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RAT FÜR KULTURELLE BILDUNG INTERVIEW MIT RATSMITGLIED VANESSA-ISABELLE REINWAND-WEISS — MÄRZ 2020 1 Künste sind Motor für die Ent- wicklung – Interview mit Vanessa- Isabelle Reinwand-Weiss Als Schülerin hat Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, 41, leidenschaftlich gerne lateinamerikanisch Formation getanzt. So wählte sie folgerichtig auch ihren Studienort mehr nach dem dort ansässigen Tanzverein aus als nach der Universität. Es wurde Erlangen-Nürnberg – für beides war es keine schlechte Wahl. Kulturelle Bildung wurde während des Studiums ihr Herzensthema. Heute möchte sie, dass ihre beiden Söhne wie sie selbst ästhetische Erfah- rungen durch die Künste machen können. Dabei müssten sie keine kleinen Mozarts oder Picassos werden – es gehe um die Künste als Motor für die Entwicklung. Reinwand-Weiss ist von Beginn an – seit 2012 – Mitglied im Expertenrat und leitet ebenfalls seit 2012 die Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wol- fenbüttel. Zudem ist sie Professorin für Kulturelle Bildung an der Stiftung Universität Hildesheim. Foto: Simon Bierwald

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Künste sind Motor für die Ent­wicklung – Interview mit Vanessa­Isabelle Reinwand­Weiss

Als Schülerin hat Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, 41, leidenschaftlich gerne lateinamerikanisch Formation getanzt. So wählte sie folgerichtig auch ihren Studienort mehr nach dem dort ansässigen Tanzverein aus als nach der Universität. Es wurde Erlangen-Nürnberg – für beides war es keine schlechte Wahl. Kulturelle Bildung wurde während des Studiums ihr Herzensthema. Heute möchte sie, dass ihre beiden Söhne wie sie selbst ästhetische Erfah-rungen durch die Künste machen können. Dabei müssten sie keine kleinen Mozarts oder Picassos werden – es gehe um die Künste als Motor für die Entwicklung.

Reinwand-Weiss ist von Beginn an – seit 2012 – Mitglied im Expertenrat und leitet ebenfalls seit 2012 die Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wol-fenbüttel. Zudem ist sie Professorin für Kulturelle Bildung an der Stiftung Universität Hildesheim.

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Aus aktuellem Anlass – wie reagiert die Bundesakademie auf die Situation mit dem Coronavirus?

Reinwand-Weiss: Wir haben am 16. März alle unsere Akademie-Präsenzver-anstaltungen bis vorerst Mitte April abgesagt, arbeiten an digitalen Ange-boten und bleiben über Videokonferenzen in Kontakt. Zwei Drittel meiner Belegschaft sind im Home-Office – ein paar halten hier in Wolfenbüttel die Stellung, arbeiten aber in Einzelbüros. Wir wollen ebenso wie andere Unter-nehmen unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen, auch wenn von Regierungs- und Förderseite – Stand heute (19.3.) – noch längst nicht so drastische Maßnahmen beschlossen wurden. Wer rechnen kann, weiß, dass wir in Deutschland erst auf den Höhepunkt der Pandemie zusteuern und bereits wesentliche Eindämmungsmaßnahmen verpasst haben. Man kann nur hoffen, dass wir aus dieser Krise für weitere lernen.

Welche Einschränkungen und Möglichkeiten gibt es jetzt für Kulturelle Bildung?

Natürlich lebt die Kulturelle Bildung wesentlich von der physischen Präsenz der Menschen und Artefakte. Aber auch im Digitalen können Kommunika-tions- und Resonanzräume geschaffen werden. Die meisten von uns haben damit noch nicht so viel Erfahrung und die „Corona-Krise“ zwingt uns nun, sich mit diesen Möglichkeiten stärker zu beschäftigen. Sich unter solchen Bedingungen zu entwickeln und zu lernen hätte ich mir zwar nicht gewünscht, aber nun machen wir das Beste daraus.

Kommen wir zu den physischen Erfahrungen: Tanz war für Sie sehr prägend – was haben Sie dabei gelernt?

Unsere Mannschaft mit acht Paaren hat eine gemeinsame ästhetische Leis-tung erbracht. Was ich am Formationstanzen immer als den Kick empfunden habe: Beim Durchtanzen der Choreografie weiß ich, dass meine Bewegung zeitgleich auch sieben andere Damen an ihrem Platz machen. Das erfordert viel Präzision, Sensibilität, sich Einfügen ins Gesamtbild. Da kann man nicht plötzlich seinen eigenen Ausdruckstanz machen. Rein ästhetisch gesehen arbeitet man an Körperbeherrschung, Fitness, Darstellung und Selbstdarstel-lung. Auf Bundesligaebene ist das sehr zeitintensiv, aber auch sehr erfüllend.

Gesellschaftliche He raus­for de rungen im Team bewältigen

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Welche Kompetenzen fürs Berufsleben konnten Sie daraus ableiten?So eine Erfahrung fördert soziale Kompetenzen und den Teamgedanken. Die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen wird heute nur noch durch Teams vollbracht. Es ist wichtig, in Kooperationen und Netzwerken zu denken. Eine Mannschaft kann man sich auch als Netzwerk vorstellen. Man muss wissen: Wer hat gerade den Lead, auf wen muss ich schauen, damit ich im Rhythmus bleibe. Die Form ändert sich ständig und man muss permanent die eigene Rolle in diesem Gesamtnetzwerk definieren. Als Führungskraft an der Bundesakademie bestimme ich auch nicht allein die Geschicke des Hau-ses. Alle Entscheidungen, die ich treffe, sind stark beeinflusst von den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern.

Wie wichtig war für Ihre Motivation der Leistungsgedanke?Natürlich ist es toll, Erfolg zu haben und in der Liga aufzusteigen. Das ist schon wichtig, weil das Training – vier Mal in der Woche – dann auch mit gro-ßer Ernsthaftigkeit betrieben wird und erst eine gewisse Qualität und einen bestimmten Erfahrungsraum hervorbringt. Ab einem bestimmten Niveau macht man andere Erfahrungen, auch in der Intensität des Trainings. Aller-dings war das nie der Hauptanreiz für mich. Die Künste haben mein Leben immer stark geprägt, nicht nur in der Wissenschaft, auch ganz praktisch.

Präsenz, Stimme – ausschlaggebende Schlüsselkompetenzen

Waren Ihre praktischen Erfahrungen in den Künsten ein Faktor für Ihre wis-senschaftliche Karriere und Führungspositionen?

Das mag sein, mir wurde das öfter gespiegelt. Die Tanzerfahrung macht etwas mit der Präsenz von jemandem und kann in einem Bewerbungsge-spräch das Ausschlaggebende sein. Oder das Thema Stimmbildung: Das wöchentliche Singen unterstützt eine gute Stimm-Modulation – wenn man vor Studierenden steht, hilft das. Das sind zentrale Schlüsselkompetenzen, die jemanden im Zweifelsfall erfolgreicher machen als andere bei vergleich-barer fachlicher Qualifikation.

Seit wann ist Kulturelle Bildung Ihr berufliches Hauptthema?Das kam zunächst etwas unverhofft, ist mittlerweile aber mein Herzens-thema geworden. Ich habe 2007 meine Promotion zu ästhetischer Bildung im Zusammenhang mit Theaterspiel abgeschlossen, habe dann in der Schweiz zu frühkindlicher Bildung gearbeitet und wurde 2009 Juniorprofessorin für Kulturelle Bildung in Hildesheim. Aus dieser Professur heraus wurde ich 2012 zur Leiterin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel.

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Bundesakademie: Im Schloss sind Verwaltung und Seminarräume untergebracht, mit Kunstwerkstatt, Chorsaal, Medienräumen.

Kann man an dem Fortbildungsprogramm der Bundesakademie aktuelle Trendthemen ablesen – und welche sind das?

Unsere Erfahrung ist eher: Die neuesten Trends und Debattenthemen sind gar nicht das, was in der Fort- und Weiterbildung so gut läuft. Es sind eher die Themen, an denen man im täglichen Arbeiten gar nicht mehr vorbeikommt, wie 2018 die Datenschutzgrundverordnung oder das Thema Bildrecht. Was immer läuft sind Führungsthemen, bei denen es um die eigene professionelle Entwicklung geht, oder Grundlagenseminare zur Vermittlung.

Bundesakademie ist Seismo­graf, Trendsetter, Think Tank

Wie lässt sich das erklären?Bei Themen wie Digitalisierung, Diversität, Nachhaltigkeit oder politische Bildung ist auf der Diskursebene zwar großes Interesse daran da, aber diese Themen scheinen erst mal oft abstrakt und es ist schwieriger zu vermitteln, was solche Themen für das konkrete Arbeiten bedeuten können. Bei meinen Studierenden ist es übrigens genau umgekehrt: Sie interessieren sich enorm für die Trends – Nachhaltigkeit, Diversität und internationale Themen sind der Renner. Sie haben einen idealistischeren und optimistischeren Blick auf die Kulturlandschaft – bewusst bieten wie diesen Studierenden und den Kul-turvermittlern gemeinsam Programme an der Bundesakademie an. Für die einen ist das die Chance, schon früh ein Netzwerk zu knüpfen, und die ande-ren können vom Optimismus und der Offenheit der Studierenden profitieren.

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Hat die Bundesakademie trotzdem den Anspruch, Themen zu setzen und voranzutreiben?

Absolut. Als Bundesakademie sprechen wir ein bundesweites Publikum an und wenden uns auch an Multiplikatoren, die kulturpolitische Prozesse steu-ern. Da wollen wir Trendsetter sein, ein Seismograf. Unser Name „Bundes-akademie für Kulturelle Bildung“ kommt daher, dass wir einen bundesweiten Auftrag haben und neben dem Land Niedersachsen auch vom Bundesminis-terium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt werden. Insofern ist unser Anspruch durchaus, auf Bundesebene zu wirken – wir entwickeln zum Beispiel Modellprogramme zu uns wichtig erscheinenden Themen.

Wie funktionieren diese Modellprogamme?Ein Beispiel ist „SCHULE:KULTUR“, gefördert vom Land Niedersachsen und der Stiftung Mercator. Solche Modellprojekte sind finanziert und Interes-senten können meist kostenlos teilnehmen. Wenn wir dann das Modellpro-jekt gemeinsam mit den Teilnehmenden als Fortbildungsangebot entwi-ckelt haben, bieten wir es in unserem regulären Programm an. Dann müssen wir auch Teilnehmergebühren erheben. Für „SCHULE:KULTUR“ arbeiten wir gerade mit Schulen, die Ästhetik als Prinzip für alle Fächer in ihrem Unter-richt etablieren wollen. Ein anderes Beispiel für ein Bundesmodellprojekt war

„tAPP - Musik mit Apps in der Kulturellen Bildung“ – Musikvermittler können das in Schule und an außerschulischen Orten einsetzen.

Großer Zulauf: 365 Studiengänge für Kultur

Welchen Einfluss hat die Akademie auf Standards?Bei der Auswahl unserer Dozentinnen und Dozenten orientieren wir uns an neuestem, fachspezifischem Vermittlungshandeln. Unser Anspruch ist schon, Themen und moderne Standards zu setzen, zum Beispiel in einem unserer Programmbereiche Museum. Sehr gut und schon lange gibt es da unsere Qualifizierungsreihe im museumspädagogischen Bereich, QUAM. Oder mit dem Thema „Kunstgeragogik - Kulturelle Bildung mit Älteren“ waren wir bei den ersten, die hier neue Arbeitsfelder für Kulturelle Bildung ent-deckt haben. Zudem beraten wir auch Kultureinrichtungen bei drängenden Herausforderungen.

Was bringen die Zertifikate einer Bundesakademie dem Einzelnen?Das Fortbildungssystem ist sehr unübersichtlich. Zertifikate sind kein garan-tierter Türöffner für einen bestimmten Job in der Kulturellen Bildung. Sie kön-nen aber bei der Spezialisierung unterstützen. Besonders sind sie auch für Quereinsteiger in Bereiche der Kulturellen Bildung geeignet.

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Welche Rolle spielen Hochschulen heute bei der Ausbildung von Kulturvermittlern?

Eine große, sie boomen: Es gibt in Deutschland rund 365 Studiengänge, die sich mit Kultur auseinandersetzen. Im Kernbereich der Kulturellen Bildung sind es deutlich weniger, da gibt es auch spezialisiertere Studiengänge wie Museumsmanagement und -vermittlung oder Kulturelle Bildung an Schulen. Die Konkurrenz wird sichtlich auch für die kulturwissenschaftlichen und -päd-agogischen Studiengänge an der Universität Hildesheim größer.

Welche Erkenntnisse aus Ihren Tätigkeiten fließen in die Arbeit des Rates für Kulturelle Bildung ein und welche nehmen Sie daraus mit?

Was ich einbringen kann sind einerseits theoretische und wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch andererseits eine gute Kenntnis des Praxisfeldes. Die Bundesakademie ist sicherlich einer der Netzwerkknotenpunkte in der Kul-turellen Bildung. Man erhält bei dieser Arbeit einen guten Einblick in die ver-schiedensten beruflichen Vermittlungsfelder und Akteursgruppen.Ich nehme aus der Ratsarbeit auch viel mit – für mich sind unsere empi-rischen Studien immer sehr bereichernd. Zudem fordern mich die unter-schiedlichen Sichtweisen im Rat auf Kulturelle Bildung heraus, eigene Stand-punkte zu überdenken – vom Begriff Kulturelle Bildung bis zu Themen wie Bildungsgerechtigkeit.

Abschlussveranstaltung „Forschungsfonds Kulturelle Bildung. Studien zu den Wirkungen Kultureller Bildung“ (2017).

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Die erste Publikation des Expertenrates 2013 hatte den etwas ironischen gemeinten Titel „Alles immer gut“. Der Rat wollte hier mit einem Augen-zwinkern die Mythen der Kulturellen Bildung entlarven, die sich vor Allem auf das Wirkungspotenzial Kultureller Bildung bezogen. Sind die Mythen noch aktuell oder längst als solche bekannt?

Die „Mythen Kultureller Bildung“ waren ein Wachrüttler in einer Zeit, in der es sehr viele Modellprojekte gab, die aufgrund ihres Finanzierungsmo-dells immer zum Erfolg stilisiert werden mussten, da gab es auch einiges an

„Sonntagsreden“. Unsere Publikation war eine richtige Zustandsbeschreibung und Kritik damals. Und auch heute sind noch nicht alle Mythen vom Tisch. Man tappt selbst gern in diese Fallen, man rutscht leicht in Legitimationsstrategien bei der Argu-mentation: Auf der einen Seite sollte man Kulturelle Bildung nicht als Allheil-mittel überhöhen, andererseits muss man die Potenziale deutlich machen. Aber heute haben wir weniger das Problem, dass im politischen Umfeld nicht angekommen ist, was Kulturelle Bildung leisten kann. Wir haben eher ein Umsetzungsproblem und eines bei den Prioritäten.

Erste Publikation des Expertenrates: „Alles immer gut. Mythen Kultureller Bildung“ (2013).

Inwiefern?Wir bekommen bei den Politikern viel Zustimmung, aber wenn man for-dert, dass systematisiert Geld in die Kulturelle Bildung fließen muss, sind da schnell Grenzen. Das zeigt, dass Kulturelle Bildung in der Prioritätenliste doch weit hinten rangiert und man ihr – entgegen vieler Studien – für das allgemeine Bildungsniveau nicht so viel zutraut wie zum Beispiel dem quali-fizierten Deutsch- oder Matheunterricht. Das Vertrauen in die Künste – dass die Beschäftigung mit den Künsten in den Schlüsselkompetenzen unglaub-liche Dinge hervorbringen kann – dieses Vertrauen ist nicht da. Es ist schwer, dies jemandem, der künstlerisch nie selbst aktiv war, der das nicht am eige-nen Leib erfahren hat, zu vermitteln.

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Gibt es vielleicht auch ein Imageproblem?Es gibt da ein Paradox: Bei einer Straßenumfrage würden viele sagen, dass Theater und andere Kulturinstitutionen wichtig sind. Auch die vom Rat für Kulturelle Bildung durchgeführte Studie „Eltern/Kinder/Kulturelle Bildung. Horizont 2017“ zeigt, dass Eltern einem kulturellen Grundwissen und kultu-rellen Aktivitäten hohe Bedeutung zumessen. Ich glaube nicht, dass Kultur in Deutschland ein geringes Ansehen hat – aber man traut Kunst und Kul-tur nicht zu, in der Zukunft ökonomisch erfolgreiche Kinder und Jugendli-che hervorzubringen. Viele Eltern hätten Angst, wenn ihr Kind Künstler werden will. Man vermischt hier aber die – durchaus nicht immer brotlose – professionelle künstleri-sche Tätigkeit mit der Beschäftigung mit Kunst und der ästhetischen Bil-dung an sich. Das Ziel Kultureller Bildung ist es eher in den selteneren Fällen, einen Pianisten oder eine Schauspielerin hervorzubringen – und falls doch, auch sehr gut! Ich sehe bei der Kulturellen Bildung für alle, das heißt nicht nur für die Hochbegabten oder besonders Affinen, eine andere Wirksamkeit an erster Stelle: die der allgemeinen Ausbildung von Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit.

Was können Angebote Kultureller Bildung in der Schule leisten und wo hakt es?

Man müsste bei der frühkindlichen Bildung und in Grundschulen anfangen, da wird noch zu wenig getan. Bei den allgemeinbildenden Schulen wäre dann ein Ansatz erst mal die Freiwilligkeit in der Wahl des künstlerischen Aus-drucks. Warum muss jedes Kind Musikunterricht haben, aber keinen Tanzun-terricht? Manche haben vielleicht mehr Spaß an Theater oder Poetry Slam oder an Formen dazwischen. Es wäre ein großer Gewinn für die Schule, wenn sie verschiedene ästhetische Angebote zur Wahl stellt.Aber da sehe ich ein Problem von Schulunterricht insgesamt: Kulturelle Bil-dung in ihrer höchsten qualitativen Ausprägung würde das System Schule sprengen. Da kommen auch unsere Modellprojekte oft an ihre Grenzen. Des-halb arbeiten wir beispielsweise in SCHULE:KULTUR nur noch mit Schulen zusammen, die einen kulturellen Schulentwicklungsprozess ansteuern und bereit sind, Schule komplett neu zu denken und zu gestalten. Sonst ist für die Personen im Projekt die Spannung kaum auszuhalten, da es systemspren-gende Elemente gibt: Kulturelle Bildung lässt sich nicht in 45 Minuten hinein-pressen oder in Fächergrenzen und sie orientiert sich an individuellen Inter-essen. Das heißt nicht, dass es keine Vorgaben, Autoritäten, Leistungen gibt

– aber trotzdem brauchen wir eine sehr starke Bezogenheit auf das lernende Subjekt und eine hohe Selbstbestimmung sowie Selbstwirksamkeitserfah-rungen. Das ist so im üblichen Schulunterricht aufgrund der Zeitvorgaben,

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meist starren Fächergrenzen und der durchgehenden Leistungsbeurteilung an fixen Normwerten nicht möglich.

Wie führen Sie Ihre eigenen Kinder an die Künste heran? Ich habe zwei kleine Söhne im Kita- und Kindergartenalter und möchte ihnen diese ästhetischen Erfahrungen unbedingt ermöglichen. Sie sind ein unglaublicher Motor für die Entwicklung von Kindern, auch wenn man vor-her nicht weiß, in welche Richtung die Entwicklung gehen wird. Ich schaue mir viele Programme an und die Kinder gehen in eine Kita mit musikalischem Schwerpunkt. Aber gemeinsam als Familie kulturelle Angebote wahrzuneh-men ist oft auch eine Herausforderung bei zwei berufstätigen Elternteilen. Daher finde ich es wichtig, ästhetische Bildung so oft es geht in den Alltag einzubinden, was bei den Kleinen ja noch leicht geht: mit den Kindern zusam-men zu singen, Reime und Geschichten zu erfinden, in verschiedene Rollen zu schlüpfen oder einfach wild herumzutanzen – das fördert nicht nur die Kinder, sondern macht auch mir Freude.

Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss ist Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüt-tel und Professorin für Kulturelle Bildung an der Universität Hildesheim

Die Fragen stellte Alexandra Hahn, Kommunikationsmanagerin beim Rat für Kulturelle Bildung e. V.

KontaktRat für Kulturelle Bildung e. V.Huyssenallee 78–8045128 EssenE-Mail: [email protected].: 0049 (0)201 / 89 94 35–12www.rat-kulturelle-bildung.de