Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung · orientiert sich bis heute am...
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Felix Rauner
Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung
Vortrag zur Veranstaltung des Norddeutschen Zentrums zur Weiterentwicklung der Pflege (NDZ)
„Norddeutsche Handreichung zum KrPflG“ am 21.02.2006 in Hamburg
Institut Technik & Bildung Universität Bremen Am Fallturm 1 28359 Bremen Tel.: (0421) 218-46 34 Fax.: (0421) 218-46 37 e-mail: [email protected]
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Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung Ende Dezember wurde das Konsultationsverfahren zum so genannten „Europäi-
schen Qualifikationsrahmen (EQF)“ abgeschlossen. Im Laufe dieses Jahres soll er
als eine offene Architektur für einen europäischen Berufsbildungsraum etabliert wer-
den. Im Kern geht es um ein achtstufiges, eindimensionales Kompetenzraster, in das
beliebige Qualifikationen eingeordnet werden können, wenn sie nach drei bzw. sechs
so genannten Deskriptoren beschrieben werden (Abb. 1).
Abb. 1: Deskriptoren zur Beschreibung beruflicher Kompetenzen nach dem europäischen
Qualifikationsrahmen
Die berufliche Kompetenz wird zum Maßstab für die Dimensionierung eines europäi-
schen Berufsbildungsraumes. Es geht bei diesem EQF um die Festlegung von
Gleichwertigkeiten von Qualifikationen und die Anerkennung von Kompetenzen.
Weder mit den Deskriptoren dieser Art noch mit anderen eindimensionalen Skalen
wie z. B. der Anerkennungsrichtlinien für berufliche Qualifikationen der Europäischen
Union lassen sich berufliche Kompetenzen sortieren und Kompetenzniveaus zuord-
nen. Auf dem siebten EQF-Niveau muss man z. B. über wissenschaftliches Spezial-
wissen verfügen. Dies mag für die eine oder andere Profession zutreffen, zum Bei-
spiel für einen hochspezialisierten Entwicklungsingenieur. Es trifft aber zum Beispiel
nicht zu für einen Wirtschaftsingenieur, der als Produktionsleiter für ein Montagewerk
zuständig ist. Letzterer muss sich neben technischen Fragen vor allem mit betriebs-
wirtschaftlichen und Personalentwicklungsproblemen beschäftigen. Über wissen-
schaftliches Spezialwissen jedenfalls braucht er nicht zu verfügen. Es ist in der Ar-
Kenntnisse
Fertigkeiten
persönliche und fachliche Kompetenzen
- Selbstständigkeit und Verantwortung
- Lernkompetenz
- Kommunikationskompetenz und soziale Kom-
petenz
- fachliche und berufliche Kompetenz
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beitswelt und in der beruflichen Kompetenzentwicklung nicht viel anders als im Sport.
Der Zehnkämpfer erbringt in keiner der zehn Sportarten Spitzenleistungen. Seine
„Spitzenleistung“ besteht in der Breite seiner Fähigkeiten. Was die Spitzenleistung
eines Sportlers in einer Einzeldisziplin mit der Leistung eines Breitensportlers wie
dem Zehnkämpfer vergleichbar macht, ist zum Beispiel das Erringen einer Goldme-
daille bei der Olympiade oder – auf einem niedrigeren Niveau – die Meisterschaft in
einem regionalen Wettkampf. Das Erringen einer Medaille oder einer Meisterschaft
repräsentiert das jeweilige Niveau, auf dem unterschiedlichste Fähigkeiten miteinan-
der vergleichbar werden. Mit Deskriptoren lassen sich dagegen keine Kompetenzni-
veaus konstruieren. Selbst wenn der EQF eingeführt werden sollte, ist davon auszu-
gehen, dass er scheitern wird (vgl. Young 2005).
Anders verhält es sich mit dem Konzept der multiplen Intelligenz oder Kompetenz,
wie es von Howard Gardner eingeführt wurde. Danach lassen sich berufliche Kompe-
tenzprofile nach sieben Dimensionen vergleichen (Abb. 2).
Multiple Intelligenz: Die Intelligenzen nach Gardner
linguistische Intelligenz
musikalische Intelligenz
logisch-mathematische Intelligenz
räumliche Intelligenz
körperlich-kinästhetische Intelligenz
intrapersonale Intelligenz
interpersonale Intelligenz
Abb. 2: Das Konzept der multiplen Intelligenz nach Gardner
Mit dem Konzept der multiplen Kompetenz lassen sich unterschiedlichste Berufsprofi-
le mit den für einen Beruf charakteristischen Kompetenzen abbilden. Im Ergebnis
wird dann sichtbar, worin sich das Kompetenzprofil eines Berufes von dem eines an-
deren Berufes charakteristisch unterscheidet. Nach dem EQF müssen theoretisch für
so unterschiedliche Berufe wie einem Steinmetz, einer Zahnarzthelferin und einem
Industriekaufmann dieselben Deskriptoren gelten. Der EQF zielt außerdem auf das
so genannte „outcome“ von Lernprozessen und auf das Gewichten dieser outcomes
nach Kreditpunkten. Dies sind die Voraussetzungen dafür, die berufliche Bildung als
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ein modularisiertes Zertifizierungssystem in einen Dienstleistungssektor umzuwan-
deln. So jedenfalls sieht es das GATS-Abkommen vor. Die Fragen der Gestaltung
und Evaluation beruflicher Bildungsgänge und Bildungsprozesse spielt dann keine
oder eine untergeordnete Rolle. Das große bildungs- und wettbewerbspolitische Inte-
resse am Konzept der Kompetenz hat hier, in einem nach outcomes regulierten Qua-
lifizierungsmarkt seinen Ursprung.
1 Kompetenz als pädagogische Kategorie
Daneben gibt es einen pädagogischen Kompetenzbegriff, der eine Verwandtschaft
zum Begriff der Bildung aufweist. Ich möchte Ihnen im Folgenden den Begründungs-
rahmen für die berufliche Kompetenz(entwicklung) vorstellen, der die Grundlage so-
wohl für die Ermittlung als auch für das Vermitteln und Evaluieren von beruflichen
Kompetenzen bilden kann (Abb. 3).
Abb. 3: Begründungsrahmen für das Bewerten beruflicher Kompetenz(entwicklung)
Es sind vor allem drei Bezugspunkte, von denen aus das Konzept der beruflichen
Kompetenz begründet werden kann.
Der Bildungsauftrag
Die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages hat 1990 in ihrem Bericht „Bil-
dung 2000“ für die berufliche Bildung einen grundlegenden Perspektivwechsel von
einer anpassungsorientierten zu einer gestaltungsorientierten Berufsbildung vorge-
schlagen und hat damit eine Leitidee aufgegriffen, die am ITB in den 1980er Jahren
entwickelt und in einer Reihe von Modellversuchen in konkrete Berufsbildungspraxis
umgesetzt wurde. Die KMK hat diese Leitidee bereits 1991 in einer Vereinbarung
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über die Berufsschule umgesetzt. Schließlich übernahm das Bündnis für Arbeit, Be-
rufsbildung und Wettbewerbsfähigkeit diese weit reichende Leitidee für die berufliche
Bildung insgesamt. Das Konzept einer gestaltungsorientierten Berufsbildung stößt
nicht nur auf ein pädagogisches Interesse, sondern auch und vor allem auf ein be-
triebswirtschaftliches. Die Realisierung flacher Hierarchien und die Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen hängt ganz zentral davon ab, dass der Be-
reich der direkt wertschöpfenden Arbeit, dort also, wo die Produkte und Dienstleis-
tungen unmittelbar entstehen und erbracht werden, gestärkt wird. Mit der KMK-
Vereinbarung von 1991 waren die Weichen gestellt für eine Berufsbildungsplanung,
die die Arbeits- und Geschäftsprozesse – prospektiv – zum Bezugspunkt werden lie-
ßen. Ein auf die Mitgestaltung der Arbeitswelt zielende Berufsbildung (Rauner 1988)
setzt eine Entschlüsselung des in der praktischen Berufsarbeit inkorporierten Ar-
beitsprozesswissens voraus. Arbeitsprozesse sind eingebettet in Geschäftsprozesse.
Daher kommt dem Zusammenhangsverständnis unter den Bedingungen fortschrei-
tender technologischer Integration betrieblicher Prozesse eine zunehmend höhere
Bedeutung zu. Die Identifizierung von „bedeutsamen“ Arbeitssituationen (KMK 1996,
S. 10) durch eine domänenspezifische Qualifikationsforschung erfährt hier eine wei-
tere Herausforderung (vgl. Fischer 1998 und Rauner 2002).
Berufsfähigkeit/Berufsbilder
Der zweite Bezugspunkt ist das im Berufsbildungsgesetz verankerte Konzept der
Berufsfähigkeit. Mit den Ausbildungsordnungen und Berufsbildern werden die Fähig-
keiten (Kompetenzen) festgelegt, die einen Beruf ausmachen. Berufliche Bildung im
engeren Sinne ist danach eine, an deren Abschluss der Auszubildende über die Fä-
higkeit einer Fachkraft verfügt, wie sie etwa im Berufsbild beschrieben ist. Anders ist
dies bei einer berufsvorbereitenden Bildung in Schulen und Hochschulen. An ein
Studium der Medizin oder der Pädagogik schließt sich eine zweijährige Lehre an, im
Falle des angehenden Arztes eine Assistenzzeit und für den Lehrer ein Referendari-
at. Erst danach wird nach bestandener Prüfung die Berufsfähigkeit attestiert.
Berufliche Kompetenzentwicklung
Der dritte Bezugspunkt sind die Entwicklungstheorien, mit denen das Lernen Er-
wachsener erklärt werden kann, die sich für einen Beruf qualifizieren. Berufliche Bil-
dung zeichnet sich dadurch aus, dass sie als eine Quelle für die Anhäufung von be-
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ruflicher Kompetenz die Arbeitserfahrung nutzt. Berufliches Lernen als fortschreiten-
de und reflektierte Arbeitserfahrung setzt voraus, dass eine neue Arbeitssituation auf
einen bereits vorhandenen Erfahrungshintergrund trifft. Jede neue Arbeitserfahrung
wird im Lichte vorausgegangener Arbeitserfahrung bewertet, und das Ergebnis die-
ser Bewertung wird zur alten Erfahrung hinzugefügt. Ist die Divergenz zwischen alter
und neuer Arbeitserfahrung zu groß, dann kann subjektiv keine Brücke zur neuen
Erfahrung geschlagen werden – es wird nichts gelernt.
Abb. 4: Arbeitsprozesswissen als der Zusammenhang von praktischem und theoretischem
Wissen sowie von subjektivem und objektivem Wissen
Bevorzugt werden Arbeitserfahrungen dann zu dem bestehenden erfahrungsbasier-
ten Wissen hinzugefügt, wenn die neue Erfahrung einigermaßen in die bestehenden
Wissensstrukturen hineinpasst. Wissen umfasst hier auch das implizite Wissen. Die
je aufs Neue stattfindende subjektive Bewertung der Arbeitserfahrung erfolgt zu-
nächst weitgehend vorbewusst und automatisiert. Sollen aus Arbeitserfahrung beruf-
liches Wissen und berufliche Einsichten erwachsen, dann kommt es ganz entschei-
dend darauf an, Arbeitserfahrung zu kommunizieren und zu reflektieren. Das Kom-
munizieren und Reflektieren von Arbeitserfahrung wird in der beruflichen Bildung da-
durch erleichtert, dass die Beteiligten derselben Praxisgemeinschaft angehören. Ähn-
liche Erfahrungskontexte konstituieren kontextuelle Bereiche, innerhalb derer sich die
Beteiligten in einem beachtlichen Umfang auch intuitiv verstehen. Neues berufliches
Wissen entsteht nur dann, wenn neue Arbeitserfahrung einerseits mit vorhandenen
Bedeutungen zusammenpasst, diese quasi zum Schwingen bringt, und andererseits
so weit vom vorhandenen Wissen abweicht, dass die neue Erfahrung zu einer Erwei-
terung und Vertiefung bisheriger Bedeutungen und Bewertungen erlebter Tatsachen
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beiträgt. Arbeitserfahrungen werden immer dann gemacht, wenn die vorhandenen
Vorstellungen, Bedeutungen und Erwartungen durch die neue Realität in Frage ge-
stellt, modifiziert und differenziert werden müssen. Immer dann, wenn eine unmittel-
bare Beziehung zwischen Arbeitserfahrung und theoretischem Wissen im Sinne wis-
senschaftlicher Theorie besteht, entsteht eine besondere, über die Aneignung prakti-
schen Wissens hinausreichende Lernsituation. Das theoretische Wissen wird dann
mit subjektiver Erfahrung vermittelt und in das handlungsleitende Arbeitsprozesswis-
sen integriert. Das praktische Wissen erfährt seine Verallgemeinerung dadurch, dass
es sich im Übereinklang mit theoretischem Wissen befindet oder sich praktisch be-
währt. Berufliches Arbeitsprozesswissen reicht insofern weit über das einschlägige
theoretische Wissen, wie es in Lehrbüchern dokumentiert ist, hinaus. Donald Schön
weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Expertise eines Arztes zu 70
bis 80 Prozent auf beruflicher Erfahrung und nicht auf dem expliziten wissenschaftli-
chen Wissen des Studiums basiert.
Die Expertiseforschung, die sich empirisch mit der Kompetenzentwicklung befasst,
orientiert sich bis heute am Novizen-Experten-Paradigma und an dem von Dreyfus
begründeten Modell der stufenweisen Entwicklung vom Anfänger zum Experten.
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Abb. 5: Vier Lernbereiche vom Anfänger zum Experten (nach Dreyfus & Dreyfus 1986)
Den fünf Entwicklungsstufen von Dreyfus und Dreyfus habe ich vier Lernbereiche
zugeordnet, mit denen die berufliche Kompetenzentwicklung gefördert werden kann.
Der erste Lernbereich, der die Entwicklung vom Anfänger zum fortgeschrittenen An-
fänger befördern soll, lässt sich so beschreiben:
Bereits Berufsanfänger verfügen über gewisse Vorerfahrungen und Vorkenntnisse in
Bezug auf ihren (nicht zuletzt aufgrund dieses Vorwissens gewählten) Beruf. Zu Be-
ginn ihrer Ausbildung werden sie an berufsorientierende Arbeitsaufgaben (siehe La-
ve/Wenger 1991) herangeführt, die einen Überblick über die Arbeit im Beruf ermögli-
chen und ein Verständnis für entsprechende Produktions- und Dienstleistungspro-
zesse schaffen bzw. vertiefen. Anfänger bearbeiten diese Aufgaben weitgehend sys-
tematisch und befolgen dabei existierende Regeln, Vorschriften und definierte Quali-
tätsstandards. Dieser erste Bereich zeichnet sich also durch die Aneignung berufli-
chen Orientierungs- und Überblickwissens aus, das es den Auszubildenden erlaubt,
die Konturen des zu erlernenden Berufs aus deiner professionellen Perspektive zu
erkennen. Ihr berufliches Handeln wird zwar recht umfänglich von Ausbildern und
Lehrern angeleitet, ist aber trotzdem bereits Gegenstand kritischer Reflexion.
Zugleich erfahren sie die betrieblichen Arbeitsprozesse als durch unterschiedliche
Anforderungen geprägt und als Teile der betrieblichen Entwicklungs- und Innovati-
onsprozesse. Arbeitsinhalte und Arbeitsprozesse werden so auch in ihrer Gestaltbar-
keit erfahren und dadurch zum Gegenstand der Berufsbildung. „Auszubildende er-
werben also über authentische Aktivitäten und soziale Interaktionen inhaltliches (do-
mänenspezifisches) Wissen sowie strategisches Wissen (Heurismen, Kontroll- und
Lernstrategien) und werden dadurch gleichzeitig in die Expertenpraxis eingeführt.
Das Lernen beginnt an globalen Problemstellungen, damit die Lernenden einen kon-
zeptionellen Rahmen von dem, was zu lernen ist, aufbauen können“ (Gruber 1999,
S. 179).
Mit der entwicklungslogischen Gestaltung beruflicher Bildungs- bzw. Lernprozesse
verfügen wir über ein Systematisierungskonzept für die Inhalte beruflicher Bildung.
Bereits bei der domänenspezifischen Qualifikationsforschung geht es nicht nur um
die Identifizierung der für einen Beruf charakteristischen Arbeitsaufgaben, sondern
um Arbeitssituationen, die für die berufliche Kompetenzentwicklung geradezu eine
paradigmatische Bedeutung zukommt. In der Entwicklungstheorie von Havighurst
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werden diese Aufgaben als „developmental tasks“ (Entwicklungsaufgaben) bezeich-
net. Patricia Benner, die mit ihrer pflegewissenschaftlichen Forschung einen Beitrag
zur Curriuculum-Entwicklung geleistet hat, bezeichnet diese Aufgaben als „paradig-
matische Arbeitssituationen“. Die entwicklungslogische Anordnung dieser Arbeitssi-
tuationen bilden in der Form von Fallbeschreibungen das Curriculum für die Ausbil-
dung von Krankenschwestern. Das am ITB entwickelte Konzept der Identifizierung
von charakteristischen beruflichen Arbeitsaufgaben mit der Methode der so genann-
ten Experten-Fachkräfte-Workshops hat eine hohe Affinität zu diesen Entwicklungs-
theorien.
2 Kompetenzniveaus
Neben der Erforschung der beruflichen Kompetenzentwicklung und der entwicklungs-
logischen Strukturierung beruflicher Bildungspläne benötigen wir ein Instrumentarium
zur Evaluation und Messung beruflicher Kompetenzen und beruflicher Kompetenz-
entwicklung, das sich an diesem Bezugsrahmen orientiert. In Anlehnung an den US-
amerikanischen Pädagogen Bybee lassen sich für die berufliche Bildung auf jeder
Stufe der Kompetenzentwicklung vier Kompetenzniveaus unterscheiden.
(1) Nominelle Kompetenz/Literalität
Auf dieser ersten Stufe beruflicher Kompetenz verfügen die Auszubildenden über
ein oberflächliches, begriffliches Wissen, ohne dass dieses bereits handlungslei-
tend im Sinne beruflicher Handlungsfähigkeit ist. Der Bedeutungsumfang berufli-
cher Fachbegriffe reicht kaum über den der umgangssprachlichen Verwendung
fachsprachlicher Begriffe hinaus.
(2) Funktionale Kompetenz/Literalität
Auf diesem Kompetenzniveau basieren die fachlich-instrumentellen Fähigkeiten
auf den dafür erforderlichen elementaren Fachkenntnissen und Fertigkeiten, oh-
ne dass diese in ihren Zusammenhängen und in ihrer Bedeutung für die berufli-
che Arbeit durchdrungen sind. „Fachlichkeit“ äußert sich als kontextfreies, fach-
kundliches Wissen und entsprechender Fertigkeiten.
(3) Konzeptuelle/prozessuale Kompetenz/Literalität
Berufliche Aufgaben werden in ihren Bezügen zu betrieblichen Arbeitsprozessen
und –situationen interpretiert und bearbeitet. Aspekte wie Wirtschaftlichkeit, Kun-
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den- und Prozessorientierung werden dabei berücksichtigt. Die Auszubildenden
verfügen über ein berufliches Qualitätsbewusstsein.
(4) Ganzheitliche Gestaltungskompetenz/Literalität
Auf diesem Kompetenzniveau werden berufliche Aufgaben in ihrer jeweiligen
Komplexität wahrgenommen und unter Berücksichtigung der vielfältigen betriebli-
chen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie der divergierenden An-
forderungen an den Arbeitsprozess und das Arbeitsergebnis gelöst. Die Aufga-
benlösung wird als Kompromiss zwischen divergierenden Interessen und der
Nutzung der gegebenen fachlichen Möglichkeiten interpretiert und bewertet. Die
Gestaltungsspielräume werden erkannt und ausgelotet.
Abb. 6: Berufliche Kompetenzniveaus
Zur Evaluation und Messung beruflicher Kompetenz bedarf es der Begründung und
Identifizierung von Indikatoren. Nach unseren bisherigen Forschungen lassen sich
acht Indikatoren begründen, anhand derer das jeweilige Kompetenzniveau ermittelt
werden kann.
Mit diesem Konzept beruflicher Kompetenz und Kompetenzentwicklung steht ein In-
strument zur Verfügung, das es erlaubt
- die domänenspezifische Qualifikationsforschung auf eine neue Basis zu stellen,
- das Lernfeldkonzept angemessen umzusetzen und
- eine Methode der Evaluation beruflicher Kompetenzentwicklung einzuführen, die
anschlussfähig ist an die Standards der literacy-Forschung, wie sie mit großem
Erfolg bei PISA angewendet wurde.
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3 Messen beruflicher Kompetenz mit beruflichen Evaluationsaufgaben
Eine Gruppe von Wissenschaftlern am ITB hat in den letzten zehn Jahren im Rah-
men von zwei umfangreichen Forschungsvorhaben am Beispiel mehrerer gewerb-
lich-technischer Berufe sowie des Berufes des Industriekaufmanns ein Konzept der
Evaluation beruflicher Kompetenzentwicklung erprobt. Das zentrale Instrument sind
Evaluationsaufgaben, die über die folgenden Merkmale verfügen.
Die Aufgabenstellung
- erfasst ein realistisches Problem beruflicher und betrieblicher Arbeitspraxis; - inkorporiert die für den jeweiligen Lernbereich charakteristischen beruflichen Ar-
beitsaufgaben und die darauf bezogenen Ausbildungsziele;
- steckt einen berufsspezifischen – eher großen – Gestaltungsspielraum ab und
ermöglicht damit eine Vielzahl verschiedener Lösungsvarianten unterschiedlicher
Tiefe und Breite. Der Gestaltungsspielraum wird in seinem Umfang und seiner
fachlichen Ausprägung durch die erläuterten Hinweise zur Aufgabenstellung di-
mensioniert.
- erfordert bei ihrer umfassenden Lösung außer fachlich-instrumentellen Kompe-
tenzen die Berücksichtigung von Lösungsaspekten wie Wirtschaftlichkeit, Ge-
schäftsprozessorientierung und Umweltverträglichkeit (siehe Abb. 6);
- erfordert bei ihrer Lösung ein berufstypisches Vorgehen. Die Lösung der Aufgabe
beschränkt sich auf den planerischen Aspekt und wird dokumentiert unter Ver-
wendung der einschlägigen Unterlagen. Die Aufgabe muss nicht praktisch gelöst
werden, da die Entwicklungsaufgabe berufliche Kompetenzentwicklung auf der
Konzeptebene misst und nicht auf der Ebene konkreten beruflichen Könnens.
- fordert dazu heraus, die Aufgabe im Sinne der Dimensionen beruflicher Professi-
onalität auf der jeweiligen Entwicklungsstufe zu lösen, zu dokumentieren und zu
begründen, ohne dass dabei reduzierte Lösungen ausgeschlossen werden.
Kriterien für die Konstruktion von Entwicklungsaufgaben und die Interpretation und
Bewertung der Aufgabenlösungen
(1) Funktionalität
verweist auf die instrumentelle Fachkompetenz bzw. das kontextfreie, fachsyste-
matische Wissen und die fachkundlichen Fertigkeiten.
(2) Anschaulichkeit/Präsentation
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Das Ergebnis beruflicher Aufgaben wird im Planungs- und Vorbereitungsprozess
vorweg genommen und so dokumentiert und präsentiert, dass der/die Auftragge-
ber (Vorgesetzte, Kunden) die Lösungsvorschläge kommunizieren und bewerten
können. Insofern handelt es sich bei der Veranschaulichung und Präsentation ei-
ner Aufgabenlösung um eine Grundform beruflicher Arbeit und beruflichen Ler-
nens.
(3) Wirtschaftlichkeit
Berufliche Arbeit unterliegt prinzipiell dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit. Auf dem
Niveau konzeptueller Kompetenz sind Auszubildende in der Lage, diesen Aspekt
bei der Lösung beruflicher Aufgaben kontextbezogen zu berücksichtigen.
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(4) Gebrauchswertorientierung
Zuletzt verweisen berufliche Handlungen, Handlungsabläufe, Arbeitsprozesse
und Arbeitsaufträge immer auf einen Kunden, dessen Interesse der Gebrauchs-
wert des Arbeitsergebnisses ist. In hoch arbeitsteiligen Produktions- und Dienst-
leistungsprozessen verflüchtigt sich nicht selten der Gebrauchswertaspekt bei der
Ausführung von Teilaufgaben sowie in einer auf den Handlungsaspekt reduzier-
ten Berufsbildung. Das Kriterium der Gebrauchswertorientierung verweist daher
auch auf den Gebrauchswert einer Aufgabenlösung im Kontext von Arbeitszu-
sammenhängen.
(5) Geschäftsprozessorientierung
umfasst Lösungsaspekte, die auf die vor- und nachgelagerten Arbeitsbereiche in
der betrieblichen Hierarchie (der hierarchische Aspekt des Geschäftsprozesses)
sowie auf die vor- und nachgelagerten Arbeitsbereiche in der Prozesskette (der
horizontale Aspekt des Geschäftsprozesses) Bezug nehmen. Vor allem unter den
Bedingungen der Arbeit mit und an programmgesteuerten Arbeitssystemen in
vernetzten betrieblichen und zwischenbetrieblich organisierten Arbeitsprozessen
kommt diesem Aspekt eine besondere Bedeutung zu.
(6) Sozialverträglichkeit
betrifft vor allem den Aspekt humaner Arbeitsgestaltung und –organisation, den
Gesundheitsschutz sowie ggf. auch die über die beruflichen Arbeitszusammen-
hänge hinausreichenden sozialen Aspekte beruflicher Arbeit (Auftraggeber, Kun-
den, Gesellschaft etc.).
(7) Umweltverträglichkeit
ist mittlerweile für nahezu alle Arbeitsprozesse ein relevantes Kriterium. Dabei
geht es nicht um den Aspekt allgemeinen Umweltbewusstseins, sondern um die
berufs- und fachspezifischen Anforderungen an berufliche Arbeitsprozesse und
deren Ergebnisse.
(8) Kreativität
ist ein Indikator, der bei der Lösung beruflicher Aufgaben eine große Rolle spielt.
Dies resultiert aus den situativ höchst unterschiedlichen Gestaltungsspielräumen
bei der Lösung beruflicher Aufgaben. Dabei muss der Indikator „Kreativität“ in be-
sonderer Weise berufsspezifisch interpretiert und operationalisiert werden. Im
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gestalterischen Handwerk ist Kreativität ein zentraler Aspekt der fachlichen Kom-
petenz. In anderen Berufen kommt der Kreativität eine relative Eigenständigkeit
als Dimension beruflicher Kompetenz zu.
Bei der Anwendung der Evaluationsaufgaben im Modellversuch GAB („Geschäfts-
und Arbeitsprozessbezogene dual-kooperative Ausbildung in ausgewählten Indust-
rieberufen mit optionaler Fachhochschulreife“) wurden die Lösungen der Aufgaben
nach Aspekten ihrer Tragfähigkeit untersucht. Im Einzelnen wurde danach gefragt,
ob und in welcher Weise in den Lösungen
- ein Konzept des beruflichen Lernens,
- ein Konzept der beruflichen Arbeit,
- ein Konzept der beruflichen Zusammenarbeit,
zum Ausdruck kommt. In den Kommentaren und Auswertungstexten der Evaluatoren
wurde eine Vielfalt von Kriterien zur näheren Bestimmung der Tragfähigkeit der Lö-
sungen verwendet. Diese Kriterien lassen sich zu acht Indikatoren zusammenfassen,
mit denen die drei Kompetenzniveaus beruflicher Bildung charakterisiert werden kön-
nen (Tab. 1).
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Tab. 1: Kompetenzniveaus beruflicher Bildung und ihre Bewertung anhand von Evaluati-
onsaufgaben; Bewertungsindikatoren und ihre Gewichtung (Beispiel)
Das Niveau der nominalen Kompetenz wird hier nicht berücksichtigt, da dieses Ni-
veau allenfalls eine vorberufliche Kompetenz charakterisiert. Die drei Niveaus berufli-
cher Kompetenz lassen sich auf jeder Stufe der Kompetenzentwicklung messen.
Ob und in welchem Umfang es erforderlich ist, die Indikatoren berufsspezifisch zu
operationalisieren, bedarf weiterer Untersuchungen. Denkbar ist auch, dass eine be-
rufsübergreifende Operationalisierung gelingt. Am Beispiel des Indikators Funktionali-
tät wurden vier Items formuliert, die es erleichtern, die Ausprägung dieses Indikators
bei der Bewertung von Aufgabenlösungen zu gewichten (Tab. 2).
Funktionalität Punkte
0–4
Wurden die fachlichen Grundlagen und Zusammenhänge angemessen
berücksichtigt?
Wie ausführlich wurden die fachlichen Grundlagen dargestellt?
Wurden die fachlichen Zusammenhänge erklärt?
Sind die unterstellten beruflichen Fertigkeiten für dieses Entwicklungs-
niveau angemessen?
Tab. 2: Operationalisierung des Kriteriums „Funktionalität“
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Anhand der acht Indikatoren lässt sich ein Rating-Verfahren entwickeln, das es er-
laubt,
- den Aufgabenlösungen einen Punktwert zuzuordnen und die Probanden nach
einer Rangreihe zu ordnen, die Aufschluss über das je erreichte Kompetenzni-
veau gibt.
- Der Punktwert setzt sich aus maximal drei Teilwerten zu den Kompetenzdimensi-
onen funktionelle, konzeptuelle und Gestaltungskompetenz zusammen. Daraus
lässt sich ablesen, ob und wie es in der Ausbildung gelungen ist, den Auszubil-
denden über die fachlich-instrumentelle Kompetenz hinaus konzeptuelle und Ges-
taltungskompetenz zu vermitteln.
Wissen
Berufliche Handlungskompetenz basiert vielfältig auf Wissen. Anders als in der schu-
lischen Bildung kommt es in der beruflichen Bildung in besonderer Weise auf den
Zusammenhang zwischen Wissen und beruflichem Können an.
Die Frage, welchen Erklärungswert und welche handlungsleitende Qualität fachkund-
liches (fachtheoretisches) Wissen in Bezug auf eine konkrete berufliche Handlung
hat, ist bisher kaum aufgeklärt. Zunächst ist schon viel gewonnen, wenn nach Krite-
rien der Plausibilität und Logik ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen
- handlungsleitendem Wissen und beruflichem Können,
- handlungserklärendem Wissen und Verstehen,
- handlungsreflektierendem Wissen und der Fähigkeit, der Bewertung einer Ar-
beitshandlung nach Kriterien, mit denen die Gebrauchswertqualität des Ergebnis-
ses quantifiziert und qualifiziert bewerten werden kann.
Die Auswahl dieser drei Wissenskategorien (in Anlehnung an Hacker) erfolgt mit der
Absicht, die Zurechenbarkeit von „Wirkungen“ der Lernorte sowie ihrer Stärken und
Schwächen im Berufsbildungsprozess zu erleichtern.
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Literatur
Benner, P. 1997: Stufen zur Pflegekomptenz – From Novice to Expert. 2. Nachdruck. Bern u. a.: Hu-
ber
Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit (1999): Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Aus-
und Weiterbildung“. (Herausgegeben vom Presseamt der Bundesregierung)
Deutscher Bundestag (11. Wahlperiode): (1990) Schlussbericht der Enquete-Kommission „Zukünftige
Berufsbildungspolitik – Bildung 2000“. Drucksache 11/7820. Bonn.
Dreyfus, H. L.; Dreyfus, S. E: Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem
Wert der Intuition. Reinbek b. Hamburg 1986
Fischer, M.: (1998) Von der Arbeitserfahrung zum Arbeitsprozeßwissen. Rechnergestützte Facharbeit
im Kontext beruflichen Lernens. Habilitationsschrift Bremen . Opladen, 2000
Gruber, Hans (1999): Erfahrung als Grundlage kompetenten Handelns. Verlag Hans Huber Bern
KMK (1991) Vereinbarung über die Weiterentwicklung der Berufsschule. Bonn.
KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik
Deutschland) 1996: Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusminis-
terkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit
Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Bonn
Lave, J./Wenger, E. (1991): Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation. New York: Cam-
bridge University Press
Rauner, F. (1988): Die Befähigung zur (Mit)Gestaltung von Arbeit und Technik als Leitidee beruflicher
Bildung. In: G. Heidegger, P. Gerds und K. Weisenbach (Hg.): Gestaltung von Arbeit und Technik
– ein Ziel beruflicher Bildung. Frankfurt a. M., New York, S. 32–50
Rauner, F. (2002): Berufswissenschaftliche Forschung – Implikationen für die Entwicklung von For-
schungsmethoden. In: Martin Fischer/Felix Rauner (Hrsg.): Lernfeld: Arbeitsprozess. Baden-
Baden
Young, M. (2005): National Qualifications Frameworks: Their feasibility for effective implementation in
developing countries. Discussion Paper, Skills and Employability Department. In: ILO. Skills.
Working Paper No. 22. Geneva