Kirchenbau in der Diözese Innsbruck - Tyrolia-Verlag · Harmonie“.4 Der Religionswissenschaftler...
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Kirchenbau in der Diözese Innsbruck
Kirchenbauten sind Seismographen der Vorstellungen und Empfi n-dungen der Zeit, aus der sie stammen. Weit über die Religion oder Konfession hinaus, für deren Gottesdienst sie geschaffen wurden, sind sie kunst- und kulturgeschichtliche Dokumente ersten Ranges. In diesem Buch werden 12 herausragende Beispiele von Neu- und Erweiterungsbauten von Pfarrkirchen in der Diözese Innsbruck vorgestellt, die nach 1958 entstanden sind. In den Bauten von Clemens Holzmeister, Josef Lackner und anderen zeigt sich, wie in Tirol die liturgischen Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils mit den Strömungen der modernen Architektur und der Sensibilität der Tiroler Bevölkerung in Einklang gebracht wurden.
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Martin Kapferer / Rudolf Silberberger (Hrsg.)
KIRCHENBAUin der Diözese Innsbruck
1958 bis heute. Zwölf Beispiele
Mit Fotografien von Rupert Larl,Beiträgen von Paul Naredi-Rainer und Manfred Scheuer
und Planzeichnungen von Martin Moser
Tyrolia-Verlag . Innsbruck-Wien
© 2016 Verlagsanstalt Tyrolia, InnsbruckGrafische Gestaltung und Layout: medien design werkstatt stefan bucher, AbsamDruck und Bindung: Druckerei Theiss, St. StefanISBN 978-3-7022-3529-1E-Mail: [email protected]: www.tyrolia-verlag.at
InhaltVorwort der Herausgeber 7 Paul Naredi-Rainer Wo Gott nicht wohnt, aber erwartet wird – Kirchen bauen für die Kirche 9
Manfred Scheuer Orientierung und Obdach für die Seele – Sakralräume gestern und heute 19
Ausgewählte Kirchenbauten in der Diözese Innsbruckbeschrieben von Martin Kapferer (MK) und Rudolf Silberberger (RS)
Wattens, Marienkirche (Karl und Charlotte Pfeiler,1958) 27Innsbruck, Neu-Arzl, Piuskirche (Josef Lackner, 1960) 35Landeck-Bruggen, Kirche zum Hl. Josef (Norbert Heltschl, 1963) 43Innsbruck-Allerheiligen, Allerheiligenkirche (Clemens Holzmeister, 1965) 51Lechaschau, Heilig-Geist-Kirche (Hans und Ingo Fessler, 1967) 59Navis, St.-Christophorus-Kirche (Clemens Holzmeister, 1967) 67Völs, Emmauskirche (Josef Lackner, 1967) 75St. Johann im Walde, Kirche zum Hl. Johannes dem Täufer (Hermann Hanak, 1968) 83Telfs-St. Georgen, Auferstehungskirche (Anton Klieber, 1975) 91Neu-Rum, Auferstehungskirche (Horst H. Parson, 1978) 99Hall-Schönegg, Franziskuskirche (Ernst Bliem / Helmut Dreger, 1984) 107Innsbruck-Kranebitten, Kirche Mariä Heimsuchung(Markus Illmer / Günther Tautschnig, 2002) 115
Architekten/Architektin 123Mitarbeiter 127
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Vorwort der HerausgeberIm Jahr 2014 feierte die Diözese Innsbruck ihr 50-jähriges Bestehen. Der Leiter des Bischöflichen Bauamtes Ing. Klaus Lechner war Initiator dieser Publikation über moderne Kirchenbauten der letzten Jahrzehnte. Ziel war kein vollständiger Katalog, sondern eine repräsentative Auswahl von Kirchenbauten aus sechs Jahrzehnten, sodass der Titel historisch korrekt, wenngleich sperrig „Kirchenbau im Tiroler Teil der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch und der Diözese Innsbruck“ heißen müsste. Die Aus-wahl fiel auf zwölf Kirchenbauten der Jahre 1958 bis 2002, die von den Herausgebern Martin Kapfe-rer und Rudolf Silberberger jeweils mit einem kurzen Text umrissen werden. Als Pfarrkirchen sind diese jeweils der Mittelpunkt der Gemeinde und deshalb meist eingebunden in ein Pfarrzentrum, sodass Raum für das Heilige wie dessen Wirken im täglichen Leben geschaffen ist.
Der Fotograf Rupert Larl hat in seinen Aufnahmen die ausgewählten Kirchenbauten nicht nur doku-mentiert, sondern deren dreidimensionale Gestalt und spezifische Ausstrahlung mit den Mitteln foto-grafischer Bildsprache jeweils auch aussagekräftig interpretiert. Univ.-Prof. Paul Naredi-Rainer wagt unter dem Titel „Wo Gott nicht wohnt, aber erwartet wird. Kirchen bauen für die Kirche“ als Kunsthistoriker einen Parforceritt durch die Geschichte der für den Kult be-stimmten Architektur und eröffnet Pfade zum entschlüsselbaren Sinn ihrer Formen. Zudem half er bei der Auswahl der Bilder und der Erstellung des Layouts.Bischof Manfred Scheuer legt unter dem pragmatischen Titel „Orientierung und Obdach für die Seele“ Sinngehalt von Kirchenbauten in theologischem wie gesellschaftlichen Kontext dar. Ing. Martin Moser vom Bischöflichen Bauamt organisierte die Baupläne der Kirchen und brachte diese in eine einheitliche, ästhetisch ansprechende und gut verstehbare Form.Klaus Lechner lukrierte die nötigen Mittel und zog die organisatorischen Fäden, sodass aus der Idee ein fertiges Werk werden konnte.
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Paul Naredi-Rainer
Wo Gott nicht wohnt, aber erwartet wirdKirchen bauen für die Kirche
Im Schutz vor Wind und Wetter, im Schaffen von Wohnraum als Voraussetzung des Gemeinschafts-lebens besteht die elementare Aufgabe von Architektur. Ihre Wurzeln aber liegen im Kultischen und sie zielte von jeher auf Dauerhaftigkeit. Indem sie die Erinnerung an Verstorbene oder bedeutsame Ereignisse bewahrt und lokalisiert, sichert Architektur den Bestand der Gemeinschaft.1 Deren Wohl und Wehe hing für die Menschen vergangener Zeiten von der Verbindung mit den Göttern ab. Den Rahmen für die Pflege dieser Verbindung bildeten die in einem abgegrenzten Bereich (témenos; vom griechischen témnein = schneiden) gelegenen Tempel, deren Gestalt unterschiedlichste Ausprägun-gen erfahren hat. Immer aber waren diese einer Gottheit geweihten Kultbauten als heilige Stätte, als fanum, aus dem übrigen nicht-heiligen Raum, dem pro-fanum, ausgegrenzt und umfriedet. Dem räumlichen Übergang in den Tempelbezirk kam schon frühzeitig eine besondere Bedeutung für Reli-gion und Ritual zu.2
Der antike Tempel3 hatte primär die Aufgabe, Haus der Gottheit zu sein. In seinem Inneren enthielt jeder einzelne Tempel das Kultbild eines bestimmten der vielen Götter – das freilich nicht für den Gott selbst gehalten wurde. Der Altar, an dem die Opfer vollzogen wurden, befand sich nicht in seinem nur den Priestern zugänglichen Inneren, sondern vor dem Tempel. Durch Säulenkranz, Giebel und bildlichen Schmuck ausgezeichnet und durch seinen Stufenunterbau aus dem profanen Bereich her-ausgehoben, verkörpert der antike Tempel „bei aller Monumentalität nie etwas Kolossales, Monströ-ses, den Menschen Überwältigendes“, sondern eine „auf den Menschen bezogene, aus ihm wirkende Harmonie“.4 Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade kommt zum Schluss, dass der Tempel letztlich als irdische Nachbildung eines transzendenten Modells verstanden wurde, als Haus der Götter, dessen Heiligkeit jeder irdischen Verderbnis entzogen sei.5 Auch der jüdische Tempel ist von der Vorstellung geprägt, Kopie eines himmlischen Archetyps zu sein, dessen Bauplan Jahwe zu Beginn der Zeiten erschaffen hat.6 Der von Salomo erbaute Tempel in Je-rusalem7 gilt jedoch nicht exklusiv als Wohnung des einen Gottes, der keineswegs so ortsgebunden
1 Hans Gerhard Evers: Tod, Macht und Raum als Bereiche der Architektur, München ²1970 (zuerst 1939); Friedrich Möbius: Wohnung, Tempel, Gotteshaus. Beobachtungen zur Anthropologie religiösen Verhaltens, Regensburg 20082 Arnold van Gennep: Übergangsriten (1986), Frankfurt ³20053 Christoph Höcker: Lexikon antiker Architektur, Stuttgart 2004, 239–2454 Heinz Kähler: Der griechische Tempel. Wesen und Gestalt, Frankfurt-Berlin-Wien ²1981, 205 Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen (1957), Frankfurt 1998, 55 ff.6 Exodus 25,8–9; 1 Chronik 28,19; Weisheit 9,87 Wolfgang Zwickel: Der salomonische Tempel, Mainz 1999
ist, wie es die heidnischen Götter waren. Jahwe kann den Tempel auch verlassen und ist dort, wo sein Volk ist.8 Gleichwohl ist der Tempel ein Ort besonderer Heiligkeit, der in architektonisch abgestufter Steigerung im würfelförmigen, unbeleuchteten Allerheiligsten gipfelt, das nur einmal im Jahr vom Hohepriester betreten werden durfte. In ihm befand sich bis zur Zerstörung durch die Babylonier die Bundeslade mit den Gesetzestafeln des Moses, die als leerer Thron aufgefasst wurde, auf dem sich die Schekhina – die Wolke der Gegenwart Gottes – niederlässt.9 Neben dem Tempelkult kannte das Judentum auch die kultlose Versammlung in Synagogen (vom grie-chischen synagogein = sich versammeln), die allen offen standen. Die Synagoge ist nicht mehr das Haus Gottes, sondern Haus der Gemeinde. Nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer 70 n. Chr. wird die Synagoge dennoch allmählich auch als heiliger Ort verstanden, indem sie – vorläufig – den Tempel ersetzt;10 an ihrer gegen Jerusalem gerichteten Vorderwand werden in dem als „Heilige Lade“ bezeichneten Tora-Schrein heute die Tora-Rollen aufbewahrt.Von der Synagoge, nicht vom feierlichen Tempelkult, haben die christliche Eucharistiefeier und später auch der islamische Gottesdienst in den Moscheen ihren Ausgang genommen.11 Hatten die ersten Christen sich auch in Synagogen getroffen, so erforderte die zunehmende Distanz zu den Juden bald eigene Räume für die Versammlung, die ecclesia (vom griechischen ekklesia = Versammlung) genannt wurde. Die zunächst einfachen Räume in Privathäusern besaßen unterschiedlichste Formen. Allmäh-lich wuchs die Kirche über die Hausgemeinde hinaus und schuf eigene Gebäude. Seit etwa dem 3. Jahrhundert wurde ecclesia zum Doppelbegriff, der auch den Raum bezeichnete, in dem sich die Gemeinde versammelte. Diese zweifache Bedeutung der ecclesia im geistigen wie im materiellen Sinn setzte sich später in den romanischen Sprachen fort. Umgekehrt besitzt auch das deutsche Wort Kirche, das wie seine Entsprechungen in anderen germanischen wie slawischen Sprachen auf das griechische oikía kyriake (= Haus des Herrn) zurückgeht, ebenfalls diese doppelte, im frühen Christentum sowohl den Bau als auch die Glaubensgemeinschaft erfassende Bedeutung. Obwohl Kirche im heute üblichen Sprachgebrauch also historisch wie philologisch begründet als Gotteshaus verstanden wird, besteht ein grundsätzlicher Unterschied zu den jüdischen wie heidnischen Vorstellungen vom Tempel als einem Haus, das als Wohnung Gottes primär ihm zugeeignet und vorbehalten ist.12 Die Abgrenzung der frü-hen Christen vom Tempel ist in einer Reihe biblischer Aussagen theologisch deutlich begründet, so in der Rede des Paulus auf dem Areopag in Athen: „Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand geschaffen sind.“13
8 Yves M.-J. Congar OP: Das Mysterium des Tempels, Salzburg 1960, 23 ff.9 Joseph Kardinal Ratzinger: Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg-Basel-Wien ²2000, 5710 Hans Bernhard Meyer: Was Kirchenbau bedeutet. Ein Führer zu Sinn, Geschichte und Gegenwart, Freiburg-Basel-Wien 1984, 29 ff.11 Günter Rombold: Anmerkungen zum Problem des Heiligen und des Profanen, in: ders.: Kirchen für die Zukunft bauen. Beiträge zum neuen Kirchenverständnis, Wien-Freiburg-Basel 1969, 69–95, hier 7812 Adolf Adam: Wo sich Gottes Volk versammelt. Gestalt und Symbolik des Kirchenbaus, Freiburg-Basel-Wien 1984, 88 f.13 Apostelgeschichte 17,24; vgl. Friedrich Wilhelm Deichmann: Vom Tempel zur Kirche, in: Mullus. Festschrift für Theodor Klauser (= Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg. Bd.1), Münster 1964, 52–59
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Der eigentliche Tempel, so Paulus, sei vielmehr die Christengemeinde.14 Und er ist heilig, bezeichnet doch Christus selbst seinen Leib als Tempel.15 Die metaphorische Deutung der Kirche als Tempel,16 in der architektonische Elemente nur allegori-schen Charakter besitzen – indem etwa Apostel und Propheten als Fundament bezeichnet werden, die Gläubigen als lebendige Steine und Christus selbst als Schlussstein17 –, geht einher mit einer grund-sätzlichen Distanzierung des frühen Christentums von der antiken Tempel-Vorstellung. Das erklärt auch, warum sich die ersten öffentlichen Kultbauten des Christentums nach seiner offiziellen Anerkennung im frühen 4. Jahrhundert nicht an den Formen des klassischen Tempels, sondern an einem Typus des spätantiken Profanbaus, der römischen Basilika, orientierten, deren durch Säulenreihen abgetrennte Seitenschiffe das Zirkulieren der Eintretenden ermöglichte. Dass sich der in eine Apsis mündende basi-likale Langraum18 ungeachtet aller Variationen und stilistischen Entwicklungen über viele Jahrhunderte als eine der erfolgreichsten Erfindungen der Architekturgeschichte erweisen sollte, lag wohl nicht nur an seiner Praktikabilität, sondern vor allem auch an der suggestiven Wirkung19 dieser auf den Altar bezogenen Raumschöpfung, in der das christliche Heilsversprechen und der Weg dazu nicht nur sym-bolisch abgebildet, sondern auch sinnlich erfahrbar werden. Der Altar, als Opferstätte von jeher ein Ort, an dem sich Menschen und Gottheit treffen,20 wird auch im christlichen Kult durch die Wandlung der Opfergaben Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi zum optischen und geistigen Zentrum des Kirchenraums.21 Früh schon gab es allerdings Bestrebungen, den Raum des Altars nur dem Klerus vorzubehalten. Die im Mittelalter durch Lettner monumentalisierte und in der orthodoxen Kirche heute noch übliche Scheidung von Klerus- und Gemeinderaum schafft einen herausgehobenen Bereich, der ein höheres Maß an Heiligkeit beansprucht. Schon Eusebius von Caesarea (260–339) hatte den Altar als „Allerheiligstes“ bezeichnet und berichtet, dass dieser Bezirk mit Holzgittern abgeschrankt war, „damit die Menge ihn nicht betrete“.22 Damit wird deutlich, dass sich die frühchristliche Auffassung der Kirche von einem profanen, nur der Versammlung dienenden Raum nicht durchsetzen konnte. Die Abtrennung heiliger Bezirke gehört zur Anthropogenese des Menschen, dem Gott geweihten ausgegrenzten sacrum steht das profanum (= das vor dem Heiligen Liegende) gegenüber; beide bedingen einander.23
14 1 Korinther 3,1715 Johannes 2,19–2316 Ekkart Sauser: Symbolik des katholischen Kirchengebäudes, in: Josef Andreas Jungmann: Symbolik der katholischen Kirche, Stuttgart 1960, 53–95, bes. 57 ff.17 Epheser 2,19–22; 1 Petrus 2,518 Ernst Seidl (Hrsg.): Lexikon der Bautypen, Stuttgart 2006, 57–63 (Lorenz Enderlein)19 Jörg Kurt Grütter: Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung, Wiesbaden 2015, 135 ff.20 Carl Heinz Ratschow: Altar I (religionsgeschichtlich), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 2, Berlin-New York 1978, 305–30821 Joseph Braun S.J.: Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung, 2 Bde., München 1924; Adam 1984 (Anm. 12), 93 ff.22 Eusebius von Caesarea: Kirchengeschichte X, 4,44 (hrsg. von Heinrich Kraft, München ³1989, 423)23 Albert Gerhards: Wo Gott und die Welt sich begegnen. Kirchenräume verstehen, Kevelaer 2011, 29 f.
Was ist heilig? Diese elementare Frage, die sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht,24 kann hier nur insoweit gestreift werden, als sie zur Erklärung der Besonderheit von Sakralbauten un-abdingbar ist25 (wobei der neulateinische, erst seit dem 19. Jahrhundert übliche Begriff des Sakralen etwas unscharf alles einen religiösen Kult Betreffende, kirchlichen Zwecken Dienende bezeichnet und nicht ganz deckungsgleich mit heilig ist). In seinem berühmten, überaus einflussreichen Buch hat Rudolf Otto26 das Heilige als das Numinose, außerhalb rationaler Kategorien Liegende bezeichnet, an dem sich Momente des tremendum (des Schauervollen), der majestas (des Übermächtigen), des fascinans (des Anziehenden, Bestrickenden, Faszinierenden) wie auch des augustum (des Erhabenen) zeigen. Es entziehe sich letztlich unserem begrifflichen Denken, nicht aber unserem Gefühl. Von Otto beeinflusst, erklärt der Religionsphänomenologe Gerardus van der Leeuw „Macht“ zum Schlüsselbe-griff des Heiligen: „Die von der Macht erfüllten Gegenstände und Personen haben ein Wesen für sich, das wir heilig nennen.“27 Der „heilige Raum“ sei demnach „ein Ort, der zur Stätte wird, indem sich an ihm die Wirkung der Macht wiederholt oder vom Menschen wiederholt wird.“28 Sakrale Bauten sind infolgedessen oft an sogenannten „heiligen Orten“ errichtet worden, an denen sich das Heilige durch besondere Ereignisse oder Gegenstände manifestiert hat. Für den christlichen Philosophen Josef Pie-per ist der entscheidende – nicht unwidersprochen gebliebene29 – Punkt, an dem aus etwas Profanem Heiliges wird, die Konsekration, die Weihe.30 Mit welchen Mitteln kann nun Architektur – wenn überhaupt – Heiligkeit sicht- und erfahrbar machen?31 In der Geschichte der Architektur, die sich zu erheblichen Teilen als Geschichte der Sakralbaukunst erweist,32 findet sich eine Fülle einander ähnlicher wie divergierender Gestaltungen für den Kirchen-bau, die jeweils nicht nur das Ergebnis komplexer Zusammenhänge zwischen politischen und gesell-schaftlichen Entwicklungen, technischen Möglichkeiten, Auftraggeber-Intentionen und künstlerischem
24 Carsten Colpe (Hrsg.): Die Diskussion um das „Heilige“, Darmstadt 1977; Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hrsg.): Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt 198725 Klemens Richter: Heilige Räume. Eine Kritik aus katholischer Perspektive, in: Dirk Ansorge / Christoph Ingenhoven / Jürgen Overdick (Hrsg.): Raumerfahrungen. Raum und Transzendenz. Beiträge zum Gespräch zwischen Theologie, Philosophie und Architektur, Bd. I, Münster 1999, 82–101; Carola Jäggi: Die Kirche als heiliger Raum: Zur Geschichte eines Paradoxons, in: Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks (Hrsg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007, 75–8826 Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917; seither unzählige Neuauflagen, zuletzt München 201427 Gerardus van der Leeuw: Phänomenologie der Religion, Tübingen 41977, 9 (zuerst 1933)28 Ebda. 44629 Z. B. Richter 1999 (Anm. 25), 9130 Josef Pieper: Was ist eine Kirche? Vor-Überlegungen zum Thema „Sakralbau“, in: Hochland 63/1971, 115–130; ders.: Was heißt „sakral“? Klärungsversuche, Ostfildern bei Stuttgart 1988, bes. 75 ff.; vgl. Thomas Sternberg: Suche nach einer neuen Sakralität? Über den Kirchenraum und seine Bedeutung, in: Dirk Ansorge / Christoph Ingenhoven / Jürgen Overdick (Hrsg.): Raumerfahrungen. Raum und Transzendenz. Beiträge zum Gespräch zwischen Theologie, Philosophie und Architektur, Bd. I, Münster 1999, 62–8131 Carola Jäggi: „Heilige Räume“. Architektur und Sakralität – Geschichte einer Zuschreibung, in: Angelika Nollert / Matthias Volkenandt / Rut Maria Gollan / Eckhard Frick (Hrsg.): Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, Regensburg 2011, 23–3032 Patrick Nuttgens: Die Geschichte der Architektur, Berlin 2002; Nikolaus Pevsner: Europäische Architektur von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 92008 (zuerst engl. 1943)
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Wollen sind, sondern auch Ausdruck gewandelter Gottesbilder und damit unterschiedlicher Manifes-tationen des Heiligen.33 So unterscheiden sich beispielsweise die in der Regel dunklen Innenräume der Romanik grundsätzlich von dem lichtdurchfluteten Inneren gotischer Kathedralen. Es ist gewiss übertrieben, die vom französischen Abt Suger, dem Bauherrn der Kathedrale von St. Denis, ausführ-lich beschriebene „Licht-Metaphysik“, die vom göttlichen Glanz und der Erleuchtung der Gläubigen handelt, als alleiniges auslösendes Moment für die Entstehung gotischer Architektur anzunehmen.34 Doch steht es außer Zweifel, dass die – erst durch maßgebliche Fortschritte in der Bautechnik möglich gewordenen35 – leuchtenden Glaswände der Gotik eben jene Vorstellungen von himmlischem Licht evozieren und damit das Kircheninnere zumindest als „geheiligten“ Raum36 erscheinen lassen. Auf das Himmelsgewölbe nicht nur metaphorisch anzuspielen, sondern es unmittelbar zur Anschauung zu bringen, ist kein Architekturmotiv besser geeignet als die Kuppel. Ebenso wie das archetypische Motiv des Turms hebt die Kuppel ein Bauwerk markant aus seiner Umgebung heraus und verkörpert so Macht. Im Inneren aber wird die Kuppel zum Bild des Himmels,37 indem sie – wie in der byzantinischen Kunst – mit Goldmosaiken überzogen irreale Transzendenz ausstrahlt oder – wie in barocken Kirchen – mit den illusionistischen Mitteln der Freskomalerei die Raumgrenzen aufhebt und einen offenen, von Engeln und Heiligen erfüllten Wolkenhimmel über den Kirchenraum hereinbrechen lässt.38 Die Kirche wird so zum „irdischen Himmel“. Den theologischen Intentionen der Gegenreformation entsprechend wird im Barock der mit Gold, Stuck und Marmor prachtvoll und festlich gestaltete Kirchenraum als „Wohnung Gottes“ suggeriert – eine Vorstellung, die zwar vom frühen Christentum und in divergieren-der Deutlichkeit wieder von den Reformatoren Luther, Calvin und Zwingli abgelehnt wurde,39 sich aber durch das Verständnis der Realpräsenz Christi in der Eucharistie allmählich herausgebildet und in den zur Aufbewahrung der geweihten Hostien errichteten Sakramentshäusern bzw. Tabernakeln sichtbaren Ausdruck gefunden hatte.40 Das in katholischen Kirchen spätestens seit der Barockzeit fest mit dem Al-tar verbundene Tabernakel, das erst seit dem II. Vatikanischen Konzil wieder vom Altar getrennt werden soll,41 ist nicht nur Ort der Anbetung, sondern verweist auch auf die Bundeslade des Alten Testaments. Die theologisch begründete Rückbeziehung des christlichen Kirchenbaus auf den Tempel Salomos findet ihre typologische Entsprechung im Verweis auf das Himmlische Jerusalem, das Johannes in der Apokalypse beschrieben hat.42 Die christliche Kirche soll demnach den alttestamentlichen Tempel
33 Edward Norman: Das Haus Gottes. Die Geschichte der christlichen Kirchen, Stuttgart-Berlin-Köln 1990; Johann Hinrich Claussen: Gottes Häuser oder Die Kunst, Kirchen zu bauen und zu verstehen. Vom frühen Christentum bis heute, München 201034 Otto von Simson: Die gotische Kathedrale, Darmstadt 31979 (zuerst engl. 1956); dagegen Christoph Markschies: Gibt es eine „Theo- logie der gotischen Kathedrale“? Nochmals: Suger von Saint-Denis und Sankt Dionys vom Areopag, Heidelberg 199535 Günther Binding: Was ist Gotik?, Darmstadt 200036 Franz-Heinrich Beyer: Geheiligte Räume. Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes, Darmstadt 4201337 E. Baldwin Smith: The Dome. A Study in the History of Ideas, Princeton 195038 Werner Roemer: Abbild des Himmels. Zur Theologie des Kirchengebäudes, Kevelaer 2011, 105 ff.39 Beyer 2013 (Anm. 36), 80 ff.40 Otto Nußbaum: Die Aufbewahrung der Eucharistie, Bonn 197941 Adam 1984 (Anm. 12), 112 ff.42 Offenbarung 21; vgl. Ezechiel 48,30–35
steigern und zugleich das Himmlische Jerusalem vorbilden. Diese von zahlreichen Theologen über Jahrhunderte immer wieder formulierte Verbindung war architektonisch aber nur schwer umzusetzen: Einerseits entsprach die aus biblischen Beschreibungen allenfalls rudimentär bekannte kastenförmige Architektur des Tempels von Jerusalem43 kaum den praktischen und liturgischen Anforderungen einer christlichen Kirche, und zudem suggerierte der (seinerseits auf byzantinische Vorbilder zurückgehende) islamische Felsendom,44 der heute noch an der Stelle des zerstörten jüdischen Tempels steht und von den Kreuzfahrern und Pilgern des Mittelalters für den Salomonischen Tempel gehalten wurde, ein völ-lig anderes Bild, das allerdings durchaus architektonische Folgen zeitigte, zumal in den Zentralbauten der italienischen Renaissance.45 Andererseits konnte auch die Vision der würfelförmigen, von goldenen Mauern umgebenen Himmelsstadt nicht als architektonisches Modell für den Kirchenbau dienen, son-dern nur Ausgangspunkt unterschiedlichster Assoziationen sein.46 Die Kunsthistoriker Hans Sedlmayr47 und, überzeugender noch, Günter Bandmann48 haben dargelegt, dass mittelalterliche Kirchenbauten in mannigfacher und anschaulicher Weise auf das Himmlische Jerusalem anspielen, indem sie – zumal in der Romanik – durch Türme, Giebel und andere architektonische Motive Bilder von Stadt evozieren, mit der dann die Himmelsstadt gemeint ist, oder – dies gilt vor allem für die Gotik – deren visionären Charakter durch Immaterialität, Licht und Transparenz zur Anschauung bringen. Auf das Himmlische Jerusalem spielen auch zahlreiche Jubel- und Kirchweihpredigten des Barock an,49 ohne allerdings konkret auf die Gestaltung des Kirchengebäudes bezogen zu sein; die in solchen Texten noch häufigeren Bezugnahmen auf den Salomonischen Tempel aber finden durchaus ihre Entspre-chung im Vorhangmotiv an Chorbögen und Altären barocker Kirchen oder in deren bisweilen als neue Bundeslade bezeichneten, üppig inszenierten Reliquienschreinen. Nicht zuletzt dienten Salomo und sein Tempelbau als Symbol für die Einheit von Priestertum und Herrschertum, wie es besonders die gefürsteten und reichsunmittelbaren Abteien verkörperten.50 Die grundlegende Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Situation durch Aufklärung, Französische Revolution und Säkularisierung hatte auch und gerade für den Kirchenbau weitreichende Folgen. Auf der Suche nach einem spezifisch christlichen Stil fanden Romantik und Historismus in den Stilen des Mittelalters, vor allem in der Gotik, eine Formensprache,51 die im deutschsprachigen Raum
43 1 Könige 5,15–9,9; 2 Chronik 2–5; vgl. Zwickel 1999 (Anm. 7)44 Oleg Grabar: The Dome of the Rock, Cambridge/Mass.-London 200645 Paul von Naredi-Rainer: Salomos Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer, Köln 199446 La dimora di Dio con gli uomini. Immagini della Gerusalemme celeste dal III al XIV secolo, hrsg. von Maria Luisa Gatti Perer, Mailand 1983; Bianca Kühnel: From the Earthly to the Heavenly Jerusalem. Representations oft he Holy City in Christian Art of the First Millenium, Rom-Freiburg-Wien 198747 Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale (1950), Graz 21976, 95 ff.48 Günter Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger (1951), Berlin 111998; ders.: Die vorgotische Kirche als Himmels- stadt, in: Frühmittelalterliche Studien 61972, 67–9349 Peter Hawel: Der spätbarocke Kirchenbau und seine theologische Bedeutung. Ein Beitrag zur Ikonologie der christlichen Sakral- architektur, Würzburg 198750 Ebda. 29251 Norman 1990 (Anm. 33), 252 ff.
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sowohl von der evangelischen (Eisenacher Regulativ von 1861) als auch von der katholischen Kirche (vom Kölner Kardinal noch 1912) als dem christlichen Glauben besonders angemessen empfohlen wurde.52 Gleichzeitig allerdings hatte man in Theatern oder Museen, ja sogar in Bahnhöfen oder Bankbauten Elemente des Kirchenbaus übernommen und damit dessen Exklusivität in Frage gestellt. Vor allem aber wurde die private Andacht, die seit dem Mittelalter immer mehr an Bedeutung gewon-nen hatte, nun auf die Kunstbetrachtung projiziert und diese mit religiöser Empfindung verglichen. Dementsprechend erhielt das Museum als neue Bauaufgabe im 19. Jahrhundert den Charakter des Weihevollen, der bis in die Gegenwart eine bedeutende Rolle spielt.53 Damit haben die Kirchenbauten letztlich das Monopol auf Sakralität54 verloren. Bezeichnenderweise gelten heute für Architekten neben Museumsbauten immer noch auch Kirchen-bauten zu den interessantesten Bauaufgaben. Die neuen Baumaterialien und -techniken hatten schon im 19. Jahrhundert völlig neue Möglichkeiten eröffnet, die im Kirchenbau aber erst zögerlich zum Tragen kamen. Es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben der Abkehr vom Historismus schließlich ein neues, von der Jugend und vor allem von der liturgischen Bewegung55 ausgehendes Kirchenbild, das unter dem Motto einer „christozentrischen Kirchenkunst“56 dem Kirchenbau gänzlich neue Mög-lichkeiten eröffnete. Vor allem sollte die Trennung von Priester- und Laienraum aufgehoben werden, um die Feier der Gemeinde, und mit ihr den Altar, ins Zentrum des liturgischen Geschehens zu rücken. Architekten wie Rudolf Schwarz57 auf katholischer oder, früher noch, Otto Bartning58 auf evangelischer Seite äußerten sich programmatisch dazu und entwarfen Kirchenbauten, die den neuen theologischen und liturgischen Ideen Rechnung zu tragen versuchten.59 Nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Bevölkerungsverschiebungen und ungeheure Zerstörungen zumal im deutschsprachigen Raum zunächst das Schaffen von Wohnraum nötig gemacht hatten, wurden auch Neubauten bzw. Wiederherstellungen von Kirchen in bisher kaum gekanntem Ausmaß erforderlich. Gab es zunächst dafür kaum verbindliche theologisch-liturgische Konzepte,60 so knüpfte man in beiden großen christlichen Konfessionen doch bald an die Bemühungen um eine liturgische Erneuerung an.61 Die nachhaltigste Wirkung aber hatten die Beschlüsse des II. Vatikanischen Kon-
52 Adam 1984 (Anm. 12), 61 ff.; Meyer 1984 (Anm. 10), 69 ff.53 Paul von Naredi-Rainer: Entwurfsatlas Museumsbau, Basel-Berlin-Boston 200454 Nadine Haepke: Sakrale Inszenierungen in der zeitgenössischen Architektur, Bielefeld 201355 Josef Andreas Jungmann S.J.: Liturgische Erneuerung. Rückblick und Ausblick, Kevelaer 1962; Barbara Kahle: Deutsche Kirchenbau- kunst des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1990, 1–2056 Johannes van Acken: Christozentrische Kirchenkunst. Ein Entwurf zum liturgischen Gesamtkunstwerk, Gladbeck 192257 Rudolf Schwarz: Vom Bau der Kirche, Würzburg 1938; vgl. Wolfgang Pehnt (Hrsg.): Rudolf Schwarz. Architekt einer anderen Moderne, Ausst.-Kat. Köln u. a. 199758 Otto Bartning: Vom neuen Kirchenbau, Berlin 1919; vgl. Hans Körner: Das Heilige und die Moderne: Otto Bartning und der protestan- tische Kirchenbau der 1920er Jahre, in: In Situ 1/2009, 241–26159 Wolfgang Jean Stock: Europäischer Kirchenbau 1900–1950. Aufbruch zur Moderne (mit Beiträgen von Albert Gerhards und Horst Schwebel), München-Berlin-London-New York 200660 Hugo Schnell: Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland, München-Zürich 1973, 7661 Richtlinien für die Gestaltung des Gotteshauses aus dem Geist der römischen Liturgie (1949), abgedruckt in: Theodor Klauser: Kleine Abendländische Liturgiegeschichte, Bonn 1965, 161–172; Rummelsberger Programm (1951), abgedruckt in: Gerhard Langmaack:
zils (1963–1965),62 deren wesentlichste Richtlinie die Eignung der Kirchenbauten für die liturgischen Feiern und die tätige Teilnahme der Gläubigen daran ist. Wesentlich sei die Konzentration auf einen einzigen, frei stehenden Altar, die Trennung von Altar und Tabernakel, die Einführung eines festen Or-tes der Wortverkündung (Ambo) sowie eines festen Priestersitzes im Altarbereich; der Altarraum solle durch leichte Erhöhung oder andere geeignete Gestaltungsmittel hervorgehoben werden, doch dürfe dies nicht auf Kosten der Einheit des Kirchenraumes geschehen.63 Ist damit – so ein vielzitierter Satz schon aus dem frühen 20. Jahrhundert – die „Liturgie die Bauherrin des Kirchengebäudes“?64 Allen-falls in eingeschränktem Umfang. Die offiziellen Empfehlungen sowohl der katholischen als auch der evangelischen Kirche sprechen weder von einem spezifischen christlichen Stil noch von einer sakralen Architektur. Da die kirchlichen Bauvorschriften auch keinerlei Einschränkung hinsichtlich Form und Material erlassen, eröffnen sich weite Gestaltungsmöglichkeiten,65 die viele Parallelen zu den jeweils zeitgleichen Entwicklungen im Profanbau aufweisen und zumal in der äußeren Formgebung auch ein breites Spektrum von Assoziationsmöglichkeiten einschließen.66 Auch das in dieser Publikation vorgestellte, zwischen 1958 und 2002 entstandene Dutzend Kirchen-bauten in der vergleichsweise jungen Diözese Innsbruck spiegelt, wenn auch in eher bescheidenem Rahmen, diese Entwicklungen.67 Darunter sind auch zwei Spätwerke von Clemens Holzmeister, der schon um 1930 eine Reihe von Kirchenbauten in Österreich und Deutschland geschaffen hatte, de-ren Formensprache zwischen Tradition und Moderne changiert.68 Die gestaltprägende Einbeziehung vorhandener Vorgängerbauten bzw. stehen gebliebener barocker Kirchtürme gehört ebenso zu den Charakteristika dieser Kirchenneubauten wie die vielfältige Bezugnahme auf den städtischen und, öf-ter noch, landschaftlichen Kontext. Bemerkenswert ist auch, dass zentralisierende Grundrisse nicht erst seit dem II. Vaticanum bevorzugt werden, sondern beispielsweise von Josef Lackner auch schon zuvor variantenreich angewandt wurden.
Evangelischer Kirchenbau im 19. und 20. Jahrhundert, Kassel 1971, 286–28962 Die Konstitution des 2. Vatikanischen Konzils „Über die heilige Liturgie“ vom 4. Dezember 1963; Die Instruktion zur Durchführung der Konstitution von 1963, in: Klauser 1965 (Anm. 61), 154–16063 Meyer 1984 (Anm. 10), 82 ff.; Albert Gerhards: Räume für eine tätige Teilnahme. Katholischer Kirchenbau aus theologisch-liturgischer Sicht, in: Wolfgang Jean Stock (Hrsg.): Europäischer Kirchenbau 1950–2000, München-Berlin-London-New York 2002, 16–3364 Cornelius Gurlitt 1906 auf dem 2. Deutschen Kirchenbaukongress in Dresden; zuerst wohl schon 1894: Hans Körner / Jürgen Wiener (Hrsg.): „Liturgie als Bauherr“ ? Moderne Sakralarchitektur und ihre Ausstattung zwischen Funktion und Form, Essen 2010, 765 Schnell 1973 (Anm. 60); Kahle 1990 (Anm. 55); Stock 2002 (Anm. 62); Wolfgang Jean Stock: Architekturführer Christliche Sakral- bauten in Europa seit 1950, München-Berlin-London-New York 2004; Rudolf Stegers: Entwurfsatlas Sakralbau, Basel-Boston-Berlin 200866 Horst Schwebel (Hrsg.): Über das Erhabene im Kirchenbau, Münster 2004; Kerstin Wittmann-Englert: Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg im Allgäu 200667 Norbert Moeller: Moderner Kirchenbau in Innsbruck seit 1945 (= Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs NF 14), Innsbruck 1983; Hans Riedl: Tiroler Kirchenarchitektur seit 1945, Diss. Innsbruck 1995; vgl. Friedrich Achleitner: Künstlerische Vielfalt und typologische Strenge. Kirchenbau in Österreich zwischen 1950 und 2000, in: Stock 2002 (Anm. 63), 84–9368 Clemens Holzmeister, hg. von Georg Rigele und Georg Loewit, Innsbruck 2000, bes. 67–91 (Herbert Muck) und 92–115 (Christian Fuhrmeister).
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Auch die Tiroler Beispiele zeigen, dass Kirchenbauten mehr sind als nur Gehäuse für den christlichen Gottesdienst und auch mehr als nur kunst- und kulturgeschichtliche Dokumente. Sie können, nicht nur innerhalb konfessioneller Religiosität, als Hinweis auf und als Raum für das „ganz Andere“ jenseits des Alltags 69 verstanden werden. Dort, wo Menschen in der Hektik des Alltags innehalten und sich besin-nen können, greifen unwillkürlich die ungeschriebenen Gesetze des sakralen Raums: Die Stimme senkt sich, die Bewegungen werden gemäßigt, die Kopfbedeckungen abgenommen, die Hände ineinander verschränkt. 70 Solche Räume verfügen über eine Qualität, die magische Ergriffenheit, ehrfürchtige Distanz und Stille erzeugt. Man hat dies mit dem Begriff „Atmosphäre“ 71 zu erfassen versucht und damit theologische zugunsten wirkungsästhetischer Kategorien in den Hintergrund gerückt. Dessen ungeachtet gehört die Suche nach dem Sakralen 72 zu den wichtigen Themen auch in der zeitgenössi-schen Architektur. 73 Selbst wenn damit die Gefahr verbunden ist, religiöse Inszenierung und religiöse Erfahrung zu verwechseln, 74 wird die „Fähigkeit der Architektur, stumm zu ihrem Publikum zu spre-chen, psychische Reserven freizusetzen und oft genug sogar den Zugang zu spirituellen Dimensionen zu eröffnen, heute wieder weit höher geschätzt als seit langer Zeit.“75
69 Beyer 2013 (Anm. 36), 20070 Jens Wietschorke: Die symbolische Ordnung sakraler Räume. Eine Skizze zur visuellen und politischen Kulturgeschichte, in: Marion Meyer / Deborah Klimburg-Salter (Hrsg.): Visualisierungen von Kult, Wien-Köln-Weimar 2004, 294–318, hier 30871 Gernot Böhme: Anmutungen über das Atmosphärische, Ostfildern 1998, 85 ff.; ders.: Architektur und Atmosphäre, München 2006, 139 ff.72 Christof Werner: Sakralität – was ist das?, in: Hans-Eckehard Bahr (Hrsg.): Kirchen in nachsakraler Zeit, Hamburg 1968, 64–80; Gerhards 2011 (Anm. 23), 33 f.73 Haepke 2013 (Anm. 54)74 Jäggi 2011 (Anm. 31), 2875 Andreas Tönnesmann: Vorwort, in: Sakralität und Aura in der Architektur, Zürich 2010, 7
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Manfred Scheuer
Orientierung und Obdach für die SeeleSakralräume gestern und heute
„Das Vollziehen sakraler Riten und das Errichten oder Bezeichnen heiliger Plätze gehörte zu den ersten Beschäftigungen des Menschen. Gleich ob augenfällig oder getarnt, helfen sie, das Leben einzurich-ten. Manche heutige Zivilisation hat ihre Fähigkeit für Todesriten verloren. Das ist ein Zeichen des Verlusts der Fähigkeit, zu leben.“ „Architektur ist kultisch, sie ist Mal, Symbol, Zeichen, Expression. Architektur ist die Kontrolle der Körperwärme – schützende Behausung. Architektur ist Bestimmung – Festlegung – des Raumes, Umwelt. Architektur ist Konditionierung eines psychologischen Zustandes.“ (Hans Hollein)In der Vergangenheit haben Kirchengebäude das Zentrum des Lebens ausgemacht: Sie waren nicht nur da für die privat-religiösen Bedürfnisse der Menschen, sondern kamen ebenso den gesellschaft-lichen Interessen entgegen. Das ganze Leben kreiste um den Kirchenraum. Es fing an mit der Taufe und endete mit dem Beerdigungsgottesdienst. In der Zwischenzeit, von der Wiege bis zur Bahre, gab es die tägliche, wöchentliche und jährliche religiöse Rhythmisierung des Lebens. Der klassische Got-tesdienstbesuch am Sonntag, dem der Besuch (der Männer) eines meist nahe gelegenen Gasthauses folgte, strukturierte das wöchentliche Leben der Glaubensgemeinschaft und verband das weltliche und geistliche Leben organisch miteinander.Kirchen und ihre Türme verkörpern eine ethische, soziale, spirituelle und zugleich eine ästhetische Instanz. Gerade in unserer Zeit, in der eine gewisse Orientierungslosigkeit nicht zu verstecken ist, zweifelt kaum jemand an der Existenzberechtigung eines Glockenturmes, wenngleich manche sich gegen die akustische Vorgabe eines Tagesablaufs sträuben. Kirchen vermitteln durch ihre bauliche Präsenz, schweigend, ein stilles Wissen aus Erfahrungen und Zukunftshoffnungen. Sie faszinieren Jung und Alt, die Gebliebenen und die Besucher, die Romantiker und die Modernen, die Gläubigen und die Nichtgläubigen. Kirchen stehen für Schutz, aber auch für den Anspruch auf Macht. Der Turm steht für Schutz und Geborgenheit, schafft Distanz und gewährt zugleich Übersicht. Und Kirchen haben als Typ etwas Universelles.1 Heute hat sich die Lage aufgrund gesellschaftlicher Phänomene – der Säkularisierung und Individua-lisierung – drastisch geändert. Kirchenraum und Glaube bilden für die meisten Menschen nicht mehr die Mitte des Lebens, für viele andere spielt Religion überhaupt keine Rolle mehr. Der tägliche und wöchentliche Rhythmus wird nicht mehr von der Religion bestimmt. Zwar erfreut sich die kirchliche Feier des Lebenszyklus, insbesondere bei den „rites de passages“ (Übergangsriten Geburt, Hochzeit,
1 Vgl. Gion A. Caminada: Nähe gewinnen zu den Dingen, in: Werk, Bauen und Wohnen 1/2, 2014
Sterben) immer noch einiger Beliebtheit, doch hat auch hier die Kirche ihr Monopol verloren. Die Kir-chengebäude haben sich oft von den übergeordneten kulturellen und spirituellen Aspekten, in denen Funktion und Form in einer Dialektik standen, emanzipiert. Die ästhetischen und die damit oftmals verbundenen ökonomischen (touristischen) Aspekte überwiegen. Oder Kirchenbauten stehen funk-tional für die Versammlung der Gemeinde, ohne dass Form, Materialien und Architektur etwas von Transzendenz vermitteln würden. Die Werbung arbeitet weitgehend mit Heilssymbolen (Erlösung, Glück, Leben …), die sich an tiefste Schichten der menschlichen Person wenden, und assoziiert diese kurzschlüssig mit Konsumgütern. Sie weckt auf diese Weise Sehnsucht nach umfassendem Glück, führt aber langfristig zur Frustration, weil kein Weg zu wirklicher Erfüllung dieser aufgerissenen Dimension gewiesen wird. Wie geht der Mensch mit diesen geweckten Sehnsüchten um? Was bewirken sie in seinem Unbewussten?Nicht nur die Werbung in den Medien, die Medien selbst arbeiten mit religiösen Symbolen. Während Religion und Spiritualität selbst eher ironisierend und zynisch dargestellt werden, auf den Unterhal-tungswert reduziert werden oder ausschließlich von der Perspektive der Politik oder der Moral gesehen werden, beschreibt sich die Medienszene teilweise in theologischen Kategorien wie der Schöpfung, der Erlösung oder auch der Kirche. Man merkt in einer Stadt und in einer Region, wem die Dome der Wellness, die Tempel des Sports, des Geldes und der Gourmets, die Kathedralen des Nahverkehrs, die Gotteshäuser des Konsums, die Kultorte der Kunst und der Kultur geweiht sind. In der Architektur einer Stadt wird auch sichtbar, wer die Hohenpriester sind, durch welche Wirklichkeits- oder Wahrheitsverständnis vermittelt wird, wer bestimmt, was wichtig ist, wer festlegt, wie Beziehungen zu sein haben. Manches im Internet wird wie eine Kathedrale inszeniert. Weihnachtsshopping und Christmette sind in den Medien in einem Aufwa-schen zu machen. Hat nicht jedes Unternehmen und jedes Medium seine eigene Community? Wollen sie Identitäten, Zugehörigkeiten schaffen ohne wirkliche Kommunikation und konkrete Verantwortung?
Entwicklungen und kirchliche Stellungnahmen
Der vor allem als Kirchenarchitekt tätige Rudolf Schwarz2 hat 1927 mit Überlegungen zur Bedeu-tung der Technik in der modernen Welt die Entwicklung des Kirchenbaus entscheidend geprägt. In Zurückweisung der oberflächlichen Auffassungen, Technik bzw. industrialisiertes Bauen – sie seien bloß zweckrationalen und ökonomischen Zielen geschuldete Optimierungen – macht Schwarz auf die eigenartige Stellung des technischen Werks aufmerksam: Es sei von ausgeprägter und teilweise unheimlicher Materialität, entstehe aber aus Anwendung rein geistiger Prozesse auf der Grundlage
2 Vgl. dazu Albert Gerhards: Bauen als „Aussage religiöser Poesie“. Ein theologischer Blick auf Rudolf Schwarz, in: Rudolf Schwarz: Kirchenbau. Welt vor der Schwelle. Nachdruck 1. Auflage 1960, hrsg. von Maria Schwarz, Albert Gerhards und Josef Ruenauver, Regensburg 2007, XIII–XIX
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naturwissenschaftlicher Erkenntnis, welche aber letztlich nicht in ihrem Tiefsten verstanden werden kön-ne. In späteren Büchern („Vom Bau der Kirche“ 1938, „Von der Bebauung der Erde“ 1949) entwickelte Schwarz eine stark neoplatonisch geprägte, allgemeingültige Theorie der Gestaltbildung. Aus einer als Keim begriffenen Idee konkretisiere sich eine Blüte und bilde dabei eine Raumform, in der neue Samen heranreifen. Bauen ist eine „Gestaltwerdung der Idee im Raum“, die wie ein Keim zu verstehen sei, der sich verlebendigt und Substanz annimmt. Schwarz verbildlicht diesen zyklischen Wachstumsprozess durch Schemata: Ring, offener Ring, Kelch, Weg, Wurf, heiliges All oder der Dom aller Zeiten werden als anthropologische oder kosmologische Ursymbole des Kirchenbaus präsentiert. Doch handelt es sich hierbei nicht um Grundrissfiguren für Kirchen, sondern um Diagramme eines universalen Prinzips der Gestaltwerdung – zu beziehen auf das Leben Christi oder jedes Individuums oder den katholischen Sakralbau, wo sich christlicher Geist im konkretisierten Raum verkörpert.Positionen der liturgischen Reform und Toleranz gegenüber zeitgenössischer Kunst fanden zunehmend Eingang in die amtskirchliche Politik, v. a. unter Pius XII. (Enzyklika „Mediator Dei“, 1947). Die von der Fuldaer Bischofskonferenz 1949 einberufene Liturgische Kommission definierte den Kirchenbau aus den Erfordernissen der gemeinschaftlichen Messfeier und der Sehnsucht nach Stille und Frieden heraus, legte sich aber nicht auf formale Bestimmungen fest. Das Zweite Vatikanische Konzil erklärte 1963 Grundpositionen der liturgischen Bewegung zur ver-bindlichen Konstitution, namentlich den Grundsatz der Mittätigkeit der Gläubigen bei der Liturgie. Verbindliche formale Gestaltungsvorschriften für den Sakralbau wurden auch hier abgelehnt. „Bei der Förderung und Pflege wahrhaft sakraler Kunst mögen die Ordinarien mehr auf edle Schönheit bedacht sein als auf bloßen Aufwand. Das gilt auch für die heiligen Gewänder und die Ausstattung der heili-gen Orte. Die Bischöfe mögen darauf hinwirken, dass von den Gotteshäusern und anderen heiligen Orten streng solche Werke von Künstlern ferngehalten werden, die dem Glauben, den Sitten und der christlichen Frömmigkeit widersprechen und die das echt religiöse Empfinden verletzen, sei es, weil die Formen verunstaltet sind oder weil die Werke künstlerisch ungenügend, allzu mittelmäßig oder kitschig sind. Beim Bau von Kirchen ist sorgfältig darauf zu achten, dass sie für die liturgischen Feiern und für die tätige Teilnahme der Gläubigen geeignet sind.“3
Im Jahr 1988 wurde eine Handreichung der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht: „Leitlinien für den Bau und die Ausgestaltung von gottesdienstlichen Räumen“.4 Darin heißt es u. a.: Der gottesdienstliche Raum soll den Menschen „die Begegnung miteinander und mit Gott“, die sich in den gottesdienstlichen Versammlungen realisiert, ermöglichen und erleichtern. Da-bei kommt dem durch Architektur und Kunst ausgestalteten Raum als zeichenhafter Ausdruck wie als Träger von Bedeutungen, die über das Materielle hinausweisen, großes Gewicht zu.
3 Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution über die Heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ n. 124, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 1: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen, hrsg. von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, Freiburg i. B. 2004, 52 f.4 Die deutschen Bischöfe – Liturgiekommission – Nr. 9: Leitlinien für den Bau und die Ausgestaltung von gottesdienstlichen Räumen, Bonn 1988, 52000
„Wenn sowohl der Zeichencharakter des Raumes als auch seine liturgische Eignung stimmen, sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Mysterium Christi und seiner Kirche angemessen gefeiert und erfahren werden kann“ (9). Der Kirchenraum ist mehr als nur ,Raumhülle‘ für die Feier des Got-tesdienstes. So wie in der Liturgie „die Dialektik konkreter Gestaltwerdung (Vergegenwärtigung) und ehrfurchtsvoller Anerkennung der Unfassbarkeit Gottes (Doxologie) aufgehoben wird“, so wird der Raum, ja der gesamte Kirchenbau „zum Ort der Anschaulichkeit des Wortes, er wird Gestalt geworde-ne Theologie oder ,Doxologie in Stein‘“ (11). So kann auch davon gesprochen werden, dass „kulturell wertvolle Kirchen ... die Gegenwart Gottes im öffentlichen Raum repräsentieren“ (18).2003 wurde in derselben Reihe ein Heft mit dem Titel „Räume der Stille“ veröffentlicht. Im Blick auf den Kirchenraum wird der Horizont der Gottesdienstfeier überschritten, wenn es heißt, dass „auch außerhalb der liturgischen Feier ... die Vermittlung dieser Erfahrung der göttlichen Gegenwart die eigentliche Bestimmung des gottesdienstlichen Raumes“5 sei.Ein ebenfalls 2003 veröffentlichter Text weitet die Wahrnehmungsperspektive noch einmal aus: „Ein Kirchenraum wirkt auf sehr unterschiedliche Weise auf die Besucher. Die einen lassen sich von der Stille des Raumes und von der Bildkraft der Ausgestaltung in den Bann ziehen, die anderen fühlen sich ermutigt, ein persönliches Gebet zu sprechen, eine Kerze anzuzünden und einen Augenblick niederzuknien.“6
Sakral und profan
Der Kirchenbau zählte in der Nachkriegszeit zu den Gattungen, in denen eine erstaunliche Vielfalt von Formmöglichkeiten erprobt und durchexerziert wurde. Das lag daran, dass die Frage nach der ,Sakralität‘ der Gestalt der Kirche nicht mehr an die Frömmigkeit und insofern die göttliche Inspiration des entwerfenden Architekten gebunden war. Vielmehr waren die essenziell künstlerischen Fähigkeiten ausschlaggebend für die Wahl des Architekten. Somit hatten die Architekten und Ausstattungskünstler viele Freiheiten, eine archetypische Symbolik, mit der das Haus Gottes auf Erden aufgeladen werden kann – etwa als Zelt, Weg oder Burg –, mit beeindruckenden Raumschöpfungen zu kombinieren.7 Begleitet waren diese Entwicklungen von teilweise heftigen Kontroversen zur Polarität von sakral und profan bzw. vom Postulat der Entsakralisierung.8 Zuweilen haben politische Schwierigkeiten oder wirtschaftlich-finanzielle Engpässe dazu gezwungen, auf ein eigentliches Kirchengebäude zu verzichten und sich mit Mehrzweckräumen zufriedenzugeben.
5 Die deutschen Bischöfe – Liturgiekommission 26 – Räume der Stille. Gedanken zur Bewahrung eines bedrohten Gutes, Bonn 2003, 266 Die deutschen Bischöfe 72: Missionarisch Kirche sein. Offene Kirchen – Brennende Kerzen – Deutende Worte, Bonn 2003, 157 Vgl. dazu z. B. Christian Freigang: Die Moderne (WBG Architekturgeschichte), Darmstadt 2015, 298–3028 Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane, Hamburg 1957; Thomas Bögler (Hg.): Das Sakrale im Widerspruch, Maria Laach 1967; Emil J. Lengeling: Sakral – profan. Bericht über die gegenwärtige Diskussion, in: LJ 18 (1968) 164–188; H. Bartsch (Hg.), Probleme der Entsakralisierung, München 1970; Heribert Mühlen, Entsakralisierung, Paderborn 1970
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Dann dient ein solcher Raum (Saal) nicht nur der Feier der Liturgie, sondern auch anderen Gemein-schaftsveranstaltungen der Pfarre. Andererseits versucht man da und dort, mit Berufung auf die Not in der Welt und die „niedrige Nutzungsrate“ von ausschließlichen Kirchenbauten und Gemeindesälen Mehrzweckräume als das Gebot der Stunde zu befürworten. Hierzu wäre anzumerken, dass es we-gen der herausragenden und unersetzlichen Bedeutung optimaler Gottesdienste unaufgebbares Ziel bleiben muss, wirklich sakrale Räume mit Zeichen- und Anrufcharakter zu schaffen. Multifunktionale Kirchenräume sind zumeist auch funktionsneutral und sollten deshalb nur als Notbehelf, nicht aber als pastorales Leitbild betrachtet werden.Unter diesem Aspekt verdienen die Innenräume mancher neuerer Kirchen keine gute Zensur, weil sie zu ungastlich und lieblos, zu niederdrückend, kalt und leer wirken. Eine misslungene Raumgestaltung, graue Eintönigkeit in Licht und Farbe und die Armseligkeit künstlerischer Ausstattung symbolisieren weder die Würde der gottesdienstlichen Versammlung, noch sind sie Anruf und Geleit zum Geheimnis.
Zeichen der Transzendenz und Obdach für die Seele9
Religiöse Gebäude besitzen eine innere Qualität, die anderen Gebäuden in dem Maße nicht zukommt. Sie sind Orte der Anbetung, mit denen die Lebensgeschichten von Menschen mit ihrer Beziehung zum Transzendenten verflochten sind. Religiöse Gebäude funktionieren selbst dann noch als Orte der Ehr-furcht und der Kontemplation, wenn Menschen sie vorrangig als Touristen aufsuchen und nicht mehr als Mitglieder einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Die Aura des realen Sakralraums ist ein Fest für die Sinne und ermöglicht auch Kirchenfernen Erfahrungen der Transzendenz. In jedem Fall haben Kirchenräume für viele anscheinend noch immer etwas Unabgegoltenes. Eine Bestätigung hierfür gibt der Franzose Yves Congar: „Manche Kirchen erfüllen auf bemerkenswerte Weise diese Aufgabe, Zeichen der Existenz und Wahrheit einer anderen Welt zu sein. So manche Bekehrung geschah oder begann in Chartres nur dadurch, dass Stein und Glas zu Zeichen geworden sind.“10
Kirchenräume haben ihre Anziehungskraft aufgrund ihrer spirituellen Dimension keineswegs verloren, sondern sie gewinnen an Attraktivität sogar für Menschen, die nicht religiös sozialisiert sind. So können sie in ihrer Funktion als Ort der Zuflucht, als ein „Asylum“, wiederentdeckt werden, als ein „Obdach für die Seele“ für alle, die auf der Suche nach einem zweckfreien, nicht fremdbestimmten Platz sind. In diesem diakonischen Konzept können sie auch wieder Mittelpunkt von Stadt und Land sein und posi-tiven Einfluss nehmen auf das Leben der Gesamtbevölkerung wie auch auf das Leben der christlichen Gemeinde vor Ort.
9 Vgl. dazu das Themenheft Glaubensräume, Anzeiger für die Seelsorge. Zeitschrift für Pastoral und Gemeindepraxis 6/201510 Yves M. Congar, Priester und Laien im Dienst am Evangelium, Freiburg i. B. 1965, 239
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WATTENSPfarrkirche Mariä Unbefleckte Empfängnis
Architekten: Charlotte und Karl Pfeiler Weihe: 26. Oktober 1958 durch Bischof Paulus RuschPatrozinium: Unbefleckte Empfängnis Mariens
Infolge der ansässigen Industriebetriebe erfuhr Wattens nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke Be-völkerungszunahme, sodass die alte St.-Laurentius-Kirche zu klein zu werden drohte. So erwuchsen ab 1953 konkrete Pläne zur Errichtung einer Kirche im Zentrum des neuen Siedlungsgebietes westlich des alten Ortskerns, wozu unter der Patronanz von Daniel Swarovski, dem damaligen Firmenchef der Swarovskiwerke, ein Kirchenbauverein gegründet und schließlich 1955 der Grundstein zur neuen Kir-che gelegt wurde.
Etwas von der Straße zurückversetzt am heutigen Marienplatz gruppiert sich das aus mehreren Bau-körpern bestehende Ensemble: an die Marienkirche schließt sich südlich ein quadratischer, formal an klösterliche Kreuzgänge erinnernder Wandelgang an, der im Süden durch das Mesnerhaus und das Pfarrzentrum, im Westen durch das Pfarrhaus und die Sakristei abgeschlossen, nach Osten zum Vorplatz offen ist. Die Kirche ist ein einfacher longitudinaler, mit einem flachen Satteldach versehener Bau mit einem leicht eingezogenen Presbyterium im Westen und der Fassade im Osten, welche durch sieben schmale, von Steinlisenen akzentuierte Fensteröffnungen strukturiert wird. An der Südostecke erhebt sich der erst kräftige, im Glockengeschoss luftig durchbrochene Turm.Der Innenraum spiegelt die klare Struktur des Äußeren wider. Es ist dies ein hallenartiger Raum, der durch schwarze Marmorlisenen in sechs Joche gegliedert ist. Diese Lisenen führen in giebelförmig zu-sammenlaufende Betonstreben, die mit einer Holzdecke hinterlegt sind und so entfernt an ein offenes Sparrendach frühchristlicher Basiliken erinnern. Im Eingangsbereich ragt eine Orgelempore in den Raum, unter der seitlich des Eingangs zwei Kapellen integriert sind. In Höhe des Erdgeschosses erwei-tert sich dieser Raum seitenschiffartig. Über hohe, bunt verglaste Fenster erfährt die Kirche südseitig ihre Beleuchtung, während nordseitig lediglich ein Fensterband in Gesimshöhe spärlich Licht in den Raum lässt. Dem dadurch düsteren Kirchenraum schließt sich hinter einem eingezogenen, dreiseitig zusammenlaufenden Triumphbogen das erhöhte lichtdurchflutete Presbyterium an, das seinerseits in einer belichteten Wandnische mit der Figur einer Maria Immaculata wie dem Tabernakel endet.Die Kirche verfügt über zahlreiche Bildwerke, seien es die Glasfenster (Fred Hochschwarzer), die Sand-steinreliefs mit christlichen Symbolen an der Nordwand (Ilse Glaninger) oder Bronzeplastiken (v. a. Ilse Glaniniger) und Holzfiguren (v. a. Franz Staud) aus oder kurz nach der Bauzeit, die das Ensemble formal wie ikonographisch vervollständigen. (MK)
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