Kleinwuchs ist nicht gleich Kleinwuchs: Achondroplasie und ... · re Krankheitsbilder sind...

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Zusammenfassung Neben den offensichtlichen sozialen Problemen wirft der Kleinwuchs auch häufig medizinische auf. Diese können unterschiedlich ausgeprägt sein. Bei spielhaft seien zwei Erkrankungen aus diesem Formenkreis dargestellt: Achondroplasie und Diastrophische Dysplasie. Betroffene mit einer Achon droplasie können im allgemeinen ein wenn auch durch den Kleinwuchs und die begleitenden Wachstumsstörun gen eingeschränktes, so dennoch im Wesentlichen normales Leben führen. Die Diastrophische Dysplasie hinge gen kann mit schwersten Kontraktu ren, Wirbelsäulendeformitäten und Funktionsstörungen der Arme und Beine einhergehen, die ein selbstän diges Leben teils oder ganz unmög lich machen. Schlüsselwörter Achondroplasie, Diastrophische Dy splasie, Extremitätenverlängerung Summary: Dwarfism has two main aspects: the social handicap and often medical problems, as well. Medical problems can be more or less severe. Two kinds of dwarfism are described and the considerations when and how they should be treated are discussed: achondroplasia and diastrophic dys plasia. Whereas most of the patients with achondroplasia are able to per form all ADL and in general have less problems, the patients with Dia strophic dysplasia (DD) are much more physically handicapped. They suffer from scoliosis, kyphosis, joint and bone deformities. A special problem is the deterioration of knee and hip joint function during growth in nearly all DD patients. Key words achondroplasia, Diastrophic dysplasia, limb lengthening Als Extremitätenverlängerungen vor ca. 20 Jahren – angeregt durch die Arbeiten Ilisarovs – auch in Deutsch land als Methode der Wahl in der Be handlung von Kleinwuchs* eingeführt wurden, stand die Beinverlängerung zur Vergrösserung der Körperlänge im Vordergrund der Bemühungen. Inzwi schen sehen sowohl die Betroffenen wie auch die behandelnden Ärzte die Probleme sehr viel differenzierter: Kleinwuchs ist oft nur ein Symptom unter anderen und tritt häufig auf grund der massiven gesundheitlichen Probleme, die durch andere Sympto me im Syndromenspektrum verur sacht werden, weit in den Hintergrund (13, 14, 29, 30). Am Beispiel von zwei Krankheitsbil dern – der Achondroplasie und der Diastrophischen Dysplasie – die bei de mit Kleinwuchs einhergehen, soll gezeigt werden, wie wichtig es ist, Krankheitsursachen differenzialdiag nostisch umfassend abzuklären, um dann gezielt für den Einzelfall die richtigen Behandlungsstrategien zu entwickeln. In der Konsequenz wird der behandelnde Arzt die Schwer punkte seines Handelns an den indi viduellen Erfordernissen der Patien ten, aber natürlich auch an der Er krankung ausrichten. Achondroplasie In der Orthopädischen Kinderklinik Aschau (im Chiemgau, Bayern) be treuen wir eine grosse Zahl von klein wüchsigen Kindern und Jugend lichen. Bei der Mehrzahl dieser Kinder liegt eine Achondroplasie vor, ande Genetik der Skelettdysplasien 65 medgen 16 (2004) Kleinwuchs ist nicht gleich Kleinwuchs: Achondroplasie und Diastrophische Dysplasie im Vergleich. Kinderorthopädische Behandlungsprinzipien Orthopädische Kinderklinik, Aschau Johannes Correll, N. Berger

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ZusammenfassungNeben den offensichtlichen sozialenProblemen wirft der Kleinwuchs auchhäufig medizinische auf. Diese könnenunterschiedlich ausgeprägt sein. Bei�spielhaft seien zwei Erkrankungen ausdiesem Formenkreis dargestellt:Achondroplasie und DiastrophischeDysplasie. Betroffene mit einer Achon�droplasie können im allgemeinen einwenn auch durch den Kleinwuchs unddie begleitenden Wachstumsstörun�gen eingeschränktes, so dennoch imWesentlichen normales Leben führen.Die Diastrophische Dysplasie hinge�gen kann mit schwersten Kontraktu�ren, Wirbelsäulendeformitäten undFunktionsstörungen der Arme undBeine einhergehen, die ein selbstän�diges Leben teils oder ganz unmög�lich machen.

SchlüsselwörterAchondroplasie, Diastrophische Dy�splasie, Extremitätenverlängerung

Summary:Dwarfism has two main aspects: thesocial handicap and often medicalproblems, as well. Medical problemscan be more or less severe. Two kindsof dwarfism are described and theconsiderations when and how theyshould be treated are discussed:achondroplasia and diastrophic dys�plasia. Whereas most of the patientswith achondroplasia are able to per�form all ADL and in general have lessproblems, the patients with Dia�strophic dysplasia (DD) are muchmore physically handicapped. Theysuffer from scoliosis, kyphosis, jointand bone deformities. A specialproblem is the deterioration of kneeand hip joint function during growth innearly all DD patients.

Key wordsachondroplasia, Diastrophicdysplasia, limb lengthening

Als Extremitätenverlängerungen vorca. 20 Jahren – angeregt durch dieArbeiten Ilisarovs – auch in Deutsch�land als Methode der Wahl in der Be�handlung von Kleinwuchs* eingeführtwurden, stand die Beinverlängerungzur Vergrösserung der Körperlänge imVordergrund der Bemühungen. Inzwi�schen sehen sowohl die Betroffenenwie auch die behandelnden Ärzte dieProbleme sehr viel differenzierter:Kleinwuchs ist oft nur ein Symptomunter anderen und tritt häufig auf�grund der massiven gesundheitlichenProbleme, die durch andere Sympto�me im Syndromenspektrum verur�sacht werden, weit in den Hintergrund(13, 14, 29, 30).

Am Beispiel von zwei Krankheitsbil�dern – der Achondroplasie und derDiastrophischen Dysplasie – die bei�de mit Kleinwuchs einhergehen, sollgezeigt werden, wie wichtig es ist,Krankheitsursachen differenzialdiag�nostisch umfassend abzuklären, umdann gezielt für den Einzelfall dierichtigen Behandlungsstrategien zuentwickeln. In der Konsequenz wirdder behandelnde Arzt die Schwer�punkte seines Handelns an den indi�viduellen Erfordernissen der Patien�ten, aber natürlich auch an der Er�krankung ausrichten.

AchondroplasieIn der Orthopädischen KinderklinikAschau (im Chiemgau, Bayern) be�treuen wir eine grosse Zahl von klein�wüchsigen Kindern und Jugend�lichen. Bei der Mehrzahl dieser Kinderliegt eine Achondroplasie vor, ande�

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Kleinwuchs ist nicht gleich Kleinwuchs: Achondroplasie und Diastrophische Dysplasie im Vergleich. Kinderorthopädische Behandlungsprinzipien

Orthopädische Kinderklinik, Aschau

Johannes Correll, N. Berger

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re Krankheitsbilder sind wesentlichseltener (Tab. 1).

Zu den typischen Stigmata derAchondroplasie zählen (Tab. 2): DerKopf ist im Verhältnis zum Rest desKörpers groß, die Stirn ist stark vor�gewölbt, die Nase zeigt eine tiefe Ein�sattelung. Arme und Beine sind ins�besondere in Relation zum Rumpfsehr stark verkürzt. An den Ellenbo�gen finden sich z. T. ausgeprägteFehlstellungen, die bis hin zu einerBeugekontraktur von mehr als 40°können. Die Pro�/Supination ist in Ab�hängigkeit von der Verkrümmung derUnterarmknochen mehr oder wenigerstark eingeschränkt und in Extremfäl�len fast gänzlich aufgehoben. DieHandgelenke können regulär beweg�lich sein, nicht selten sind sie hyper�mobil. Die Hand zeigt die Form einerTritonhand, die Langfinger sind in derRegel normal beweglich.

Typisch für die Achondroplasie ist diekurzbogige Hyperlordose der Lenden�wirbelsäule, die meist mit einer teil�weise sehr ausgeprägten Beckenver�kippung einhergeht. Diese trägt zumBild des dicken Gesäßes bei, dasauch bei schlanken Betroffenen auf�fällt. Wenn das Kind zum Sitzenkommt, entwickelt sich eine Kyphoseder Brustwirbelsäule, die im Gegen�satz zur physiologischen Kyphosie�rung des Kindes sehr langbogig ver�läuft und ein Kyphosemaximum ander unteren Brustwirbelsäule zeigt.Offensichtlich wird die Hyperlordosedurch ein unterschiedlich schnellesWachstum der ventralen und dorsalenAnteile der Wirbelsäule hervorgerufen.

Die unteren Extremitäten zeigen eineunterschiedlich stark ausgeprägteHüftbeugekontraktur. Bei keinem un�serer Patienten haben wir bisher eineHüftluxation bei der Geburt beobach�tet, auch wenn die Ultraschalluntersu�chung nach der Geburt oft nicht ver�wertbare Ergebnisse zeitigt. DieseSchwierigkeiten sind auf die beson�deren anatomischen Verhältnisse derHüftgelenke bei der Achondroplasiezurückzuführen.

Die Kniegelenke zeigen eine Streck�hemmung. Röntgenologisch findetsich teilweise eine starke Absenkungdes Tibiakopfplateaus, die bis zu 30°betragen kann und hierfür verantwort�lich ist. Sehr häufig haben Patientenmit einer Achondroplasie ein Crus va�rum, das erhebliche Ausmaße anneh�men kann. Wesentlich seltener zeigtsich ein Genu oder Crus valgum. Das Crus varum wird durch ein über�schießendes Wachstum der Fibulaverursacht, die im Sinne einer soge�nannten geführten Biegung die Tibiain die Fehlstellung zwingt, die dannauch klinisch auffällig wird.

Besonders bei derartigen Achsenab�weichungen der Beine können dieKniegelenke erhebliche Probleme be�reiten. Eine primäre oder sekundäre(durch Fehlbelastung bedingte) Aus�lockerung des jeweils auf der Kon�vexseite befindlichen Kollateralban�des führt zur Instabilität des Kniege�lenkes. Diese lässt sich klinisch da�durch nachweisen, dass sowohl beigestrecktem wie bei gebeugtem Kniedie beiden Gelenkpartner gegenein�ander verschoben werden können.

Hierbei kann meist eine Art Springenim Gelenk ausgelöst werden. Dasüberschießende Wachstum der Fibu�la zwingt die Füße häufig in eine Va�rus� und Supinationsfehlstellung, diedazu führt, dass die Kinder beim Ge�hen nur den Fußaußenrand belasten.Auch hierdurch können Schmerzenentstehen.

Diastrophische DysplasieGrundlegende andere Probleme ha�ben Patienten mit einer Diastrophi�schen Dysplasie. Bei ihnen steht derKleinwuchs im Hintergrund. Vorrangigsind Veränderungen an Gliedmaßenund Wirbelsäule. Auffälligstes klini�sches Merkmal bei der Diastrophi�schen Dysplasie ist der „Hitchhiker“�Daumen, der bis zu 90° von der Handim Verhältnis zu den Langfingern ab�gespreizt ist. Die proximalen und di�stalen Interphalangealgelenke sind inder Mehrzahl der Fälle in Streckstel�lung kontrakt, teilweise auch nichtoder nur hypoplastisch angelegt. Inwenigen Fällen zeigt sich auch eineHypermobilität der Langfinger, diebis zu völligem Funktionsverlust füh�ren kann.

Die Beweglichkeit der Ellenbogen istin allen Richtungen stark einge�schränkt: die Streckhemmung kannbis zu 60° betragen kann. Die Musku�latur des Schultergürtels ist hypopla�stisch.

Die unteren Extremitäten zeigen be�reits in der frühen Kindheit (in Abhän�gigkeit vom Schweregrad der Erkran�kung) Beugekontrakturen an den Hüf�ten und Kniegelenken von mehr als

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Tab 1 Kleinwuchsspektrum der Patienten in der Orthopädischen Kinderklinik Aschau (Stand 12/2003)

Kleinwuchs Pat. (n)• Diastrophische Dysplasie 25• Andere Kleinwuchsformen > 300

wie z.B.AchondroplasiePseudoachondroplasieHypochondroplasieChondrodysplasie punctataEllis�van�Crefeld�SyndromSterno�cleido�craniale DysplasieLarsen�SyndromOto�palato�digitales SyndromSpondylo�epiphysäre kongenitale DysplasieKraniometaphysäre DysplasieTricho�Rhino�Phalangeales SyndromTrevor�DysplasieFibröse Knochendysplasie Neurofibromatose

Tab 2 Synoptische Betrachtung Achondroplasie / Diastrophische Dysplasie

Physiologische Merkmale Achondroplasie Diastrophische DysplasieAchsenabweichungen der Beine mäßig, häufig sehr starkDeformität: Beine minimal bis stark teils extremDeformität: Füße mäßig, nicht sehr häufig sehr stark bis extremDeformität: Wirbelsäule mäßig mäßig bis extremHüftluxation nein häufig (25%)Kleinwuchs stark sehr starkKontrakturen bei Geburt keine bis mäßig sehr starkKontrakturen zunehmend nein ja, starkKontrakturen: Gelenke gering extrem stark

Neurologische Probleme keine bis stark keine bis sehr stark

BewegungseinschränkungenGebrauchstüchtigkeit Hand sehr gut teils stark eingeschränktGehfähigkeit als Erwachsener im wesentlichen normal sehr häufig gänzlicher VerlustGehfähigkeit in Kindheit verzögert, dann sehr gut teils gar nicht, meist sehr schlechtSelbständigkeit sehr gut möglich bis schlecht

Therapeutische MaßnahmenVerlängerung sehr gut möglich nicht möglich

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60 Grad, außerdem einen teils extre�men, oft vollständig kontrakten„Klumpfuß“, bei dem das Metatarsa�le I (ebenso wie das Metacarpale I)dreieckig verformt ist und damit auchdie Großzehe vergleichbar dem Hitch�hiker�Daumen in die Varusfehlstellungzwingt (Abb. 1).

Es werden extreme Kyphosierungender Halswirbelsäule beobachtet, dieauch Kompressionssyndrome amRückenmark auslösen können. DiePatienten entwickeln häufig starkeSkoliosen, die konservativ kaum be�einflussbar sind (26). Bei ca. 1/4 derPatienten mit einer DiastrophischenDysplasie liegt bereits bei der Geburteine Hüftluxation vor.

Kindliche Bewegungsentwicklung

Achondroplasie Kinder mit Achondroplasie richtensich im Vergleich zu gesunden Gleich�altrigen sehr viel später auf. Währendman früher annahm, dass eine zentra�le Störung regelhaft vorliegt (die inEinzelfällen auch immer wieder aus�geschlossen werden muss), weiß maninzwischen, dass die Kinder die me�chanischen Probleme, die durch denin der Relation zu den sehr kurzen Ex�tremitäten großen Rumpf verursachtsind, erst stark zeitverzögert überwin�den können. Oft können sich die Kin�der anfänglich nicht durch Krabbelnfortbewegen, sondern stemmen denKopf auf den Boden und schiebensich mit den Füßen nach vorne. EineZeitverzögerung bis zu einem Altervon 2 1/2 Jahren bis zum Gehbeginn

ist nicht bedenklich, wenn eine zen�tralvenöse Ursache ausgeschlossenist. Die Eltern sollten frühzeitig hier�über aufgeklärt werden.

Diastrophische DysplasieBei Kindern mit einer DiastrophischenDysplasie sieht man ebenfalls einesehr späte Vertikalisierung, in Extrem�fällen können sich die Kinder garnicht aufrichten. Bei diesen Kindernmuss immer eine zentralvenöse Stö�rung, beispielsweise Kompressiondes Rückenmarks durch pathologi�sche Veränderungen der HWS, aus�geschlossen werden. Die Kinder ha�ben zusätzliche Schwierigkeitendurch ihre starken Kontrakturen unddie häufig nur sehr geringe Kraft (20).

Während im Laufe der weiteren Ent�wicklung Kinder mit einer Achondro�plasie in der Regel in ein normalesaktives Leben gelangen können, istdies bei Kindern mit einer Diastrophi�schen Dysplasie oft nur sehr einge�schränkt möglich und hängt starkvom Ausmaß der Erkrankung ab. EineBesonderheit, die man bei Kindernmit einer Diastrophischen Dysplasieerwarten muss, besteht darin, dasssich im Laufe des Wachstums die Ge�lenkpartner zunehmend verformenund die bestehenden Kontrakturenverstärkt. Es scheint, dass diesewachtumsbedingte Deformierungnicht durch äußere Faktoren, wie z.B.die Vertikalisierung, hervorgerufenwird, sondern dass offensichtlich be�reits allein das Wachstum als solchesausreicht, die weiche und hochgradigvulnerable epiphysäre Zone der Ge�lenkpartner zu deformieren. Beein�

flussen lässt sich diese Entwicklungnicht. Auch Kinder bereits Laufen ge�lernt haben, verlieren meist diese Fä�higkeit wieder im Laufe des weiterenWachstums. Eltern müssen früh ge�nug auf den möglichen Krankheitsver�lauf vorgereitet werden, damit sie sichauf diese doch erheblichen Konse�quenzen vorbereiten können (5, 8, 12,18, 22, 23, 26).

ÜbergeordneteBehandlungsprinzipienSo grundverschieden die beidenKrankheitsbilder der Achondroplasieund der Diastrophischen Dysplasiesind, so wichtig sind Behandlungs�prinzipien, die bei beiden Erkrankun�gen sinnvoll sind:

Zu Beginn der kinderorthopädischenBehandlung steht nicht die medizini�sche Therapie, sondern die Beratungder Eltern im Vordergrund. Es zeigtsich immer wieder, dass die Elternzwar die Diagnose ihres Kindes ken�nen, jedoch nicht über das Krank�heitsbild per se aufgeklärt sind. Ausdiesem Grund hat es sich auch be�währt, Eltern eingehend medizinischzu beraten, wenn bereits nach präna�taler Diagnostik eine derartige Fehlbil�dung festgestellt wurde. Wir führenderartige Beratungen seit Jahrendurch und haben festgestellt, dassdie Eltern bei objektiver und ehrlicherAufklärung bisher ausnahmslos bereitwaren, das ungeborene Kind mit allenKonsequenzen anzunehmen. Ist dieBeratung nicht vor der Geburt mög�lich, so sollten die Eltern mit demKind möglichst bald nach der Geburteinem erfahrenen Arzt vorgestellt wer�

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Abb 1 Typisches klinisches Bild einer diastrophischen Dysplasie

Man beachte die hochgradige Fuss�deformität (bereits jeweils zweimalaußerhalb voroperiert), die Hüft� undKniebeugekontraktur und die Hyper�lordose der LWS.

T. M., 11 Jahre alt

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den. Es hat sich außerordentlich be�währt, dass das Kind mit einer Be�zugsperson (meistens der Mutter) sta�tionär für einige Tage aufgenommenwird, da doch neben den Untersu�chungen auch intensive Beratungenerforderlich sind. Dort können die El�tern auch in Kontakt mit anderen be�troffenen Familien kommen, die sichgleichzeitig mit ihren kleinwüchsigenKindern zu stationären Behandlung inder Klinik aufhalten. Dies nimmt oftdie Angst vor der ungewissen Zu�kunft.

Erst dann, wenn die Eltern über dasbetreffende Krankheitsbild eine ge�wisse Vorstellung haben, kann an the�rapeutische Maßnahmen gedachtund diese der aktuellen Entwicklungdes Kindes angepasst werden.

Die aktuellen gesundheitspolitischenVorgaben (DRG) erschweren die Be�handlung dieser Kinder leider, denn�sie berücksichtigen nicht den immen�sen Aufwand, der bei diesen Kindernnötig ist. Aus diesem Grunde ratenwir den Eltern auf alle Fälle dazu, sichmöglichst bald mit Selbsthilfegruppenin Verbindung zu setzen, die fach�lichen und menschlichen Rat gebenkönnen.

TherapieAchondroplasieBeim Kleinkind mit einer Achondro�plasie raten wir besonders dazu, dassmit Krankengymnastik versucht wird,die meist bestehende Hüftbeugekon�traktur anzugehen. Ob hierfür Kran�kengymnastik auf neurophysiologi�scher Basis erforderlich ist, oder obnicht doch manuelle Therapie aus�reicht, lässt sich noch nicht anhandvon einwandfrei erhobenen Daten be�urteilen. Auf jeden Fall halten wir esfür sinnvoll, die Manualtherapie regel�mäßig durchzuführen. Krankengym�nastik auf neurologischer Basis solltedann erfolgen, wenn eine neurologi�sche Störung des Kindes einwandfreinachgewiesen werden kann und an�dersartig nicht behandelt werdenmuss.

Weitere Therapieoptionen ergebensich dann, wenn bei den Kindern einSyndrom des engen Spinalkanals mit

entsprechenden Problemen auftritt.Dies kann im Laufe bzw. nach Ab�schluss des Wachstums erheblicheProbleme bereiten. Typisch sindSchmerzen beim Gehen, Verminde�rung der Gehstrecke, evtl. auch neu�rologische Erscheinungen, wie z.B.Stressenuresis und Schwäche einzel�ner Muskelgruppen bis hin zu Läh�mungserscheinungen. Diese solltenernst genommen und nach Abklärungauch therapiert werden. Nicht seltenmüssen diese Patienten aus diesemGrund operiert werden.

Bei schweren Funktionsstörungendes Ellenbogens muss ggf. operativvorgegangen werden, wobei eineAusgradung der Knochen und Repo�sition des oft luxierten Radiusköpf�chens erforderlich ist, wenn neurolo�gische Probleme an den oberen Ex�tremitäten hierdurch verursacht wer�den (beispielsweise Kraftlosigkeit derHände) (15). Eine immer wieder zu beobachtendestarke Bandlaxität der Kniegelenke,die nicht selten beim Heranwachsen�den Schmerzen bereitet, lässt sichkonservativ dadurch beeinflussen,dass die Jugendlichen vorübergehendmit Orthesen, die beim Gehen undLaufen die Bänder entlasten, versorgtwerden. Dies ist jedoch keine kausa�le Therapie und ersetzt nicht eine evtl.notwendig werdende Operation zurBeinachsenbegradigung. Diese mussdann erfolgen, wenn die Fehlstellungso stark wird, dass Folgeschädendrohen. Nicht selten ist eine auffälligeBeindeformität nicht ossär bedingt,sondern wird durch die hochgradigeBandlaxität vorgetäuscht.

Vor einer geplanten Operation müs�sen die oft kombiniert auftretendenFehlstellungen exakt analysiert wer�den. Hierzu hat sich als Standard dieCORA�Methode durchgesetzt. Rota�tions� und Torsionsfehler müssen er�fasst und berücksichtigt werden. Diebereits erwähnte Fußfehlstellung kannhäufig durch Einlagen oder spezielleSchuhzurichtungen aufgefangen wer�den, dass die Kinder beschwerdefreilaufen können. In Einzelfällen müssenauch hier Achsenkorrekturen erfolgen,die jedoch nie isoliert gesehen wer�den dürfen. Primäre und sekundäreLockerungen besonders des lateralen

Kollateralbandes lassen sich sowohlisoliert wie auch im Rahmen einerAchsenkorrektur oder Beinverlänge�rung korrigieren. Hierfür verwendenwir ein Verfahren, das es erlaubt, dasBand zu straffen, ohne seine neurolo�gische Kompetenz, die oft unterbe�wertet wird, zu stören.GliedmaßenverlängerungWir haben bei einer großen Anzahlvon Kindern mit AchondroplasieGliedmaßenverlängerungen durchge�führt (Tab. 3). Es handelt sich hierbeium eine Behandlungsoption, die dieEntscheidungsfähigkeit des Kindesvoraussetzt. Dies bedeutet, dass wirgenerell nicht die Eltern oder den Arztentscheiden lassen, sondern die Kin�der soweit entscheidungsfähig ma�chen, dass sie sich selbst für odergegen eine Operation entscheidenkönnen. Aus diesem Grund verlän�gern wir Gliedmaßen bei jungen Men�schen mit Achondroplasie erst ab ei�nem Alter von 14 Jahren, also ab ei�nem Alter, ab dem sie beginnen, ab�strakt über sich selbst nachzudenken(7). Die Verlängerungsverfahren sind auf�wändige Operationsverfahren, bei de�nen Behandlungszeiten von ca. 1 Mo�nat pro cm Längengewinn eingeplantwerden müssen. Dies bedeutet, dassbei 10 cm die Behandlungszeit durch�schnittlich mindestens 10 Monatedauert. Schnellere Verläufe sind sel�ten, ebenso jedoch auch längere Ver�läufe (1, 3, 6, 7, 9, 11, 16, 17, 19, 21,24, 31) (Abb. 2 und 3).

Bei Kindern und Jugendlichen hatsich das von Ilizarov erstmals vorge�stellte Verfahren mit dem ringförmigenFixateur externe am weitesten durch�gesetzt und am besten bewährt. Eserlaubt während einer Verlängerunggleichzeitig, sämtliche bestehendenDeformitäten in allen Ebenen desRaumes zu korrigieren. Ein besonde�rer Vorteil dieser Methode bestehtdarin, dass evtl. während der Verlän�gerung auftretende Fehlstellungensich korrigieren lassen und auch Kor�rekturen in mehreren Etagen möglichsind. Ein wesentlicher Nachteil be�steht darin, dass der Fixateur externefür den Patienten stark behinderndist.

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Die interne Fixation hat in den letztenJahren zunehmend Interesse gewon�nen und wird teilweise sehr markt�schreierisch als Lösung aller Proble�me angepriesen. Sie kann bei Kindernund Jugendlichen generell nicht ein�gesetzt werden, da sie immer zu einerSchädigung der Epiphysenfugen füh�ren würde. Aus diesem Grund be�schränkt sich diese Methode auf denEinsatz beim Erwachsenen und ist ingeeigneten Fällen eine gute Alternati�ve. Sie ist für den Patienten wesent�lich bequemer, erlaubt jedoch bishernur Verlängerungen von max. 5�6 cmpro operiertem Segment, während wirmit der externen Fixation beispiels�weise am Unterschenkel bei Achon�droplastikern eine durchschnittlicheVerlängerung von 10,1 cm mit einemMaximalwert von 15,5 cm (jeweils ineiner einzigen Prozedur) erreichenkonnten. Ungelöst bei der internen Fi�xation ist bisher die Frage einer mög�lichen Infektion, die bei einer Markna�gelung doch immerhin noch mit 3 %der Fälle angegeben wird. Dies hat fürdie Betroffenen katastrophale Folgen.Bei unseren 1000 durchgeführten Ili�zarov�Verfahren haben wir nur in zweieinzelnen Fällen eine Osteomyelitis(jeweils um einen Kirschnerdraht he�rum) verzeichnen müssen, die jeweilsfolgenlos abgeheilt sind (2, 10, 28, 32,33).

Unsere Empfehlung geht dahin, nichtdas System der Verlängerung zu einerGlaubenssache zu machen. Der Pa�tient sollte die nötigen Informationenbekommen, die medizinischen Not�wendigkeiten und Voraussetzungenmüssen ebenfalls mit ins Kalkül gezo�

gen werden, so dass dann gemein�sam mit den Patienten das für ihnrichtige Verfahren gewählt werdenkann. Aus diesem Grunde bieten wirauch sämtliche gängigen Verfahrenan.

Eine psychologische Studie hat ge�zeigt, dass die meisten kleinwüchsi�gen Patienten nach einer Gliedmas�senverlängerung mit dem Ergebnissehr zufrieden waren und sich in derüberwiegenden Mehrzahl auch nocheinmal der gleichen Prozedur unter�ziehen würden. Ohnehin kann ein„Normalwüchsiger“ nur in höchst ge�ringem Mass verstehen, wie sehr diefunktionellen, besonders aber auchdie sozialen Schwierigkeiten, die derKleinwuchs mit sich bringt, Lebens�freude und Lebensmut schmälernkönnen (4).

Diastrophische Dysplasie Grundlegend anders verhält es sichbei der Diastrophischen Dysplasie.Bisher sind Verlängerungen nichtmöglich, da der Kleinwuchs an sich inAnbetracht der Fülle der Problemeweit im Hintergrund steht. Zudem istzu befürchten, dass die Gelenke desPatienten durch eine evtl. Verlänge�rung geschädigt werden. Die Thera�pie bei der Diastrophischen Dysplasiebesteht darin, Gelenkkontrakturen,soweit wie möglich, zu verhindern.Wie oben erwähnt, gelingt dies oftnicht, da die Wachstumseinflüsse dieGelenke per se bereits schädigen. Obmöglicherweise durch eine Orthesen�versorgung o.ä. Korrekturen der zu�nehmenden Gelenkdeformierungenzu erzielen sind, lässt sich bisher nur

in Einzelfällen bejahen. Wissenschaft�liche Untersuchungen zu diesem The�ma stehen noch aus.

Auf jeden Fall raten wir dazu, bei denKindern mit einer DiastrophischenDysplasie die „Klumpfüße“ (s. o.) zuoperieren, wenn sie dem Kind nichterlauben, sich vernünftig zu aufzu�richten. Die Füße sollten aber erstdann operiert werden, wenn das Kin�des beginnt, sich aufzurichten. Diesführt zu erheblichen besseren Opera�tionsergebnissen (27).

Die Wirbelsäule bei Kindern mit einerDiastrophischen Dysplasie muss dannoperiert werden, wenn sich an derHalswirbelsäule starke pathologischeVeränderungen zeigen (Kyphose!),oder wenn sich eine starke Skolioseentwickelt (20, 26).

AusblickIm Laufe unserer langjährigen Be�schäftigung mit den Problemen derKleinwüchsigen hat sich herausge�stellt, dass die Betroffenen sowohlmedizinischer wie auch sozialpsycho�logischer Betreuung bedürfen. Dennunabhängig von ihren gesundheit�lichen Problemen fühlen sich die mei�sten Betroffenen auch in ihren Mög�lichkeiten eingeschränkt, Anschlusszu anderen zu finden bzw. von ande�ren in ihrem Kleinsein akzeptiert zuwerden.

Unsere Untersuchungen haben ge�zeigt, dass eine sozial unauffällige,also allgemein akzeptierte Körper�grösse für Frauen zwischen 150 und185 cm und für Männer zwischen 165

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Tab 3 Patienten mit Achondroplasie, bei denen Gliedmaßenverlängerungen von durchschnittlich 10,1 cm erfolgt sind(Stand 12.2003)

Gesamt weibl. männl.59 36 23

davon Achondroplasie: 41

Abb 2 N.C., Achondroplasie. Beinverlängerung in mehreren Sitzungen um insgesamt 26 cm. Oberarmverlängerung um 12 cm.

a) im Alter von 10 Jahren, präoperativ. Körpergröße: 110 cm

b) im Alter von 18 Jahren nach Abschluss sämtlicherBehandlungen. Körpergröße: 166 cm

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und 205 cm liegt. Das bedeutet, dassKleinwüchsige nach wie vor als auf�fällig angesehen werden, dass sie„außerhalb der Norm liegen“, was sieim Umgang mit alltäglichen Aufgabenoft vor fast unlösbare Probleme stellt.Unsere ärztliche Aufgabe beschränktsich also nicht allein darauf, den Be�troffenen medizinisch beizustehen,Ärzte können auch einen wesent�lichen Part darin übernehmen, ge�meinsam mit Kleinwüchsigen mehrGleichberechtigung im Umgang mitalltäglichen Dingen zu fordern, ihrSelbstbewusstsein zu stärken unddamit zu helfen, bürokratische, struk�turelle und soziale Hemmnisse zuüberwinden.

Für uns ist es immer wieder erfreulichzu sehen, wenn sich kleinwüchsigeJugendliche ohne Resignation gegeneine Gliedmassenverlängerung ent�scheiden und damit signalisieren,dass sie gelernt haben, sich selbstanzunehmen.

Anders verhält es sich bei den Klein�wüchsigen mit DD. Diese Kinder ha�ben letztendlich keine andere Wahlals mit einer Vielzahl von medizini�schen Eingriffen zurechtzukommenund in der Folge auch mit den sozia�len Einschränkungen umzugehen. Un�sere ärztliche Aufgabe ist es hier, die�se Kinder nicht nur medizinisch zubehandeln, sondern ihnen soweit esmöglich ist, zu einem selbstbestimm�ten und von fremder Hilfe unabhängi�gen Leben zu verhelfen.

Anmerkung*) Hierbei gilt es, zwischen pathologischem undfamiliärem ethnischen Kleinwuchs zu unterschei�den. Aus medizinischer Sicht stellt letzterer kei�ne Indikation zur medizinischen Intervention dar,auch wenn er zu erheblichen sozialen Problemenfür die Betroffenen führen kann.

Literatur kann beim Verfasser angefordert werden.

KorrespondenzadresseDr. Johannes CorrellÄrztlicher DirektorOrthopädische KinderklinikD�83225 AschauTel. 0049 8052 1710Fax 0049 8052 171200www.bz�aschau.de

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Abb 3 Prinzip der Verlängerung mit Fixateur externe bei Achondroplasie, dargestellt am Unterschenkel

Bei der Verlängerung wird wie folgt vorgegangen: Osteotomie der Fibula, falls notwendig, begleitende Weichteilopera�tion (z. B. Achillessehnenverlängerung), Anlegen des Fixateur externe, Corticotomie der Tibia. Je nach Fehlstellungsind auch mehrere Corticotomien erforderlich.

Postoperativ wird eine Woche gewartet, dann jeden Tag durchschnittlich 1mm durch Drehen des Fixateur externe ver�längert. Lauf� und Belastungsbeginn eine Woche postoperativ. Abnahme des Fixateur externe, wenn der Knochen ra�diologisch stabil erscheint.

a) Röntgen präoperativ, b) rechter Unterschenkel während der Distraktionssphase, c) klinisches Bild während der Verlängerung, d) beide Unterschen�kel nach Abschluss der Behandlung.