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Köpfe für Chemnitz 2 Winfried Thielmann „Seit wann ist denn das Deutsche eine Fremdsprache?“

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Köpfe für Chemnitz 2

Winfried Thielmann

„Seit wann ist denn das Deutsche eine Fremdsprache?“

Köpfe für Chemnitz

Antrittsvorlesungen der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz

Köpfe für Chemnitz

Herausgegeben von Christoph Fasbender

Band 2

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungs-anlagen bleiben – auch bei nur auszugsweiser Ver-wendung – vorbehalten.

Copyright © 2011 Philosophische Fakultät der TU Chemnitz

Printed in Germany.

Winfried Thielmann

„Seit wann ist denn das Deutsche eine Fremdsprache?“

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Einleitung des Dekans

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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Kommili-toninnen und Kommilitonen, liebe Gäste, lieber Herr Thielmann,

Uuer pistu? Uuanna quimis? Fona uueliheru lantskeffisindos? Zu Neuhochdeutsch: „Wer bist du? Woher kommst du? Aus welcher Gegend stammst du?“ Diesesehr einfachen althochdeutschen Phrasen wurden wahrscheinlich im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts von einem Bayern, gewiss einem Mönch, vielleicht in Regensburg, auf Pergament gebracht. Es handelt sich dabei – nach dem Urteil der Forschung – um Rede-wendungen, die ein Romane benötigte, der nur Latein verstand und sich nach erfolgreicher Überquerung des Brenners in Bayern zurechtfinden musste. Hielt er sich dort länger auf, wurde womöglich der Gang zum Friseur unvermeidbar. Mit dem Gesprächsbüchlein in der Hand trat er ein und las vor: Skir min fahs! („Schneid mir die Haare!“). Wollte er außerdem eine Rasur der Halspartie, ergänzte er: skir minan hals!; oder, sollte es dekorativeraussehen: Skir minan part! Dies alles frei nach dem hoch aktuellen Motto: „Wir sind hier in Deutschland, würden Sie Ihre Frage bitte auf Deutsch stellen?“

Der bayerische Mönch, vielleicht Patriot, vielleicht Iro-niker, hat den für den Handelsreisenden durchaus nütz-lichen Wendungen noch einige weitere Phrasen beige-geben. Sie zeugen davon, dass Fremdsprache immer auch etwas mit Fremdheit, mit dem Erlebnis Grenzen ziehender Andersartigkeit, zu tun hat. Mag es dem Gast im fremden Land noch hilfreich erscheinen, die Phrase

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Spahe sint Peigira! („Die Bayern sind ein kluges Volk“)rechtzeitig zur Hand zu haben, täte er sich doch wesent-lich schwerer mit dem Folgenden: Tole sint Uualha! Luzicist spahe in Uualhum! Mera hapent toleheiti dennespahi! Zu deutsch, näherungsweise: „Die Romanen sind doch verrückt! Ihre Klugheit ist sehr gering! Es gibt dort mehr Verrückte als Vernünftige!“ Deutsch ist hier, in den ‚Kasseler Glossen‘, nicht nur die fremde Sprache, son-dern die Sprache der Fremden. Der Bayer sagt: der Ita-liener ist meschugge, ein bisschen beschränkt, von ge-ringeren Geistesgaben jedenfalls. Der Italiener lernt das auf Althochdeutsch. Auf die Frage, seit wann also das Deutsche eine Fremdsprache sei, wäre daher viel-leicht zu antworten: solange derjenige, der Deutsch spricht, von dem, der es nicht spricht, als fremd er-fahren wurde. Damit wäre bereits das Althoch-deutsche eine Fremdsprache gewesen, wie Martin J. Schubert in seinem hübschen Beitrag ‚1200 Jahre Deutsch als Fremdsprache. Dumme Witze im Fremd-sprachenunterricht seit den Kasseler Glossen‘(in: Poetica 28 [1996], S. 48 ff.) feststellte.

Ich wiederhole unsere Konstellation 400 Jahre später. Bald nach 1200 zieht ein Kleriker aus dem Friaul, aus Oberitalien, nach Deutschland, wahrscheinlich an den Bischofshof nach Passau. Thomasin von Zerklaere dich-tet hier in der Fremdsprache ein didaktisches Großwerkvon über 20.000 Versen, gerichtet an den Nachwuchs des deutschen Adels. Thomasin hat sich für dieses Groß-projekt dermaßen gut vorbereitet, dass man an keiner Stelle darauf verfallen könnte, anzunehmen, der Verfas-ser sei ein Ausländer. Sogar auf dem deutschsprachigen Buchmarkt kennt sich der Italiener bestens aus, gibt

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genderspezifische Lektüreempfehlungen für Jungen und Mädchen. Der Fremde bewegt sich mit größter Souverä-nität in der Fremdkultur, und beim Friseur wird er auch keinen Spickzettel gebraucht haben. Für Thomasin ist es die deutsche Sprache selbst, die ihm den größten Res-pekt abnötigt: eine Sprache der Dichtung, seit ein paar Jahren das rasant aufgewertete Medium einer Schicht intellektueller Romanciers, die bis dahin nie dagewese-ne Dinge zu denken und in deutsche Verse zu bringen sich befleißigten. Der Italiener Thomasin erlebt das Deutsche als Dichtersprache auf einem unbestreitbaren ersten Höhepunkt. Es mag noch die Bescheidenheit des Fremdsprachlers mitschwingen, aber es ist doch wohl zugleich der Respekt vor einer neuen Kultursprache, der ihm Verse wie die folgenden abnötigte:

Dâ von sô bite ich elliu kint, [...]daz siz lâzen âne racheswes mir gebreste an der sprâche.Ob ich an der Tiusche missespriche,ez ensol niht dunken wunderliche,wan ich vil gar ein walich bin:man wirt es an mîner Tiusche inn.Ich bin von Frîûle gebornund lâze gar âne zornswer âne spot mîn getichtund mîne Tiusche bezzert iht.

Also etwa: „Ich bitten alle Jugendlichen, dass sie es mir nicht übelnehmen, wo es an meiner Sprache hapert. Wenn mein Deutsch hinkt, soll das niemanden verwun-dern, denn ich bin ein Italiener: und das merkt man mei-nem Deutsch gewiss an. Ich stamme aus dem Friaul undwäre sehr froh, wenn jemand, ohne mich zu hän-

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seln, meine Dichtung und meine Sprache korrigierte.“

In der Vermittlung seines Gegenstands, der Ethik, will Thomasin ausdrücklich jede Sprachmischung ver-meiden, wiewohl er einräumt, dass deutsche Wissen-schaftssprache davon profitiere, wenn man italienische Fachtermini einflechte. Dadurch lernten die Deutschen – didaktisch bemerkenswert – spaehe worte harte vil (v. 45), also eine Menge kluger Wörter. Abschließend er-innert der Autor daran, dass die Deutschen auch in der Vergangenheit Vieles aus Italien aufgenommen hätten, obwohl sie es zunächst hätten selbst übersetzen müssen. Um wie viel lieber nähmen sie jetzt deutschsprachige Lehre aus dem Munde eines Italieners!

Uuer pistu? Uuanna quimis? Fona uueliheru lantskeffi sindos? Drei Fragen an einen Kollegen von recht unter-schiedlicher Reichweite. Ich beginne mit der letzten, ver-gleichsweise leichtesten: „Aus welcher Gegend stammst du?“ Winfried Thielmann wurde vor 44 Jahren in Bad Homburg geboren. Komplexer, weil mehrstufiger, ist die zweite Frage: „Woher kommst du?“ Winfried Thielmann verbrachte seine Studienzeit überwiegend in München, ging dann – noch vor der Promotion – nach Australien, wo er von 1996-2003 an der Australian National Uni-versity Canberra lehrte. Zurück in München, habilitierte er sich 2006 und entwickelte sich recht zügig zu einem Spezialisten für die Neuen Länder, vertrat 2007 in Pots-dam und 2007/08 in Dresden, bevor er im April 2008 nach Chemnitz übersiedelte, wo er seit dem 1. 8. 2009 die Professur für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache innehat – und wo er, keineswegs selbstverständlich, be-reits im Dezember desselben Jahres (gemeinsam mit der Kollegin Sandten) das schwierige Amt eines Studien-

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dekans der Philosophischen Fakultät übernommen hat.

Zur ersten schließlich, der wichtigsten: „Wer bist du?“ Zu leicht wäre sie mit einem Namen allein beantwortet, dem „Io mi chiamo Winfried Thielmann“. Fragen wir grundsätzlicher: „Wer bist du?“ Und nehmen wir an, die Antwort offenbare sich nicht allein, aber doch auch in der Summe dessen, was ein Kollege in seinem wissen-schaftlichen Leben bearbeitet und beforscht hat. Da fällt dem Germanisten zunächst einmal auf, dass Winfried Thielmann in den ersten drei Studienjahren für „Physik“eingeschrieben war – und dass er, als er 1988 mit dem Magisterstudiengang Deutsch als Fremdsprache be-gann, das keineswegs als spät eingestandenes Versehen empfand: handelt doch auch noch die Dissertation von der „Fachsprache der Physik als begriffliches Instru-mentarium“. 2006 habilitierte sich Winfried Thielmann bei Konrad Ehlich mit einer Arbeit wider den Zeitgeist, wenn Sie mir das zu sagen gestatten, deren Kernfrage lautet: Ist es mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der mo-dernen Wissenschaftskommunikation sinnvoll, Wissen-schaft nur noch in einer Lingua franca – dem Englischen nämlich – zu betreiben? Oder ist nicht jede Wissen-schaftssprache Teil eines komplexen gewachsenen Wissenschaftssystems, dessen unfreiwillige Dekomple-xierung betreibt, wer (wie oben der Italiener Thomasin) sprachliches Denken auf den Gebrauch von Wörtern reduziert? Thielmann gibt energisch zu bedenken, dass die Annahme, das Englische sei eine an der Oberfläche „einfache“ Sprache, übersieht, dass diese Einfachheit das Ergebnis harter sprachlicher Arbeit von Muttersprach-lern ist. Und ich zitiere einen meiner Lieblingssätze zur Frage der Nutzung des Englischen als fremder Wis-

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senschaftssprache: „Es ist davon auszugehen, dass Wis-senschaftler, die das Englische für – im obigen Sinne –‚einfach‘ und problemlos hantierbar erachten, Texte produzieren, die im angelsächsischen Sprachraum auf-grund ihrer Hermetik ebenso problemlos ignoriert wer-den können.“ (Thielmann 2009a, S. 317). Sätze wie die-ser beantworten mir ebenfalls ein wenig von der Frage uuer pistu?, bringen sie uns doch den ums offene Wort selten verlegenen Kollegen in seiner Freude am poin-tierten Denken in pointierter Sprache näher. So man-cher der hier Anwesenden wäre gewiss in der Lage, von Erlebnissen mit dem Genussmenschen Winfried Thiel-mann (Rauchwerk und Hochprozentiges) zu berichten, und wen, der ihn je auf das Lieblingsthema der Deut-schen (freilich auch der Italiener) ansprach („Wo liegt eigentlich der Sinn von Fußball?“), wundert‘s, dass er heut Abend ganz allein – und bestimmt voller Stolz, hät-te er‘s denn gewusst – gegen Bayern München und Inter Mailand antritt? Lieber Herr Thielmann: wir freuen uns, dass Sie in Chemnitz angekommen sind, und wir freuen uns auf Ihren Vortrag.

Christoph Fasbender

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„Seit wann ist denn das Deutsche eine Fremdsprache?“_____

Spectabilis, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Stu-dierenden, meine sehr verehrten Damen und Herren,

als der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber im Jahre 2003 seinen triumphalen Wahlsieg errang und am nächsten Tag gleich massive Sparmaßnahmen verkündete, sann die Universitätsleitung der Ludwig-Maximilians-Universität München darüber nach, wo man denn nun Einsparungen vornehmen könnte. Hier-bei, so wird kolportiert, sei es einigen Vertretern dieses von einem Betriebswirt geleiteten Gremiums zum ersten Mal aufgefallen, dass die LMU München auch über ein Institut für Deutsch als Fremdsprache verfügte. Da soll nun jemand die Äußerung getan haben, die ich zum Titelmeiner Vorlesung gemacht habe: „Seit wann“ – und man möchte fast ergänzen: zum Teufel – „ist denn das Deutsche eine Fremdsprache?“

Damals wäre fast das erste westdeutsche Institut für Deutsch als Fremdsprache Kürzungen zum Opfer ge-fallen, obwohl es – Ironie der Geschichte – im Jahre 1978 nicht zuletzt auf Betreiben von Franz Josef Strauß begründet worden war, und zwar mit Harald Weinrich als Gründungsprofessor und Konrad Ehlich als seinem Nachfolger.

Die Benennung meines Faches erregt also Anstoß,und ich nehme dies zum Anlass, heute in meinerAntrittsvorlesung einmal darüber zu sprechen, was es mit diesem Fach auf sich hat und wie es an der Profes-sur für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der TU Chemnitz betrieben wird.

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1. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache

Das Befremden, das die Bezeichnung „Deutsch als Fremdsprache“ auslöst, hängt damit zusammen, dass das Ureigene, nämlich die deutsche Sprache, hier zu einem Fremden erklärt wird. Fremd ist die deutsche Sprache denjenigen, die sie nicht sprechen; eine Fremd-sprache für diejenigen, die sie erlernen wollen, im Ausland oder im Inland. Das Fach Deutsch als Fremd-sprache hat es nun zu tun mit der Qualifizierung der-jenigen, die das Deutsche im Ausland und im Inland an Menschen vermitteln, denen das Deutsche fremd ist. Für die Vermittlungssituation im Inland hat sich die Be-nennung Deutsch als Zweitsprache eingebürgert.

Das Fach Deutsch als Fremdsprache ist ein junger Teil-bereich der Germanistik, wie dies auch manchmal in Fachbenennungen wie „Transnationale Germanistik“ oder „Transkulturelle Germanistik“ reflektiert ist.

2. Sprachvermittlung – Didaktik und Methodik

Wir haben also nun einen Gegenstand, nämlich die deutsche Sprache, der denen beigebracht werden soll, die sie erlernen möchten, und zwar durch diejenigen, die wir hierzu qualifizieren. Damit sind zwei klassische Bereichejeder Lehrerqualifizierung zu bedienen, nämlich die Didaktik und die Methodik. Der Unterschied zwischen diesen beiden lässt sich leicht merken: Die Methodik ant-wortet auf die Frage: Wie sag ich’s meinem Kinde? Die Didaktik auf die Frage: Was sage ich ihm? Die Methodikbefasst sich mit dem Wie, die Didaktik mit dem Was der Vermittlung. Wenn man sich in Deutschland die In-stitute und Professuren für Deutsch als Fremdsprache

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ansieht, stellt man fest, dass die einen der Methodik, an-dere wiederum der Didaktik den Vorzug geben. Da wir hier als Fach nicht grundständig aufgestellt, sondern nur durch eine Professur im Rahmen der Germanistik vertreten sind, war eine Entscheidung zu treffen, die mir persönlich sehr leicht fiel: Meine wissenschaftliche Mitarbeiterin, Frau Fischer, konzentriert sich in ihren Veranstaltungen vor allem auf methodische Fragen derSprachvermittlung. Mein eigener Schwerpunkt liegt auf der Didaktik, und dies ist, denke ich, auch relativ leicht zu begründen.

Die Methodik steht meines Erachtens dann im Vorder-grund, wenn das Was der Vermittlung bereits klar ist und wenn ebenfalls klar ist, wann man am besten was macht. Wenn es zum Beispiel in der Mathematik um die Regeln für das Rechnen mit Potenzen geht, so ist dieserGegenstand klar gegeben. Und bevor man den nicht vermittelt hat, braucht man z.B. mit Logarithmen nicht anzufangen. Hier sind die Gegenstände sozusagen vor-handen, und ihre Abfolge kann einer Logik folgen, die in der Sache liegt.

Wenn man es mit Sprachvermittlung zu tun hat, liegt der Fall nicht ganz so einfach. Setzt der Dativ den Akku-sativ voraus oder umgekehrt? Soll man das Perfekt vor oder nach dem Präteritum durchnehmen? Gibt es also so etwas wie zum Beispiel eine Sachlogik sprachlicher Gegenstände? Und was ist eigentlich eine sprachliche Gegebenheit? Lassen Sie uns einmal folgenden Sachver-halt betrachten.

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Beispiel a) beginnt mit dem Subjekt ich; Beispiel b) mit dem Adverbial heute. Man sieht deutlich, dass, bei Be-ginn mit dem Adverbial, das Subjekt ich und das Prädi-kat gehe ihre Plätze tauschen. Dieser eindeutig gegebene Sachverhalt wird mit dem Terminus Subjekt-Verb-In-version, also „Subjekt-Verb-Vertauschung“, beschrie-ben. Dieser Terminus ist bis heute gebräuchlich.Im Jahr 1937 erschien postum die Satzlehre des Germanisten Erich Drach, die den obigen Sachverhalt folgendermaßen darstellte:

Sie sehen: Bei Drach bleibt das Prädikat stabil, wäh-rend Subjekt und Adverbial um das Prädikat herum ihre Positionen tauschen. Drach hat hier eine grundlegende Einsicht in die Struktur des deutschen Satzes gehabt, die eine Position vor und eine Position nach dem Prädikat vorsieht, die von verschiedenen Satzgliedern besetzt werden können. Drach wettert demzufolge auch – und

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dies in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts – ausführlichst gegen den Terminus Subjekt-Verb-Inver-sion, da dieser ein Phänomen suggeriere, das gar nicht gegeben sei. Die Einsichten Drachs sind erheblich späterins Recht gesetzt worden, zum Beispiel auch in den Arbeiten von Harald Weinrich (1993) und Jochen Reh-bein (1992) – beide Sprachwissenschaftler im Fach Deutsch als Fremdsprache. Wie ich schon sagte: Der Terminus Subjekt-Verb-Inversion ist dennoch bis heute ebenso gebräuchlich.

Der Sinn dieses Beispiels ist es gewesen, folgende Tat-sache zu illustrieren: Einer Didaktik des Deutschen als Fremdsprache liegen die Gegenstände nicht einfach vor. Es macht ja einen Unterschied, ob man die von mir gerade beschriebene Struktur als eine mit festem oder beweglichen Prädikat charakterisiert. Das heißt: Die Sprachdidaktik muss sich ihrer Gegenstände immer aufs Neue vergewissern, was sie eigentlich nur zuwege bringt, indem sie selbst Sprachwissenschaft betreibt.

Noch zwei weitere Überlegungen zu dem obigen Bei-spiel:

Erstens: Wie ich’s meinem Kinde denn nun sage, wird wohl ganz erheblich davon abhängen, ob ich in der be-sprochenen Struktur das Prädikat als beweglich einstufe oder nicht. Die Bestimmung der Gegenstände hat einen erheblichen Einfluss auf die Methodik. Methodische An-sätze, die die Didaktik sozusagen gleich mitliefern, wie z.B. die audio-linguale Methode der Konditionierung des Sprachvermögens im Sprachlabor, haben sich daher auch nicht bewährt.

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Zweitens: Wann ich’s meinem Kinde am besten sage, ist der Struktur nicht anzusehen. Es ist nicht klar, ob man das am besten am Anfang oder erst später unterrichtet. Ich werde auf diese Frage später noch einmal zurück-kommen.

Die Didaktik des Deutschen als Fremd- und Zweit-sprache bedarf also einer sprachwissenschaftlichen Fun-dierung, die auf die Bedürfnisse der Sprachvermittlung abgestellt ist. Hierzu nun einige Bemerkungen.

3. Linguistik des Deutschen als Fremdsprache

3.1. Sprache als Mittel zum Zweck

Was Sprachwissenschaft im Zusammenhang der Sprach-vermittlung zu leisten hat, kann man vielleicht am besten ermessen, wenn man sich überlegt, was durch Sprach-unterricht eigentlich erreicht werden soll. Nun: Dass Menschen eine Sprache sprechen können, die sie vorher nicht sprachen. Aber was heißt das? Heißt das vielleicht, dass sie korrekte Sätze bilden können? Dann hätten wir also einen Lerner, der nach mehreren Sprachkursen, in denen er Vokabeln und Regeln gepaukt hat, korrek-te Sätze, also syntaktische und morphologische Wohl-geformtheiten äußern kann wie: Der Himmel ist blau. Da sitzen Leute. Im Sommer wird es später dunkel. So jemand würde übrigens diejenige Art von Kompe-tenz besitzen, die Noam Chomsky, ein namhafter US-amerikanischer Sprachwissenschaftler mit vielen An-hängern auch in Deutschland, als das eigentliche – und völlig ausreichende – Sprachvermögen ansieht. Aus der Perspektive der Sprachvermittlung wäre hierzu je-doch Folgendes zu sagen: Im Interesse von Menschen,

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die ihre Äußerungen nicht auf Zwecke beziehen können, sind hierzulande wie anderswo geschlossene Instituti-onen eingerichtet worden. Und Sprachunterricht sollte nicht unbedingt für diese vorbereiten.

Sprechen-können heißt also, sich zweckgerichtet äußern, und dies heißt wiederum: sprachlich handeln zu können. Dies wird inzwischen auch von dem Gemein-samen Europäischen Referenzrahmen, der als Ver-gleichsmaßstab für Sprachkenntnisse europaweit gilt, in etwa so anerkannt. In der Fremdsprache sprachlich handeln zu können heißt begriffen und internalisiert zu haben, welche sprachlichen Mittel für was gut sind.

Eine Sprachwissenschaft, die hierauf eine Antwort gibt, die also Sprache als Mittel zum Zwecke begreift, existiertaber noch nicht lange. Eine solche Sprachwissenschaft fragt nicht nach Grammatikregeln, sondern danach,mit welchen sprachlichen Mitteln ein Sprecher beim Hörer was erreicht. Konsequent ist dieser Ansatz bisher vor allem in der von Konrad Ehlich und Jochen Rehbein begründeten Funktionalen Pragmatik durchgeführt worden, die es etwa seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre gibt und der auch die Arbeiten etwa von Angelika Redder, Ludger Hoffmann und Willy Grießhaber ver-pflichtet sind.

Fragen wir einmal nach dem sprachlichen Handlungs-potential des Titels meiner Vorlesung. Sollte diese Äuße-rung tatsächlich in der eingangs geschilderten Situation gefallen sein, ließe sie sich als direkte Nachaußensetzung eines schon aggressiven Nichtverstehens einer Fachbe-zeichnung auffassen. Hier könnte der Hörer antworten:

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„Ich begreife auch nicht, warum die das so nennen müssen“. Aber noch eine andere Möglichkeit ist denk-bar: Nämlich, dass jemand ein echtes Verstehens-problem hinsichtlich der Frage hat, ab welcher Zeit man eigentlich von einer deutschen Sprache sprechen kann, die als Fremdsprache gelernt werden kann.

Worauf es mir hier ankommt, ist dies: Die Äußerung ist hinsichtlich ihres sprachlichen Handlungspotentials nicht genau bestimmt, sondern entfaltet dieses in der konkreten Sprechsituation. Was beiden Fällen gemein-sam ist, ist jedoch die Tatsache, dass es um das Deutscheals Fremdsprache geht und der Sprecher mit seiner Frage ein Verstehensproblem artikuliert.

Betrachten wir einmal die Struktur dieser Äußerung:

In dieser Darstellung, die im wesentlichen sprachanaly-tischen Überlegungen und Verfahren von Konrad Ehlich (1998) und Ludger Hoffmann (2003) verpflichtet ist, se-hen wir ganz unten eine aus Inhaltswörtern bestehende

Abb. 3

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Basis: Deutsch – sein – Fremdsprache. Ein adverbialer Bestandteil dieser inhaltlichen Basis fehlt, er wird über die interrogative Kombination seit wann sozusagen als Nullstelle eingebracht. Auf Teilen der inhaltlichen Basis operieren Funktionswörter, Artikel: das Deutsche, eine Fremdsprache. Die Beugung des auf das Subjekt bezo-genen Verbs sein ist hier durch den dorthin zeigenden Pfeil angedeutet. Subjekt und Prädikat sind hierdurch aufeinander bezogen und bilden durch Synthese einen vollständigen Gedanken. Auf diesem komplexen Gebilde operiert der Ausdruck denn. Dieser Ausdruck kommt im Deutschen im Wesentlichen in zwei Situationen vor: Ein-mal in Fragen wie hier, oder äußerungseinleitend, zum Beispiel denn ich habe keine Zeit. Wie Angelika Redder in einer großen Untersuchung gezeigt hat (1990), sind die Verwendungen des Ausdrucks denn in Fragen oder äußerungseinleitend systematisch aufeinander bezogen: Mit denn in einer Frage tut der Sprecher kund, dass er die Frage nicht nur zu Informations-, sondern auch zu Verstehenszwecken stellt. Mit äußerungseinleitendem denn signalisiert er, dass er mit seiner Äußerung ein Verstehensproblem des Hörers bearbeiten möchte.

Bezogen auf den Gesprächsablauf: Fragen mit denn werden häufig dort gestellt, wo hörerseitige Verstehens-probleme nicht vorher durch eine mit denn eingeleitete Äußerung bearbeitet wurden.

Wie wir an diesem kleinen Beispiel sehen: Sprecher bauen aus sprachlichen Mitteln, die bereits selbst eine komplexeFunktionalität besitzen können, komplexe sprachliche Handlungen auf. Für die Zwecke der Sprachdidaktik muss nun beides – die Funktionalität der Mittel und ihr Zusam-menwirken – verstanden sein. Da gibt es noch viel zu tun.

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3.2 Komparative Linguistik – das Deutsche im Verhältnis zu anderen Sprachen

Eine weitere besonders wichtige Frage, die sich die Sprach-didaktik stellen muss, ist: Welche spezifischen Schwierig-keiten haben Lerner mit einer bestimmten Erstsprache mit dem Deutschen? Um dies mit einer gewissen Treffsicher-heit vorhersagen und an Lernern beobachten zu können, bedarf es in die Tiefe gehender vergleichender Sprach-betrachtung, die bisher nur teilweise durchgeführt ist.

Die Antwort auf die Frage, was für Lerner mit bestimmterErstsprache am Deutschen besonders schwer ist, ist zunächst eine zweifache: Es gibt Dinge, die für Lerner mit bestimmten Erstsprachen schwer sind. Und es gibt sprachliche Erscheinungen des Deutschen, an denen sich im Prinzip alle Lerner gleichermaßen abarbeiten.

Zunächst nun ein Beispiel für einen Bereich, der Lernern mit bestimmten Erstsprachen Schwierigkeiten bereitet. Es handelt sich um Klausurantworten zweier Studieren-der mit Russisch als Erstsprache auf die Fragestellung: „Sind Pidginsprachen ein Resultat von Sprachkontakt? Begründen Sie Ihre Antwort“ (aus Thielmann 2009c):

(1) Ja. Pidginsprache ist eine Mischung von Mutter-sprache und z.B. Kolonialsprache (z.B. Englisch). Die Muttersprache wird unterdrückt und über-nimmt gewisse Begriffe von Kolonialsprache. (…)

(2) Ja. Die Pidginsprache ist die Mischungssprache. Zwei Sprecher, die keine gemeinsame Sprache ha-ben, wählen eine Sprache aus, um sich zu kommu-nizieren. Diese Sprache hat keine feste Grammatik, keine Verschriftung.

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Wie Sie sehen, handelt es sich um zwei Studierende, die ausgezeichnet Deutsch können. Im Prinzip haben diesebeiden Studierenden überhaupt nur ein Problem mit dem Deutschen: Im ersten Beispiel fehlt der unbestimmte Artikel vor Pidginsprache. Im zweiten Beispiel müsste es heißen: Eine Pidginsprache ist eine Mischungssprache. Die Schwierigkeiten bestehen also im Artikelgebrauch. Die Studierenden sind sich nicht im Klaren darüber, wann der bestimmte und wann der unbestimmte Artikel zu setzenist. Dies ist kein Einzelfall. Vielmehr beobachten wir, dass Lerner mit slawischen Sprachen als Erstsprachen bis in die allerhöchsten Niveaustufen Schwierigkeiten mit den Artikeln haben, während sie sonst im Prinzip ein nahezu perfektes Deutsch sprechen.

Diese Schwierigkeiten hängen damit zusammen, dass die slawischen Sprachen, bis auf das Bulgarische, über keine Artikel verfügen. Die sprachlichen Zwecke, die im Deut-schen mit Artikeln bearbeitet werden, werden also in diesen Sprachen entweder gar nicht oder mit anderen Mit-teln bearbeitet. Um nun den Sprechern solcher Sprachen die deutschen Artikel beibringen zu können, müsste man erst einmal wissen, was Artikel eigentlich tun. Dies ist, wie auch neuere linguistische Arbeiten zeigen, immer noch ein weites Feld.

Lerner mit slawischen Erstsprachen werden natürlich er-wartbar auch mit anderen Artikelsprachen, also etwa dem Französischen, die entsprechenden Schwierigkeiten haben.

Ein Bereich, an dem sich jedoch so ziemlich alle Lerner die Zähne ausbeißen, ist die deutsche Satzstruktur. Das, was ich Ihnen hierzu eingangs präsentiert habe, war nur die halbe Wahrheit, die ich jetzt vervollständige:

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Wie Sie sehen, treten deutsche Prädikate typischerweise in zwei Teilen auf: kann…kommen; schlug…ein; ma-chen…einen drauf; ist…eine Fremdsprache. Besonders das zweite Beispiel aus einer Gerichtsakte (aus Rehbein 1992) zeigt, wie viel Sprache zwischen die beiden Prädi-katsteile passt. Dies ist nun eine Struktur, die sonst nur noch das Niederländische aufweist.

Ferner sehen Sie hier noch einmal, dass die Position vor dem finiten Verb, also das Vorfeld, auf sehr verschiedeneWeise besetzt werden kann. Hier kann zum Beispiel das Subjekt stehen, ein Adverbial, das direkte Objekt, ein adverbialer Nebensatz oder ein Interrogativum. In den Fällen, in denen das Vorfeld nicht mit dem Subjekt be-setzt wird, tritt das Subjekt nach dem finiten Verb auf. Das Vorfeld verträgt also nur ein Satzglied, also nicht *Gestern ich war im Kino, sondern Gestern war ich im Kino. Diese für das Deutsche typische Struktur, die wir

Abb. 4

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bereits eingangs besprochen haben, wird als Verbzweit-stellung bezeichnet. Sie ist, wie wir gleich sehen werden, von hohem sprachdidaktischen Interesse.

3.3 Spracherwerbsforschung

Von zentralem Interesse für die Sprachdidaktik ist weiterhin die Frage, wann man Lernern am besten wel-che Strukturen beibringt. Hierfür sind die Resultate der empirischen Spracherwerbsforschung einschlägig, die untersucht, wann sich Lerner bestimmte Strukturen an-eignen. Da, wie Sie gesehen haben, der deutsche Satzbau unter den Sprachen der Welt kaum seinesgleichen hat, ist es nicht verwunderlich, dass die bisher verlässlichs-ten Ergebnisse dieser Forschung genau diesen Bereich betreffen. Über sehr viele andere Aspekte, also etwa über den Aufbau von Bedeutungen, ist hingegen bisher nur sehr wenig bekannt (vgl. Thielmann 2009b).

Durch die Untersuchungen von Clahsen/Meisel/Piene-mann (1983), Diehl (2000) sowie durch zahlreiche Ar-beiten von Willy Grießhaber wissen wir nun zum Beispiel ziemlich verlässlich, dass Lerner mit verschiedensten Erstsprachen sich die Verbklammer vor der Verbzweit-stellung aneignen und praktisch nie andersherum. Dies bedeutet, dass wir Lernern, die die Verbklammer noch nicht produzieren können, die Verbzweitstellung nicht beizubringen brauchen – ein sehr wertvoller didakti-scher Hinweis. Die Verbzweitstellung ist zudem eine so fremde Struktur, dass sie im Spracherwerb recht spät kommt. Dies beantwortet meine am Anfang gestellte Frage, wann ich’s meinem Kinde am besten sage: Die Verbzweitstellung ist ein Thema für Lerner, die die An-

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fangsgründe schon hinter sich haben.

Darüber hinaus wissen wir durch die große Unter-suchung von Erika Diehl, dass die Aneignung der deutschen Kasus – also Nominativ, Akkusativ und Dativ – erst überhaupt beginnt, wenn die Lerner die Verbzweitstellung sicher produzieren können. Ein Blick in gängige DaF-Lehrwerke lehrt, dass die Kasus immer noch als so einfach gelten, dass man sie ab Kapitel 3 ver-mitteln kann.

Hier wird es, denke ich, noch einmal besonders deutlich, dass die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache einer wissenschaftlich informierten Sprachdidaktik be-darf. Denn mit ein paar Kochrezepten, die die viszeralen Intuitionen einer nie reflektierten Praxis, und sei es auch in bunter, multimedialer Form, lediglich fortschreiben, ist niemandem gedient.

3.4 Fach- und Wissenschaftssprache

1956 wurde an der Karl-Marx-Universität in Leipzig das „Institut für Ausländerstudium“ gegründet, dessen Zweck es war, ausländische Studierende auf die sprach-lichen Anforderungen eines Studiums in Deutschland vorzubereiten. 1968, also zehn Jahre früher als in West-deutschland, wurde an diesem Institut, das inzwischen in „Herder-Institut“ umbenannt worden war, die erste Professur für Deutsch als Fremdsprache eingerichtet und mit dem Sprachwissenschaftler Gerhard Helbig be-setzt. Während die westdeutsche Begründung des Fachesals Universitätsfach vor allem im Zusammenhang von Migration erfolgte, stand in Ostdeutschland die Vorberei-tung Studierender auf die sprachlichen Anforderungen

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eines Universitätsstudiums im Vordergrund. Daher wurde hier auch, bevor dies in Westdeutschland ernst-haft betrieben wurde, bereits sehr solide Arbeit in der Erforschung der deutschen Fach- und Wissenschafts-sprache für die Zwecke der Sprachvermittlung geleistet.

Die Vermittlung des Deutschen für fachliche und wis-senschaftliche Zwecke gehört zu den anspruchsvollsten aber auch interessantesten beruflichen Aufgaben, für die unser Fach qualifiziert.

Fach- und Wissenschaftssprache sind die komplexesten Sprachformen des Deutschen. In ihnen wird die Inno-vation gedacht und sprachlich so dingfest gemacht, dass sie als Wissen kommunizierbar wird.

Worum es hier sprachlich geht, möchte ich Ihnen an zwei Beispielen demonstrieren, mit denen ich der Tat-sache, dass wir uns hier an der Philosophischen Fakultät einer Technischen Universität befinden, Tribut zolle.

Das erste Beispiel stammt aus der Materialwissenschaft. Es geht hier um die Eigenschaften einer im Automobil-bau benutzten Legierung. Die Wissenschaftler haben ein gegossenes Metallstück einer wesentlich längeren Temperaturbelastung unterzogen als allgemein üblich und überprüfen nun, ob hierbei im inneren Feinbau des Metalls Veränderungen aufgetreten sind.

(3) Rasterelektronenmikroskopische Untersu-chungen (Abb. 3) zeigen eine signifikante Gefü-geveränderung durch die langzeitige thermische Beanspruchung. (aus: Regener et al. 2003, 722)

Wie Sie sehen, haben die Wissenschaftler Erfolg gehabt. Der Sprache dieses kleinen Textstücks ist die Freude

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über die Entdeckung nicht mehr anzumerken – sie ist in dem Ausdruck signifikant, durchaus im Hegelschen Sinne, aufgehoben. Lassen Sie uns einmal einen kurzen Blick auf diese Sprache werfen. Wir stellen fest, dass alle Substantive, die in diesem Text vorkommen, nämlich Untersuchung, Gefüge, Veränderung und Beanspru-chung, etwas gemeinsam haben:

(4) Untersuchung ß untersuchen Gefüge ß fügen Veränderung ß verändern Beanspruchung ß beanspruchen

Es handelt sich hierbei um Substantive, die sich von Verben herleiten, also um deverbale Ableitungen. Aus zwei dieser deverbalen Ableitungen ist das Kompositum Gefügeveränderung gebaut. Dass die deutsche Fach- und Wissenschaftssprache ihren Benennungsbedarf mit solchen Wortformen, also deverbalen Ableitungen und Kompositionen, befriedigt, ist kein Zufall, sondern Re-sultat der sprachschöpferischen Arbeit Christian Wolffs, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts die deutsche Wis-senschaftssprache begründete. Wolff hat hierdurch erreicht, dass das Deutsche nun auch für Funktions-bereiche geeignet war, die vorher dem Lateinischen vor-behalten waren.

Ich gestatte mir schon jetzt eine Bemerkung, auf die ich später noch einmal zurückkommen werde: Eine Sprache ist dann besonders als Fremdsprache attraktiv, das heißt international nachgefragt, wenn sie alle gesellschaftli-chen Funktionsbereiche, und hierbei vor allem den der wissenschaftlichen Innovation, bedienen kann.

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Ich komme nun auf mein zweites, aus der Philosophie stammendes Beispiel zu sprechen:

(5) Nicht selten begegnet man einer Auffassung der Philosophie Martin Heideggers, die sich auf-grund des Diktums: „Die Wissenschaft denkt nicht“ (VA 133) einer Diskussion des Problems zu entziehen weiß. (Wolf 2003, 95)

Dieser erste Satz aus der Einleitung eines Aufsatzes über Heideggers Wissenschaftstheorie enthält, denke ich, nur einen einzigen Ausdruck, der in der Umgangsspra-che eher selten anzutreffen sein dürfte: Diktum – „Aus-spruch“. Dennoch ist das hier Gesagte nicht so ohne weiteres verständlich. Dies liegt daran, dass sich hier ganz normale deutsche Wörter auf etwas ungewöhnliche Weise verbinden: einer Auffassung begegnen, sich der Diskussion eines Problems zu entziehen wissen.

Diese Wortverbindungen sind der Tatsache geschul-det, dass Wissenschaft eine kollektive Unternehmung ist. Wissenschaftler sind in einem permanenten Streit um die Wahrheit begriffen. Die sprachlichen Elemente des wissenschaftlichen Streitens, die zum ersten Mal im Jahre 1993 von Konrad Ehlich beschrieben worden sind, sind vorwiegend aus gemeinsprachlichen Elemen-ten aufgebaut. Nach Eris, der Göttin der Zwietracht, hat Ehlich sie als eristische Strukturen bezeichnet.

Man begegnet also, so ist der kleine Text zu lesen, nicht selten einer Auffassung – das heißt also: Wissenschaft-lern –, die eine bestimmte Auffassung vertreten. Diese Wissenschaftler kennen Heideggers Wissenschaftsthe-orie nicht, sondern nur einen einzigen Satz: „Die Wis-senschaft denkt nicht“. Und immer dann, wenn man

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über Heideggers Wissenschaftstheorie reden müsste, entziehen sie sich der Diskussion, indem sie auf diesen Satz verweisen, der ihnen genügt. Mit anderen Worten: Es gibt Wissenschaftler, die hinsichtlich Heideggers Wissenschaftstheorie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Der Autor tritt mit diesem ersten Satz gleich ein-mal einigen Kollegen gehörig auf die Füße, indem er sich streitend positioniert.

Wie wir gesehen haben, nutzt die Wissenschaftssprache gemeinsprachliche Mittel auf sehr spezifische Weise.Das macht sie zu einem sehr schwierigen und komple-xen Vermittlungs- und Lerngegenstand, zumal diese Strukturen auch in der Sprachwissenschaft erst zum Teilbeschrieben sind.

Dass das internationale Renommee einer Sprache nicht zuletzt mit ihrem wissenschaftlichen Prestige ein-hergeht, hat dazu geführt, dass sich das Fach Deutsch als Fremdsprache, und zwar vor allem durch die Arbeiten von Konrad Ehlich, so ziemlich als erstes Fach der Germanistik einem hochproblematischen Be-reich zugewandt hat: demjenigen der Verdrängungder deutschen Sprache aus zentralen Funktions-zusammenhängen durch das Englische.

3.5. Sprachpolitische Überlegungen

Das Deutsche wird gegenwärtig durch das Englische aus wichtigen Funktionszusammenhängen verdrängt. Leider wird dieser hochproblematische Sachverhalt vor allem im innerdeutschen Raum durch eine andere Er-scheinung sozusagen zugedeckt, die mit ihm gar nichts zu tun hat: die Anglizismen. Es stellt keine Bedrohung

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der deutschen Sprache dar, wenn ein Leichenbestat-tungsunternehmer ein Sargmodell als peace box be-zeichnet. Auch Käuferinnen einer Umhängetasche mit der Aufschrift body bag könnten irgendwann dahinter kommen, dass hiermit eigentlich – wir bleiben noch kurz beim Thema – Leichensäcke bezeichnet werden. Solche sprachlichen Erscheinungen sind zwar ärgerlich,aber sie lassen sich vielleicht doch am zutreffendsten mit einem Bonmot von Karl Kraus abtun, wonach ein Fremdwort auch seinen eigenen Geschmack hat und sich durchaus nicht in jedem Munde wohl fühlt.

Etwas problematischer ist es, wenn, wie geschehen, das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit dem Slogan

(6) Hi potentials!

um ausländische Studierende wirbt. Dem eigentlich wit-zigen Wortspiel

(7) high potential ß hi potential!

wird durch den ungrammatischen Plural der Garaus ge-macht. Hier macht man sich zunächst einmal im Inte-resse der Universitäten Gedanken, ob, wer dummdreist wirbt, unter Umständen auch Dummdreistigkeit ein-wirbt. Aber warum meint man überhaupt, für deutsche Universitäten auf Englisch werben zu müssen?

Es kann heutzutage an den meisten Universitäten – und die TU Chemnitz ist hier keine Ausnahme – kaum noch eine Professur ausgeschrieben werden ohne den Passus, dass der erfolgreiche Bewerber seine Veranstaltungen auch auf Englisch abhalten können muss. Dies könnte langfristig in einer Verdrängung des Deutschen aus der

ß

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wissenschaftlichen Lehre und damit in einer Aufgabe der deutschen Wissenschaftssprache resultieren.

Aber wissenschaftliche Innovation, die nicht gedacht und nicht kommuniziert werden kann, ist keine. Wie Sie ge-sehen haben, bedient sich die deutsche Wissenschafts-sprache sehr spezifischer Mittel für die Benennung wissenschaftlicher Gegenstände und die sprachlichen Erfordernisse wissenschaftlichen Streitens. Im Eng-lischen ist dies auch so, aber die Mittel sind grund-verschieden. Wie ich in einer größeren Untersuchunghabe zeigen können (2009), verhalten sich die deutscheund die englische Wissenschaftssprache weitgehend alternativ zueinander. Die englische Wissenschafts-sprache ist genauso komplex wie die deutsche, aber sie funktioniert völlig anders.

Unter dem Gesichtspunkt der Innovation ist es daher gut, mehrere Wissenschaftssprachen zu haben, da diese jeweils auch andere Perspektiven auf die Gegenstände bieten. Sprachliche Monokulturen sind für die Innova-tion hingegen fatal.

Die Aufgabe des Deutschen als Wissenschaftssprache würde langfristig bedeuten, dass die Theorie- und Ter-minologiebildung fest in angelsächsischer, konkret in US-amerkanischer Hand ist. Dem Wettbewerb ist es aber nicht zuträglich, wenn die terminologische Ober-hoheit bei denen liegt, die dann die weltweit gehandelte terminologische Münze als Muttersprachler prägen kön-nen. Das ist wie im Schach: Schwarz verliert, wenn es nur die Züge von Weiß kopiert.

Das Vordringen des Englischen im wissenschaftlichen Bereich wird gerade von Entscheidungsträgern gerne als

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naturwüchsiger Prozess charakterisiert, indem man auf die Globalisierung verweist. Als Sprachwissenschaftler sage ich hierzu: Der Ausdruck Globalisierung ist eine deverbale Ableitung von dem Verb globalisieren. Und globalisieren ist eine komplexe Handlung: es gibt Leute, die das tun. Eine Firma kann zum Beispiel ihre Produk-tion globalisieren, indem sie ihre Produkte an verschie-densten Standorten weltweit fertigen lässt. Globalisie-rung ist mithin ein Prozess, der durch die konkreten Handlungen Einzelner vorangetrieben wird. Dieser Prozess ist also mitnichten naturwüchsig. Durch die Untersuchungen von Roswitha Reinbothe (2007) wissenwir, dass die internationale Stellung und das internatio-nale Prestige einer Wissenschaftssprache sich nicht einfach ergibt, sondern das Resultat von Sprachpolitik ist. Schauen wir uns ein Stückchen konkreter deutscher Sprachpolitik an: Der Deutsche Akademische Aus-tauschdienst, der einst zur Stärkung der internationalen Position der deutschen Wissenschaftssprache gegründet wurde, legte vor einiger Zeit die Förderung von Inter-nationalen Promotionsstudiengängen an deutschen Universitäten als ein sehr kostspieliges Programm auf. Förderungsvoraussetzung war es unter anderem, „im Rahmen der Promotionsordnung die Abfassung der Dis-sertation auf Englisch zuzulassen” und „die Disputation ggf. auch in englischer Sprache abzunehmen”. So wird in Deutschland, und ich sage dies ausdrücklich: mit Ihren Steuergeldern, meine Damen und Herren, Sprachpolitik für das Englische gemacht.

Während Entscheidungsträger, die von sprachlichen Dingen nichts verstehen, hierüber Entscheidungen tref-fen, die geeignet sind, das wirtschaftliche Potential die-

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ses Landes zu beeinträchtigen, erodieren gleichzeitig die fachsprachlichen Fähigkeiten junger Menschen im Deutschen. Wir beobachten dies nicht nur mit Sorge an der Universität. Dieter Günther, Mathematik- und Physiklehrer am Abendgymnsium Chemnitz, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass dies bereits an den Schulen ein Problem ist. Am Chemnitzer Abendgym-nasium und an einem weiteren, regulären, Gymnasium haben wir eine kleine Erhebung durchgeführt mit dem Ergebnis, dass die meisten Schüler nicht in der Lage sind, elementare mathematische Sachverhalte fach-sprachlich auszudrücken oder solche Sachverhalte in fachsprachlicher Form zu verstehen. In einem Projekt, das hoffentlich bald in die Antragsstellung gehen wird, wollen wir diese Erhebung großräumiger durchführen und auf Basis der Daten Maßnahmen vorschlagen, diese Situation zu verbessern.

Ich sage allen meinen Studienanfängern, dass sie sich mit der Entscheidung, ihr Leben und ihren Broterwerb an der deutschen Sprache auszurichten, einem prekären Gegenstand verschrieben haben. Ist die Wissenschafts-sprache, und damit die Sprache der Innovation einmal weg, beginnt auch die Erosion in anderen Bereichen. Wir haben jetzt schon die ersten Diskussionen darüber, ob es denn nicht opportun sei, bestimmte Bereiche des Rechtswesens auf Englisch umzustellen. In letzter Kon-sequenz würde dies darauf hinauslaufen, dass Sie den Brötchenkauf noch auf Deutsch, den Behördengang aber nur noch auf Englisch abwickeln könnten. Dies ist die sprachliche Praxis postkolonialer Gesellschaften.

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4. Interkulturelle Hermeneutik

Ich komme nun abschließend zu einem Bereich, der unter die Didaktik nicht zu subsumieren ist, da es sich um eine Dimension des Fremdsprachenunterrichts schlechthin handelt. Ob nun das Deutsche als Fremd-sprache im Ausland oder als Zweitsprache im Inland vermittelt wird: Es kommt hierbei immer zu einer Be-gegnung zwischen Menschen, die mindestens zwei ver-schiedenen Kulturen angehören. Diese Begegnung prägt nicht nur die Sprachvermittlung, sondern auch die Ver-mittlung notwendiger, normalerweise als Landeskunde bezeichneter, Wissensbestände. Dabei treten sowohl auf der Seite des Lehrers als auch auf der Seite der Lerner Verstehensprobleme auf, die bearbeitet werden müssen.Hiermit befasst sich die interkulturelle Hermeneutik. Ich kann dieses hochkomplexe Gebiet, das unserem Fach auch den Namen „Transkulturelle Germanistik“ beschert hat, in dieser Veranstaltung nur kurz und schlaglichtartig anreißen. Ich beginne mit zwei noch an die Sprache selbst geknüpften Bereichen und schließe mit einer Sache, die sozusagen tiefer liegt.

4.1 Sprachlich gebundene Unterschiede (s. Thielmann 2010)

Eines der ersten Erlebnisse, das man beim Erlernen einerFremdsprache hat, ist Befremden, das daher rührt, dass verschiedene Sprachen die Wirklichkeit unterschied-lich aufgliedern. So ist das, was wir im Deutschen als Straße bezeichnen, im Englischen entweder street oder road. Street ist ein räumliches Konzept: die Straße in einer Schlucht zwischen Häuserzeilen. Road ist hin-gegen etwas Flächiges, das außerhalb der Stadt liegt.

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Solche kleinen Unterschiede betreffen denjenigen Teil der Wirklichkeit, der häufig auch in anderen Kulturen auf sehr ähnliche Weise organisiert ist wie bei uns. Zu sehr viel massiveren sprachlich gebundenen Unterschie-den kommt es, wenn wir den Bereich der Institutionen betrachten. Wer im angelsächsischen Sprachraum law, also Jura, studiert, besucht Kurse in equity. Equity ist ein Rechtsbereich, der es mit der Abmilderung der Harsch-heiten zu tun hat, die in der Fallrechtstradition des com-mon law enthalten sind. Da wir uns hierzulande in einer kodifizierten Rechtstradition bewegen, gibt es so etwas wie equity bei uns – ich sage mal: noch nicht. Sie sehen: Hier ist es nicht einmal mehr möglich zu übersetzen, da die Sachen selbst völlig anders organisiert sind. Im Zu-sammenhang der Wende wurde anfangs des öfteren die Frage gestellt, ob in Ost- und Westdeutschland dieselbe Sprache gesprochen würde. Unsere kleine Betrachtung kann hier eine Antwort geben: Zum Teil waren, wenn es um institutionell organisierte Wirklichkeit ging, die Sa-chen nicht dieselben und die sprachlichen Mittel, die mit diesen Sachen im Zusammenhang standen, auch nicht.

4.2. Unterschiede in der sprachlichen Praxis (s. Thiel-mann 2010)

Mit Unterschieden in der sprachlichen Praxis meine ich Unterschiede, die die Weise betreffen, wie Sprache selbst eingesetzt wird. Hierzu gehören zum Beispiel Fragen derHöflichkeit, der Bedeutung von Schweigen im Gespräch oder der Organisation des Sprecherwechsels.

Weitere Unterschiede in der sprachlichen Praxis auch sehr ähnlicher Gesellschaften finden sich beispielsweise

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in der Strukturierung von Gesprächsbeiträgen. So unter-scheiden sich das Deutsche und das Englische grundlegend hinsichtlich der inneren Struktur von Ge-sprächsbeiträgen: Während zum Beispiel im Englischen das Wichtigste eines Redebeitrags in der Regel sofort gesagt wird, wird im Deutschen häufig zunächst der Denkprozess verbalisiert, der zu dem Punkt führt, den der Sprecher machen möchte. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts mögen zwei Soundbites von Regie-rungschefs dienen:

(8) JOHN HOWARD: I believe that given all of the circumstances his decision to offer his resig-nation was correct. It‘s the right decision to take in the circumstances. It is his decision and a de-cision in which I believe he‘s placed concern for the office and his sense of obligation and duty to the Australian people above other considerations. (Kommentar des australischen Premierministers John Howard zum Rücktritt des Governor General Peter Hollingworth wegen Strafvereitelung. ABC 26.5.2003)

(9) GERHARD SCHRÖDER: Weil Herr Klimmt gesagt hat, er wolle sich selbst und der Partei die Belastungen, die mit dem Gerichtsverfahren verbunden sind, auch sicherlich die öffentliche Diskussion nicht zumuten und er ist deshalb zu-rückgetreten und ich finde, das muss man res-pektieren. (Der Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des Rücktritts von Verkehrsminister Klimmt wegen Korruptionsvorwürfen. Das Jour-nal, 16.11.2000)

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Man sieht hier deutlich die unterschiedlichen Struktu-ren der Gesprächsbeiträge: Man könnte den letzten und vorletzten Satz von Howards Statement tilgen, und der wesentliche Punkt bliebe immer noch erhalten: „his re-signation was correct“. Der Beitrag von Schröder ist hin-gegen die Verbalisierung eines – transgrammatischen – Denkprozesses, der in der abschließenden Äußerung „und ich finde, das muss man respektieren“ kulminiert. Es ist dies eine Struktur, bei der durch die Verbalisie-rung des Denkprozesses beim Hörer ein Verstehen des Denkresultats vorbereitet und ermöglicht wird.

Die Unterschiede in der sprachlichen Praxis sind noch kaum untersucht – Willy Grießhaber hat hier in etlichen Arbeiten einen Weg gewiesen, wie man diesen Bereich angehen könnte.

4.3 Kategoriale Unterschiede

Mit kategorialen Unterschieden meine ich solche, die die Grundstrukturen der Wirklichkeit, also etwa Zeit und Raum, betreffen. Ich mache dies einmal an drei Zi-taten aus der neueren und neuesten deutschen Literatur deutlich:

(10) Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit begann im Herbst und endete im Früh-jahr. Je kälter und dunkler das alte Jahr wurde, desto schwächer wurde ich. Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts. Der Januar war warm, und meine Mutter richtete mir das Bett auf dem Bal-kon. Ich sah den Himmel, die Sonne, die Wolken und hörte die Kinder im Hof spielen. Eines frühen

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Abends im Februar hörte ich eine Amsel singen. (Bernhard Schlink, Der Vorleser, 1995)

(11) Fremd bin ich eingezogen,Fremd zieh ich wieder aus.Der Mai war mir gewogenMit manchem Blumenstrauß.Das Mädchen sprach von Liebe,Die Mutter gar von Eh’ –Nun ist die Welt so trübe,Der Weg gehüllt in Schnee.(…)(Müller, Gute Nacht, 1822)

(12) Über allen GipfelnIst Ruh,In allen WipfelnSpürest duKaum einen Hauch;Die Vögelein schweigen im Walde.Warte nur, baldeRuhest du auch.(Goethe, 1780)

Ich behaupte nun, dass diesen drei literarischen Texten, also dem Anfang eines Erfolgsromans aus den 90er Jah-ren, „Wanderers Nachtlied“ und der ersten Strophe der „Winterreise“ von Wilhelm Müller etwas gemeinsam ist.

Alle drei Texte beruhen auf einem zyklischen Zeitver-ständnis, bei dem die Tageszeiten den Jahreszeiten so-wie den Lebensstadien entsprechen:

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Wir sehen das ganz deutlich an Wanderers Nachtlied, das eigentlich nichts anderes ist als die lyrische Ausge-staltung der Gleichung Abend=Alter. In der zyklischen Zeit gibt es auch zum Beispiel eine Zeit für die Krankheit und eine Zeit für die Liebe. Der Ich-Erzähler in Bern-hard Schlinks Roman wird selbstverständlich im Winter krank, gesundet im Frühjahr und verliebt sich kurz da-rauf – ähnlich wie das lyrische Ich in Wilhelm Müllers Gedicht, dem der Mai nicht nur mit manchem Blumen-strauß, sondern auch mit einem Mädchen gewogen war.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass in einem deut-schen Roman die Hauptfi gur sich im Winter verliebt. Und als Hauptfi gur eines deutschen Romans ist man im Mai sozusagen gegen alle Krankheiten immun. Die an die Jahreszeiten gebundene zyklische Zeit ist eine so tiefe Grunderfahrung, dass sie – nie explizit ausgespro-chen – die deutsche Literatur über Jahrhunderte hinweg zusammenhält.

Wenn man im Sprachunterricht literarische Textedurchnimmt, kann es nun sein, dass genau solche

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Grunderfahrungen hinterfragt werden müssen. So reagieren zum Beispiel äquatornahe Australier, die bereits bei 20° Celsius frösteln und nicht auf ein solches zyklisches Zeitverständnis geprägt sind, auch dann zu-nächst mit Befremden auf „Wanderers Nachtlied“, wenn sie mit dem Gedicht keine sprachlichen Probleme haben.Umgekehrt sind gerade solche Texte eine Chance, der-artige differente Grunderfahrungen zur Sprache zu brin-gen.

Das Zeitverständnis ist also kulturell sehr verschieden ausgeprägt – Lutz Götze, bis vor kurzem Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität des Saar-landes, hat hierzu ein sehr spannendes kulturverglei-chendes Buch verfasst.

5. Abschluss

Ich hoffe, dass ich Ihnen einige der Gegenstände und Fragestellungen des Faches Deutsch als Fremdsprache, wie es hier an der TU Chemnitz betrieben wird, ein we-nig näher bringen konnte.

Dass ich heute vor Ihnen stehen kann, wie auch die Kol-legen, die vor und nach mir diesen Zyklus der Antritts-vorlesungen bestritten haben und bestreiten, ist das Resultat einer Laufbahn, die wohl zu den riskantesten und prekärsten gehört, die es in diesem Land gibt: der wissenschaftlichen.

Ich möchte daher diese Gelegenheit nutzen, denjenigen zu danken, die mich durch die Irrungen und Wirrungen dieser Laufbahn begleitet und in jeder Hinsicht unter-stützt haben. Ich danke meinen Lehrern Angelika Redder

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und Konrad Ehlich, meinen Eltern Anita und Manfred Thielmann und meiner Frau Lyndall.

Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für gedul-diges Zuhören und Ausharren. Draußen gibt es Sekt – lassen wir den nicht warm werden.

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Literatur

Harald Clahsen/ Jürgen M. Meisel/Manfred Pienemann (1983) Deutsch als Zweitsprache: Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen: Narr.

Erika Diehl (2000) „Wenn sprechen sie, alles geht’s besser“ – Erwerb der Satzmodelle. In: Diehl et al. (Hg.) Grammatikunterricht: Alles für die Katz? Untersuchun-gen zum Zweitspracherwerb Deutsch. Tübingen: Nie-meyer, 55-114.

Erich Drach (1937 ND 1963) Grundgedanken der deut-schen Satzlehre. Darmstadt: WBG.

Konrad Ehlich (1993) Deutsch als fremde Wissen-schaftssprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache Bd. 19. München: iudicium, 13-42.

Konrad Ehlich (1998 Repr 2007) Linguistisches Feld und poetischer Fall – Eichendorffs „Lockung“. In: Kon-rad Ehlich (2007) Vol. 2. Berlin/New York: de Gruyter, 369-397.

Konrad Ehlich (2003) Determination. Eine funktional-pragmatische Analyse am Beispiel hebräischer Struktu-ren. In: Ludger Hoffmann (Hg.) Funktionale Syntax. Die pragmatische Perspektive. Berlin/New York: de Gruy-ter, 307-334.

Wilhelm Grießhaber (1990) Transfer, diskursanalytisch betrachtet. In: Linguistische Berichte 129/90, 386-414.

Wilhelm Grießhaber (im Druck) Sprachstandsdiagnose im kindlichen Zweitspracherwerb: Funktional-pragma-tische Fundierung der Profilanalyse (http://spzwww.unimuenster.de/~griesha/pub/tprofilanalyse-azm-05.pdf [7.5.10]).

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Lutz Götze (2004) Zeitkulturen. Gedanken über die Zeit in den Kulturen. Frankfurt am Main: Lang.

Ludger Hoffmann (2003) Funktionale Syntax: Prinzipi-en und Prozeduren. In: Ludger Hoffmann (Hg.) Funk-tionale Syntax. Die pragmatische Perspektive. Berlin/New York: de Gruyter, 18-121.

Ludger Hoffmann (2007) Determinativ. In: Ders. (Hg.) Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin/New York: de Gruyter, 293-357.

Angelika Redder (1990) Grammatiktheorie und sprach-liches Handeln: »denn« und »da«. Tübingen: Niemeyer.

Doris Regener/Elfrun Schick/Hartmut Heyse (2003) Mikrostrukturelle Veränderungen von Magnesium-Druckgusslegierungen nach langzeitiger thermischer Beanspruchung. In: Materialwissenschaft und Werk-stofftechnik 34, 721-728.

Jochen Rehbein (1992) Zur Wortstellung im komplexen deutschen Satz. In: L. Hoffmann (Hg.) Deutsche Syntax. Ansichten und Aussichten. Berlin: de Gruyter, 523-574.

Roswitha Reinbothe (2007) Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem ersten Weltkrieg. Frankfurt a.M. u.a.:Lang.

Winfried Thielmann (2009a) Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich: Hinführen – Ver-knüpfen – Benennen (= Wissenschaftskommunikation 3). Heidelberg: Synchron.

Winfried Thielmann (2009b) Begriffsbildung und Zweit-spracherwerb – Wiederbegegnung mit einem Argument für den muttersprachlichen Unterricht. In: Zielsprache Deutsch 1/2009, 3-16.

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Winfried Thielmann (2009c) „Artikelwörter“ – gram-matische Kategorienbildung und ihre Konsequenzen für die Sprachdidaktik. In: Zielsprache Deutsch 36, 2, 51-66.

Winfried Thielmann (2010) Fremdsprachenunterricht. In: Jürgen Straub/ Arne Weidemann/ Steffi Nothnagel (Hgg.) Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? The-orie und Praxis von Lehrmethoden in der Universitäts- und Hochschulausbildung. Bielefeld: transcript, 463-488.

Harald Weinrich (1993) Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag.

Thomas Wolf (2003) Konstitution und Kritik der Wis-senschaften bei Heidegger. In: Zeitschrift für philoso-phische Forschung 57/1, 95-110.

Quellen

Wilhelm Müller (1994) Werke, Tagebücher, Briefe (hg. v. Maria-Verena Leistner). Berlin: Gatza.

Bernhard Schlink (1995) Der Vorleser. Diogenes.

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Prof. Dr. phil. habil. Winfried Thielmann

Studium zunächst der Physik, dann Deutsch als Fremd-sprache / Neuere deutsche Literatur und Musikwissen-schaft in München, Magisterexamen 1993; Promotion 1998; Lehrbeauftragter (1994-1997) und Dozent (1996-2003) am Centre for Continuing Education (ANU) in Can-berra (Australien); Hochschulassistent in München 2003-2007, Habilitation 2006; nach Lehrstuhlvertretungen in Potsdam (2007) und Dresden (2007/08) Vertretung an der TU Chemnitz (2008/09), dort Ernennung zum Pro-fessor für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (2009).

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Fünf wichtige Veröffentlichungen

• Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich: Hinführen - Verknüpfen - Benennen (Wissenschaftskommunikation 3). Heidelberg (Syn-chron) 2009.

• Fachsprache der Physik als begriffliches Instrumen-tarium. Exemplarische Untersuchungen zur Funk-tionalität naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit bei der Wissensgewinnung und -strukturierung im Rahmen der experimentellen Befragung von Natur. Frankfurt/M (Lang) 1999.

• Begriffsbildung und Zweitspracherwerb - Wieder-begegnung mit einem Argument für den mutter-sprachlichen Unterricht. In: Zielsprache Deutsch 1/2009, 3-16.

• Substantiv. In: Ludger Hoffmann (Hg.) Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin (de Gruyter) 2007, 791-822.

• Zur Funktionalität des Seinsverbs im Deutschen. In: Ludger Hoffmann (Hg.) Funktionale Syntax. Berlin/New York (de Gruyter) 2003, 189-207.

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Köpfe für Chemnitz

Antrittsvorlesungen der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz

1. Christoph Fasbender (Deutsche Literatur- und Sprachgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit): Et non sit tibi cura quis dicat, sed quid dicatur. Kleine Gebrauchsgeschichte eines Seneca-Zitats. (2011)

2. Winfried Thielmann (Deutsch als Fremd- und Zweitsprache): „Seit wann ist denn das Deutsche eine Fremdsprache?“ (2011)

3. Cecile Sandten (English Literature): Metroglorifica-tion and Diffuse Urbanism. Literarische und Media-le Präsentationen des Postkolonialen im Palimpsest-raum der Neuen Metropolen. (2011)

4. Klaus Stolz (British & American Cultural and Social Studies): Football and National Identity in Scotland. (2011)

Umschlaggestaltung: Anja Päßler, nach einer Vorlage von Karla BauerFotografien: Umschlag: Anja PäßlerSeite 45: Geoffrey Ellis (www.geoffreyellis.com.au)