KMD Professor Dr. Stefan Klöcknerˆckner-Situation... · 2 schenverachtender Höhe, die man nur...

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1 KMD Professor Dr. Stefan Klöckner „Der der römischen Liturgie eigene Gesang“ - oder „Mehr kritisch“: Wo steht der Gregorianische Choral heute? Vortrag im Rahmen des Internationalen Sommerkurses Gregorianik 2016 - ES GILT DAS GESPROCHENE WORT! - Eine persönliche Bemerkung zu Beginn – Erinnerungen Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich bitte mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Es ist 36 Jahre her – es war im Frühsommer 1980 -, da wurde im Kontext der Beset- zung der Professur für Gregorianik und Liturgik (sie war neu geschaffen worden) das Bewerbungsverfahren durchgeführt. Es stellte sich vor der Kantor der fränki- schen Benediktinerabtei Münsterschwarzach, Pater Godehard Joppich. In diesem Zusammenhang geschah mir etwas, was in einem Leben eigentlich nur ganz selten geschieht (wenn überhaupt): Es gab einen Ruck jener Sorte, nach dem das Leben anders zu verlaufen pflegt als gedacht, berechnet, geplant … Ich war damals nur sehr zufällig in dieses Verfahren hineingeraten, denn der seinerzeit tätige Direktor des Hauses, Professor Werner Krotzinger, begegnete mir auf dem Gang und rief mir zu: „Sie sind der einzige katholische Student, der mir jetzt noch einfällt und der an die- sem Verfahren teilnehmen könnte ...“. Unwesentlich, daß ich nicht Kirchenmusik studierte, sondern Gesangspädagogik und mit dem neuen Professor wohl gar nichts zu tun haben würde: Ich war katholisch – das reichte, um für Krotzinger die Sache als „abgemacht“ gelten zu lassen. Ich kannte den Gregorianischen Choral nur aus meiner Kindheit. Er zog durch meine Erinnerung wie akustischer Weihrauch, fremd, distanziert, abgehoben; Sound einer anderen und für uns unverfügbaren Welt – so fremd, daß man sie als junger Mensch nicht mehr vermisste. Nun stand da auf einmal dieser kleine Mann vor uns, voller Leben, Energie, Witz und Spiritualität – und so ganz und gar in der Wirklichkeit un- serer Tage verankert. Und so klang auch der Gregorianische Choral auf einmal, als habe er alle desinfizierende Überzeitlichkeit abgestreift und ein „aggiornamento“ hinter sich – eine Verheutigung. Er klang nicht mehr abstrakt und entrückt, sondern fleischlich – konkret und für uns und unsere Lebenswelt heute relevant. Die Erfah- rung dieser Zuwendung war neu für mich: Kirche nicht als Glaubensverwahranstalt und Sakramentenverwaltungsbüro – keine Hürde der Sakralität, angebracht in men-

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KMDProfessorDr.StefanKlöckner„DerderrömischenLiturgieeigeneGesang“-oder„Mehrkritisch“:WostehtderGregorianischeChoralheute?VortragimRahmendesInternationalenSommerkursesGregorianik2016

-ESGILTDASGESPROCHENEWORT!-

EinepersönlicheBemerkungzuBeginn–Erinnerungen

MeinesehrverehrtenDamenundHerren,lassenSiemichbittemiteinerpersönlichenBemerkungbeginnen.Esist36Jahreher–eswarimFrühsommer1980-,dawurdeimKontextderBeset-zungderProfessurfürGregorianikundLiturgik(siewarneugeschaffenworden)dasBewerbungsverfahrendurchgeführt.EsstelltesichvorderKantorderfränki-schenBenediktinerabteiMünsterschwarzach,PaterGodehardJoppich.IndiesemZusammenhanggeschahmiretwas,wasineinemLebeneigentlichnurganzseltengeschieht(wennüberhaupt):EsgabeinenRuckjenerSorte,nachdemdasLebenanderszuverlaufenpflegtalsgedacht,berechnet,geplant…IchwardamalsnursehrzufälligindiesesVerfahrenhineingeraten,dennderseinerzeittätigeDirektordesHauses,ProfessorWernerKrotzinger,begegnetemiraufdemGangundriefmirzu:„SiesinddereinzigekatholischeStudent,dermirjetztnocheinfälltundderandie-semVerfahrenteilnehmenkönnte...“.Unwesentlich,daßichnichtKirchenmusikstudierte,sondernGesangspädagogikundmitdemneuenProfessorwohlgarnichtszutunhabenwürde:Ichwarkatholisch–dasreichte,umfürKrotzingerdieSacheals„abgemacht“geltenzulassen.IchkanntedenGregorianischenChoralnurausmeinerKindheit.ErzogdurchmeineErinnerungwieakustischerWeihrauch,fremd,distanziert,abgehoben;SoundeineranderenundfürunsunverfügbarenWelt–sofremd,daßmansiealsjungerMenschnichtmehrvermisste.NunstanddaaufeinmaldieserkleineMannvoruns,vollerLeben,Energie,WitzundSpiritualität–undsoganzundgarinderWirklichkeitun-sererTageverankert.UndsoklangauchderGregorianischeChoralaufeinmal,alshabeeralledesinfizierendeÜberzeitlichkeitabgestreiftundein„aggiornamento“hintersich–eineVerheutigung.Erklangnichtmehrabstraktundentrückt,sondernfleischlich–konkretundfürunsundunsereLebensweltheuterelevant.DieErfah-rungdieserZuwendungwarneufürmich:KirchenichtalsGlaubensverwahranstaltundSakramentenverwaltungsbüro–keineHürdederSakralität,angebrachtinmen-

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schenverachtenderHöhe,diemannurdadurchhintersichlassenkonnte,daßmanerhobenenHauptesdarunterherging!Nein–hierwarensie–dieQuellendesGlaubens!UndichwarinsohohemMaßer-stauntundbefreit,daßesstetsdermenschenfreundlicheGottist,derunseremenschlicheGeschichtemiterleben,mitgestaltenwill:„Alleslenkstdu,auchunserkleinesLeben–lenkstesindeineslautlosenWaltensGeheimnis“;GodehardJoppichhatteunsselbstvertrautgemachthattemitdiesemGebetvonRomanoGuardini,indemdasUnfaßbarederZuwendungGotteszuunsMenschenpoetischumrissenwurde.GodehardJoppichistpromovierterTheologe–Dogmatiker…SeineDissertationhat-teerseinerzeitgeschriebenüberdieTheologiedesIrenäusvonLyon.Sieistüberti-telt„Saluscarnis“,dasHeildesFleisches.DasHeildesFleischeszieltindaslebens-spendendeWort,dasdemmenschlichenFleisch(imSinnederconditionhumaine)anvertrautist,weilGottessowill–weilGottunsvertraut…weilGottalleZweifelundallesBrüchigemitunsMenschenteiltundweilerdiesesLebenmitunslebt.InwenigenMomentenwardas,wasichvonKircheundGlaubebisdahinverstandenzuhabenglaubte,insNichtszerbröselt.EinDurstwurdewach–DurstnachdenQuellen,ausdenendieserlebensspendendeGedankenflußseineNahrungerhielt.DannfolgteinJoppichsVorlesungdieklingendeExegesedesOffertoriumsvom19.SonntagimJahreskreis„Intesperavi“(aufdichhabeichimmermeineHoffnungge-setzt,dennDUbistmeinGott.)DasBildvommenschenfreundlichenGott,derunserenWegmitgeht,mitgestaltet–dersichmitunsverbundenhatundderunsnäherist,alswiresmanchmalertragen,hatmichseitdemnichtmehrlosgelassen.EshatmeineVorstellungvongeprägt,aberauchdieAufgabederKirche,sowiesiesichheutedarstellt.UndsowurdediesesGottesbildzurGrundlagemeinestheologischenStudiums.DennjenerDurstnachdenQuellen–erließsichfürmichnichtandersstillen!AndieStelledessynästheti-schenGefüges,dasdieGlaubenspraxisderfrühenKindheitbestimmthatte,warnundasnüchterneVerkostendesWortesderHeiligenSchriftgetreten:asketisch,dochnichtmindersinnlich!UndeineHerausforderungfürLeib,SeeleundVerstandzu-gleich–daswaraufeineaufregendeWeiseneu…

Die Aufgabe des Gregorianischen Chorals heute

EswirdinjenerVorlesungsstundenichtnurmir,sondernvielenzumindestintuitivklargewordensein,warumderGregorianischeChoralinderGeschichtederKir-chenmusikimmerwiederalsModellfürsakraleKompositionendiente:Wervondie-

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senGesängengelernthat,wiedaserklingendeWortderHeiligenSchriftseinenWegvonderBetonungdesTextesbiszumErklingendesGesangsnimmt–zuerstbehut-samtastend,dannimmerintensiversichsteigerndbishinzurhöchstenNachdrück-lichkeitdesFlehens,Lobens,Schreiens,Jubelns–werdasbegriffenhat,derwirdvielleichtandersmitseinemOrgelspielLiederderGemeindeintonierenundbeglei-ten,derwirdmöglicherweiseganzandereWegedesgeistlichenZugangsbeiderEin-studierungvonChoralwerkenwählen.ErhataufjedenFalldiegroßeChancezuver-stehen,daßdasGlaubenslebenderChristenzukeinerZeitvornehmlichdurchAus-sagesätzeundFeststellungen,sondernfastimmerzuerstdurchFragesätzeundZweifelgeprägtwurde.EsistwieindemkurzenGedichtvonJehudaAmichai,dasichindieserZeitentdeckteunddasmirliebundteuergewordenist,weilesvorAugenstellt,wiefruchtbarundnotwendigderZweifelunddasbohrendeFragenfüreinenlebendigenGlaubensind,dersichalstragfähigerweisensoll:„AndemOrt,andemwirRechthaben,werdenniemalsBlumenwachsenimFrühjahr.DerOrt,andemwirRechthaben,istzertrampeltundhartwieeinRuf.ZweifelundLiebeaberlockerndieWeltaufwieeinMaulwurf,wieeinPflug.UndeinFlüsternwirdhörbarandemOrt,wodasHausstand,daszerstörtwurde.“

DiegeistlicheAufgabeDiesistalsoderSinnunsererArbeitmitdemundamGregorianischenChoral:dasVorstoßenzudiesenQuellen!Inden36JahrenseitdiesenEreignissenhabeichmichmitTheologiestudium,geistlichemAmtundhauptberuflicherTätigkeitdemchristli-chenGlaubenangenähert–undzeitweisederKircheauchausgeliefert!Wieoftkleb-temirdabeigeistlichdieZungeamGaumen,weilichmeinenDurstnachlebendigemWissenumdieQuellennichtstillenkonnte-besondersschlimmindenletzten12JahrenmeinergeistlichenTätigkeit.UnddannwaresstetsdieErinnerungandieklingendenQuellendesgesungenenGebetes,diemirdenMundbefeuchtetundmirwiedererträglichenGeschmackhineingelegthaben.

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DerGregorianischeChoralistkeinetraditionalistischeFanfareewigGestrigerinun-sererKirche!EristaberauchkeinesedierendeKlangbehübschungfürmeditativeGottesdienste!EsgehtumdastastendeSuchen,esgehtdarum,demFragennachei-nerzeitgemäßenGestaltdesGlaubensinunsererZeiteinklingendesÄquivalentzuverschaffen.Dafürlohntessich,dieQuellenaufzusuchen,dieumdenGlaubenrin-gendeMenschenseitJahrhundertenbefruchtethaben.DerGregorianischeChoralalsgottesdienstliche/geistlicheMusikhathierheuteeineseinerwichtigsten–javiel-leichtsogardieeinzige–Berechtigung,wennmandarandenkt,welcheMüheesmacht,ihnzupflegen,zuerlernenundweiterzugeben.AufdaßsichdieseMüheloh-ne...!VielleichterstauntesSie,daßichdiesenVortragmitdiesempersönlichenBekennt-nisbegonnenhabe.Aberichglaube,daßallesvorschnelleRezitierenundHerunter-betenvonkirchlichenDokumenten(bishinzurLiturgiekonstitutiondesII.Vatika-nums)unsinderSachenichtmehrweiterführt.WirsindinderGeschichteunsererKirchewohlaneinemPunktangekommen,andemdasbloßeWiederholenabstrak-terRichtigkeitennichtsmehrnützt,keineZukunftmehrsichert.DasgiltauchfürdenGregorianischenChoral,dessenTheorieundvorallemPraxisvondaherneueStand-ortbestimmungenzuwidmensind.

BeobachtungenundFragestellungenNachdiesempersönlichenBeginnalsonundreiBeobachtungen,mitdenenichindieengerethematischeArbeiteinsteigenwill. Esgehta)umdieVerortungdesGregorianik-Studiumsimakademischen(künstlerischenundwissenschaftlichen)GesamtspektrumeinesAusbildungsinstitutes;b)umdieVerortungdesSingensgregorianischerMelodieninvielfältigerPraxis,undc)umdieWeiterentwicklungderErforschungderkonkretenmelodischenGestaltdesgregorianischenRepertoires.AlsGrundlagefürunsereÜberlegungendienenunszweiBegriffe,dieauchindenTiteldesVortragsEinganggefundenhaben:„derderrömischenLiturgieeigeneGe-sang“(LiturgiekonstitutionArt.116)istdieBezeichnung,diedieVäterdesII.Vati-kanumsfürdenGregorianischenChoralgewählthaben,unddie“Editiomagiscriti-ca”(„mehrkritischeAusgabe“)beziehtsichaufeinenAuftragausArt.117derLitur-giekonstitution:DortwirddieFertigstellungderBücherPius'X.undderenmelodi-scheRevisiongefordertsowiedieSchaffungeinereinfachenChoralbuchausgabefür

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kleinePfarreien(erfülltim1975erschienenenGradualeSimplex).

DasFach„Gregorianik“imKontextderAusbildungNunaberzumerstenPunkt,derVerortungdesGregorianik-Studiumsimakademi-schenGesamtspektrumeinesAusbildungsinstitutes.Alsich1978meinMusikstudiumanderdamaligenFolkwangHochschulebegonnenhabe,bestanddieKirchenmusikabteilung(mitderichinmeinemStudiumamRandeKontakthatte)ausca.60Studierenden,diesichungefährzugleichenTeilenaufbei-deKonfessionenverteilten.Die„KonferenzderLeiterkatholischerkirchenmusikalischerAusbildungsstätten“führtseitJahrzehnteneineBilanzderBewerberzahlenfürdasStudium.Seit1992(demJahr,abdemichdannselberdieserKonferenzangehörthabe)wareineab-nehmendeZahlanStudienwilligenindenAusbildungsstättenzuverzeichnen.1999,alsichnachEssenberufenwurde,hattesichdieZahlbereitsumdieHälftereduziert,seit1999nocheinmalaufgutzweiDrittel.DerTiefststandwarca.2010mitnurnoch150StudierendenfürkatholischeKirchenmusikinganzDeutschlanderreicht.Damitwar(undist)dieExistenzvielerkirchenmusikalischerAusbildungsstättengefährdet.InzwischenistzwarwiedereinleichterAnstiegzuverzeichnen–aberwievieleAb-teilungenfürKirchenmusikwirddasretten?Inzwischenhabensogarhöchstre-nommierteStudieninstitutewiedieMusikhochschuleMünchennurnocheineHand-vollStudierendefürkatholischeoderevangelischeKirchenmusik.WasWunder,daßimmermehrHochschulendiekirchenmusikalischenAusbildungenbeenden,dasichdasBindenpersonellerundfinanziellerRessourcenfürsowenigStudienwilligeaufDauernichtmehrlohnt!

DerkirchenmusikalischeArbeitsmarktHierseieineNebenbemerkunggestattet:Einlauter,fasthysterischerSchreiistin-zwischenseitensdesAnstellungsträgers„Kirche“zuvernehmen,daßzuwenigfürdieKirchenmusikausbildunggetanwürdeunddaßesvieleStellengäbe,dienichtbesetztwerdenkönnen.IsteseineernstzunehmendeMahnung,aufdiemanreagie-renmuß–odermutetdiesseitensderÄmterundReferatefürKirchenmusikwieeinletztesAufbäumenan,bevorderinnerinstitutionelleKampfumRelevanzundBe-

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deutungperviamfactigegenteiligentschiedenwird?Denn:WieistdieStellensitua-tiondennwirklich?UndisthieraufDaueretwasabsehbar?Istesverwunderlich,daßsichaufeineStellemitsiebenGottesdienstorten(davonviermitElektronenor-gel),die70Kilometerauseinanderliegen,niemandbewirbt–auchwennessichumeine100%igeB-Stellehandelt?AngesichtsdeskonfessionsübergreifendenMißver-hältnisseszwischenhauptamtlicherStruktureinerseitsundimmermehrwegbre-chendenGottesdienstbesuchernandererseits:GibtesdennwirklichrealistischePlä-ne,wiePfarreienmitimmerwenigerwerdendenGeistlichenkünftigfunktionierensollenundwelcheRolledieKirchenmusikimpastoralenGesamtgefügekünftigspie-lenwird?ImBistumEssenz.B.istleiderzuverzeichnen,daßdiePfarreienfusionenowohlqualitativalsauchquantitativdurchwegzuLastenderKirchenmusikgegan-gensind–bzw.derKirchenmusiker/innen!AufihremRückenwirdesnichtseltenausgetragen,wennbenachbartePfarrersichnichtüberdenEinsatzdesKirchenmu-sikerseinigenkönnen.UndwiesiehtesmitdenFinanzenaus,diekünftigzurVerfü-gungstehen?GibtesaufDauerverläßlichePlanungsgrößen,wenneinverantwortli-cherGeneralvikardenSinnvonGeldinvestitionenfürdenliturgischenBereichgrundsätzlichinFragestellt?AufdiesemHintergrundgesehenwardieimHauseselbstherbeigeführteSchließungderKirchenmusikabteilunganFolkwangmindes-tensmitBlickaufdiekatholischeKirchesicherlicheinegrundrichtigeEntscheidung–aufwelchenPartnerhättemandennhierbauensollen?IchwerdeimmersehrskeptischundhebedieHändezueinerGestederäußerstenVorsicht,wenneinPfar-rersagt:„LiebeKirchenmusiker,SieleistenfürunseinenunbezahlbarenDienst!“WirwissenallzugutausjahrzehntelangerErfahrung,daßdereinzigeHahn,derheutenochinderKirche(undnichtnurinderkatholischen)regelmäßigdreimalkräht,derGeldhahnist.

DerPlatzdesFaches„Gregorianik“imAusbildungskanonNunsorgenmichpersönlichwenigerdieStellensituationundauchdieAusbildungs-situation–dennmitbeidemhabeichnichtmehrdirektzutun.Michinteressiertna-türlichvorallemdieFrage,wieGregorianischerChoralalsUnterrichtsfach(bisherfastausschließlichimkirchenmusikalischenKontextverortet)unterdiesenAuspizi-enkünftigalsakademischesFachnochpräsentseinwird.WasbedeutetesalsofürdasFachGregorianik,wenna)immerwenigerAusbil-dungsstättenfürKirchenmusikexistierenwerdenundb)dieGewichtungdiesesFa-chesimstetssichweiterauffächerndenfachlichenSpektrumimmergeringerzuwerdendroht?

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Zudem–dieAnziehungskrafteinerkirchenmusikalischenAbteilunganeinerHoch-schulelebtsehrstarkvonderAttraktivitätderPersönlichkeiten,alsoderVertretervorallemdesFachesOrgel,aberauchChorleitung.UnddannistderfürdieGregori-anikzuständigeKollegeabhängigvondemVerständnis,dasdieprominentenKolle-genfürdasFachGregorianikaufbringen.MitBlickaufjüngsteOrgelprofessorenbe-setzungeninDeutschlandseheichhierdunkelschwarz!

GregorianikundMusikwissenschaft:DefiziteaufbeidenSeitenAuch,weilindenletztenJahrenzunehmendmusikwissenschaftlicheInstituteanMusikhochschulenverlagertwordensind(wodurchsicheinenatürlicheNähezwi-schenTheorieundPraxisergibt),bietetsichalsnatürlicherundnachhaltigerKor-respondenzpartnerFachesGregorianikdieMusikwissenschaftan.AllerdingsistmehrfachschonaufdieProblematikhingewiesenworden,daßaufbei-denSeitenDefizitezuverzeichnensind,dieeinenfruchtbarenDialogsehrlangebe-hinderthabenundzumTeilauchheutenochbehindern.AufderSeitederMusikwis-senschaftistdasvorallemeinefehlendeWeitsichtfürdieKomplexitätdesGregoria-nischenChorals(alsZeugnisderTheologie,derSpiritualität,alsFaktorderPhilolo-gie,derMusiktheorieundvielerverwandterbzw.auchfernerliegenderWissen-schaften–aberebenauchdermusikalischenPraxis).HierwirdoftdasSingengrego-rianischerGesängebzw.daspraktischeZeugnisdieserMusikaufdasFeldder„histo-rischinformiertenAufführungspraxis“reduziert–wassichschematischundgerade-zuarmseligausnimmt.AufderanderenSeiteistesinderGregorianik-ForschungseitJahrzehntenverpöntgewesen,musikwissenschaftlichexaktzuarbeitenundz.B.dieinderMusikwissenschaftselbstverständlichakzeptiertenStandardsderQuellenkri-tikundderQuelleneditionauchaufgregorianischeEditionenanzuwendenbzw.edi-torischumzusetzen.IchwerdeimspäterenVerlaufdesVortragsnochdaraufzu-rückkommen.

EinkleinerSeitenblickaufdiePraxisSchauenwirkurzaufdieVerortungdesGregorianischenChoralsinderPraxis:AuchhierhabenwiresmitwidersprüchlichenErfahrungenzutun!Daistz.B.dieErstel-lungdesneuengemeinsamenGebet-undGesangbuches(GGB),inderenKontextauchderGregorianischeChoralzumThemawurde.DennimVorfeldderErarbeitung

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desBuchestatmanwaseigentlichsehrKluges:IneinerdifferenziertangelegtenBe-fragungversuchtemanherauszufinden,wiedasalteGotteslobrezipiertwordenwarundwelcheinderNeuausgabeauszugleichendenDefizitedortzufindenwaren!FürdenGregorianischenChoralaberwardieseBefunderhebungerschreckend:DieseGesängeseienzuantiquiert,zulebensfremdundeinklingendesRepertoirederKir-chevonvorgestern!DieKirchealtert–sowiedieGesellschaftinDeutschlandalsganze!UndsoaltertauchdiegemeindlicheKirchenmusik(somancherKirchenmu-sikerhateinen„Silbersee“vorsich,wennerdieHaarprachtseinesKirchenchoresbetrachtet).AbersogarindiesemKontext,dernichtbesondersfortschrittlichbzw.jugendlichzuseinscheint,giltderGregorianischeChoralals„oldfashioned“.NunstandendieKommissionen,diemitderErstellungdesneuenGesangbuchesbe-auftragtwaren,voreinemgroßenProblem:ZumeinenwolltemandieLebenswirk-lichkeitderGemeindengetreulichabbildenundeinBuchschaffen,dasfürdieKirchevonheuteundvonmorgentauglichist.ZumanderenisteinGesangbuchnatürlichimmeraucheindiachronerSchnittdurchdieGeschichtedesliturgiemusikalischenRepertoires.UndeserschienallenBeteiligtenausgeschlossen,„denderrömischenLiturgieeigeneGesang“,denGregorianischenChoral,nichtzuberücksichtigen,weilerindenGemeindennichtmehrodernurnochsehrwenigpraktiziertwurde. EinehektischeDiskussionsetzteein–dennwerdieeineFragestellt,mußauchmitdenAntwortenleben,dieihmnichtinsKonzeptpassen.EsstanddieÜberlegungimRaum:WaserwartetoderbefürchtetmandennnunvonderKirchenmusik,waserwartetoderbefürchtetmanvomGregorianischenChoral?DaßeshiersolangweiligzugehtwieinderLiturgieselber?Sostarr,sotot,sosta-tisch-hierarchischunddamitsowelt-undlebensfremd?

Liturgie–lebendigbegrabenundwortreichsprachlos!InletzterZeitscheintmandieserFragebesondereAufmerksamkeitzuwendenzuwollen;erstauntkannmanregistrieren,daßdenVerantwortlichendieseProblemla-gebewußtwird,undsomanchesBistumhatdasProgrammaufgelegt,daßdieKirchenundenMenschennaheseinmöchte–wasfreilichbeiweitemnichtindemMaßegelingt,wiedieMenschenderKirchefernbleiben!SowarkürzlichinderWestdeut-schenAllgemeinenZeitung,einerimRuhrgebietrechtweitverbreitetenPostille,zulesen,daßdiekatholischeKirche(indiesemFalldasBistumEssen)sichderLe-bensweltderMenschenannähernundaufdieMenschenzugehenwolle–dasBistumhatsichseitseinerGründung1958hinsichtlichderMitgliederzahlhalbiert!Wassich

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wieeinemutmachendepastoraleNeuausrichtunglas,wurdeausgerechnetfürdieKirchenmusikdesBistumszurschallendenOhrfeige.Dennvorallemsiewurdegeta-deltalsÄußerungeinerHochkultur,derenQualitätsanspruchdieMenschenmehrhinderealsemotionalstimulierebzw.fördere.Etwasflapsigdaherwatschelndwur-den„ChorundOrgel“kurzerhandzuModellenvongesternerklärt;esbeganneinaktionistischerWettbewerbingegenseitigerÜberbietungan„Niedrigschwelligkeit“,unddasallesmündeteinderEmpfehlung,daßauchdasSteigerliedundauchHele-ne-Fischer-SongsimGottesdienstprinzipiellmöglichseinmüssten.

Niederschwellig–oderbodenlos?EsgibtkeinensichererenWeg,diejenigen,diejetztnochdasind,zuverlieren–undgleichzeitigniemandenvondenenaufDauerzugewinnen,diemandamiterreichenmöchte!Glaubtmandennwirklich,damitJugendlicheandieKirchebindenzukön-nen?BesondersabsurdwirddieSachlage,wennmandieaufderanderenSeitever-sammeltesehrjungeGregorianik-Szene(manschauesichnureinmalindiesemRaumum)näherbetrachtet.ZunehmendwirdderGregorianischeChoralzusammenmitderKinderchorleitungderKirchenmusikjüngstesGesicht!AberwospiegeltsichdasinderPraxiswider?InwelchemgottesdienstlichenFormatistdieseneueundjungeSeitedesGregorianischenChoralszuentdecken?UndwowirddieChancege-nutzt,diemitdemgroßenKapitalverbundenist,dasKinder,JugendlicheundEr-wachsenedarstellen,diez.T.jahrzehntelangdurchdieKirchenmusikaneineGe-meindegebundenwerden?StattdessenwandertdieMusikabindenaußerkirchli-chenBereich–undmanschautungerührtdiesemExoduszu–warum?WeilmananundmitderMusik„arbeiten“muß?WeilQualitätzukomplexistfürdiegewollteNiederschwelligkeitdespastoralenDenkens?IcherinneremichindiesemKontextaneinGesprächmiteinemWeihbischof,dersehranderErneuerungderLiturgieundanderständigenVerheutigungunseresGlaubensinteressiertist.DieserWeihbi-schoffragtemich,wasdasdennfürLeuteseien,diesichdajährlichinEssenver-sammelnunddenGregorianischenChoralpflegenwürden–undwasdiemitderKirchezutunhätten!Ichsagteihm:„HerrWeihbischof,dasindsehrviele,diemitderKirchegarnichtsmehrzutunhaben…unddieauchinkeinenliturgischenKon-textmehreingebundensind!“DerWeihbischoffragtemich:„GregorianischerChoralohneKirche–gehtdenndas?“Undichantworteteihm:„HerrWeihbischof–Grego-rianischerChoralMITderKirche…gehtdasdenn?“

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MitBlickaufdasflächendeckendeZusammenschmelzenderKirchenmusikausbil-dungimdeutschsprachigenRaumstelltsichalsodieFrage:WowirdderGregoriani-scheChoralalsakademischesFachzukünftigverankertsein?

KünftigeVerortungdesUnterrichtsfaches„Gregorianik“IchseheGregorianikkünftigvorallemalseinFach,daspraktischderEnsemblesing-/bzw.Ensembleleitungspraxis(Chorleitung,LeitunggemischterEnsembles,Dirigie-ren)undtheoretisch-wissenschaftlichderMusikwissenschaft(Musiktheorie,Mu-sikhistorie)zugeordnetist.IndieserMischungwirdderGregorianischeChoral/dasFachGregorianikzukünftigandenakademischenAusbildungsstättenvielleichtüberlebenkönnen.UndesbrauchtbeideFaktoren!DarfesindiesemKontextalssignifikantgelten,daßdasFach(woeshauptberuflichgelehrtwird)zunehmendvonnichtpromoviertenPraktikernvertretenwird,denenderZugangzurMusikwissenschaftweitgehendfehltbzw.verwehrtbleibt?ZwischenderGregorianikinTheorieundPraxisaufdereinenSeiteundMusikwissenschaftaufderanderenSeiteklaffteingarstigerGraben,derlängstensüberbrückt,wennnichtgeschlossengehört–dasgiltauchfürdiePraxisunddieTheoriederMusikdesMit-telaltersgenerell!Soistz.B.mitBlickaufdieErforschungundPraxisderLiederderHildegardvonBingenmanchenkünstlerischwiewissenschaftlichAktivensehrdeut-lichanzumerken,daßsievonGregorianikweitgehendunberührtsind(umdasböseWort„ahnungslos“zuvermeiden)!Wieanderskannmansichdennerklären,daßsehrhäufigdergrausameFehlerbegangenwird,dierelativeNotationvongregoria-nischenGesänge(oderauchGesängederHildegard)in5-Linien-Notation(unddamitinabsoluteTonhöhen)zuübertragenundsostillschweigenddenUnterschiedzwi-schenderSolmisation(do,re,mi,fa,so,la)undderabsolutenTonhöhe(c,d,e,f,g,a)wegzuwischen?DerhierVortragendemußtesichkürzlichdenVorwurfgefallenlas-sen,40JahreeinerkünstlerischenArbeitzuignorierenundzunichtezumachen,nurweilerdieInterpretenderGesängederHildegardvonBingendaraufaufmerksamgemachthatte,daßeinProtusgelegentlichauchauflanotiertwerdenkann,ohnedaßdeswegendieMelodiealsganzeeineQuintehöhererklingt!EinGregorianikerweißdasnatürlich–undauchdieKomponistinHildegardvonBingen(alsinGrego-rianischemChoralbestensausgebildeteBenediktinerin)hatdasgewußt!IstdieserProtesttragischodererheiternd?SignifikantisteraufjedenFall!

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DieMelodiefassungenSchließlichderletztePunkt:UmnichtsistinderChoralgeschichtederarthartundnachhaltiggestrittenworden,wieumdieFassungderMelodie.EsscheintgeradezueineGlaubenssachezusein,daßmanfürden„derrömischenLiturgieeigene[n]Ge-sang“aucheineeinheitlicheFassungindergesamtenkatholischenKirchevorge-schriebenwissenmöchte.Diesistjedochnichtmöglich–wieunsereweiterenDarle-gungenzeigenwerden.AberzuerstseieinekurzeWiederholunggestattet:WiekameszurMelodiefassungdesGradualeRomanum1908?

DerWegzumGradualeRomanum1908DieGeschichtederRestaurationbzw.RestitutiondesGregorianischenChoralsvoll-ziehtsichinmehrerenStufenbzw.Schritten.AlsReaktionaufHumanismusundReformationentstehtimNachfelddesKonzilsvonTrient1614/15dieEditioMedicaea.DerzeitwirdhieranFolkwangeineDisser-tationgeschrieben,alsderenErgebniswohljetztbereitsfestgestelltwerdenkann,daßderChoralderEditioMedicaeaeinebewusstnachVorgabendesHumanismusundderfrühbarockenMusiktheoriestrukturierteNeukompositionist– undnichtdasErgebniseineskontinuierlichnachvollziehbarenNiedergangsinderÜberliefe-rungderMelodien.LassenSiemichindiesemKontextetwaseinflechten,dasmichseitgeraumerZeitschonsehrbeschäftigt.DerHistorikerOdoMarquardthatunsda-raufhingewiesen,daßdieBetrachtungvonGeschichteniefreiistvonideologischenVoraussetzungen.

GregorianischerChoralals„Verfallsgeschichte“EinedernachhaltigstenVorstellungenistdieeinerVerfallsgeschichte:AmAnfangstehteinIdealzustand,derdurchdieZeitläufeimmerweiterkompromittiertwirdundsichvomästhetischenIdealdesUrsprungszustandsentfernt.DieseAuffassungvonGeschichtegehtaufdieVorstellungvonJeanJacquesRousseauzurück,dessenPostulat„ZurückzurNatur!“ausderAuffassungresultierte,esgäbefürKulturgütereinenparadiesischenUrzustand,derdurchdieEntfaltungmenschli-

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cherAktivitätenkompromittiert,ja,zerstörtwordensei.AufunsereheutigeFrage-stellungübertragenheißtdas,daßderheutepraktizierteGregorianischeChoralim-mernocheine„paradiesische“Urfassungverborgenhält,diemangegebenenfallsausverschiedenenhandschriftlichenBezeugungenrekonstruierenkönne.SowohlmitBlickaufdieHeterogenitätderQuellenlagealsauchausgrundsätzlichenErwägun-genherausistjedocheinsolchesVorgehenalsäußerstkritisch–wennnichtgaralsfalsch–zubewerten.Denneinvermeintlich„paradiesischer“UrzustandderMelo-dienlässtsichüberhauptnichtwiederherstellen–schongarnichtalseingeschlos-senesRepertoire!UndwennmandiekonkretenErgebnissebetrachtet,danner-scheinteinsolchesVorgehenauchnichtimmerwünschenswert.DennesdarfmitBlickaufzahlreicheBeispiele(erwähntseienhiernurdieindenHandschriftenbe-zeugtenÜberlieferungendesIntroitus„Requiemaeternam“undderAntiphon„DapacemDomine“mitBlickaufihrespäteren,heuteverbreitetenVersionen)dochwohlsehrdiskutiertwerden,ob„frühere“Fassungimmergleichbedeutendistmit„bessere“oder„klarere“bzw.„logischere“Fassung.Gelegentlich(daskenntmanauchausderGeschichtedesKirchenliedes)hatsichdiehistorischeWeiterentwick-lungalsdurchausheilsamerwiesen.

Sinneiner„Editiomagiscritica“MeineDamenundHerren,Siemerken:schonandiesemPunktsindwirimZentrumderÜberlegungenzueiner„Editiomagiscritica“desGregorianischesChoralsange-kommen.Mankommt–folgtmandenIdealvorstellungenderVerfallsgeschichte–automatischindieproblematischeSituation,sämtlichefortschreitendeEntwicklun-genalsDegenerierungsprozessbzw.alsvordemHintergrundeinerFrühfassungzukorrigierendeDekadenzeinzustufen.Dochdasistletztlicheindogmatischesbzw.ideologischeingeengtesVerständnisderGeschichte.DenndieMomentaufnahme,diedieEntwicklungeinerMaterie(wiedemGregorianischenChoral)zuverschiedenenZeitenbietet,isthistorischaufrichtigerundsehrwahrscheinlichmitBlickaufdiegesamteMaterieauthentischer!Sehrsorgfältigwirdalsozuüberprüfensein,inwie-ferndieservermeintlicheAuftrageinernotwendigenRekonstruktionnichtletztlichdochaufRomantizismenfußtbzw.einerromantischverklärtenAuffassungvonGe-schichteundihrerFortschreibunggeschuldetist.Wieistdaszuverstehen?

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Romantik–RomantizismenAlsReaktionaufdiefranzösischeRevolutionunddieSäkularisierunginFrankreichundDeutschlanderwächstamAnfangdes19.JahrhundertseinegroßangelegteRe-staurationdesKirchlichenbzw.eineteilssentimentalgefärbte,teilsideologischbe-gründeteRückbesinnungaufästhetischeIdealedesfrühenundhohenMittelalters.HiergehtesumdiesehnsuchtsvolleErinnerunganeinenZustand,beidemdurchdieAufgabenteilungdesgeistlichenundweltlichenSchwertessowiedieallesumgrei-fendeSinnstiftung,welchedersozialenRealitätdurchdenGlaubenzuteilwurde,demBetrachterspätererJahrhunderte(alsoaposteriori)alles„inOrdnungseiend“erschien.AuchindiesemKontextspieltderGregorianischeChoralseineRolle:ErwirdfürnichtwenigeHistoriker,Kulturästheten,PhilosophenundTheologenzurErkennungsmelodieeineridealenKirchevonheute(defactovonvorgestern),zumperfekten„Sound“desüberzeitlichSakralen!DaßdieKunstjenerZeitsichprinzipiellimKontextdieserGedankensieht,erhelltauseinemBlickaufdieGemäldeeinesCasparDavidFriedrichundKarlSchinkel.DieRomantikistzutiefstdurchwirktvonästhetischenundkulturellenDichotomien,dennzudieserZeittreffenaufeinander:

- nachaufklärerischeintrinsischeVerklärungmiteinemAnspruchaufüberzeit-licheGültigkeit,

- beginnendesnationales(nationalstaatliches)Denken,dasfeudale,regionaleundkonfessionelleDifferenzendurchideologischeÜberbautenzuüberwin-dentrachtetundebenfallsausdemImpetusnachaufklärerischerAffektege-speistwird,und

- derBeginnumfangreichenhistorischenQuellenstudiums,oftalsElementei-nernationalenSelbstidentifikationbegonnenunddochGrundlagefürdiewis-senschaftlicheErforschungvergangenerZeitenundProzesse.SoauchmitBlickaufdenGregorianischenChoral:1846wirdderCodexMontpellierH159entdeckt;erwirdzurGrundlagederMelodieeditiondesGradualesvon1908.20Jahrezuvor(1827)hatteIldefonsvonArxdenCodexSt.Gallen339ent-decktundaufgrundseinerTitulatur(„AntiphonaleGregoriiPapae“–DasAn-tiphonalePapstGregorsdesGroßen)zurwichtigstenHandschriftdesGrego-rianischenChoralserklärt.AnselmSchubigerschriebseineBetrachtungenzurSängerschulevonSt.GallenimJahre1858undlegtedamitdiewichtigsteGrundlagefürdieErforschungderSt.GallerNeumenschrifthinsichtlichTheo-rieundPraxis.

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FrankreichundDeutschland:SolesmesundRegensburgIchhatteebenschondaraufverwiesen,daßesnichtverwunderlichist,wenndiewichtigstenBestrebungenzuRestitutiondesGregorianischenChoralsinFrankreichundinDeutschlandtopographischzuverortensind.PostaufklärungsamtAbkehrvonderallesleitendenVernunftunddiehistorischenErfahrungenvonRevolutionbzw.SäkularisationmachendiesebeidenLänderdenGeburtsgrottendereuropäi-schenRomantik.MitderNeubegündungderAbteiSolesmesinFrankreich(ab1831)wardorteinOrtgeschaffenworden,derzuallererstvomHeiligenStuhldenAuftragbekam,nunendlicheinmaldieliturgischenBeschlüssedesTrienterKonzilsinFrankreichumzusetzen.ZugleichsolltedasKlosterSolesmesdieQuellendesGrego-rianischenChoralssammelnundkollationieren.InRegensburghattesichdurchdasWirkenvonFranzXaverHaberleinbesondererSchwerpunktdeskatholischenCäcilianismusgebildet.1868wurdederAllgemeineCäcilienvereingegründet,derbisheutealsDachverbandfüralleKirchenchörewirktunddamalsverbindlicheVorschriftenundEmpfehlungenfürdenEinsatzvonlitur-gischerMusikgebensollte.FranzXaverHaberlentdeckteinderBibliothekdesFreisingerPriesterseminarsinderzweitenHälftedes19.JahrhundertseinExemplarderEditioMedicaea.ErhieltesfürdasGesangbuch,das(einernichtgesichertenÜberlieferungzufolge)PalestrinaimAuftragdesTrienterKonzilserstellthabensollte,versahesmiteinigenneukomponiertenGesängenundgabes1870alsoffizi-ösesGesangbuchderkatholischenKircheheraus.Somitwardurchdiese„EditioNeo-Medicaea“aufdereinenunddieinSolesmesein-setzendeQuellenforschungaufderanderenSeiteeineklarenationalewieinhaltlicheAntipodiegegeben.EsbegannnuneinkomplexesundvonvielenklerikalenFintengeprägtesRingenumdieVorherrschaftderjeweiligenMelodiefassungbzw.darum,daßRomalsoffizielleRegelungsinstanzdieeineoderdieandereMelodieversionalsoffiziellfürdiekatholischeKirchevorschreibensollte.BasierendaufdenQuellenfor-schungenhatteinderAbteiSolesmeseinRestitutionsprozesseingesetzt:DomJo-sephPothierund(inseinerNachfolge)DomAndreMocquereauhatteneineMelodie-fassungerstellt,dieaufdieältestenlesbarenHandschriftenzurückging(vorallenDingenaufdenCodexH159vonMontpellier).MitdieserMelodiefassungglaubtman,denGesängenbesondersnahegekommenzusein,diemanausdemfrühenadi-astematischenHandschriftenerheben,jedochnichtlesenkonnte.Endedes19.Jahr-hundertskameszurKonfrontation:EineEntscheidungmußteindieserSacheher!Manversammeltesich1882zueinemgroßenkirchenmusikalischenKongressinArezzo(derWirkungsstättedesgroßenMusiktheoretikersGuido).DerKongressdürftekeinezehnMinutengedauerthaben,dawardieSacheentschieden:DieAuto-

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ritätderQuellenarbeitvonSolesmeskonntesichsofortalsmitgroßerfachlicherAu-toritätgesicherteFassungdurchsetzt.DieEditioNeo-MedicaeavonFranzXaverHa-berlerlitthingegenfeudalenSchiffbruch.DieshinderteHaberlübrigensinderFolgedieserEreignissenichtdaran,mehrfachinRomvorstelligzuwerdenunddurchal-lerleiTricksundKniffeundunterAusnutzungseinerklerikalenKontaktedochnochzuversuchen,seineMelodiefassungderEditioNeo-Medicaeaalsverbindlichzupub-lizieren...gottseidankerfolglos!Eswarnunklargeworden,daßderKongressvonArezzo1882ingewisserWeiseeineGrundsatzentscheidungbezüglichdermelodischenFassunggetroffenhatte.DieswarinsofernvongroßerBedeutung,alsindenhinterenReihenderTeilneh-mendeneinPrälat(einDomkapitularausTreviso)saß,derdasGeschehenaufmerk-samverfolgte–undder21JahrespäteralsPapstPiusX.denpäpstlichenStuhlbe-steigensollte:GiuseppeSarto!

DasGradualeRomanum–mitallenVor-undNachteilen!NachdemKongressvonArezzolegteDomJosefPothier1883seinenLiberGradualisvor:eineersteFassungderaufdenfrühenHandschriften(besondersaufMontpellierH159)fußendenMelodien.DieGemengelageumdieJahrhundertwendeherumwarbesondersdavongeprägt,daßausdenunterschiedlichenBestrebungenzurRestitutionderMelodiennuneineeinheitlicheRichtungwerdenmusste.1903warinmehrerleiBeziehungeinJahrvonzentralerWichtigkeit:Zumeinenwardas30jährigeDruckprivileg,dasderVatikandemVerlagPustetinRegensburgfürdenDruckderEditioNeo-Medicaeagegebenhatte,abgelaufen–HaberlantichambrierteinRom,umeineVerlängerungdiesesPrivilegszuerzielen...jedochvergeblich!DennzumanderenwurdeimAugust1903GuiseppeSarto(vormalsPatriarchvonVenedig)zumneuenPapstgewählt.IhmwardieKirchenmusikimmerschoneinbesonderesAnliegengewesen,undsoverfassteeralsersteslehramtlichesSchreibeneinRundschreibenauseigenenAntrieb(motuproprio),daseramGedenktagderPatroninderKirchenmusik(22.11.1903)heraus-gab:„Tralesollecitudini“.HierinlobterdieArbeitderMönchevonSolesmesundkündigteseineUnterstüt-zungfürdiedortentstandeneMelodiefassungdesGregorianischenChoralsan.Zwi-schenzeitlichwardieEntwicklungaberdochweitergegangen:

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⁃ inSolesmesselberhattemansichheftigzerstritten,wasdazuführte,daßDomPo-thiernichtmehrlängerMönchderAbteibleibenkonnte.ErwurdeAbtvonSanWandrille,umSolesmesverlassenzukönnenbzw.müssen(„promoveaturutamoveatur“-erwerdebefördert,umentferntzuwerden!)EntscheidendhierfürwarenDetailfragenmitBlickaufdieMelodiefassungdesGregoriani-schenChorals,aberauchrhythmischeAspekte,daMocquereaualsGegenpartvonDomPothierdieAuffassungvertrat,daßhierfürdieHandschriftengenau-erstudiertwerdenmusstenundmansichnichtnuraufeineHandschriftver-lassensollte,umeinetragfähigeLösungvorstellenzukönnen.

⁃ InanderenLändernfolgtemanganzanderenLinienderÜberlieferung.PeterWagnerundRaphaelMolitor,diebeideeinegroßeRolleindernuneinsetzen-denRestaurationspielensollte,neigtenehereinerdeutschenTraditionzu:Pe-terWagnerwollteimGrazerStyria-VerlageinBuchherausgeben,dasdengermanischen(heute„ostfränkisch“genannten)ChoraldialektalsinweitenFlächenDeutschlands,ÖsterreichundderSchweizverbreiteteFassungfürdieliturgischenBücherfestschrieb.

⁃ UndinRegensburgversuchteHaberlinZusammenarbeitmitdemPustetVerlagimmernoch,seinerEditioNeo-MedicaeaeinenPlatzzusichern.

DieseheterogeneLagewurdeseitensrömischerBehördennunmitzielstrebigenEntscheidungengeklärt:DurchdasSchreibenPiusX.1903unddurchmassiveInter-ventionendesKardinalstaatssekretärsMerrydelValdrängtemanaufeineschnelleHerausgabederMelodiendesGregorianischenChorals;soerschienen1905bereitsdasKyriale,1908dasGradualeund1912dasAntiphonaleRomanum.DamitwarendieAnstrengungeninRichtungNeo-MedicaeaundgermanischeChoralfassunganihrEndegekommen.MitBlickaufdasGradualeRomanumaberfehltefreilichnichtzu-letztaufGrundderinSolesmesherrschendenStreitigkeitenderKonsensaufSeitenderBenediktiner:KurzeZeitnachderVeröffentlichungdesGradualeRomanummeldetedaherderPräsesderSolesmenserKongregationBedenkengegendienunveröffentlichtenMelodiefassungenanundäußertesichindemSinne,daßmaninSolesmesaneiner„Editiomagiscritica”arbeite,alsoaneinermehrkritischenAus-gabe,dieauchandereQuellenberücksichtige.„Editiomagiscritica”–hiersehenwirdieGeburteinesäußerstproblematischenundschwierigenBegriffs,derinderFolgezeitinsbesonderedurchseineunmotivierte(vielleichtauchunreflektierte)ÜbernahmeinoffiziellekirchlicheDokumentenichtwenigVerwirrungstiftensollte!

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Die„Éditioncritique“vonSolesmes

Inden50erJahrendes20.Jahrhunderts(ab1957)begannendieMönchevonSoles-mes,denPlaneinerÉditionCritiqueumzusetzen–einekritischeEdition,mittelsde-rermanzuersteinmalalleMelodieabweichungenindenHandschriftendokumentie-rensollte,mündendwomöglichindiePublikationeinerquellenkritischabgesicher-ten„Frühfassung“.WennSie,meineDamenundHerren,einmalnurdenBand2dieserEditionanschau-en(„Lessources“-dieQuellen),dannsehenSie,anwelchenSchwierigkeitendasUn-ternehmenscheiternmusste–undandenenauchheutevergleichbareUnterneh-mungenscheiternmüssen!DieQuellenlageistzumeinenäußertreichhaltigundzumanderenäußertvielfältigundbunt.WelcheKriteriologiesollmannunansetzen?Kannmanmaldieeine,maldieandereQuellezuRateziehenunddanndochwiederananderenStellenunberücksichtigtlassen?DieFragebeschäftigteauchdieMönchevonSolesmes,dieihrenPlaneinerÉditioncritiquewohlnichtzuletztdeshalbnachwenigenJahrzehntenintensiverArbeitaufgegebenhaben.Damitwarjedochder„Editiomagiscritica“nochnichtvomTisch.DurchdieForschungenvonDomEugèneCardinenähertemansichabca.1975vorallemdenadiastematischenNeumenalsInterpretamentenfürRhythmusundAgogikdergregorianischenGesänge.Manlern-te,daßdieGesängeNiederschlageinerbestimmtenWortbetonungundTextartikula-tionsindunddaßmanAbschiednehmenmusstevomÄqualismusSolesmenserPrä-gung.1979erschiendasGradualeTriplex–einGradualeRomanumvon1974(mitderNeuordnungderGesängenachdemII.VatikanischenKonzil),indemunterundüberdenGesängenjeweilsdieNeumenderfrühestenhandschriftlichenZeugen(MetzerundSt.GallerNotation)geschriebenwordenwaren.

MelodierestitutionimDienstederInterpretationnachdem„GradualeTriplex“DerhierVortragendeerinnertsichnunganzgenau,1984amRandedesKongressesfürGregorianikinLuxemburgeinGesprächerlebtzuhaben,dasEugèneCardinemiteinigenFachleutenführte.ErwurdedortnachderAufgabederMelodierestitutiongefragtundantwortete(derErinnerungnach):„WirwerdenkeinekritischeEditionderGesängemehrleistenkönnen-zumindestnichtimSinneeinesUrcodexoderei-nerannäherndwiederherstellbarenUrfassung!DieMelodierestitutionstehtheute

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vorallemanderenimDiensteinernotwendigenKongruenzmitdenimGradualeTriplexabgedrucktenHandschriften-unddieszumZweckeinersomitermöglichtenschlüssigenInterpretation!“DamitwarnuneindeutlicherParadigmenwechseleingetreten,derfreilichwederdurcheineRelcturederDokumentedesII.VatikanischenKonzilsreflektiertnochinderNachfolgezeitalsAuftragadäquatverstandenwordenist!MelodierestitutionhattenuneigentlichnichtmehrzumZiel,einevermeintlichemelodischeFrühfas-sungzuerstellen,sonderneineMelodiefassung,diemitdenHandschriftenimGradualeTriplexübereinstimmte,damitdieHandschriftenalsInterpretationsgrund-lagefürdasVortragenderGesängedienenkonntenunddieihnenentsprechendemelodischeFassungzurVerfügungstand.WürdigtmandievorliegendenErgebnisse,sowirddeutlich,daßdiesesZielpassagenweiseverfehltwordenist.DennbesondersdurchdieEinbindungderdiastematischenHandschriften(mitihrendeutlichhete-rogenenmelodischenBefunden)ergebensichnichtwenigeStellen,andenendieneueMelodieversionebenfalls(wieschonzuvordiealtederEditioVaticana)nichtmitdenfrühestenHandschriftenübereinstimmt.

ZusammenfassungderErgebnisseIchfassenocheinmalmeineGedankenzusammen:UmnichtsistinderGeschichtedesGregorianischenChoralssovielgestrittenwordenwieumdieMelodiefassung!ZumTeilbisingravierendepersönlicheVerwerfungenhineinhateineAuseinander-setzungstattgefunden,vondersichheuteimNachhineindieFragestellt,inwiefernihrüberhaupteinesinnvolllösbareProblemstellungzugrundelag.IndenletztenJahrzehntensindsehrintensiveundunterschiedlicherfolgreicheAr-beitenzurMelodierestitutionvorgelegtworden.DieFrage,diesichjedochimmermehrstellt:WurdemitBlickaufdiePraxisdesSingensnundieBüchsederPandorageöffnet?HabensichhiernichtBemühungenverselbständigt,diewederwissen-schaftlichnochpraktischzutragfähigenumfassendenLösungenführen?KannmanüberhauptjemalszukonzisenundtragfähigenErgebnissenkommen–odererhöhtsichnurdieZahldernunnebeneinanderexistierendenVarianten?NebenvielenprivatenRestitutionsversuchenbemühensichvorallemzweioffiziösederzeitumgesteigerteAufmerksamkeit:der„LiberGradualis“vonAlbertoTurcounddas„GradualeNovum“.InbeidenFassungengibtessehrvieleÜbereinstimmun-gen,aberauchzahlreichedeutlicheUnterschiede,sodaßsichjetztschondieFrage

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stellt:Wirdmandiesezentralen,auseinergregorianischenSchulestammendenEntwürfejemalsharmonisierenkönnen?DieAntwortisteinklares„Nein“-und(nacheinerlängerenZeitderAbstinenz,dievorallemdenvorausgreifendenÜber-empfindlichkeitenaufSeitenderHerausgebereinerEditiongeschuldetwar)istesnunanderZeit,überdiesenPunkteinigeWortezuverlieren.

Nichtmöglich–undauchnichtnötig!Warumeinklares„Nein“?ZumeinenistausdenebenerfolgtenhistorischenDarle-gungenklardieErkenntnisabzuleiten,daßesprinzipiellüberhauptnichtgeht!DennwennsichschondiefrühestenhandschriftlichenBezeugungeninnichtwenigenDe-tailswidersprechenbzw.voneinanderabweichen,bleibtdieRekonstruktioneinervermeintlichen„Urfassung“außerGreifweite.Darüberhinausistesaberauchüber-hauptnichtnötig,eineverbindlicheFrühfassungherzustellen.Eswirdnichtnurkei-neverbindlicheVersiongebenKÖNNEN–diesMUSSauchgarnichtderFallsein!DerproblematischeUmgangmitquellenkritischenStandardsführtebeiderRestitu-tionsarbeitzufrühbereitsspürbarenMankos.

FragenandieMethodenderRestitutiona.:WiestehtesumeineklareKriteriologieundPriorisierungderHandschriften,diefüreineRestitutionbenutztwerden(undderenZahlmitdenJahrenimmermehrzunahm,ohnedaßjemandeinmalverdeutlichthätte,obundaufwelcherBasismanohneweiteresHandschriftenausdem10.,11.,12.und13.Jahrhundertnebeneinan-derstellenkann–undwiedasErgebnisdanneigentlichaussehensoll)?DieVorord-nungderfrühestenHandschriften(dieeinesehrstabileÜberlieferunghaben),warprinzipielleinegrundrichtigeEntscheidung.WiejedochsinddanndiespäterenHandschriften(adiastematischeunddiastematische)zubewerten,wennmandanndavonausgeht,daßsichTraditionenlokalausgebildetundniedergeschlagenhaben,diemanfüreinehypothetischeFrüh-/Urfassungsystematischmissachtenmuss?Undb.:NachwasfüreinerFassungsuchtmaneigentlich,wenndiefrühestenhand-schriftlichenBezeugungenbereitsdivergierenunddaszumTeilsehrselbstbewusst

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undmitdeutlichenSignaleneinerReaktionaufdieals„falsch“empfundeneFassungdesAnderen?EugèneCardineselberhattediefixeIdeeeinesUrkodex,derinderFrühzeitderÜberlieferungdesChoralsverlorengegangenseinmußte.Vondahermagesverständlichsein,daßmanfolglichmeinte,eineUrmelodiewiederherstellenzukönnen.EsistinderTatnaheliegend:DiegroßeÜbereinstimmungdermelodi-schenÜberlieferungenführtzurÜberlegung,daßdemGanzeneineeinzigeur-sprünglicheFassungzugrundegelegenhabenmuß.Aberdieseistebennichtmehrvollständigherstellbar!90%melodischeÜbereinstimmungsindnicht100%-undvorallemgiltdasmitBlickaufdieTatsache,daßsichdieseUrmelodienichtmehralseineinzigesgeschlossenesRepertoirepräsentierenlässt,ohnewesentlicheandereEntwicklungenauszugliedernoderzunegieren.AnstattspätereHandschriftenalssouveräneZeugeneinerinsichgeschlossenenFassungzurespektieren,werdenseifürdieHerstellungeinerhypothetischenundoftmalssehrfragwürdigenVersionalsSteinbruchbenutzt.DaszentralemethodischeProblemergibtsichalsoausderAnnahme,esgäbeeineUrmelodieUNDdieseseiannäherndwiederherstellbar!DerhierVortragendeistindenSitzungendesArbeitskreiseszurMelodierestitutionZeugeeinessehrunbefrie-digenden„Zurechtargumentierens“geworden,wennAbweichungenindenfrühes-tensHandschriftenauftauchten.AlsBeispielseihierderIntonationstorculusinE121angeführt.EsgibtnichtwenigeStellen,andenenE121einenIntonationstorcu-lusaufweist,LaonandieserStellejedocheinemeistkurrente(odergelegentlichauchnicht-kurrente)Clivishat.DieFrage,dienunauftaucht:Istjetzt–gemäßdemSatz„lectiodifficiliorestlectioprobabilior“(diekomplexereLesartistdieursprüngli-che)–dietonreichereFassungdiefrühereVersion?DannhättediespätereHand-schriftE121nochetwas,wasinderfrüherenvonLaonschonweggefallenwäre.ZudemergibtsichfolgendeFrage:DokumentierenbeideHandschriftendiegleicheAgogik(beiWegfalleinesersten„leichten“Tons),dannbliebealsErgebniseinedurchwegnicht-kurrenteClivisübrig!WiesostehtnunaberinLaoneinezuallermeisteinekurrenteClivis?HandeltessichnichtalsoumeineunterschiedlicheÄsthetik,diediesebetreffendenStellenineinemanderenklanglichenLichterscheinenlassenwill?Wenndemabersoist,dannhabenwirindenfrühestenfürunsgreifbareHand-schriftenbereitssubstantielleästhetischeUnterschiede,dieaufdiversifizierendeAusprägungenverweisenundkeinenkonkludentenRückschlussaufeinevermeint-licheUrfassungmehrzulassen.Wissenschaftlichbetrachtetmüsstemanhieraufje-denVersucheineraufWertungberuhendenVereinheitlichungverzichtenzugunsteneinerDokumentationderVielfalt!WirstimmeninunseremDozentenkollegiumderSommer-undWinterkursedarin

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überein,daßdasGradualeTriplex(alsodieFassungdesGradualeRomanumvon1908)nichtdieMelodieversiondesGregorianischenChoralsist,sondernbestenfallseine!Jedochistdasdas„GradualeNovum“auch.WelchesderbeidenBüchernunmehrMelodienenthält,diesotatsächlicheinmalerklungensind,willichhierwirk-lichnichtentscheidenmüssen–wasnichtheißt,daßichnichteineklareMeinungdazuhabe!Dahermachenwirdas„Gradualenovum“,aberauchdieEditionvonAl-bertoTurconichtzurnormativenGrundlageunsererwissenschaftlichenundprakti-schenArbeiten,sondernordnendieseBüchereinindenjeweiligenhistorischenKontextderRestitutionsversuchegregorianischerMelodien.

ZusammenfassendeBewertung–konsequenterUmgangWennwirnundiebeidenKernbergriffeimTiteldesheutigenVortragsfüreinePosi-tionsbestimmungnutzen–„Editiomagiscritica”und„derderrömischenLiturgieeigeneGesang“,dannließensichalsoaufjedenFallzweiPunktefesthalten,diezueinenkonzisenErgebnisführenkönnen:a.„magiscritica“/mehrkritischeAusgabedarfaufkeinenFallbedeuten,durchwer-tendeHarmonisierungdenVersuchderWiederherstellungeinermelodischenUr-oderFrühfassungdesGregorianischenChoralszuunternehmen;vielmehrmußdasZieleineErhebungundDokumentationderÜbereinstimmungenundderAbwei-chungensein,diesichimLaufederZeitundunterBerücksichtigungderRepertoire-entwicklungeninverschiedenenRegionenergebenhaben.b)“magiscritica”bedeutetdannauch,dasmansichdannfüreineVersionentschei-denmuss,diemöglichstmiteinerderadiastematischenHandschriftenweitgehend(wennnichtgarvöllig)übereinstimmt.HierbeihandeltessichdannumdieSingfas-sung.DieshatunweigerlichKonsequenzen:AufHybridfassungen,diehypothetischundgelegentlichhöchstfragwürdigsind,mussverzichtetwerden.DasgiltdannauchfürdieInterpretation–dennwennwirdieÜberlegungenbezüglichderAbweichungenindenNeumenweiterführen,kommenwirunweigerlichzudemSchluss,daßjedederfrühenHandschrifteneinekonziseÄsthetikfürdieWiedergabedesTextesauf-weist–zumeiststimmensieüberein,gelegentlichgehensieabersehrkonsequenteigeneWege!Dashießedannaberauch,daßinderInterpretationdurchwegeinerHandschriftzufolgenwäre,sobaldeinmaleineAbweichunginRhythmusbzw.Ton-zahloderTonhöhezwischendenbeidenfrühestenhandschriftlichenBezeugungen

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festzustellenist(alsokeindauerndesHin-undHerspringenzwischenSt.GallenundLaoninnerhalbeinesStückes).EineweitereKonsequenzistderlogischeVerzichtaufdasPrädikat„magiscritica“alskirchlichesAutoritätssiegelzurDurchsetzungeinerFassung!Hiergiltklarzusa-gen:EinSurrogatdurcheinandereszuersetzenundfestschreibenzuwollen,fördertnichtdieAutoritätderInstitution,diediestut!Schließlichsolltendiejenigen,diesichmitderDokumentationderVielfaltindenQuellenbeschäftigen,aufdasFormatdes„Buches“alsdefinitebzw.definierteFormderPublikationverzichten.EinBuchsug-geriertimmereinenhohenGradanVerbindlichkeitund„fertigemErgebnis“.Wasabertunwir,wenn(wieindiesemFall)diesinhaltlichnichtgedecktist?DenndieDingesindimmerimFluss–undeinesTagesmüssteesimmerwiederAuflagenei-nesGradualeNovum,Novius,Novissimumgeben...

„...derrömischenLiturgieeigen...“SchließlichkommenwirzumzweitenTeildesTitels:„derderrömischenLiturgieeigeneGesang“!DieserBegriffistebenfallsderLiturgiekonstitutiondesII.Vatikani-schenKonzilsentlehntundverbessertdentheologischenFehler,denPapstPiusX.1903inseinemMotupropriogemachthatte.Dieserschriebvon„demderrömischenKircheeigenenGesang“–eineunpassendeekklesiologischeAussage,dievondenKonzilsväternstillschweigendkorrigiertwurde.TheologischbetrachtetbefindenwirunsimZentrumunserenReligion,die(wiedasJudentum)eineWortreligionist!WirbedenkenindieserKurswoche,inderwirunsmitdergregorianischenSemiologiebeschäftigen,inhohemMaßedieInkarnationdesWortes,dasFleischwerdendesWortes,nichtnurmitJesusChristusalsGottesletztemWort,sondernmitBlickaufdieTatsache,daßjedesWortGottesunsermenschliches„Fleisch“braucht,umzuerklingenundumgehörtzuwerden.Diesverbirgtsichletztlichhinterdemtheologi-schenDiktum,sowieIrenaeusvonLyonesformulierthatte–wirerinnernunsanGodehardJoppichstheologischeDissertation!AlleinderMenschsprichtundsingtdasWort.DasWortGottesexistiertalsonurimMenschenwort.DasVertrauenGot-tesindenMenschengehtsoweit,daßerdasErklingenunddieWeitergabeseinesWortes,seinerBotschaftandenfreienWillendermenschlichenNaturbindet.WenndanndieMenschdieseWorteausspricht(z.B.alssakramentaleSpendeformel),soverändertsichdieRealitätdesMenschen:WirredenvonperformativenSprechak-ten,vonRede,diedieWirklichkeitverändert!

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FeierkompetenzmußdieGesängeumgeben!

DerUmgangmitWortundZeichenbedingeneinegeschulteFeierkompetenz,einehohearscelebrandi.GeradederUmgangmitdemWortistdahervonzentralerBe-deutung–welcheinUmfeldmussderGregorianischeChoral(daserklingendeWortderheiligenSchrift)haben,umseineWirkungentfaltenzukönnen?Wehe,erer-sticktzwischenschlechterPredigt,miserabelvorgetragenemGebet,HastundEile,undschlechtem,flachenLiedgut.SirThomasBeecham,derenglischeDirigent,sagteeinmal„WenneineKompositionist,dannistdieStilleanschließendauchvonMo-zart“.BesserkannmaneinewirkungsvolleDramaturgie,wennsiedenngelingt,nichtzusammenfassen!BeikeinemanderenRepertoirespiegeltsichdieDramaturgiederLiturgiesosehrwiderwiebeimGregorianischenChoral:dieoligotonischen(hand-lungsbegleitenden)GesängezuEinzugundKommunion,beidenenderTextver-standenundwiederholtwerdensoll–aufderanderenSeiteeinmelismatischesGradualenacheinerLesung,daseigentlichkeinAntwortgesangist,sonderneinGe-sangzumBedenkendesGehörten!UnddenkenwirdochnureinmalandieTatsache,daßvielederCommuniotexteneutestamentlicheTextquellenhaben!MeistensstammensieausdenEvangelien,dieamTageindieserMesseverkündigtwordensind.UndsofälltineinemMomentunüberbietbarerspirituellerVerdichtungdieKommuniondesWortesmitderKommuniondesSakramenteszusammen:IndemAugenblick,woderKommunikantdieHostiezusichnimmt,singtihmdieScholadenzentralenSatzdesEvangeliumsinsOhr!WogibtesdieseVerdichtungdennnoch?Lebensnähe,ExistentialitätundSubjektivitätderGesängesindeinMaßfürliturgi-scheSpracheundliturgischesSprechen,allerdingsauchfürliturgischesHandelnundMimikimGottesdienst.ObPiusX.undspäterdieVäterdesII.Vatikanumsdarange-dachthaben?ObsiedieseDimensionenwirklichvorAugenhatten?ObdasaberauchderGrundist,daßGregorianischerChoralimmerseltenerimGottesdienstzuhörenist–unddiessehroftzuseinemeigenemNutzenundGuten?WiealsomussesumdieKulturdesBetens,Sprechens,Feiernsbestelltsein,damitderGregorianischeChoralderderrömischenLiturgieeigeneGesangseinkann?DieseÜberlegungengehöreninsZentrumdessen,wasinZukunftunsereArbeitbestimmensollte.MeineDamenundHerren,ichkommezumSchluss!Ichbinentgegenallenskepti-schenBefundenzuBeginnmeinesVortragesinderSachesehrzuversichtlich:Seit23JahrenhalteichGregorianikkurse,seit17JahrenbinichProfessorfürdiesesFach,

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undseit25JahrenbinichhauptberuflichimFeldderKirchenmusiktätig.Ichsehehervorragende,sehrbelebendeAnsätze,denenzufolgesichdieDingeändern–wennauchebeneheraußerhalbalsinnerhalbderverfaßtenKircheundihrergenuinenMusikszene.GeradederGregorianischeChoralhateinjungesGesicht–under„schmeckt“nachZukunft!ZunehmendbegegneichderErkenntnis(auchinmonastischenKreisen),daßmandieTraditionneuaufnehmenundverlebendigenmussunddaßdasMühekostet,aberdaßdieseMühesichauchlohnt.StetsbeginneichdannbeiunsererArbeitmitdemerklingendenWort–mitdemRingendarum,daßdiesesWortFleischwird.Die-sesRingenkannübereinelangeStreckeeinerqualvollenSprachlosigkeitgehen–dennletztlichistesderGeist,derinunsseufzt,wennunszumBetendieWortefeh-len!Daraufkönnenwirbauen!IchdankeIhnenfürIhreAufmerksamkeit.