KOOKKURRENZEN IN DER SCHWEIZERDEUTSCHEN ... - ds.uzh.ch · Konstruktionstyp wird eine reduzierte...

1
K OOKKURRENZEN IN DER SCHWEIZERDEUTSCHEN MORPHOSYNTAX AM BEISPIEL DER VERBVERDOPPELUNG Philipp Stoeckle • Universität Zürich Ergebnisse Hypothesen können grundsätzlich bestätigt werden, d.h. AFA tritt (grösstenteils) als Verdoppelungselement auf … wo es als reduzierter Infinitiv verfügbar ist … wo die Verdoppelung von LAA ebenfalls belegt ist … wo steigende Verbserialisierung verwendet wird Allerdings gibt es noch Variation, die erklärt werden muss Apparent-time-Vergleich deutet auf eine Ausbreitung der AFA- Verdoppelung im Westen und einen Rückgang in der Zentralschweiz hin Einleitung Eine Klasse von Phänomenen, die als typisch für das Schweizerdeutsche betrachtet werden, sind die sogenannten Verbverdoppelungs- Konstruktionen (vgl. Lötscher 1993). Diese betreffen sowohl die Bewegungsverben gaa ‘gehen’ und choo ‘kommen’ als auch die Anhebungsverben laa ‘lassen’ und afa ‘anfangen’. In diesem Konstruktionstyp wird eine reduzierte Variante des Verbs vor dem regierten Infinitiv wiederholt, wie im folgenden Beispiel illustriert: (1) [dann] fangt s Iis AFA schmelze ‘dann fängt das Eis an zu schmelzen’ Die verschiedenen Verben unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer geographischen Distributionen: Während die Verdoppelung von gaa in der gesamten Deutschschweiz und die Verdoppelung von choo im westlichen Teil obligatorisch ist, zeigen die beiden anderen Verben optionale Verdoppelung, die zudem auf den Westen beschränkt ist. Bislang gibt es einige theoretische Annäherungen, die sich in erster Linie mit den Bewegungsverben beschäftigen (vgl. Brandner & Salzmann 2011), jedoch bestehen – abgesehen von kleineren Studien (vgl. Glaser & Frey 2011) – immer noch Desiderata, vor allem hinsichtlich des Verbs afa. Literatur Brandner, E. und Salzmann, M. (2011): Die Bewegungsverkonstruktion im Alemannischen. In Glaser, E., Schmidt, J. E. und Frey, Natascha (Hgg.): Dynamik des Dialekts – Wandel und Variation: 47–76. Stuttgart: Steiner. Bucheli, C. und Glaser, E. (2002). The Syntactic Atlas of Swiss German Dialects: Empirical and Methodological Problems. In Barbiers, S., Cornips, L. und van der Kleij, S. (Hgg.): Syntactic Microvariation, Vol. 2: 41–73. Amsterdam: Meertens Institute Electronic Publications in Linguistics. Glaser, E. und Frey, N. (2011): Empirische Studien zur Verbverdoppelung in schweizerdeutschen Dialekten. Linguistik online 45/1: 3–7. Lötscher, A. (1993): Zur Genese der Verbverdopplung bei gaa, choo, laa, aafaa (“gehen”, “kommen”, “lassen”, “anfangen”) im Schweizerdeutschen. In Abraham, W.; Bayer, J. (Hgg.): Dialektsyntax: 180–200. Opladen: Westdeutscher Verlag. [email protected]MODELLIERUNG MORPHOSYNTAKTISCHER RAUMBILDUNG IM SCHWEIZERDEUTSCHEN (S YNMOD) • www.spur.uzh.ch/synmod.html Hypothesen 1) AFA tritt als Verdoppelungselement auf, wenn es ebenfalls als reduzierter Infinitiv verwendet wird (AFA doubl AFA redinf ) 2) AFA tritt als Verdoppelungselement auf, wenn LAA ebenfalls verdoppelt wird (AFA doubl LAA doubl ) 3) AFA tritt als Verdoppelungselement auf, wenn steigende Verbserialisierung verwendet wird (AFA doubl AUX/MOD-V) Methoden 1) Kookkurrenzen bei individuellen Sprechern • 2) Kookkurrenzen in Erhebungsorten Entwicklung einer Verdoppelungsregel für laa & afa (vgl. Lötscher 1993): Entstehung einer Verbalpräposition (für gaa) Entwicklung einer Verdoppelungsregel ( Ausdehnung auf choo) Ausbreitung der bestehenden Regel auf laa & afa „Voraussetzung ist […], daß eine solche […] Kurzform dieses Infinitivverbs lexikalisch zur Verfügung steht.“ (Lötscher 1993: 193) Geographische Distributionen verwandter Phänomene Kookkurrenzen von Varianten Prozent (Sprecher) 1 Prozent (Orte) 2 III.1 …, fangt s Iis afa schmelze IV.7 Jetzt chasch du afa. 93% 97% IV.7 Jetzt chasch du afange. 3% 20% II.3 Er laat de Schriiner laa choo. 80% 94% II.3 Er laat de Schriiner choo. 18% 66% II.1 Hesch du d‘Uhr laa flicke? 92% 96% II.1 Hesch du d‘Uhr flicke laa? 5% 23% III.12 …, wenn sie faat afa choche IV.7 Jetzt chasch du afa. 93% 100% IV.7 Jetzt chasch du afange. 2% 15% II.3 Er laat de Schriiner laa choo. 78% 99% II.3 Er laat de Schriiner choo. 18% 65% II.1 Hesch du d‘Uhr laa flicke? 93% 100% II.1 Hesch du d‘Uhr flicke laa? 2% 15% III.1 Wenn es so warm bleibt, fängt das Eis an zu schmelzen. … fangt s Iis aa schmelze. … fangt s Iis afa schmelze. III.12 Nimm die Suppe sofort weg, wenn sie zu kochen anfängt. … wenn sie aafangt choche. … wenn sie faat afa choche. Zentrale Fragen Unter welchen Bedingungen tritt AFA als Verdoppelungselement auf? Lässt sich Evidenz für Wandel in Bezug auf die AFA-Verdoppelung finden? 1 Die paarweisen Prozentwerte addieren sich nicht immer zu 100%, da die Informanten in manchen Fällen entweder nicht alle Fragen beantworteten oder Antworten gaben, die hier nicht berücksichtigt sind. 2 Die paarweisen Summen der Prozentwerte übersteigen meistens 100%, da an jedem Erhebungsort mehrere Informanten befragt wurden, die häufig unterschiedliche Antworten gaben. Datengrundlage Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz (SADS) (vgl. Bucheli & Glaser 2002) SNF-gefördertes Projekt 2000-2008 (verlängert bis 2014) 4 Fragebögen zu verschiedenen (morpho-)syntaktischen Phänomenen 3187 Informanten in 383 Orten (zwischen 3 und 26 Informanten pro Ort) Verschiedene Fragetechniken (Übersetzung, Vervollständigung, Multiple Choice) Beispiele II.3 Er lässt den Schreiner kommen (Verdopplung von LAA) laat de Schriiner choo / … laat de Schriiner laa cho II.1 Hast du die Uhr flicken lassen? (Serialisierung im Verb Cluster) flicken lassen / … lassen flicken Evidenz für Sprachwandel? Apparent-time-Vergleich: Einteilung der SADS-Informanten in zwei Altersklassen (Grenze: 57 Jahre (Median)) Bildung des Mittelwerts der prozentualen AFA-Anteile pro Altersklasse an jedem Erhebungsort (MW.AFA jung und MW.AFA alt ) Berechnung der Differenz der beiden Mittelwerte an jedem Erhebungsort (Diff.AFA = MW.AFA jung – MW.AFA alt ) Kartierung der Differenzwerte Diff.AFA zur Ermittlung der Gebiete, in denen sich Belege für apparent-time-Wandel finden lassen III.1 Wenn es so warm bleibt, fängt das Eis an zu schmelzen. … fangt s Iis aa schmelze. … fangt s Iis afa schmelze. rote Gebiete (positive Werte): höhere mittlere MW.AFA-Werte bei den jüngeren Sprechern Zunahme der AFA-Konstruktion blaue Gebiete (negative Werte): höhere mittlere MW.AFA-Werte bei den älteren Sprechern Rückgang der AFA-Konstruktion III.12 Nimm die Suppe sofort weg, wenn sie zu kochen anfängt. … wenn sie aafangt choche. … wenn sie faat afa choche.

Transcript of KOOKKURRENZEN IN DER SCHWEIZERDEUTSCHEN ... - ds.uzh.ch · Konstruktionstyp wird eine reduzierte...

Page 1: KOOKKURRENZEN IN DER SCHWEIZERDEUTSCHEN ... - ds.uzh.ch · Konstruktionstyp wird eine reduzierte Variante des Verbs vor dem regierten Infinitiv wiederholt, wie im folgenden Beispiel

KOOKKURRENZEN IN DER SCHWEIZERDEUTSCHEN MORPHOSYNTAX AM BEISPIEL DER VERBVERDOPPELUNG Philipp Stoeckle • Universität Zürich

Ergebnisse • Hypothesen können grundsätzlich bestätigt werden, d.h. AFA tritt

(grösstenteils) als Verdoppelungselement auf … wo es als reduzierter Infinitiv verfügbar ist … wo die Verdoppelung von LAA ebenfalls belegt ist … wo steigende Verbserialisierung verwendet wird

• Allerdings gibt es noch Variation, die erklärt werden muss • Apparent-time-Vergleich deutet auf eine Ausbreitung der AFA-

Verdoppelung im Westen und einen Rückgang in der Zentralschweiz hin

Einleitung Eine Klasse von Phänomenen, die als typisch für das Schweizerdeutsche betrachtet werden, sind die sogenannten Verbverdoppelungs-Konstruktionen (vgl. Lötscher 1993). Diese betreffen sowohl die Bewegungsverben gaa ‘gehen’ und choo ‘kommen’ als auch die Anhebungsverben laa ‘lassen’ und afa ‘anfangen’. In diesem Konstruktionstyp wird eine reduzierte Variante des Verbs vor dem regierten Infinitiv wiederholt, wie im folgenden Beispiel illustriert: (1) [dann] fangt s Iis AFA schmelze

‘dann fängt das Eis an zu schmelzen’ Die verschiedenen Verben unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer geographischen Distributionen: Während die Verdoppelung von gaa in der gesamten Deutschschweiz und die Verdoppelung von choo im westlichen Teil obligatorisch ist, zeigen die beiden anderen Verben optionale Verdoppelung, die zudem auf den Westen beschränkt ist. Bislang gibt es einige theoretische Annäherungen, die sich in erster Linie mit den Bewegungsverben beschäftigen (vgl. Brandner & Salzmann 2011), jedoch bestehen – abgesehen von kleineren Studien (vgl. Glaser & Frey 2011) – immer noch Desiderata, vor allem hinsichtlich des Verbs afa.

Literatur Brandner, E. und Salzmann, M. (2011): Die Bewegungsverkonstruktion im Alemannischen. In Glaser, E., Schmidt, J. E. und Frey, Natascha (Hgg.): Dynamik des Dialekts – Wandel und Variation: 47–76. Stuttgart: Steiner.

Bucheli, C. und Glaser, E. (2002). The Syntactic Atlas of Swiss German Dialects: Empirical and Methodological Problems. In Barbiers, S., Cornips, L. und van der Kleij, S. (Hgg.): Syntactic Microvariation, Vol. 2: 41–73. Amsterdam: Meertens Institute Electronic Publications in Linguistics.

Glaser, E. und Frey, N. (2011): Empirische Studien zur Verbverdoppelung in schweizerdeutschen Dialekten. Linguistik online 45/1: 3–7.

Lötscher, A. (1993): Zur Genese der Verbverdopplung bei gaa, choo, laa, aafaa (“gehen”, “kommen”, “lassen”, “anfangen”) im Schweizerdeutschen. In Abraham, W.; Bayer, J. (Hgg.): Dialektsyntax: 180–200. Opladen: Westdeutscher Verlag.

[email protected] • MODELLIERUNG MORPHOSYNTAKTISCHER RAUMBILDUNG IM SCHWEIZERDEUTSCHEN (SYNMOD) • www.spur.uzh.ch/synmod.html

Hypothesen 1) AFA tritt als Verdoppelungselement auf, wenn es ebenfalls als reduzierter Infinitiv verwendet

wird (AFAdoubl→AFAredinf) 2) AFA tritt als Verdoppelungselement auf, wenn LAA ebenfalls verdoppelt wird (AFAdoubl→LAAdoubl) 3) AFA tritt als Verdoppelungselement auf, wenn steigende Verbserialisierung verwendet wird

(AFAdoubl→AUX/MOD-V)

Methoden 1) Kookkurrenzen bei individuellen Sprechern • 2) Kookkurrenzen in Erhebungsorten

Entwicklung einer Verdoppelungsregel für laa & afa (vgl. Lötscher 1993):

Entstehung einer Verbalpräposition (für gaa) Entwicklung einer Verdoppelungsregel ( Ausdehnung auf choo) Ausbreitung der bestehenden Regel auf laa & afa

„Voraussetzung ist […], daß eine solche […] Kurzform dieses Infinitivverbs lexikalisch zur Verfügung steht.“ (Lötscher 1993: 193)

Geographische Distributionen verwandter Phänomene

Kookkurrenzen von Varianten Prozent (Sprecher)1

Prozent (Orte)2

III.1 …, fangt s Iis afa schmelze

IV.7 Jetzt chasch du afa. 93% 97%

IV.7 Jetzt chasch du afange. 3% 20%

II.3 Er laat de Schriiner laa choo. 80% 94%

II.3 Er laat de Schriiner choo. 18% 66%

II.1 Hesch du d‘Uhr laa flicke? 92% 96%

II.1 Hesch du d‘Uhr flicke laa? 5% 23%

III.12 …, wenn sie faat afa choche

IV.7 Jetzt chasch du afa. 93% 100%

IV.7 Jetzt chasch du afange. 2% 15%

II.3 Er laat de Schriiner laa choo. 78% 99%

II.3 Er laat de Schriiner choo. 18% 65%

II.1 Hesch du d‘Uhr laa flicke? 93% 100%

II.1 Hesch du d‘Uhr flicke laa? 2% 15%

III.1 Wenn es so warm bleibt, fängt das Eis an zu schmelzen. … fangt s Iis aa schmelze. … fangt s Iis afa schmelze.

III.12 Nimm die Suppe sofort weg, wenn sie zu kochen anfängt. … wenn sie aafangt choche. … wenn sie faat afa choche.

Zentrale Fragen Unter welchen Bedingungen tritt AFA als Verdoppelungselement auf?

Lässt sich Evidenz für Wandel in Bezug auf die AFA-Verdoppelung finden?

1 Die paarweisen Prozentwerte addieren sich nicht immer zu 100%, da die Informanten in manchen Fällen entweder nicht alle Fragen beantworteten oder Antworten gaben, die hier nicht berücksichtigt sind. 2 Die paarweisen Summen der Prozentwerte übersteigen meistens 100%, da an jedem Erhebungsort mehrere Informanten befragt wurden, die häufig unterschiedliche Antworten gaben.

Datengrundlage Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz (SADS) (vgl. Bucheli & Glaser 2002)

SNF-gefördertes Projekt 2000-2008 (verlängert bis 2014) 4 Fragebögen zu verschiedenen (morpho-)syntaktischen Phänomenen 3187 Informanten in 383 Orten (zwischen 3 und 26 Informanten pro Ort) Verschiedene Fragetechniken (Übersetzung, Vervollständigung, Multiple

Choice)

Beispiele

II.3 Er lässt den Schreiner kommen (Verdopplung von LAA) … laat de Schriiner choo / … laat de Schriiner laa cho

II.1 Hast du die Uhr flicken lassen? (Serialisierung im Verb Cluster) … flicken lassen / … lassen flicken

Evidenz für Sprachwandel? Apparent-time-Vergleich: Einteilung der SADS-Informanten in zwei Altersklassen (Grenze: 57 Jahre (Median)) • Bildung des Mittelwerts der prozentualen AFA-Anteile pro Altersklasse

an jedem Erhebungsort (MW.AFAjung und MW.AFAalt) • Berechnung der Differenz der beiden Mittelwerte an jedem

Erhebungsort (Diff.AFA = MW.AFAjung – MW.AFAalt) • Kartierung der Differenzwerte Diff.AFA zur Ermittlung der Gebiete, in

denen sich Belege für apparent-time-Wandel finden lassen

III.1 Wenn es so warm bleibt, fängt das Eis an zu schmelzen. … fangt s Iis aa schmelze. … fangt s Iis afa schmelze.

rote Gebiete (positive Werte): höhere mittlere MW.AFA-Werte bei den jüngeren Sprechern Zunahme der AFA-Konstruktion blaue Gebiete (negative Werte): höhere mittlere MW.AFA-Werte bei den älteren Sprechern Rückgang der AFA-Konstruktion

III.12 Nimm die Suppe sofort weg, wenn sie zu kochen anfängt. … wenn sie aafangt choche. … wenn sie faat afa choche.