Reisen andernorts. Dass die Literatur übers Reisen auch in anderen, nicht-europäischen Sprachen und Kulturen eine vielfältige ist,

kann diese Einleitung nur andeuten. Drei Texte zumindest möchten wir kurz vorstellen: Erzählungen über Gilgamesch aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr., das Reisetagebuch Oku no hosomichi (1702) des japa-nischen Schriftstellers Matsuo Bashô und der klassische chinesische Roman Die Reise nach dem Westen aus dem 16. Jh. Als eine der frühesten überlieferten Geschichten über das Reisen gilt das Gilgamesch-Epos, eine Sammlung sumerischer Texte über den ehemaligen König Gil-gamesch der Hauptstadt Uruk des Landes Sumer zwischen Euphrat und Tigris. Als kanonisierte Fassung hat sich die ninivitische Version in akkadischer Sprache etabliert, die vom assyrischen König Assur-banipal (668–627) für seine Bibliothek in Ninive angefertigt wurde und zwölf Gesänge zu je 500 Zeilen umfasst, die auf zwölf Tafeln verteilt sind. Im Epos selbst sind mehrere Reisegeschichten zu finden, die unterschiedlich motiviert sind. So bricht Gilgamesch, von einer plötzlichen Ruhelosigkeit gepackt, zusammen mit seinem Freund Enkidu auf, um Chumbaba, den Wächter des Zedernbaumes jenseits der sieben Berge, zu töten und seine Zeder zu fällen. Neben weiteren Reisen unterschiedlicher Figuren, die jedoch fast alle die Unterwelt als Ziel haben, ist der Tod Enkidus bei Gilgamesch Anlass für eine irdische Reise an die Grenzen der Welt und damit auch an die des Lebens selbst, um den unsterblichen Sintfluthelden Utnapischti auf-zusuchen. Das eigentliche Ziel der Reise von Gilgamesch, die Erlan-gung von Unsterblichkeit, scheitert jedoch, nachdem er eine Pflanze zum Erhalt ewigen Lebens zwar findet, sie jedoch vor ihm von einer

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Schlange gefressen wird. So fällt auch das Fazit der Reisen am Ende des Epos ernüchternd aus, wenn Gilgamesch sich nur noch die Rück-kehr in seine Stadt wünscht. – Die im Haikai-Stil verfassten Aufzeich-nungen in Oku no hosomichi umfassen die Geschehnisse einer fünfmo-natigen Wanderung, welche Bashô zusammen mit seinem Gefährten Sora in die nördlichen Hinterlande Japans unternahm. Insgesamt bewältigen sie in 150 Tagen eine Strecke von etwa 2.400 Kilometern. Mit 45 Jahren trat Bashô diese strapaziöse Wanderung an, um die bereits vor ihm von Dichtern bereisten und besungenen Landschaf-ten des Nordens mit eigenen Augen zu sehen und literarisch zu ver-arbeiten, womit er sich ganz in die Tradition ihrer Dichtungen stellt. Dabei schafft er jedoch einen eigenen, neuen Typ von Reisetagebuch, bei dem spektakuläre sprachliche Landschafts bilder gleichberechtigt neben alltäglichen bzw. banalen Ereignissen und Begegnungen ste-hen. – Die Reise nach Westen gehört wahrscheinlich heute zu den popu-lärsten Werken der klassischen chinesischen Erzählliteratur. Haupt-figur der Erzählung ist der Affenkönig Sun Wukong, der sich auch in gegenwärtigen Filmen, Serien und Computerspielen (etwa der Film The Forbidden Kingdom mit Jackie Chan und Jet Li von 2008, die Anime-Serie Dragon Ball aus den Jahren 1988 bis 2015 oder das Computerspiel Enslaved von Jahr 2010) größter Beliebtheit erfreut. Er wird nach diver-sen Abenteuern und einer langen Gefangenschaft zum Reisebegleiter eines Priesters, der sich auf den Weg zu Buddha gemacht hat. Die Handlung beruht auf der historisch fassbaren Person Chen Xuanzang, der zur Zeit der frühen Tang-Dynastie, etwa zwischen 600 und 664 nach unserer Zeitrechnung, lebte. Xuanzang suchte nach einer funda-mentalen Einsicht in die buddhistische Lehre, was ihn dazu bewog, Indien, das Heimatland des Buddhismus persönlich zu bereisen. Seine sechzehnjährige Wanderung führte ihn von seiner Heimatregion um Luoyang bis ins heutige Rajgir im Nordosten Indiens. Seine eigene Reisebeschreibung, die Aufzeichnungen über die westlichen Gebiete der Großen Tang, handelt von seinen Erfahrungen und Kenntnissen, die er auf der Reise über Bauten, Denkmäler und Bräuche gesammelt hatte. Schon zu Lebzeiten waren diese Aufzeichnungen weit bekannt, wurden zunehmend mit fantastischen Elementen ausgeschmückt und Xuanzang erhielt schließlich den Sanskritnamen Tripitaka, der

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übersetzt »Drei heilige Schriften« bedeutet und auf die große Menge an Übersetzungen buddhistischer Bücher verweist, die der Mönch aus Indien in seine Heimat mitgebracht hat.

Nicht nur Männer reisen. Männer reisen, Frauen bleiben zuhause: Das lange Zeit tradierte Stereotyp vom abenteuerlustigen Mann

und der Frau, die das Heim hütet und sich in Geduld und Treue übt (Prototyp: Odysseus’ Ehefrau Penelope), stilisierte Frauen zu passiven Wesen, die in Opposition zur männlichen Aktivität stehen. Diesem Stereotyp zum Trotz sind Frauen vereinzelt bereits vor Hunderten von Jahren unterwegs gewesen. Erzählt wird von der Wikingerin Freydis, die um das Jahr 1000 als Anführerin einer Expedition bis nach Amerika gelangt sein soll, geschätzt bis heute ist die Naturforscherin Maria Sybilla Merian (1647–1717), die 1699 ohne offiziellen Forschungs-auftrag nach Surinam reist. Zudem prägten die Übersetzung der Orientbriefe von Mary Montagu im Jahr 1767 oder ihre Briefe eines reisenden Frauenzimmers über Ostindien, die 1787 übertragen werden, das Bild moderner reisender Frauen. Mit der Zunahme der Mobilität in modernen Gesellschaften ging für reisende Frauen jedoch eine Dop-pelrolle einher: So wird nun einerseits die Reisebereitschaft und damit auch ein zu erlangendes Weltwissen von ihnen gefordert, andererseits sollen sie auch die Funktion als Gattin und Verwalterin des familiären Haushaltes bewahren. Kulturtechnisch bietet die Auslagerung der Reise auf dem Pferd in den rollenden Wagen dank der Erfindung der Kutsche eine Lösung. Hierdurch wird den Frauen die Möglichkeit gegeben, Aufgaben wie das Sticken, Konversation oder Kindererzie-hung auch unterwegs zu erledigen: Der Typus des ›reisenden Frauen-zimmers‹ entsteht. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wächst damit auch die Anzahl der Reisetexte von Autorinnen, von denen allerdings spezifische Erzählmuster wie z. B. Binnenperspektive und Interieurs-darstellungen erwartet wurden. Die Literaturgeschichte reisender Frauen zeigt jedoch, dass diese Muster spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert immer gründlicher ad absurdum geführt wurden; davon zeugen journalistische, literarische und fotografische Arbeiten etwa von Ida Pfeiffer, Isabelle Eberhardt, Annemarie Schwarzenbach bis hin zu Leonore Mau oder Felicitas Hoppe.

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Raus aus dem Alltag, rein ins Abenteuer. Bereits in der antiken Literatur sind Reisen nur schwer ohne Abenteuer zu haben. Bekannt ist,

abgesehen von Homers Odyssee, Heliodors Roman Syntagma tōn peri Theagenēn kai Charikleian Aithiopikōn, erschienen in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr., dessen Handlungsmuster in der Tradition älterer Liebes- und Abenteuerromane steht: Die Liebenden Chariklea und Theagenes müssen eine Odyssee des Leidens und der Trennung erdulden, ihnen widerfahren Schiffbruch und Gefangennahme durch Piraten. Das Schöne (oder Traurige) ist: Die Abenteuerzeit ist, wie Michail M. Bachtin eindringlich beschrieben hat, zeitunabhängig: Die Helden verändern sich nicht, ja, sie altern nicht einmal. In mittelalter-lichen Epen ziehen die Ritter freiwillig aus, ganz von dem Wunsch getrieben, Ehre zu erwerben und so ihre soziale Reputation zu erhö-hen. Sie gehen auf ›âventiure‹. Oftmals müssen sie dabei einen ›dop-pelten Cursus‹ durchlaufen: Die erste Abenteuerserie, die der Ritter nur um seiner selbst willen unternimmt, endet für gewöhnlich in einer Sackgasse, wenn nicht, wie bei Iwein, im Wahnsinn; beim zwei-ten Cursus rückt das Gemeinwesen in den Mittelpunkt, die Ritter kämpfen im Dienste einer anderen Figur gegen Riesen und Drachen, sie tun ihre Pflicht und übernehmen Verantwortung. Ob das große Ganze auch in späteren Abenteuer- und Reiseerzählungen im Vorder-grund steht, wird von manchen Lesern bezweifelt. Einer davon, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, schreibt in seiner Ästhetik (1817–1829), dass in den meisten »keine Lage, keine Situation, kein Konflikt vorhanden [sei], wodurch das Handeln notwendig würde, sondern das Gemüt will hinaus und sucht sich die Abenteuer absichtlich auf.« Zum Abenteuer gehören also Gefahren und unvorhersehbare Ereignisse, z. B. Begeg-nungen mit Piraten oder mit Drachen oder Unfälle wie der Schiff-bruch. Nicht selten verlangt es vom Abenteurer, bis zum Äußersten zu gehen und gar sein Leben aufs Spiel zu setzen. Und in aller Regel ist es mit einer Herausforderung nicht getan, Abenteuer unterliegen dem Gesetz der Serie. So reiht sich in Carlo Collodis Le Avventure di Pinocchio (1883) ein Abenteuer der Holzpuppe an das nächste, weil sie, so heißt es in Felicitas Hoppes Augsburger Poetikvorlesungen Sieben Schätze (2009), »der Verführung der Seitenstraßen nicht widerstehen kann«. Und Hoppe fährt fort: »Wie Buster Keaton, dessen Leben und Aben-

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teuer nichts anderes sind als stumm sprechende Bilder fortlaufender Kettenreaktionen. Vielleicht ist das die wahre Natur des Reisens: von einem Zufall zum nächsten stolpern, den Fallstrick des Lebens am eigenen Leib erfahren, um endlich, gerettet, nach Hause zu kommen und sich ein für alle Mal unglücklich zu verheiraten.« Oder aber doch wieder das nächste Abenteuer anzusteuern: »Ei, ich wollte ein Aben-teuer haben«, ruft Tom Sawyer, »so ein echtes, gerechtes Abenteuer!« Mark Twains Adventures of Tom Sawyer (1876) – ebenso wie jene von Huckleberry Finn (1884) – verbinden das Reisen mit dem Abenteu-erlichen nicht zuletzt in dem Handlungselement der Flussfahrt auf dem Mississippi, ein Schauplatz und Leitmotiv des Autors, das seiner eigenen Erfahrung entstammt: Denn Samuel Langhorne Clemens, der das Pseudonym Mark Twain annahm, absolvierte eine Ausbildung als Lotse auf einem Mississippi-Dampfer. Seine Erfahrungen lieferten später den Stoff für seinen autobiographischen Reisetext Life on the Mississippi (1883). Bereits drei Jahre zuvor veröffentlichte er die Erleb-nisse seiner Reise durch Deutschland und die Schweiz bis nach Italien in A Tramp Abroad (1880), ein Reisebericht, der nicht nur den typischen amerikanischen Touristen karikiert, sondern auch über »The Awful German Language« herzieht. Während für Twain selbst ebenso wie für seine Figuren Reisen zum Leben dazugehört, bedeutet es für viele Andere eine Ausnahme. Sie lassen höchstens für den längeren Jahres-urlaub das Banale, das Langweilige, das Alltägliche hinter sich. Solche Aufbrüche seien unerlässlich, meint Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung, denn: »Dieselben Dinge täglich bringen langsam um. Neu zu begehren, dazu verhilft die Lust der Reise.« Doch dieses Begehren wird nicht über All-inclusive-Einerleis geweckt: Statt auf viel befahrenen Wegen unter-wegs zu sein, begeben sich (richtige) Reisende auf Abwege, sind auch nur daher – anders als Touristen, die nicht reisen, wie Bloch meint – offen für das Provisorische, für den Zufall, die Überraschung und das Risiko, für den thrill, das Abenteuer. Georg Simmel hat das Abenteuer als doppelte Fallbewegung beschrieben: Falle ein Abenteuer einerseits zwar aus dem »Zusammenhange des Lebens« heraus, so falle es ande-rerseits jedoch – wie ein »Fremdkörper« – in unsere Existenz hinein. Unfähig, das Abenteuer in die Kontinuität des Lebens einzuordnen, gehöre es ihm doch wie ein »Traum« oder wie eine »Insel« an, die anders

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als der Teil eines Kontinents ihren Anfang und ihr Ende nach eigenen Gesetzen bestimme. Wenn von Insel die Rede ist, dann ist der Schritt zu zwei prototypischen Inselabenteuern nicht weit, d. h. zu Homers Odyssee, entstanden ungefähr im 8. Jahrhundert v. Chr., und zu Daniel Defoes The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe (1719), deren Helden verschiedentlich als Archetypen des antiken und des modernen Reisenden bezeichnet werden. Folgt die Irrfahrt des einen, Odysseus, der »Ökonomie einer verzögerten Heimreise« (Frank), so ist die Reise von Robinson Crusoe bereits als unendliche Fahrt ange-legt: Denn in der Fortsetzung, The Farther Adventures of Robinson Crusoe (1719), erliegt der Held erneut seiner Bewegungssucht und bricht zu einer Reise auf, die ihn in einem Zeitraum von elf Jahren einmal um die Welt führt. Darüber hinaus hat Italo Calvino Defoes Roman nicht ganz zu Unrecht ein »Brevier der Kaufmannstugenden« genannt, eine Zuschreibung, die er über die Odyssee nie geäußert hätte. Denn in den 28 Jahren, in denen es den neugierigen Engländer auf eine einsame Insel verschlagen hat, führt er sein Leben ähnlich wie sein biederer, mittel-ständischer Vater ein Unternehmen: Der Exilant kennt die doppelte Buchführung, er bilanziert seine Handlungsschritte nach Gewinn und Verlust und teilt seine Zeit systematisch ein – es gibt Arbeitszeiten für verschiedene Tätigkeiten und Mußestunden zur Entspannung. Trotz-dem muss der homo oeconomicus eine Reihe von Abenteuern bestehen, um sein Überleben gegen die bedrohliche Natur, vor allem aber gegen die »dangerous Creature« vom nicht allzu weit entfernt liegenden Fest-land zu sichern. Bei den kannibalischen »Savage Wretches« erscheint aufgrund ihrer Fremdheit von vornherein jegliche Zivilisierungsbe-mühung vergeblich, weshalb Crusoe viele von ihnen tötet. Ein Opfer jedoch befreit und zivilisiert er, d. h. erzieht ihn zu einem willigen Die-ner. Defoes Roman ist beileibe nicht der einzige, in dem die Reise in die Ferne mit Kolonisierungsbewegungen einhergeht. Gerade die Ge-schichte der europäischen Expansion von der Renaissance an, die nach anfänglichem Staunen rasch überging in Stigmatisierung, Versklavung und Zerstörung fremder Kulturen, wird begleitet von zahllosen Rei-setexten, die Reisen nicht nur im Gewand des Abenteuers, sondern auch als Akte der Gewalt, der Aggression erzählen und den kolonialen Mythos von der Überlegenheit der europäischen Kultur mitschreiben.

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Hoffnung auf Erneuerung. Wer aus dem Alltag ausbricht und (intel-lektuelle) Abenteuer erlebt, der verändert sich und lädt sich

gleichsam mit neuen Energien auf. Damit ist ein Topos benannt, der von jeher im Reisen das Moment der Selbst- und Fremderfahrung betont, die Hoffnung auf Wandel und Erneuerung, auf »Wiederge-burt«. Johann Wolfgang von Goethe, der in der Italienischen Reise diese Chance fast litaneihaft wiederholt, warnt jedoch auch vor möglichen negativen Folgen der Reise: »Wenn man sich einmal in die Welt macht und sich mit der Welt einläßt, so mag man sich ja hüten, daß man nicht entrückt oder wohl gar verrückt wird.« Ob man als Dichter, oder, wie Leonhard Hagebucher in Wilhelm Raabes Roman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867), als vermeintlich Verrückter in die Hei-mat zurückkehrt – die ferne Fremde infiziert den Reisenden, dringt in ihn ein, krempelt ihn um. Dem Grimm’schen Wörterbuch zufolge hat sich der deutschen Sprache vor allem diejenige Veränderung einge-schrieben, die als »bewegung aufwärts«, als Erhebung und Aufbruch gedacht wird. Gerade deshalb dienen insbesondere Bergbesteigungen als Metaphern für Lebensreisen, etwa in Francesco Petrarcas Bericht über die gemeinsam mit seinem Bruder unternommene Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336 oder in Christoph Ransmayrs Schluss-kapitel von Atlas eines ängstlichen Mannes (2012), in dem der Erzähler sich auf einem beschwerlichen Weg durch meterhohen Schnee im Himalaya-Gebirge befindet, der ihn selbst und seine Träger tief einsin-ken lässt.

Geographische Utopien (Bloch). Die Hoffnung auf ein erneuertes Leben korrespondiert gerne mit paradiesischen Orten, die als

manchmal nahe, oftmals aber als entlegene Lebensziele im Diesseits fungieren. Sie zu erreichen bedarf dann der Abenteuer- und Entde-ckungsreise, die aber immer auch Gefahr läuft, zu scheitern. Arkadien, El Dorado oder das Niegesehene in Form der ›weißen Flecken‹ gehö-ren hierzu. Mit Vergils Bucolica (39 v. Chr.) avanciert Arkadien, der Name eines eher kargen Landstrichs in Mittelgriechenland, zu einer nicht lokalisierten Ideallandschaft, in der ewiger Frühling herrscht. Ihre Bewohner können sich ganz der (homoerotischen) Liebe und der Musik widmen, auch weil sie von jeglicher Arbeit befreit sind. Wich-

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tige Versatzstücke dieses Vergilschen Topos werden mit Gemälden Claude Lorrains (1600–1682) und mit Goethes bereits erwähntem Reisebericht, dem das Motto »Et in Arcadia ego« vorangestellt ist, auf ganz Italien übertragen und prägen bis heute (touristische) Vor-stellungen dieses Landes. Mit der geographischen Utopie El Dorado hingegen ist die Hoffnung auf unermesslichen Reichtum im Paradies der Neuen Welt verbunden, von dem vor allem spanische Kolonisato-ren um 1500 träumten. Sie gründet sich auf eine indianische Legende über einen König, der sich bei der Thronbesteigung mit Gold bestäu-ben und zugleich einen großen Goldschatz in einem See versenken ließ. Unzählige spanische Expeditionen suchten im 16. Jahrhundert vergeblich nach dem ›Goldland‹. Erst im 18. Jahrhundert wird es dann – in der Literatur – entdeckt, von Candide, dem Helden von Voltaires philosophischem Roman Candide ou l’optimisme (1759), den es auf sei-nen Irrfahrten auch nach Südamerika verschlägt. Musste er bis dahin schmerzhaft erleben, wie wenig Wahrheit in der Rede seines Lehrers steckt, dass die Welt, in der sie leben, die Beste aller Möglichen sei, erlebt er sie nun tatsächlich, eine Welt, in der Gold wie »Kieselsteine« auf der Straße liegt und alle Bewohner glücklich sind. Allerdings ist das Glück des Reisenden nur von kurzer Dauer, denn: Langeweile überfällt ihn in dem perfekten, aber monotonen Gemeinwesen so heftig, dass er den König bitten muss, El Dorado verlassen zu dürfen. Ein eher unbestimmtes Begehren von Reisenden richtet sich auf die sogenannten ›weißen Flecken‹, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf Landkarten unerforschte Regionen markieren. Zuvor, auf antiken und mittelalterlichen Landkarten ist etwa das Innere Afrikas von einem Durcheinander der Farbflächen, Linien, Zahlen und Namen durchzo-gen, es wird von Menschen, Fabelwesen und wilden Tieren bevölkert. Von den ›weißen Flecken‹ geht eine Aufforderung aus, die die Phan-tasien von Kindern ebenso wie den pragmatischen Eroberungsdrang Erwachsener beflügelt. Ersteres beschreibt Joseph Conrad in einer berühmten Passage von Heart of Darkness (1899): »Nun, als kleiner Junge hatte ich eine große Passion für Landkarten gehabt. Stunden-lang konnte ich Südamerika oder Afrika oder Australien betrachten und mich in die Herrlichkeiten des Entdeckerlebens verlieren. Zu jener Zeit gab es noch viele weiße Flecken auf der Erde, und wenn ich

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auf der Landkarte einen erblickte, der besonders einladend aussah (doch das tun sie schließlich alle), pflegte ich mit dem Finger darauf zu weisen und zu sagen: Wenn ich einmal groß bin, gehe ich dorthin.« Heute sind sie weitgehend verschwunden, die ›weißen Flecken‹, jeder Quadratmeter der Erde ist kartographiert und vermessen. Aber in der Literatur leben sie weiter. Christoph Ransmayr spricht in Der fliegende Berg (2006) davon, dass trotz der heute »enzyklopädisch gesicherten Gebiete[ ]« das Bedürfnis »nach jenem makellos weißen Fleck, / in den wir dann ein Bild unserer Tagträume / einschreiben können«, nach wie vor vorhanden ist.

Das Immer Gleiche der Reise. Der für Reiseliteratur tradierte Drei-schritt von Aufbruch – Reise – Heimkehr/Erzählen hat schon

früh und auf unterschiedliche Weise Überbietungen und Korrekturen erfahren. Über den Aufbruch gar nicht erst hinaus gelangt der adlige Held Jean Floressas Des Esseintes in J.K. Huysmans Roman A rebours (1884). Ihn, der zurückgezogen und misanthropisch in einer großen Villa am Rande von Paris lebt, überkommt zwar nach der Lektüre von Büchern Charles Dickens das Verlangen, nach London zu reisen, doch nach nur wenigen zurückgelegten Metern merkt er, dass die Reise nicht nur anstrengend werden, sondern ihm voraussichtlich auch seine Englandträume zerstören würde. Also kehrt er unverrichteter Dinge nach Hause zurück und verlässt seine Villa nie wieder. Andere brechen zwar auf, aber nur, um von der vergeblichen und unnötigen Mühe des Reisens Zeugnis abzulegen und es grundsätzlich infrage zu stellen. Matthias Claudius’ Gedicht Urians Reise um die Welt, das erstmals 1786 im Vossischen Musenalmanach erschienen ist, endet mit einer Strophe, die Ferne und Nähe gleichsetzt: »Und fand es überall wie hier, / Fand überall ’n Sparren, / Die Menschen grade so wie wir, / Und ebensolche Narren.« Das die Fleurs du Mal (zuerst 1857) von Charles Baudelaire beschließende Gedicht Le Voyage ist für Albrecht Koschorke, wie er in Die Geschichte des Horizonts schreibt, das Nach-drücklichste »unter den vielen Verabschiedungen des poetischen Reisemotivs in der Nachromantik«. Aller im Mittelteil aufgerufenen exotischen Bilder zum Trotz, die unter Zeitgenossen das Verlangen nach dem Neuen wohl immer noch zu wecken vermochte, herrschte

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unterwegs oftmals Langeweile, »comme ici«, so wie in der Heimat. Knapp hundert Jahre später erteilt auch Gottfried Benn in seinem Gedicht Reisen (1950) jeglicher Form des Unterwegsseins eine klare Absage: »ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / blei-ben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich.« Das erinnert an Petrarca, der sich auf dem Mont Ventoux, in Augustinus’ Confessiones lesend, bewusst wird, »daß nichts bewundernswert ist außer der Seele. Im Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß.«

Reisen und Erzählen. Reisende, das gehört ebenfalls zu den zentralen Topoi des Unterwegsseins, haben nach ihrer Heimkehr Lohnens-

wertes, weil Einmaliges, Neues, Gefährliches, Abenteuerliches, Ver-rücktes, bislang noch nicht Gehörtes zu erzählen. Der Umkehrschluss, dass wer nicht reist, auch nichts zu erzählen hat, wird zumindest im ersten Vers des bereits erwähnten Gedichts von Claudius suggeriert: »Wenn jemand eine Reise tut, / So kann er was erzählen«, das gerade wegen der Betonung dieser Verbindung Eingang in das Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten gefunden hat. Für das Erzählen der Reise gilt im Allgemeinen, dass die Übereinstimmung mit der sogenannten erlebten Wirklichkeit nur ein Kriterium von vielen ist: Die Zuhörerin-nen und Zuhörer bzw. die Lesenden wollen (wenn überhaupt) nicht alles von der Reise erfahren, sie verzichten gerne auf das Monotone, das sich permanent Wiederholende. In seiner kleinen, z. T. böszüngi-gen Abhandlung Die Kunst, andere mit seinen Reiseberichten zu langweilen (2017) versammelt Matthias Debureaux lauter Spielarten des Erzäh-lens ›danach‹ und kommt zu einem wenig schmeichelhaften Schluss: »Inzwischen ist Reisen alles andere als ein Privileg oder heroischer Akt. Trotzdem findet sich immer irgendwo ein Mikro, wenn ein Globetrot-tel in Allwettertracht von der großen weiten Welt schwadroniert. Das nimmt überhand, auf dem Podium wie im richtigen Leben, und führt zu erstaunlichen Auswüchsen von Maulheldentum und Schulmeiste-rei.« Die Differenz zwischen faktualer und fiktionaler Reiseliteratur ist dabei nur ein gradueller. Die Aufbereitung der Reise im Erzählen – die Einfügung eines Spannungsbogens, der Fokus auf den Reisenden, der nicht selten zum Helden im emphatischen Sinne avanciert, die Ausschmückung der Geschichten mittels rhetorischer Figuren – hat

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von jeher dazu geführt, Reisende der Lüge zu bezichtigen, durchaus zu Recht. Einer dieser notorischen Lügner publizierte in der Mitte des 14. Jahrhunderts einen sofort äußerst erfolgreichen Reisebericht – The Travels of Sir John Mandeville –, in dem der Held Äthiopiern mit nur einem, dafür aber großen Fuß begegnet, der diesen Schatten zu spenden ver-mochte, außerdem Menschen mit Hundsköpfen und einem Inder mit bis zum Boden hängenden Hoden. Anfangs nahm man all die Geschich-ten für bare Münze. Doch (erstaunlich) langsam wurde Mandeville nicht nur als Betrüger entlarvt, nein, die Lügen hatte er dazu noch von anderen Reiseschriftstellern abgeschrieben. Gegen Ende des 19. Jahr-hunderts galt sogar als sicher, dass es einen fahrenden Ritter namens Mandeville nie gegeben habe, es handle sich bei ihm um eine Fiktion. Stephen Greenblatt ist dies in seiner Studie Marvelous Possessions einer-lei: Für ihn sind The Travels of Sir John Mandeville eine »Hymne an die Mobilität«, die zugleich ein Loblied auf Neugierde und Toleranz singt.

Reisende als Lesende. Die Behauptung, nur das mit eigenen Augen Gesehene zu berichten oder zumindest das, was andere so noch

nicht gesehen haben, gehört zwar einerseits zu den gängigen Topoi, mit denen sich die Reiseliteratur im 18. Jahrhundert nachdrücklich als eigenständige literarische Gattung etabliert. Die Fremde bilde ent-sprechend, wie Manfred Pfister darlegt, eine tabula rasa im zweifachen Sinne: Erstens weise sie keine Einschreibungen der Vergangenheit auf, zweitens besitze sie keine (Schrift-)Spuren, keine früheren Überschrei-bungen. Johann Gottfried Seume etwa will in seinem Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (1803) nur »Tatsachen« wiedergeben. Andererseits jedoch wird bereits aus Texten des 18. Jahrhunderts, etwa aus Franz Posselts Apodemik oder Die Kunst zu reisen: Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und ange-hender Gelehrten und Künstler insbesondere (1795) ersichtlich, dass Reisen ein Produkt von Texten ist. Posselt fordert, dass Reisende, bevor sie aufbrechen, ein Reisehandbuch anlegen, in dem soviel Exzerpte wie möglich aus anderer Literatur zusammengetragen würden. Ob Seume Apodemik oder Die Kunst zu reisen gelesen hat, wissen wir nicht. Aber anhand von expliziten und impliziten Verweisen wird offensichtlich, wie intensiv er sich Italien lesend angeeignet hat, wie sehr er ›in Spu-

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ren‹ reist. Spaziergang nach Syrakus ebenso wie andere Reisetexte gehen aus dem umfassenden kulturellen Archiv zeitgenössischer Literatur hervor, in das sie sich zugleich über Verfahren der imitatio (Wieder-holung) ebenso wie der aemulatio (Überbietung) einreihen. Manche Texte können so durchaus zu Prototypen, d. h. zu Vorbildern, avancie-ren, weil in ihnen Momente des ›Neuen‹ besonders offensiv verhan-delt werden. Seumes Spaziergang nach Syrakus gilt als Prototyp des um 1800 populär werdenden Fußreiseberichts, obwohl andere vor ihm, z. B. David Christoph Seybold in seinen anonym publizierten Wande-rungen des Marquis St. A. … durch Deutschland (1777) oder Georg Friedrich Rebmann in Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands (1793), ausgiebige Reisen zu Fuß schilderten. Hier wird behauptet, dass von bürgerlichen Schriftstellern durchgeführte Wanderungen – bis dato gingen vor allem nicht in die Ständegesellschaft integrierte Menschen wie Schauspieler, Bettler und Briganten, darüber hinaus auch Handwerker und Pilger zu Fuß – besonders prädestiniert dafür seien, soziale und politische Missstände zu beobachten und sie anschließend zu kritisieren. Denn der (gebildete) Fußreisende könne, so heißt es in der Vorrede von Seumes Mein Sommer 1805 (1806), anders als der in einer Kutsche Fahrende gerade auch ärmeren Menschen »rein ins Angesicht sehen« und ihnen »freundlich einen Groschen geben«. Gehen zeuge von »Kraft«, Fahren hingegen von »Ohnmacht«. Seumes Texte bilden wichtige Knotenpunkte im Archiv der Fußreise-literatur, die bis in Texte der Gegenwartsliteratur ihre Spuren hinter-lassen. Wer wird nicht an Seumes Plädoyer denken, wenn er in Peter Handkes Die Abwesenheit (1987) liest: »Ab jetzt beginnt der Fußweg. Ab hier werden wir gehen, nicht fahren. […] An den Orten, zu denen ich gefahren werde, bin ich nie gewesen.«

Lesende sind Reisende. Diejenigen, die lesen, schreiten fort von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Seite zu Seite. Sie befinden sich

daher immer mittendrin in einem Text und können ihn nicht, wie z. B. einen Gegenstand, mit einem Mal als Ganzes erfassen. Wolfgang Iser greift in seiner Studie Der Akt des Lesens auf die bereits von Henry Fielding und Walter Scott verwendete Metapher der Postkutsche zurück, in der sich Lesende in Reisende verwandeln, die den Weg

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durch den Roman als »wandernde Blickpunkte« wahrnehmen. Das von ihnen durch das Fenster mit unterschiedlicher Aufmerksamkeit und aus unterschiedlichen Perspektiven Wahrgenommene – im über-tragenen Sinne die gelesenen Sätze – dient ihnen als Ausgangspunkt für Erwartungen den weiteren Weg betreffend. Diese werden oftmals erfüllt. Wie viele Reisen auf geplanten Routen an das gewünschte Ziel führen können, so können Textwege mit den Erwartungen harmo-nieren. Mit dem ersten Satz taucht man in den Lesefluss ein, erkun-det fremde Landschaften und Städte. Behaglicher Eskapismus. Im Zuhause wird das Nicht-Zuhause erlebt. Es gibt Bücher, in deren Wel-ten man mit dem ersten Satz abtaucht und aus denen man erst mit dem letzten zurückkehrt, in den Ohrensessel oder auf die Couch. Das erhofft sich auch die Hauptfigur, ein Leser, aus Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) von der Lektüre eines eben erschie-nenen und von ihm gekauften Buches: »Du wünschst dir, ein abstrak-tes und absolutes Raum-Zeit-Kontinuum täte sich auf, in welchem du dich auf einer präzisen, vorgezeichneten Bahn bewegen könntest.« Aber nein – sein Lesefluss gerät ins Stocken, weil das Buch aus lauter gleichen Druckbögen besteht. Er tauscht es um, doch auch das nächste ist defekt, und das nächste und das nächste … Notgedrungen begibt sich der Leser so auf eine vielfach unterbrochene, seine Erwartungen immer wieder enttäuschende Lesereise, die ihn aber am Ende glück-lich mit einer Leserin zusammenbringen wird. Der Leser in Calvinos Roman ist ein wichtiger Akteur der Lektürereise, ohne ihn hätte sie sehr früh ein Ende gefunden. Umberto Eco hält den Text in seinen mit Im Wald der Fiktionen überschriebenen Vorlesungen, die er 1992/93 an der Harvard-Universität gehalten hat, für eine »faule Maschine«, die vieles verschweige. Zum Glück, freut sich Eco, denn das erfordere vom Leser mehr Aufmerksamkeit, so viel, dass er vorhandene Leer-stellen mit seinen Gedanken und Ideen füllen kann. Mit anderen Worten: Die Faulheit des Textes rückt Leserinnen und Leser in eine privilegierte Position, sie können – fixe Buchstabenstraße hin oder her – mitbestimmen, wohin die Lesereise geht. Dass die Lektüre somit nicht nur als eine Form des Konsums zu betrachten ist, sondern das Lesen »alle Züge einer stillen Produktion« in sich trägt, führt Michel de Certeau in seiner Studie L’Invention du quotidien (1980) aus. De Certeau

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untersucht Alltagspraktiken in Bezug auf ihre Wirkung. Ihm geht es nicht nur darum, Ordnungen zu bekräftigen oder zu reproduzieren, sondern sie auch unterlaufen zu können. So auch das Lesen: Denn in der Aneignung des Textraums zeigt sich die Kreativität des Lesenden. »Er führt Finten des Vergnügens und der Inbesitznahme in den Text eines Anderen ein: er wildert in ihm, er wird von ihm getragen und mitgerissen, er vervielfacht sich in ihm wie das Rumoren der Organe.« Der Lesende gilt de Certeau metaphorisch nicht nur als »Produzent von Gärten, in denen eine Welt zusammengetragen und verkleinert wird«, sondern auch als »Robinson einer zu entdeckenden Insel«, und hier schließt sich der Kreis zum Lesenden als Reisenden.

Reisende als Schreibende. Laurence Sternes Reisender gibt vor, seine Vorrede in einem Einspänner zu verfassen. Friedrich Nicolai in

Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz (1783) betont, dass er mit Hilfe einer besonderen Feder – sie »enthielt beständig Tinte« – auch während der Fahrt in der Kutsche seine Eindrücke zu Papier bringen kann. Ambulant zu schreiben, Beobachtungen ebenso wie Ideen unterwegs ›festzuhalten‹, verlangt ebenso nach portablen Medien, die von Feder und Tinte oder Bleistift bis zum Mobiltelefon reichen, wie nach Behältnissen, in dem diese verstaut werden können. Eine Kulturgeschichte der mobilen Aufzeichnungsszene hätte zu zeigen, auf welche Weise sich spezifische kulturelle Praxen der Fortbe-wegung auf die Organisation und den Vollzug des Schreibens ausge-wirkt haben. Der dem Reisen gemäße Aufschreibeakt ist in der Regel das Notieren, das von Roland Barthes als »Außen-Aktivität« bestimmt wird, es finde in Cafés oder auf der Straße statt. Mit der »Mikrotechnik der NOTATIO« verbindet Barthes die Aufgabe des Schriftstellers, einen »Span des Gegenwärtigen« auflesen oder erbeuten zu wollen, wozu das richtige Heft und der richtige Stift von Bedeutung seien, aber auch: Bereitschaft. Dazu bedürfe es verschiedener Bedingungen: zum einen der, viel Zeit zu haben, zum anderen der einer leider nur schwer zu erreichenden »Caféterrassenexistenz«, die eine ›gleich-schwebende Aufmerksamkeit‹ möglich mache. Letztere scheint für einige Autoren weniger mit der Körperhaltung des Sitzens, sondern eher mit der des Gehens verwandt. »Denken und Gehen, Sinnen und

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Schreiten«, so Robert Walser in seinem unveröffentlichten Prosastück Der Student, »Dichten und Laufen waren verwandt miteinander.« Michel Butor reist, um zu schreiben, »und das nicht nur, um Themen zu finden […], sondern weil für mich reisen, zumindest eine bestimmte Art des Reisens, Schreiben heißt (und zunächst, weil es Lesen heißt), und Schreiben Reisen heißt.« Die Verwandtschaftsbeziehung zwi-schen Reisen und Schreiben führt Butor zu den Anfängen unserer Kultur zurück, die in die Zeit des nomadischen Umherschweifens zurückreichen. Der von Jägervölkern durchquerte Raum wird in dop-pelter Weise vermessen. Man hinterlässt Spuren und wird zugleich zum Spurenleser: »die Erde wird zu einer Buchseite, und man hin-terlässt seinen Abdruck darauf. Das Umherschweifen ist dann durch unverrückbare Zeichen, durch Buchstaben gekennzeichnet.« Das Schreiben des Reisenden und das Reisen des Schreibenden – kaum sind diese Aspekte voneinander zu trennen. Auch für Charles Grivel bedeutet die Reise »recht eigentlich Schreiben«. Der Ortswechsel, das Umherschweifen-Lassen des Auges als Akt des Sehens von Fremdem bzw. Neuem, der Abstand zu den Zeichen, den der Eintritt ins Fremde markiert, das Nichtwissen, dem man sich aussetzt und das zum »Beweggrund für den Schreibakt« werden kann, die Bewegung (des Körpers), das Rauschhafte und der Zustand der Erregung – diese sind Momente, die Reisen und Schreiben miteinander verbinden und die Reise zu einem »Ereignis der Feder« werden lassen.

Reisegattungen. Geschrieben werden Notizen, Briefe, Postkarten, Tagebücher, Berichte, Gedichte, Romane, Novellen – und, ganz

wichtig, Märchen. Im Märchen sind die meisten (alle?) Aspekte ver-sammelt, die Reisen und Reiseliteratur auszeichnen. Auf wunderbare Weise hat dies Felicitas Hoppe in Sieben Schätze beschrieben. Ihr geben wir das letzte Wort: »›Es war einmal ein Königssohn, dem gefiels nicht mehr daheim in seines Vaters Haus, und weil er vor nichts Furcht hatte, so dachte er: ›Ich will in die weite Welt gehen, da wird mir Zeit und Weile nicht lang, und ich werde wunderliche Dinge genug sehen.‹ Also nahm er von seinen Eltern Abschied und ging fort, immerzu, vom Morgen bis zum Abend, und es war ihm einerlei, wo hinaus ihn der Weg führte.’ Lesen wir Märchen als das, was sie auch sind, nämlich

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schlichte Reiseliteratur, stellen wir fest, dass Übermut oder Überdruss der erste Motor der Reise sind. Naivität, Sorglosigkeit, Unwissenheit und Neugier sind ihre unbedingten Grundvoraussetzungen. Die Sehnsucht nach Abenteuern und wunderlichen Dingen ist die Flucht vor der Langeweile. Für andere Märchenhelden dagegen ist sie Flucht aus der existenziellen Not des Alltags, eine Art Zwangsverschickung. In jedem Fall gilt, dass nur wer furchtlos ist und sein Ziel nicht kennt, sich erfolgreich auf den Weg durch den Wald machen kann. Jede allzu klare Vorstellung von dem, was zu erwarten, zu sehen und zu entde-cken wäre, ist dem Reisen hinderlich.«

Weiterführende Literatur

Bachtin, Michail M.: Chronotopos, 2008 (russ. 1975).Barthes, R.: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und

1979–1980, 2008 (frz. 2003).Bausinger, H./K. Beyrer/G. Korff (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen

Tourismus, 1999.Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung, 1959.Butor, M.: Reisen und Schreiben. In: Ders.: Die unendliche Schrift. Aufsätze über Literatur

und Malerei, 1991 (frz. 1972).Certeau, M. de: Die Kunst des Handelns, 1988 (frz. 1980).Grivel, C.: Reise-Schreiben, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.): Materialität der

Kommunikation, 1988.Debureaux, M.: Die Kunst, andere mit seinen Reiseberichten zu langweilen, 2017

(frz. 2015).Frank, M.: Die unendliche Fahrt. Zur Pathogenese der Moderne, 3. überarb. u. erw.

Aufl. 2016.Greenblatt, S.: Marvelous Posessions. The Wonder of the New World, 1991.Grivel, C.: Reise-Schreiben. In: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.): Materialität der

Kommunikation, 1988.Hoppe, F.: Sieben Schätze. Augsburger Poetikvorlesungen, 2009.Koschorke, A.: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literari-

schen Landschaftsbildern, 1990.Schaik, C.v./K. Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolu-

tion verrät, 2016.

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Schildknecht, C.: Reisen. In: R. Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 2007.

Schivelbusch, W.: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, 1989.

Simmel, G.: Philosophie des Abenteuers, in: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Band 1, 2001.