Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung...

6
KLAUS OEHLER, Hamburg EINE BISHER UNVERÖFFENTLICHTE ENGLISCHE ÜBERSETZUNG DER ERSTEN VIER KAPITEL DER ARISTOTELISCHEN KATEGORIENSCHRIFT VON CHARLES SANDERS PEIRCE AUS DEM JAHRE 1864 I Charles Sanders Peirce (1839-1914) gilt heute als die bedeutend- ste Gestalt der amerikanischen Philosophie und als einer der großen Philosophen der letzten hundertfünfzig Jahre überhaupt. Den mei- sten ist er als der Begründer der Theorie des Pragmatismus und als Lehrer von William James und John Dewey bekannt. Damit ist Peirce allerdings höchst unvollständig charakterisiert. Seine Haupt- arbeitsgebiete waren die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Logik, in denen er zu den produktivsten Köpfen seiner Zeit zählt; zahlreiche Entdeckungen sind mit seinem Namen bleibend verbunden; mehrere neue Disziplinen wie die Relationenlogik, die Semiotik und die Graphentheorie sind durch ihn oder seine Mitwir- kung geschaffen worden; in der Geodäsie und der Pendelschwin- gung führte er neue, bis heute gültige Meßverfahren ein. Seinen er- sten Unterricht erhielt er von seinem Vater, Benjamin Peirce, dem damals führenden amerikanischen Mathematiker, der Professor an der Harvard Universität war. Die herausragende systematische Kraft des Wissenschaftlers und Denkers Charles S. Peirce verbindet sich in ganz ungewöhnlicher Weise mit einer selbst für damalige Verhält- nisse auffälligen enzyklopädischen historischen Bildung, die ihn zu einem der besten und kompetentesten Kenner der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte macht, dessen Urteil neuerdings gerade we- gen seiner Fachkompetenz besonders gefragt ist. Er las die griechi- schen und lateinischen Texte im Original, dazu die Sekundärlitera- tur in den verschiedenen europäischen Sprachen. Er war der Erste in neuerer Zeit, der die großen Leistungen der mittelalterlichen Logi- ker aus eigenem Studium der scholastischen Texte als Experte zu würdigen verstand, eine Fähigkeit, die bekanntlich noch heute eine Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:41 PM

Transcript of Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung...

Page 1: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung der ersten vier Kapitel der Aristotelischen Kategorienschrift von Charles Sanders

KLAUS O E H L E R , Hamburg

EINE BISHER UNVERÖFFENTLICHTE ENGLISCHE ÜBERSETZUNG DER ERSTEN VIER KAPITEL DER ARISTOTELISCHEN KATEGORIENSCHRIFT VON

CHARLES SANDERS PEIRCE AUS DEM JAHRE 1864

I

Charles Sanders Peirce (1839-1914) gilt heute als die bedeutend-ste Gestalt der amerikanischen Philosophie und als einer der großen Philosophen der letzten hundertfünfzig Jahre überhaupt. Den mei-sten ist er als der Begründer der Theorie des Pragmatismus und als Lehrer von William James und John Dewey bekannt. Damit ist Peirce allerdings höchst unvollständig charakterisiert. Seine Haupt-arbeitsgebiete waren die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Logik, in denen er zu den produktivsten Köpfen seiner Zeit zählt; zahlreiche Entdeckungen sind mit seinem Namen bleibend verbunden; mehrere neue Disziplinen wie die Relationenlogik, die Semiotik und die Graphentheorie sind durch ihn oder seine Mitwir-kung geschaffen worden; in der Geodäsie und der Pendelschwin-gung führte er neue, bis heute gültige Meßverfahren ein. Seinen er-sten Unterricht erhielt er von seinem Vater, Benjamin Peirce, dem damals führenden amerikanischen Mathematiker, der Professor an der Harvard Universität war. Die herausragende systematische Kraft des Wissenschaftlers und Denkers Charles S. Peirce verbindet sich in ganz ungewöhnlicher Weise mit einer selbst für damalige Verhält-nisse auffälligen enzyklopädischen historischen Bildung, die ihn zu einem der besten und kompetentesten Kenner der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte macht, dessen Urteil neuerdings gerade we-gen seiner Fachkompetenz besonders gefragt ist. Er las die griechi-schen und lateinischen Texte im Original, dazu die Sekundärlitera-tur in den verschiedenen europäischen Sprachen. Er war der Erste in neuerer Zeit, der die großen Leistungen der mittelalterlichen Logi-ker aus eigenem Studium der scholastischen Texte als Experte zu würdigen verstand, eine Fähigkeit, die bekanntlich noch heute eine

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:41 PM

Page 2: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung der ersten vier Kapitel der Aristotelischen Kategorienschrift von Charles Sanders

Charles Sanders Peirces Übersetzung von Cat. 1-4 591

gelehrte Rarität ist. Von besonders wichtigen Texten fertigte er für seinen Gebrauch Übersetzungen an, zum Beispiel von Petrus Pere-grinus, von Kant, von Piaton und natürlich von Aristoteles.

Bei der Durchsicht von Peirces Unpublished Papers fiel mir ein Manuskript seiner Übersetzung der ersten vier Kapitel der Aristote-lischen Kategorien Schrift in die Hand. Das Manuskript stammt vom September 1 8 6 4 E s wurde in keine der bisherigen Ausgaben Peirce-scher Schriften aufgenommen und wird auch in der neuestens im Er-scheinen befindlichen 20bändigen chronologischen Ausgabe Peirce-scher Schriften nicht publiziert werden2. Wegen der Bedeutung der Aristotelischen Kategorienschr'iit einerseits und der Kompetenz und des philosophischen Ranges von Peirce andererseits erscheint es mir indes höchst wünschenswert, daß Peirces Übersetzung dieser Kapitel in publizierter Form vorliegt und allen Interessierten leicht zugäng-lich ist.

Die Übersetzung fällt biographisch in die Zeit intensivster Be-schäftigung mit der Geschichte der Kategorienlehre, zu der Peirce durch seine Auseinandersetzung mit Kants Kategorienverständnis in der Kritik der reinen Vernunft angeregt wurde, und in die Zeit, in der Peirce seine eigene Kategorienlehre zu formulieren begann, die er 1867 unter dem Titel A New List of Categories veröffentlichte. Da meine Absicht hier nur die ist, den Text der Übersetzung zu präsen-tieren, werde ich nicht in eine detaillierte und vergleichende Erörte-rung dieser Übersetzung eintreten, sondern mich im Anschluß an den Text auf einige wenige Anmerkungen beschränken.

1 Für die Datierung des Manuskriptes 991, das die Übersetzung enthält, danke ich dem Direktor des Peirce Edition Project der Indiana University in Indianapolis, Professor Christian J. W. Kloesel. - Für die Erlaubnis, das Manuskript hier publizie-ren zu können, danke ich dem Department of Philosophy der Harvard University, insonderheit den Professoren Hilary Putnam und Israel Scheffler. - Dem Direktor des Institute for Studies in Pragmaticism der Texas Tech University, Professor Ken-neth L. Ketner, danke ich für die Bereitstellung weiterführenden Materials zur Peirceforschung, das für mich in diesem Zusammenhang wichtig war.

2 Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition: Indiana University Press, Bloomington, Indiana, 1982 sqq. - Zu Peirces Beziehung zur griechischen Philoso-phie im allgemeinen und zu Aristoteles im besonderen siehe M.Fisch, Peirce's Arisbe: The Greek Influence in His Later Philosophy, in: Transactions of the Charles S. Peirce Society 7 (1971) 187-210. K.Oehler, Peirce contra Aristotle: Two Forms of the Theory of Categories. Proceedings of the C. S. Peirce Bicentennial In-ternational Congress, Texas Tech Press, Lubbock, Texas, 1981, 335-342. K.Oehler, Peirce als Interpret der Aristotelischen Kategorien, in: Semiosis 9 (1984) 24-33.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:41 PM

Page 3: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung der ersten vier Kapitel der Aristotelischen Kategorienschrift von Charles Sanders

592 K L A U S O E H L E R

II

Text der Übersetzung in Ms 991 00002-5

Categories *

Those are called homonyms, which have only (a) common name, but the reason for which name is different, as Landscape is both the country and the painting. [Aristotle gives ζφον meaning either ani-mal or image, and instances man and painting.] For the name only of these is common, but the reason for the name is different; since if I one were to state which each is a Landscape, he would give a differ-ent reason for each.

Synonyms refers to those both whose name and the reason itself are common, as animal is both the man and the ox. For the man and the ox are called by a common name animal, and the reason is the same; I for should any one furnish the reason of each, why it is that each of these animals is such, he would furnish the same reason.

I Paronyms refers to such as have the appellations [derivations] of their names from something from which they differ in case [or part of speech], as the grammarian from Grammar, and the brave from braveness.

2.

I Of things said, some are spoken connectedly and others with-out connection. Now, those connectedly are such as a man walks, a man conquers, and those without connection such as man, ox, walks, conquers.

Of existences some while they are said (of) [or referred to] a sub-ject, yet are in no subject, as man is said of a subject the particular man, but it is in no subject; but others while they are in a subject are said of none (by " in a subject" I refer to that which is in something, not as a possible part, but as incapable of existing without that in which it is,) I as the particular grammar is in a subject the soul, but it is said of no subject, and the particular white is in a subject the body

* [ ] Hinzufügungen durch Peirce { ) Ergänzungen des Herausgebers

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:41 PM

Page 4: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung der ersten vier Kapitel der Aristotelischen Kategorienschrift von Charles Sanders

Charles Sanders Peirces Übersetzung von Cat. 1-4 593

(for every color is in a body,) but it is said of none; and other things I are said of a subject and are in a subject, as Science is in a subject the soul, and is said of a subject Grammar; and others are neither in a subject nor are said of a subject, as the particular man and the par-ticular horse; I for none of such is either in a subject nor is said of a subject. And obviously, things indivisible and one in number are said of no subject, but nothing prevents their being in a subject; for among these the particular grammar is in a subject.

3.

I When one thing is predicated of another as of a subject, what-ever is spoken of the predicate may also be said of the subject, thus man may be predicated of the particular man, and animal concerning man, hence animal may also be predicated of the particular man; I for the particular man is both man and animal.

The species of different genera not subordinated [subaltern] are diverse, as of animal and of science; for the differences of animal are such as the footed and the biped and the winged and the aquatic, but those of science are nothing of these; for science does not I differ from science by being biped. But nothing hinders the differences of subaltern genera from being the same; for those above are predi-cated by the genera below them, so that whatever the differences of the predicate are, such will be those of the subject.

4.

I Of things spoken unconnectedly each signifies either

[1] Substance Being or [2] How much? or [3] O f what sort? or [4] As to what? or [5] Where? or [6] When? or [7] T o rest or [8] T o have or [9] T o do or [10] T o suffer.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:41 PM

Page 5: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung der ersten vier Kapitel der Aristotelischen Kategorienschrift von Charles Sanders

594 K L A U S O E H L E R

And Being is (to speak in outline) such as man, horse; and H o w much such as two feet, three feet and of What kind such as white, grammatical

2 a and as to what I such as double, half, greater and where such as at market, at Lyceum and when such as yesterday, in a year and to rest such as he reclines, he sits and to have such as he is shod, he is armed and to do such as he cuts, he burns and to suffer such as he is cut, he is burnt.

5 And each I of these itself by itself is by no means said to be affirmed, but an affirmation arises with their connection with each other. For every affirmation seems to be either true or false; but nothing

io spoken unconnectedly is either true I or false, as man, white, walks, conquers.

I l l

Ad 1 a 1 sqq. Das von Aristoteles gewählte Beispiel eines Hom-onymen ist ζφον, das zweierlei bedeuten kann: Lebe-wesen oder Abbildung; als darunter subsumierte In-stanzen nennt er Mensch und Bild. D a es kein engli-sches Wort gibt, das diese Bedeutung vereint, benutzt Peirce ein anderes Beispiel aus seiner Sprache, das es möglich macht, die von Aristoteles intendierte Pointe in der englischen Sprache zum Ausdruck zu bringen: landscape, das ebenfalls zweierlei bedeuten kann: Land und Bild.

Ad l b 2 0 s q q . Peirce scheint an dieser Stelle keine Schwierigkeit des Textverständnisses gehabt zu haben, da er eine solche, wie auch aus anderen seiner Übersetzungen ersichtlich ist, durch einen Klammervermerk oder durch eine Marginalie anzudeuten pflegt. Ackrill3

sieht an dieser Textstelle ein Problem, nämlich in der

3 Aristotle's Categories and De Interpretatione. Translated with Notes by J. L. Ackrill,

Oxford 1963, 77.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:41 PM

Page 6: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Eine bisher unveröffentlichte englische Übersetzung der ersten vier Kapitel der Aristotelischen Kategorienschrift von Charles Sanders

Charles Sanders Peirces Übersetzung von Cat. 1-4 595

Behauptung, daß einander untergeordneten Genera dieselbe Differenz zukommen kann, und schlägt eine Umstellung der beiden Wörter κατηγορουμένου (1 b 23) und υποκειμένου (1 b 24) vor, die Peirce mit „predicate" und „subject" übersetzt.

Ad 2 a 1 sqq. Dieser Abschnitt der Ubersetzung macht ganz deut-lich erkennbar, daß Peirce seiner Ubersetzung nicht die Edition des griechischen Textes von Immanuel Bekker (1831), sondern von Theodor Waitz (1844) zugrunde gelegt hat. Abweichend von Bekker folgt Waitz bei der Reihenfolge έν άγορφ, έν Λυκείφ dem Codex Marcianus, und in 2 a 6 sq. folgt er dem Co-dex Laurentianus. Peirces Ubersetzung folgt dieser Lesart. Daß Peirce die Edition von Waitz gekannt und mit ihr gearbeitet hat, ist durch die Mss 413 und 584 der Peirce Papers bezeugt. Zweifellos wußte er die Vorzüge dieser Ausgabe zu schätzen. Das än-derte freilich nichts an seiner großen Bewunderung auch für die Ausgabe von Bekker, die er zumeist ein-fach als „the Berlin Aristotle" oder „the Berlin Edi-tion" zitiert. So schrieb er in The Monist (1906): „Every serious Student of philosophy ought to be able to read the common dialect of Greek at sight, and needs on his shelves the Berlin Aristotle" (Col-lected Papers 6.611).

Die Universalität des Wissenschaftlers und Philosophen Peirce erinnert an Leibniz. Daß ein führender, kreativer Naturwissenschaft-ler, Mathematiker und Logiker zu seiner Selbstverständigung einen Text des Aristoteles kompetent in seine eigene Sprache übersetzt, ge-hört sicher zu den Seltenheiten und in Zukunft wohl überhaupt der Vergangenheit an. Auch aus diesem Grunde erscheint es mir ange-bracht, Peirces Ubersetzung der ersten vier Kapitel der Aristoteli-schen Kategorien vor dem Schicksal der Vergessenheit zu bewahren. Ich kann mir für die Editio princeps keinen würdigeren Ort denken als das Paul Moraux gewidmete Aristoteleswerk.

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/7/14 11:41 PM