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MYTHOS ATOMKRAFT EIN WEGWEISER Koordination: Felix Matthes Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer, Jochen Schimmang und Heinz Tophinke Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung 1

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MYTHOS ATOMKRAFTEIN WEGWEISER

Koordination: Felix Matthes

Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer, Jochen Schimmang und Heinz Tophinke

Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung1

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Das Kapitel 2 (Antony Frogatt) und der zweite Teil von Kapitel 3 (Peter Diehl) beruhen auf umfangreichen Studien im Auftrag von

Mythos Atomkraft. Ein Wegweiser Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung

1. Auflage, Berlin 2006© Heinrich-Böll-StiftungAlle Rechte vorbehaltenGestaltung: SupportAgentur, BerlinDruck: agit-druck, Berlin

Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung gemäß den Empfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Bestelladresse: Heinrich-Böll-StiftungHackesche HöfeRosenthaler Str. 40/4110178 BerlinTel.030-285340Fax: [email protected] www.boell.de

ISBN 3-927760-51-X

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INHALT

Vorwort 5

Kapitel 1Gerd Rosenkranz: Mythos Atomkraft1 Einleitung 11

2 Zur Erinnerung: Das Restrisiko des Vergessens 11

3 Sicherheit: Die Urfrage der Atomkraftnutzung 13

4 Selbstmordattentate: Eine neue Dimension der Bedrohung 20

5 Atomkraftwerke: Nukleare Ziele im konventionellen Krieg 24

6 Siamesische Zwillinge: Zivile und militärische Nutzung der Atomenergie 25

7 Der offene Kreislauf: Lecks am Anfang und am Ende 29

8 Nuklearer Klimaschutz: Ratschläge vom Milchmädchen 36

9 Billige Atomkraft: Wenn der Staat die Rechnung zahlt 42

10 Fazit: Renaissance der Ankündigungen 52

Kapitel 2Antony Frogatt: Die Risiken von Atomreaktoren1 Einleitung 61

2 Kommerzielle Reaktortypen und ihre Mängel 62

3 Alterung, Laufzeitverlängerung und Sicherheit 84

4 Die Terrorgefahr 109

Literatur 119

Kapitel 3Jürgen Kreusch, Wolfgang Neumann, Detlef Appel

und Peter Diehl: Der nukleare Brennstoffkreislauf1 Einleitung 127

2 Uranabbau: Technologie und Auswirkungen 128

3 Die Behandlung von Nuklearabfällen 157

Literatur 193

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Kapitel 4Otfried Nassauer: Atomenergie und Proliferation1 Einleitung 199

2 Zivile Atomanlagen – ein kurzer Überblick 202

3 Proliferationsrisiken 206

4 Instrumente der Kontrolle und Begrenzung von Proliferation 223

5 Eine Welt auf der Suche nach Energie 237

Literatur 242

Kapitel 5Steve Thomas: Die Wirtschaftlichkeit der Atomenergie1 Einleitung 249

2 Der Weltmarkt für Atomkraftwerke: Bestellungsstand und weitere Aussichten 250

3 Gängige Reaktortypen 259

4 Schlüsselfaktoren der nuklearen Ökonomie 267

5 Neuere Studien zu den Kosten der Atomenergie und warum sie differieren 284

6 Notwendigkeit und Höhe staatlicher Subventionen 290

7 Schlussfolgerungen 292

Anhang 1: Diskontierung, Kapitalkosten und erforderliche Rendite 298

Anhang 2: Die Technologien von Atomreaktoren 302

Anhang 3: Die Hersteller von Atomreaktoren 304

Anhang 4: Die Stillegung von Atomreaktoren 307

Kapitel 6Felix Chr. Matthes: Atomenergie und Klimawandel1 Einleitung 315

2 Die Herausforderung des Klimawandels 317

3 Business As Usual 323

4 Der Umgang mit komplexen Risikostrukturen 331

5 Optionen der Emissionsminderung 336

6 Schlüsselstrategien: eine Fallstudie zu Deutschland 363

7 Schlussfolgerungen 369

Literatur 371

Abkürzungen 375

Kurzbiographien der Autoren 377

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VORWORT

Die Atomenergie ist wieder verstärkt in der Diskussion. Der Energie-hunger aufstrebender Industriestaaten wie China und Indien, stei-gende Ölpreise, die riskante Abhängigkeit von russischem Erdgasund der galoppierende Klimawandel werden zu ihren Gunsten insFeld geführt. Die Atomlobby schnuppert Morgenluft, von einemCome back der Atomenergie ist die Rede. Bisher ist das durch Fak-ten nicht gedeckt. Der Anteil des Atomstroms am gesamten Energie-verbrauch ist weltweit rückläufig. Einige Neubauten in Asien undein Reaktor in Finnland werden diesen Trend nicht umkehren. Auchdie Industrie ist zögerlich und fordert umfangreiche staatliche Bei-hilfen und Garantien, bevor sie sich auf das Abenteuer neuer Atom-kraftwerke einlässt.

Die veränderte energiepolitische Landschaft und die Offensiveder Atombefürworter sind aber Grund genug, sich wieder intensivermit der Atomkraft zu beschäftigen. In einer Reihe von Themen-papieren legt die Heinrich-Böll-Stiftung nun Analysen und Informa-tionen zu den großen Streitfragen um die Atomenergie vor:

1. Reaktorsicherheit: Was sind die spezifischen Risiken alter undneuer Reaktortypen? Welche Probleme entstehen bei der Ver-längerung der Laufzeit bestehender AKWs?

2. Brennstoffkreislauf : Wie lange reichen die Uranvorräte? WelcheRisiken birgt der Uranbergbau? Welche Konzepte existieren fürdie Endlagerung?

3. Proliferation: Wie eng ist die Verbindung von ziviler und militäri-scher Nutzung der Atomenergie? Lässt sich auf Dauer das einevon dem anderen trennen?

4. Ökonomie: Wie wirtschaftlich ist Atomenergie? Welche Unsicher-heiten liegen den Kalkulationen zugrunde, und welche Kostenwerden auf die Allgemeinheit abgewälzt?

5. Klimaschutz: Inwieweit bietet die Atomenergie eine Antwort aufdie Herausforderung des Klimaschutzes? Was ist von dem Argu-ment zu halten, Atomkraftwerke müssten den Übergang zurBedarfsdeckung durch regenerative Energien absichern?

Zu Beginn bieten wir in einem eigenständigen Überblicksbeitragvon Gerd Rosenkranz eine umfassende wie kompakte Bewertungder Risiken und Aussichten der Atomenergie. 5

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Die Auseinandersetzung mit der Atomenergie wird nicht nur inDeutschland geführt, sondern in vielen Partnerländern der Hein-rich-Böll-Stiftung. Wir haben daher diese Papiere vorrangig in einerinternationalen Perspektive für diese Partnerländer in Auftraggegeben und nicht spezifisch für die deutsche Situation. Ausgabenin verschiedenen Sprachen (u.a. Englisch, Russisch, Ukrainisch,Portugiesisch) sind in Vorbereitung.

In Deutschland wird sich die atompolitische Auseinandersetzung inden kommenden Jahren auf zwei Fragen zuspitzen:

Laufzeitverlängerung: Werden Reststrommengen von neuerenReaktoren auf die zur Abschaltung anstehenden Altreaktoren BiblisA, Biblis B, Brunsbüttel und Neckarwestheim 1 übertragen? EineAusnahmeklausel im Atomkonsens ermöglicht dies mit Zustim-mung der Bundesregierung. Die Konsequenz wäre nicht nur einWeiterbetrieb der ältesten, störanfälligsten Reaktoren. Es würde da-durch auch die Phase des Atomausstiegs zeitlich stark komprimiert.Der Druck auf einen „Ausstieg aus dem Ausstieg“ würde nach 2010massiv wachsen, da die notwendigen Ersatzkapazitäten in der Kürzeder Zeit kaum zu beschaffen wären. Außerdem sind die dann abzu-schaltenden Anlagen noch relativ jung; die Energiekonzerne würdendann mit Sicherheit gegen die „erzwungene Kapitalvernichtung“Sturm laufen. Die Verlängerung der Laufzeit alter Anlagen wäre des-halb faktisch ein Angriff auf den mühsam errungenen „Atomkon-sens“.

Endlagersuche: In den vergangenen Jahren sind 1,3 MilliardenEuro in den Bau eines Endlagers in Gorleben gesteckt worden, ob-wohl erhebliche Zweifel an der geologischen Eignung des Salzstocksbestehen. In dieser Legislaturperiode will die Große Koalition dieEndlagerfrage klären – es ist zu befürchten, dass Gorleben entgegenaller fachlichen Bedenken als Standort festgeschrieben werden soll.

Trotz aller Argumente gegen eine katastrophenträchtige, mit hohenKosten und Langzeitrisiken verbundene Technologie ist die Aus-einandersetzung um die Atomenergie neu eröffnet. Eine neue Gene-ration wächst heran, für die Harrisburg und Tschernobyl keine prä-gende Erfahrung mehr ist. In der öffentlichen Wahrnehmung domi-nieren Klimawandel, Energiesicherheit und steigende Preise für Ölund Gas den energiepolitischen Diskurs. Wir sehen es deshalb alsunsere Aufgabe, atomkritisches Know-how zu aktualisieren und 6

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Alternativen zur Atomenergie aufzuzeigen. Dazu will Mythos Atom-kraft einen Beitrag leisten. Wir bedanken uns sehr bei den Autorendieses Bandes, namentlich bei Felix Chr. Matthes vom Öko-Institut,der zugleich die Koordination dieses Projekts besorgte. Auf Seitender Heinrich-Böll-Stiftung lag das Projekt in den bewährten Händenvon Jörg Haas.

Berlin, im Januar 2006

Ralf Fücks und Barbara UnmüßigVorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

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KAPITEL 1

MYTHOS ATOMKRAFT. ÜBER DIE RISIKEN UNDAUSSICHTEN DER ATOMENERGIE

Von Gerd Rosenkranz

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Atomkraftwerk Biblis in Hessen. Kuppel und Kühltürme.

© Martin Storz /graffiti/Greenpeace

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1 EinleitungDer fundamentale Konflikt um die Atomenergie ist fast so alt wieihre kommerzielle Nutzung. Die frühen Blütenträume ihrer Ver-fechter sind verflogen, die hohen Risiken geblieben, ebenso dieGefahren des militärischen Missbrauchs. Terroristische Bedrohun-gen haben sich dramatisch konkretisiert. Die Klimaerwärmung unddie Endlichkeit fossiler Brennstoffe können nicht die großen Sicher-heitsprobleme der Atomenergie verdrängen. Den katastrophen-freien Reaktor gibt es seit Jahrzehnten nur als ein fernes Ver-sprechen.

Die vom Menschen verursachte Aufheizung der Atmosphäregehört ohne Zweifel zu den größten Herausforderungen des 21.Jahrhunderts. Aber es gibt andere, risikoärmere Optionen, sie zubewältigen, als die Atomenergie. Der Einsatz der Atomenergie istnicht zukunftsfähig, weil die nuklearen Spaltstoffe ebenso endlichsind wie die fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Erdgas. Und weil dieZeiträume, die ihre radioaktive Hinterlassenschaft von der Bio-sphäre ferngehalten werden muss, so lang sind, dass sie jenseits dermenschlichen Vorstellungskraft liegen.

Atomenergie ist aber nicht nur sicherheitstechnisch, sondernauch finanztechnisch eine Hochrisikotechnologie. Ohne staatlicheSubventionen hat sie in einem marktwirtschaftlichen Umfeld keineChance. Trotzdem wird es weiter Unternehmen geben, die unterspeziellen, staatlich gesetzten Rahmenbedingungen von der Atom-energie profitieren. Laufzeitverlängerungen alter Reaktoren könnenfür ihre Betreiber ökonomisch attraktiv sein – aber sie erhöhen dasRisiko eines schweren Unfalls überproportional. Und es wird immerMachthaber geben, die die zivile Nutzung der Kernspaltung vorallem als Etappe auf dem Weg zur eigenen Atombombe sehen undvorantreiben. Darüber hinaus bietet die Atomenergie mit ihrenhochgefährlichen und terrorgefährdeten Anlagen einen zusätzlichenAngriffspunkt für die spätestens am 11. September 2001 sichtbargewordene skrupellose nichtstaatliche Gewalt. Auch deshalb wirddie Atomenergie die Menschen spalten, so lange sie genutzt wird.

2 Zur Erinnerung: Das Restrisiko des VergessensWas sich am späten Abend des 10. April 2003 im Brennelement-lagerbecken des ungarischen Atomkraftwerks Paks abspielte, erin-nerte fatal an zwei Ereignisse, die seit Jahrzehnten als Menetekel dieGeschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie begleiten: Die11

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Reaktorkatastrophen von Harrisburg im März 1979 und Tschernobylim April 1986.

Unverzeihliche Konstruktionsfehler, schlampige Überwachung,fehlerhafte Betriebsanweisungen, stressbedingte Fehleinschätzun-gen und nicht zuletzt: ein naives Vertrauen in eine hochsensibleTechnik – all das kannte man schon vor diesem Donnerstagabend inUngarn: nicht nur aus Harrisburg und Tschernobyl, auch aus derWiederaufbereitungsanlage im britischen Sellafield, vom Monju-Brüter oder aus der Wiederaufbereitungsanlage von Tokaimura inJapan und aus Brunsbüttel an der Elbe. Wo Menschen arbeiten,machen sie Fehler. Sie können von Glück sagen, dass die nachjedem Unfall aufs Neue als „unerklärlich“ eingestufte Verkettungvon Fehlleistungen nicht immer so hart bestraft wird, wie 1986 inder Ukraine und ihren Nachbarstaaten. In Block 2 des Atomkraft-werks Paks, 115 Kilometer südlich der ungarischen Hauptstadt Buda-pest gelegen, blieb es bei der Überhitzung und Zerstörung von 30hochradioaktiven Brennelementen, die sich in einen Haufen strah-lenden Schutt am Boden eines mit Wasser gefluteten Stahlkesselsverwandelten. Es blieb bei einer massiven Freisetzung radioaktiverEdelgase, die in hoher Konzentration in den panisch geräumtenReaktorsaal strömten und die später, um die Halle für Personal inStrahlenschutzanzügen wieder zugänglich zu machen, mit höchsterVentilatorleistung volle 14 Stunden ungefiltert in die Umgebunggeblasen wurden.

Der Name Paks steht für den schwersten Unfall in einem euro-päischen Atomreaktor seit Tschernobyl. Die Überhitzung des hoch-radioaktiven Materials spielte sich noch dazu außerhalb des ver-bunkerten Sicherheitsbehälters ab. Doch die Welt jenseits der unga-rischen Grenzen nahm praktisch keine Notiz von dem nuklearenInferno, das sich im Innern einer mobilen Brennelement-Reini-gungsanlage anzubahnen drohte. Die Fachleute im In- und Ausland,die die Abläufe jener Nacht später rekonstruierten, erkannten be-stürzt, dass es viel schlimmer hätte kommen können. Nicht nur dieunaufgeregte Reaktion der internationalen Öffentlichkeit auf dendramatischen Zwischenfall war neu. Die Havarie von Paks bedeute-te auch in anderer Hinsicht eine Premiere. Erstmals hatten west-und osteuropäische Reaktormannschaften in einer Kaskade ausSorglosigkeit, Managementfehlern und Routineseligkeit einenschweren Störfall gemeinsam und geradezu zielstrebig herbei-geführt. Beteiligt: Konstrukteure und Operateure des deutsch-fran- 12

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zösischen Atomkonzerns Framatome-ANP (einer Tochter des fran-zösischen Areva- und des deutschen Siemens-Konzerns), Betriebs-mannschaften des Atomkraftwerks sowjetischer Bauart in Paks undFachleute der ungarischen Atomaufsichtsbehörde in Budapest. Siealle traf ein Teil der Verantwortung – und sie kamen glimpflichdavon.

Als die 30 Brennelemente, immerhin rund ein Zehntel einer vol-len Reaktorkernbeladung, nach der chemischen Reinigung nichtgenügend gekühlt wurden, brachten sie zuerst das Kühlwasser imReinigungskessel zum Sieden, kochten dann regelrecht trocken,erhitzten sich auf bis zu 1200 Grad Celsius und zerbröselten schließ-lich wie Porzellan, als die überforderten Operateure nach pannen-reichen Versuchen, die große Katastrophe zu vermeiden, einenSturzbach aus kaltem Wasser auf sie leiteten. Zu diesem Zeitpunktlag eine atomare Verpuffung, also eine begrenzte, aber unkontrol-lierte Kettenreaktion nach Überzeugung der Reaktorphysiker imBereich des Möglichen. Mit verheerenden Folgen nicht nur für dieUmgebung des Kraftwerks Paks.

3 Sicherheit: Die Urfrage der AtomkraftnutzungMit erkennbarem Wohlgefallen registrieren die Verfechter derAtomenergie in den Industriestaaten in immer mehr Ländern eineBeruhigung der Auseinandersetzung über die Atomenergie. Unterdem Eindruck von Klimawandel und Ölpreisexplosion sei die Ton-lage „sachlicher und ruhiger“ geworden. Vor allem über eines froh-locken die Freunde der nuklearen Stromproduktion: Der politisch-gesellschaftliche Diskurs hat sich von den fundamentalen Sicher-heitsproblemen der Kerntechnik wegverlagert, hin zu Fragen derÖkonomie, des Klimaschutzes oder der Ressourcenschonung.Atomenergie soll so in der öffentlichen Wahrnehmung zu einerTechnik unter vielen umgedeutet werden, ihre Nutzung eine Abwä-gungsfrage, wie die zwischen Kohlekraftwerk und Windmühle. DieKernspaltung wird eingemeindet in das von den Ökonomen defi-nierte Zieldreieck der energiepolitischen Debatte aus Wirtschaftlich-keit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit. Dass auchinnerhalb dieser Agenda viele Fragen an die Sinnhaftigkeit des Ein-satzes der Atomenergie bleiben, stört ihre Anhänger weniger. Siesind zufrieden. Denn in ihren Augen ist entscheidend: Es gelingtimmer häufiger, das einzigartige Katastrophenpotenzial der Atom-technik hinter einer Mauer von Argumenten zu verbergen, die alle13

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von den grundlegenden Sicherheitsfragen ablenken. Diese Entwick-lung ist nicht zufällig. Sie ist Ergebnis einer Strategie, die von Betrei-bern und Herstellern in den führenden Atomenergieländern langeJahre mit beharrlicher Zähigkeit verfolgt und mit Bedacht voran-getrieben wurde.

Eine erfolgreiche Ablenkung mag die öffentliche Debatte beruhi-gen. Die Wahrscheinlichkeit der großen Katastrophe macht sie nichtkleiner. Die Gefahr des Super-GAUs, also eines Unfalls, der überden in den Sicherheitssystemen eingeplanten Größten Anzuneh-menden Unfall (GAU) hinausgeht, und die Tatsache, dass er niemalsausgeschlossen werden kann, war und ist der Urgrund des Funda-mentalkonflikts um die Atomenergie. Auf ihr gründen letztlich alleArgumente gegen diese Form der Energieumwandlung. Mit ihrsteht und fällt die Akzeptanz – regional, national und global. SeitHarrisburg und noch mehr seit Tschernobyl war der katastrophen-feste Atommeiler die Verheißung, mit der die Atomwirtschaft hoff-te, irgendwann die öffentliche Zustimmung für ihre Technologiezurückgewinnen zu können. Vor einem Vierteljahrhundert verkün-deten die Hersteller das große Versprechen unter dem Code des„inhärent sicheren Kernkraftwerks“. Die Amerikaner nannten dieseMeiler der Zukunft „Walk-away“-Reaktoren, in denen eine Kern-schmelze oder ein vergleichbar schwerer Unfall physikalisch ausge-schlossen sein sollte. „Selbst beim schlimmsten aller denkbarenUnfälle“, schwärmte damals der Vizepräsident eines US-Herstellers,„können sie nach Hause gehen, zu Mittag essen, ein Nickerchen hal-ten und anschließend zurückkommen, um sich darum zu kümmern– ohne die geringste Sorge, ohne Panik.“ 1 Die großspurige Ansageblieb bis heute, was sie schon damals war: ein uneingelöster Wechselauf die Zukunft. Bereits 1986 mutmaßte der deutsche Technik-Historiker Joachim Radkau, das katastrophenfreie Atomkraftwerksei „ein Wunschtraum, der in Krisenzeiten immer wieder vorgegau-kelt, aber nie realisiert wird“.2

Inzwischen sprechen die Europäische AtomgemeinschaftEuratom und zehn Atomkraft betreibende Länder neutral von der„Generation IV“, wenn sie die Zukunft der Reaktortechnik ins Visiernehmen. Idiotensicher wie ihre bis heute Vision gebliebenen

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1 Zitiert nach Peter Miller: Our Electric Future – A Comeback for NuclearPower, in: National Geographic, August 1991, S. 60 ff2 Tschernobyl in Deutschland? In: Spiegel 20/1986; S. 35/36

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Vorgänger sollen die mit innovativer Sicherheitstechnik ausgestatte-ten Reaktoren der übernächsten Baureihe nicht mehr sein. Aberwirtschaftlicher, kleiner, weniger anfällig gegen militärischenMissbrauch und in der Folge: akzeptabler für die Menschen. Um2030 sollen die ersten dieser Meiler Strom liefern. Das ist die offi-zielle Version. Inoffiziell rechnen sogar manche ihrer profiliertenAnhänger mit dem kommerziellen Betrieb „erst um 2040 oder 2045herum“3. Damit erinnert dieses Zukunftsversprechen fatal an dasder Fusionsforscher. Von der Kernfusion, der kontrollierten Ver-schmelzung von Wasserstoffatomen nach dem Vorbild der Sonne,hieß es 1970, sie werde um das Jahr 2000 für die Stromerzeugungeinsatzreif sein. Heute rechnet niemand mehr mit einer Kommer-zialisierung vor der Mitte des 21. Jahrhunderts – wenn überhaupt.

Mit dem Versprechen einer vierten Reaktorgeneration ohne abso-lute Sicherheit hat die Atomindustrie die Garantieerklärung der Ver-gangenheit geräuschlos beerdigt. Inzwischen genügt sogar imTagesgeschäft die relative Sicherheit, konkret die kolportierte undvon Nicht-Fachleuten im politisch-publizistischen Raum gern ver-breitete Pauschalbehauptung: „Unsere Kernkraftwerke sind diesichersten der Welt.“ Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage – vorallem in Deutschland überaus beliebt – ist nicht wirklich belegt. Undes ist nicht recht plausibel, dass Atomkraftwerke, mit deren Bau inden sechziger und siebziger Jahren begonnen wurde, die also in denfünfziger und sechziger Jahren mit dem Wissen sowie für dieTechnologie dieser Zeit konzipiert wurden, ein ausreichendes Maßan Sicherheit bieten können. Doch solange niemand die Propagan-disten der Atomenergie in Frankreich, den USA, Schweden, Japanoder Südkorea hindert, exakt dasselbe von ihren Meilern zu behaup-ten, können alle gut damit leben. Es gibt keine nationale nukleareCommunity, die ihre eigenen Atomkraftwerke nicht auf Weltniveauwähnt – oder dies zumindest öffentlich für sich reklamiert. Selbst inOsteuropa heißt es immer häufiger, infolge der Nachrüstrunden dervergangenen 15 Jahre erreichten auch Reaktoren sowjetischer Bauartwestliche Sicherheitsstandards und seien ihnen in manchen Belan-gen überlegen. So reagierten sie zum Beispiel angeblich wenigersensibel auf Störungen der Reaktorphysik. Einer formellen Überein-

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3 So der damalige EDF-Präsident Francois Roussely am 23. November 2003vor dem Wirtschafts- und Umweltausschuss der französischen Nationalver-sammlung; zitiert nach Mycle Schneider: Der EPR aus französischer Sicht.Memo im Auftrag des BMU, S. 5.

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kunft über diese Sprachregelungen bedarf es nicht. Die gemeinsameBotschaft lautet: Es besteht kein Grund zur Beunruhigung.

Die lässt tatsächlich nach, national wie international. Die ent-scheidende Frage bleibt deshalb die nach dem Preis, den dieMenschheit für die erkennbare Beruhigung an der Atomfront zuentrichten bereit ist. Was bedeutet es für die internationale Reaktor-sicherheit, wenn Beinahekatastrophen wie die von Paks nur in ge-schlossenen Fachzirkeln debattiert werden? Das vergleichsweisehohe Sicherheitsniveau deutscher Meiler wurde in der Vergangen-heit sogar von Befürwortern der Atomenergie auch der Stärke derAnti-Atomkraftbewegung in der alten Bundesrepublik zugeschrie-ben, einer andauernden skeptischen Beobachtung der Meiler durcheine hoch sensibilisierte Öffentlichkeit. Bohrende Fragen und dieEtablierung einer so genannten „kritischen Fachöffentlichkeit“ sorg-ten nach dieser Lesart dafür, dass Atomkraftwerke überhaupt erst zuden am aufwendigsten gegen Stör- und Unfälle gesichertenIndustrieanlagen der Industriegeschichte wurden, die sie heute sind.Doch, so ist zu befürchten, gilt auch der Umkehrschluss: Schwindetdie öffentliche Aufmerksamkeit, schrumpft auch die Sicherheit.

Wie sieht die reale Sicherheitsbilanz aus, zwanzig Jahre nachTschernobyl? Gibt es gegenüber den Hochzeiten der Risikodiskus-sion nach der Kernschmelze in der Ukraine reale Fortschritte in derReaktorsicherheit? Oder trifft eher das Gegenteil zu, ist der nächsteGroßunfall schon programmiert?

Niemand kann in Abrede stellen, dass auch die Atomtechnik vonden Fortschritten der allgemeinen Technologieentwicklung profi-tiert. Die Revolution, die sich seit der Errichtung der Mehrzahl derauf der Welt betriebenen kommerziellen Reaktoren, in den Informa-tions- und Kommunikationstechnologien vollzogen hat, macht dieSteuerung und Überwachung eines Atomkraftwerks übersichtlicherund im Normalbetrieb zuverlässiger. Als die älteren der heute betrie-benen Meiler auf dem Reißbrett entstanden, steuerten noch Loch-streifen die Computer. Moderne Steuerungssysteme wurden undwerden in viele, auch betagte Meiler nachträglich eingebaut. Für einhöheres Maß an Sicherheit spricht auch ein mit Hilfe von Compu-tersimulationen und Experimenten erreichtes besseres Verständnisder reaktorphysikalischen und anderer komplexer Vorgänge im Nor-malbetrieb und mehr noch in Störfallsituationen. Heute üben dieReaktorfahrer an ihren Simulatoren Unfallabläufe, die vor zwanzig 16

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oder dreißig Jahren nicht einmal modelliert werden konnten – undfolglich zum Teil gar nicht bekannt waren. Die Sicherheitstechnikerprofitieren auch von fortgeschrittenen Wahrscheinlichkeitsanalysenund weiterentwickelten Prüf- und Überwachungssystemen, mitdenen nach und nach auch ältere Meiler ausgerüstet werden.

Die Reaktorbetreiber nehmen zudem für sich in Anspruch, ausFehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Sie verweisen auf dieGründung der internationalen Betreiberorganisation (World Asso-ciation of Nuclear Operateurs, WANO), die den Erfahrungsaus-tausch organisiert und für eine zeitnahe Weitergabe von Störfall-daten an ihre Mitglieder sorgt. Weltweit können die Reaktorbetreiberauf die Erfahrung von über 11.000 Reaktorbetriebsjahren zurück-greifen. Ein Beleg für eine „neue Sicherheit“ von Atomkraftwerkenist das allerdings nicht. Die Tatsache, dass es seit Tschernobyl oderHarrisburg keine Unfälle mit Kernschmelzen gegeben hat, bedeuteteben nicht, dass es nicht wieder geschehen könnte. Paks war dieschärfste Warnung in jüngster Zeit. Etwa drei von vier der heute aufder Welt betriebenen Reaktoren sind dieselben wie 1986. Es ist gera-de das Wesen von Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen, dass einschwerer Unfall heute geschehen kann oder erst in hundert Jahren.11.000 Reaktorbetriebsjahre sind deshalb kein Gegenbeweis. Als dieNuklearwirtschaft 1979 in Harrisburg die erste Kernschmelze ineinem kommerziellen Meiler traf, erinnerten Atomkraftgegner inSüddeutschland auf Flugblättern mit bitter höhnender Ironie an dievollmundigen Sicherheitsschwüre der Reaktortechniker: „Alle100.000 Jahre ein Unfall – wie schnell doch die Zeit vergeht!“

Die weltweit forcierte Verlängerung der geplanten Reaktorlaufzei-ten nennen Manager wie der Vorstandschef des deutschen Energie-konzerns RWE, Harry Roels, „sicherheitstechnisch uneingeschränktverantwortbar“4. Und Walter Hohlefelder, Vorstand des Atomkraft-betreibers E.ON Energie AG und Präsident des deutschen Atom-forums, erklärt allen Ernstes, eine solche Laufzeitverlängerungmache „die Versorgung mit Strom sicherer“5. Erstaunlich an sol-chen Äußerungen ist vor allem, dass sie von Teilen der Öffentlich-keit nicht mehr hinterfragt werden. Denn es ist und bleibt einekühne Behauptung, wenn die Reaktorbetreiber den Eindruck zu ver-mitteln suchen, als würden Atomkraftwerke – im Gegensatz zu

174 Frankfurter Rundschau: 12. August 2005, S.115 Berliner Zeitung: 9. August 2005, S. 6

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Automobilen oder Flugzeugen – mit zunehmendem Alter immersicherer. Dagegen spricht leider nicht nur der Alltagsverstand derMenschen. Dagegen spricht auch die Physik.

Das globale Reaktorarsenal „altert“. Hinter diesem Alltagsbegriffverbirgt sich in der Werkstofftechnik und Metallkunde ein umfas-sendes Wissensgebäude. Es bezeichnet nicht nur schlichte „Abnut-zungserscheinungen“, sondern hochkomplexe Veränderungen ander Oberfläche und im Innern metallischer Materialien. Solche Vor-gänge im atomaren Bereich und ihre Folgen sind besonders schwerauszurechnen oder durch Überwachungssysteme zuverlässig undvor allem rechtzeitig zu entdecken, wenn hohe Temperaturen, star-ke mechanische Belastungen, eine chemisch aggressive Umgebungund das Neutronen-Dauerbombardement aus der Kernspaltunggleichzeitig auf sicherheitstechnisch entscheidende Bauteile wirken.Korrosion, Strahlenschäden, Rissbildung an der Oberfläche, anSchweißnähten auch im Innern zentraler Komponenten sind in denvergangenen Jahrzehnten immer wieder aufgetreten. Schwere Un-fälle blieben oftmals aus, weil das Unheil rechtzeitig von Überwach-ungssystemen oder bei Routineuntersuchungen während Still-stands- und Revisionszeiten der Anlagen entdeckt wurde. Manchmalwar die Entdeckung schlichter Zufall.

Dazu kommen die mannigfaltigen Rückwirkungen der Libera-lisierung der Strommärkte in vielen Ländern, in denen Atom-kraftwerke betrieben werden. Liberalisierung bedeutet ein höheres„Kostenbewusstsein“ in jedem Kraftwerk mit sehr handfestenFolgen: zum Beispiel Personalabbau, Ausdünnung wiederkehrenderPrüfungen, kürzere Fristen und damit Zeitdruck bei Revisions-arbeiten und dem Wechseln von Brennelementen. All dies erhöhtnicht die Sicherheit.

Fazit: Wenn sich die Reaktorbetreiber mit ihren Laufzeit-Vorstellun-gen von 40 oder gar 60 Jahren durchsetzen, wird sich das im Jahr2005 erreichte Durchschnittsalter der aktuell auf der Welt betriebe-nen Atomkraftwerke von etwa 22 Jahren noch einmal verdoppelnoder fast verdreifachen. Damit erhöht sich das Gesamtrisiko einesschweren Unfalls entscheidend. Daran ändert auch der Neubau vonKraftwerken der so genannten „Generation III“ wenig. Sie werdennoch über Jahrzehnte nur einen kleinen Prozentsatz des weltweitenReaktorarsenals ausmachen. Außerdem ist auch in ihnen ein schwe-rer Unfall nicht physikalisch ausgeschlossen. Der seit Ende der acht- 18

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ziger Jahre konzipierte Europäische Druckwasserreaktor (EuropeanPressurized Reactor, EPR) zum Beispiel, dessen Prototyp in Finn-land gebaut wird, ist eine – Kritiker sagen: halbherzige – Weiterent-wicklung der heute in Frankreich und Deutschland betriebenenDruckwasserreaktoren aus den achtziger Jahren. Die Folgen einerKernschmelze sollen mit einer aufwändigen Auffangvorrichtung(„Core-Catcher“) für den aufgeschmolzenen Reaktorkern einge-dämmt werden. Ergebnis dieses die Gesamtanlage erheblich verteu-ernden Konzepts war unter anderem, dass der Meiler während derDesign-Phase immer größer konzipiert werden musste, um ihnwenigstens gegenüber den Vorgängermodellen ökonomisch konkur-renzfähig zu machen. Ob der Sicherheitsbehälter („Containment“),der sich an den bei den jüngsten deutschen Meilern („Konvoi-Reihe“) erreichten Standard anlehnt, den gezielten Absturz einervoll betankten Passagiermaschine überstehen würde, ist zumindestumstritten.

Dass die Wahrscheinlichkeit schwerer Störfälle mit zunehmenderBetriebserfahrung und Laufzeit der einzelnen Anlagen gesunken ist,glauben nicht einmal die Reaktorbetreiber selbst. Anlässlich einesTreffens der Betreiberorganisation WANO in Berlin im Jahr 2003listeten Teilnehmer acht „schwere Vorfälle“ auf, die alle binnenweniger Jahre für Aufsehen gesorgt hatten – allerdings, wie der ein-gangs erwähnte Unfall mit Brennelementen im ungarischen Paks,vor allem unter den Reaktorexperten selbst. Die Liste von Vorfällenmit Katastrophenpotenzial umfasst:

– Lecks an den Steuerstäben des jüngsten britischen ReaktorsSizewell B (Inbetriebnahme 1995);

– eine zu niedrige Bor-Konzentration im Notkühlsystem des baden-württembergischen Reaktors Philippsburg 2;

– zuvor nie beobachtete Brennelementschäden in Block 3 des fran-zösischen Kraftwerks Cattenom;

– eine schwere Wasserstoffexplosion in einem Rohr des Siede-wasserreaktors Brunsbüttel in unmittelbarer Nachbarschaft zumReaktordruckbehälter;

– eine lange unbemerkt gebliebene massive Korrosion am Reaktor-druckbehälter des US-Meilers Davis-Besse, wo nur noch diedünne Edelstahlauskleidung des Reaktorkessels („Liner“) einmassives Leck verhinderte;19

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– Manipulationen an sicherheitsrelevanten Daten in der britischenWiederaufbereitungsanlage Sellafield;

– ebensolche Datenmanipulationen beim japanischen BetreiberTepco.

Derartige Vorfälle und Nachlässigkeiten – und besonders ihre Häu-fung in der jüngeren Vergangenheit – sorgen bei den Betreibernerkennbar für mehr Unruhe und Problembewusstsein als bei denpolitischen Verfechtern einer Atomenergie-Renaissance. Die Verant-wortlichen fürchten die Konsequenzen eines tief im menschlichenWesen verwurzelten Phänomens: die Anfälligkeit gegen das sanfteGift der Routine, das es fast unmöglich macht, über Jahre wieder-kehrende Tätigkeiten dennoch immer mit einem Höchstmaß anKonzentration durchzuführen. Während des Berliner WANO-Tref-fens klagten Referenten nicht nur über die erheblichen finanziellenFolgen der Vorfälle (allein im Zusammenhang mit den Störfällenvon Philippsburg, Paks und Davis-Besse waren bis Oktober 2003etwa 298 Millionen US-Dollar an Kosten aufgelaufen, 12 von 17 Sie-dewasserreaktoren des japanischen Betreibers Tepco standen wegender Datenmanipulationen still), sondern mehr noch über Nachläs-sigkeit und Selbstzufriedenheit unter den Betreibern. Beides sei„eine Gefahr für den Fortbestand unserer Branche“ 6, warnte einschwedischer Teilnehmer des Expertentreffens. Der seinerzeitigejapanische WANO-Vorsitzende Hajimu Maeda diagnostizierte gareine „schreckliche Krankheit“, die die Branche von innen herausbedrohe. Sie beginne mit Motivationsverlust, Selbstzufriedenheitund „Nachlässigkeit bei der Aufrechterhaltung der Sicherheitskulturwegen des schweren Kostendrucks, infolge der Deregulierung derStrommärkte“. Diese Krankheit müsse erkannt und bekämpft wer-den. Andernfalls werde irgendwann „ein schwerer Unfall … dieganze Branche zerstören“ 7.

4 Selbstmordattentate:Eine neue Dimension der BedrohungDie neue Dimension der Bedrohung, die sich aus den Terrorangrif-fen des 11. September 2001 in New York und Washington und nach-folgenden Aussagen später inhaftierter Islamisten ergibt, hat bei den

206 Nucleonics Week: 6. August 20037 Ebd.

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bisherigen Überlegungen noch keine Rolle gespielt. Dabei legt gera-de sie eine grundlegende Neubewertung der Nutzung der Atom-energie nahe.

Dass Atomkraftwerke in der Zielplanung islamistischer Terro-risten eine Rolle spielen, gilt nach den Bekenntnissen zweier inhaf-tierter Al-Qaida-Führer als sicher. Danach hatte Mohammed Atta,der später eine Boeing 767 in den Nordturm des World Trade Cen-ters steuerte, die beiden Reaktorblöcke des Kraftwerks Indian Pointam Hudson River bereits als mögliches Ziel ausgewählt. Selbsteinen Codenamen für den Angriff auf das Atomkraftwerk in nur 40Kilometer Entfernung von Manhattan gab es schon: „electrical engi-neering“. Nur weil die Terrorpiloten befürchteten, dass ihr Anflugauf das Atomkraftwerk möglicherweise vorzeitig mit Flugabwehr-raketen gestoppt werden könnte, wurde der Plan schließlich verwor-fen. Auch in der ursprünglichen, noch monströseren Planung desAl-Qaida-Oberen Khalid Sheik Mohammed mit insgesamt zehngleichzeitig entführten Passagiermaschinen standen nach desseneigenen Aussagen mehrere Atomkraftwerke auf der Zielliste. Es istdeshalb unabdingbar, Szenarien terroristischer Angriffe in die künf-tige Risikobewertung von Atomkraftwerken ernsthafter als bishereinzubeziehen. Sie sind seit dem 11. September 2001 um mehrereGrößenordnungen wahrscheinlicher geworden.

Sicher scheint, dass keiner der Ende des Jahres 2005 weltweitbetriebenen 443 Reaktoren dem gezielten Angriff mit einem vollgetankten Großraumjet widerstehen könnte. Das bestätigten nochunter dem Eindruck der Anschläge in New York und Washingtonübereinstimmend sogar die Reaktorbetreiber. Das schnelle Einge-ständnis hatte zwar seinerzeit auch eine taktische Komponente. Essollte die Debatte über ältere, besonders verwundbare Atomzentra-len verhindern, die dann unter dem Druck einer besorgten Öffent-lichkeit möglicherweise vorzeitig hätten stillgelegt werden müssen.Inzwischen liegen jedoch die Ergebnisse wissenschaftlicher Studienvor, die die frühen Aussagen der Manager bestätigen. Beim Bau vie-ler Atommeiler in den westlichen Industriestaaten war zwar auchder zufällige Absturz von Kleinflugzeugen und Militärmaschinen indie Sicherheitsüberlegungen einbezogen worden. Sogar terroristi-sche Angriffe mit Panzerfäusten, Haubitzen und anderem Kriegs-gerät waren Gegenstand diverser Planspiele. Der unbeabsichtigteAufprall einer voll betankten großen Passagiermaschine galt hinge-gen als derart unwahrscheinlich, dass gegen dieses Szenario in kei-21

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nem Land der Welt wirksame Vorkehrungen getroffen wurden. DieVorstellung eines gezielten Angriffs mit einer zur Lenkwaffe um-funktionierten Passagiermaschine hatte die Phantasie der Reaktor-konstrukteure schlicht überfordert.

In Deutschland begann die in Köln ansässige Gesellschaft für An-lagen- und Reaktorsicherheit (GRS) unmittelbar nach den Anschlä-gen in den USA mit einer umfangreichen Untersuchung der Ver-wundbarkeit deutscher Atomkraftwerke durch Attacken aus der Luft.Dabei wurde im Auftrag der Bundesregierung nicht nur die Stand-festigkeit typischer Atomkraftwerke ermittelt. An einem Flugsimula-tor der Technischen Universität Berlin flogen darüber hinaus einhalbes Dutzend Piloten tausende Angriffe mit unterschiedlichen Ge-schwindigkeiten, Aufprallorten und -winkeln gegen in Deutschlandbetriebene Atomkraftwerke, die in Gestalt detailgetreuer Videoani-mationen ins Simulator-Cockpit eingespielt wurden. Die Testpilotenhatten – wie die Terrorflieger von New York und Washington –zuvor nur kleinere Propellermaschinen geflogen. Trotzdem warangeblich etwa jeder zweite simulierte Kamikaze-Angriff ein Treffer.

Die Ergebnisse der Untersuchung erwiesen sich als derart alar-mierend, dass sie nie offiziell veröffentlicht wurden. Lediglich eineals „VS-vertraulich“ klassifizierte Zusammenfassung gelangte späteran die Öffentlichkeit. Danach droht insbesondere bei den älterenMeilern bei jedem Treffer ein nukleares Inferno, unabhängig vonTyp, Größe oder Aufprallgeschwindigkeit der Passagiermaschine.Entweder würde der Sicherheitsbehälter („Containment“) direktdurchschlagen oder das Rohrleitungssystem durch die enormenErschütterungen beim Aufprall und nachfolgende Kerosinbrändezerstört. In jedem Fall wäre bei einem Volltreffer eine Kernschmelzeund die großflächige Freisetzung von Radioaktivität sehr wahr-scheinlich. Auch die kraftwerksinternen Zwischenlager, in denenabgebrannte Brennelemente mit einem enormen radioaktivenInventar in Wasserbecken abklingen, gelten als extrem gefährdet.Zwar sind die Meiler der neueren Baureihen in den meisten Län-dern mit einem stabileren Containment ausgestattet. Doch beieinem Volltreffer mit hoher Geschwindigkeit ließe sich nach denErgebnissen der GRS-Studie der Super-GAU mit anschließenderVerseuchung weiter Landstriche auch bei diesen Reaktoren nichtsicher ausschließen.

Mit dem Terrorszenario eines gezielten Angriffs aus der Luft sindandere Befürchtungen, die bereits vor dem 11. September 2001 inter- 22

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national diskutiert wurden, nicht obsolet geworden. Sie haben nureine konkrete und realistischere Grundlage erhalten. Terror-Szena-rien, in denen Atomanlagen von außen mit Waffen oder Sprengstoffangegriffen werden oder sich die Angreifer gewaltsam oder heimlichZugang zum Sicherheitsbereich verschaffen, wurden in einigenIndustriestaaten mit eigener Nuklearindustrie schon früh intensivuntersucht. Jedoch nie im Lichte eines Szenarios, in dem die Angrei-fer den eigenen Tod gezielt in Kauf nehmen. Die erschütterndeMöglichkeit, dass Menschen eine Atomanlage angreifen und dabeifest einplanen, dass sie selbst die ersten Opfer dieses Angriffs seinwerden, macht Dutzende Angriffsabläufe möglich, die bisher nichtin Betracht gezogen wurden.

Aus Sicht extremistischer Selbstmordattentäter ist der Angriff aufeine Nuklearanlage alles andere als irrational. Im Gegenteil: DieExtremisten wissen, dass ein „erfolgreicher“ Angriff nicht nur einunmittelbares Inferno und millionenfaches Leid auslösen würde,sondern voraussichtlich auch die vorsorgliche Schließung zahlrei-cher anderer Atomkraftwerke – und damit in den Industriestaatenein volkswirtschaftliches Beben, das die ökonomischen Erschütte-rungen nach dem 11. September 2001 weit in den Schatten stellenkönnte. So monströs und beispiellos die Angriffe auf das WorldTrade Center und das Pentagon waren, sie verfolgten dennoch vorallem das demonstrativ-symbolische Ziel, die Weltmacht USA insökonomische und politisch-militärische Herz zu treffen und so zudemütigen. Der Angriff auf ein Atomkraftwerk wäre bar solcherSymbolik. Getroffen würde die Stromerzeugung, damit das Nerven-zentrum und die gesamte Infrastruktur eines Industriestaates. Dieradioaktive Verseuchung einer ganzen Region, möglicherweise diedauerhafte Evakuierung hunderttausender, wenn nicht MillionenBetroffener würde die Scheidelinie zwischen Krieg und Terror end-gültig aufheben. Kein anderer Angriff, nicht einmal der auf denÖlhafen von Rotterdam, hätte eine vergleichbare psychologischeWirkung auf die westlichen Industriestaaten. Selbst für den Fall,dass er letztlich sein Ziel, einen Super-GAU auszulösen, verfehlenwürde, wäre das Ergebnis verheerend. Die sich anschließendeDebatte würde die Auseinandersetzung über die Katastrophenrisi-ken der Atomenergie in nie gekannter Weise anheizen und in einerReihe von Industrieländern voraussichtlich zur Schließung vieler,wenn nicht aller Atomkraftwerke führen.

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5 Atomkraftwerke:Nukleare Ziele im konventionellen KriegIm Licht des neuen Terrorismus gewinnt auch die Debatte über die„friedliche Nutzung der Kernenergie“ und die Frage des Krieges anRelevanz. Sie wurde und wird in der Nuclear Community bisherweitgehend tabuisiert. Denn in internationalen Spannungsgebietenwie der koreanischen Halbinsel, in Taiwan, dem Iran, Indien oderPakistan errichtete Meiler haben eine ebenso ungewollte wie fataleKonsequenz: Sind sie einmal in Betrieb, braucht ein potenziellerKriegsgegner keine Atombomben mehr, um das betreffende Landradioaktiv zu verwüsten: Es genügt die Luftwaffe – oder die Artille-rie. Wer angesichts solcher Perspektiven im Zusammenhang mitder Atomenergie den Begriff „Versorgungssicherheit“ bemüht,denkt offensichtlich zu kurz. Es gibt keine andere Technologie, beider ein einziges Ereignis den Zusammenbruch einer ganzen Säuleder Energieversorgung auslösen kann. Eine Volkswirtschaft, die sichauf eine solche Technik verlässt, ist das Gegenteil von versorgungs-sicher. Sie ist im Kriegsfall anfälliger gegen konventionelle Angriffeals eine Volkswirtschaft ohne diese Technik.

„Die weltweite Durchsetzung der Kernenergie“, so der Physikerund Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker im Jahre 1985 zurBegründung seiner Wandlung zum Gegner der Atomenergie, „for-dert als Konsequenz eine weltweite radikale Veränderung der politi-schen Struktur aller heutigen Kulturen. Sie fordert die Überwindungder wenigstens seit dem Beginn der Hochkulturen bestehendenpolitischen Institution des Kriegs.“ 8 Der politisch und kulturell ab-gesicherte Weltfriede, resümierte von Weizsäcker seine Überlegun-gen, sei jedoch nicht in Sicht. In Zeiten „asymmetrischer Gewalt“, indenen hoch ideologisierte Extremisten sich auf einen Krieg gegenmächtige Industriestaaten oder gleich auf den umfassenden „Kriegder Zivilisationen“ vorbereiten, ist der dauerhafte Weltfriede in nochweitere Entfernung gerückt als 1985, als von Weizsäcker seineEinsichten formulierte.

Die Bedrohung von Atomkraftwerken infolge kriegerischer Aus-einandersetzungen ist keine theoretische Überlegung. Im Balkan-Konflikt Anfang der neunziger Jahre drohte der Atomreaktor im slo-wenischen Krsko mehrfach zum Ziel bewaffneter Angriffe zu wer-

248 In: Klaus Michael Meyer-Abich/Bertram Schefold: Die Grenzen der Atom-wirtschaft, München 1986, S.14/16

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den. Zur Demonstration dieser möglichen Eskalationsstufe überflo-gen jugoslawische Bomber den Meiler. Ob Israel 1981 auf den Luft-schlag gegen die Baustelle des irakischen Forschungsreaktors Osirakverzichtet hätte, wenn der 40-Megawatt-Meiler bereits in Betriebgewesen wäre, ist keinesfalls sicher. Der Angriff galt als Präventiv-schlag gegen Saddam Husseins Versuch, als Erster die „islamischeBombe“ zu bauen. Amerikanische Bomber griffen die Reaktorbau-stelle während des Golfkriegs von 1991 erneut an. Im Gegenzugrichtete Saddam Hussein seine Scud-Raketen auf die israelischeAtomzentrale von Dimona. Schließlich kursierten Ende 2005 Mel-dungen über einen geplanten israelischen Luftschlag gegen mut-maßliche, geheime Nuklearanlagen im Iran.

Es sind also eine Reihe von Szenarien plausibel, in denen Kriegs-oder Konfliktparteien auf die Idee verfallen, die Atomanlagen imjeweiligen Feindesland anzugreifen: zum einen als Präventivschlaggegen vermutete und mit Nuklearanlagen in Entwicklungs- undSchwellenländern oft eng verknüpfte Atomwaffenambitionen desKriegsgegners; zum anderen zur Verbreitung des größtmöglichenSchreckens. Fazit bleibt die brutale Erkenntnis, dass ein Land, des-sen tatsächlicher oder potenzieller Kriegsgegner über Atomkraft-werke verfügt, sich den steinigen Pfad zur eigenen Atombombeersparen kann. Ein Angriff auf die Nuklearanlagen des Kontrahen-ten ersetzt die eigene Bombe. Weil ein kommerzielles Atomkraft-werk um Größenordnungen mehr Radioaktivität birgt, als bei derExplosion einer Atombombe frei wird, wäre die langfristige radio-aktive Verseuchung nach einem Angriff auf ein Atomkraftwerksogar ungleich dramatischer als nach einem Bombenabwurf.

6 Siamesische Zwillinge:Zivile und militärische Nutzung der AtomenergieSeit die Idee geboren wurde, die atomaren Kräfte zur kontrolliertenEnergieproduktion zu nutzen, stand auch ihr militärischer Miss-brauch auf der Tagesordnung. Überraschen konnte das niemand.Denn schließlich waren es die Atombombenabwürfe von Hiroshimaund Nagasaki im August 1945 gewesen, die die Entfesselung derAtomkräfte in der ganzen Welt zu einem Menschheitstrauma ge-macht hatten. Als der US-amerikanische Präsident Dwight D. Eisen-hower 1953 sein Programm „Atome für den Frieden“ verkündete,sollte dies ein Startschuss für die „friedliche Nutzung der Kern-energie“ werden. Der Vorstoß war aus Not und Sorge geboren. Denn25

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mit der großzügigen Offenbarung ihres damals noch weitgehendexklusiven und geheimen Know-hows über die Kernspaltung wolltendie USA verhindern, dass immer mehr Staaten eigene Atomwaffen-programme auflegten.

Der Deal, den der Präsident der mit der Bombe endgültig zurSupermacht aufgestiegenen USA der Welt anbot, war denkbar ein-fach. Alle interessierten Länder sollten von der friedlichen Nutzungder Atomenergie profitieren können, sofern sie im Gegenzug aufeigene Kernwaffenambitionen verzichteten. So sollte eine Entwick-lung gestoppt werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg binnenweniger Jahre neben den USA die Sowjetunion, Großbritannien,Frankreich und China zu Atomwaffenstaaten gemacht hatte. AndereLänder, darunter selbst solche, die damals wie heute als ausgespro-chen friedliebend gelten – wie etwa Schweden oder die Schweiz –arbeiteten mehr oder weniger intensiv und heimlich an der Ent-wicklung der ultimativen Waffe. Auch die Bundesrepublik Deutsch-land – nach dem 2. Weltkrieg bis 1955 quasi kein souveräner Staat –entwickelte in der Ära des Atomministers Franz-Josef Strauß ent-sprechende Ambitionen.

Der Sperrvertrag, der schließlich 1970 in Kraft trat, war wie dieInternationale Atomenergieagentur IAEA in Wien ein Resultat derEisenhower-Initiative. Aufgabe der Wiener Atombehörde, die schon1957 gegründet wurde, war es einerseits, die Kerntechnik zur Strom-erzeugung zu fördern und über die Welt zu verbreiten, und ande-rerseits, die Entwicklung der Atombombe in immer mehr Staaten zuverhindern. Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung ist dieBilanz der IAEA ebenso zwiespältig wie ihr ursprünglicher Auftrag.Sie hat mit der Überwachung ziviler Atomanlagen und der in ihneneingesetzten Spaltstoffe die Weiterverbreitung der Bombe deutlichgehemmt. Dafür erhielt die Wiener Agentur 2005 gemeinsam mitihrem Chef Mohamed ElBaradei den Friedensnobelpreis. Verhin-dert allerdings hat sie die Ausbreitung der Bombe nicht. Schon biszum Ende des Kalten Krieges waren mit Israel, Indien und Südafrikadrei Atomwaffenstaaten zu den fünf „offiziellen“ hinzugekommen.Südafrika hat seine Nuklearsprengsätze mit der Abkehr vom Apart-heidsystem Anfang der neunziger Jahre vernichtet. Nach dem Golf-krieg von 1991 entdeckten die Inspektoren in Saddam Husseins Irak,selbst Mitglied des Sperrvertrags, ein geheimes Atomwaffenpro-gramm, dass trotz akribischer Überwachung durch die IAEA weitfortgeschritten war. Im Jahr 1998 schockten Indien und Pakistan, 26

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die wie Israel stets die Mitgliedschaft im Vertrag verweigert hatten,die Welt mit Nuklearwaffentests. 2003 verließ das kommunistischeNordkorea den Sperrvertrag und erklärte sich selbst zum Atom-waffenstaat.

Gerade diese letzte Erfahrung könnte nach Überzeugung vielerFachleute die Bombenambitionen anderer autoritärer Regime in derZukunft zusätzlich befeuern. Denn während vom Irak im Vorfeldder US-amerikanischen Invasion im Jahr 2003 angenommen wurde,er strebe Atomwaffen zwar an, verfüge aber noch nicht über sie,bekannten die nordkoreanischen Kommunisten, sie seien bereitsam Ziel. Und während Saddam Hussein unter den konventionellenBomben und Cruise Missiles der Supermacht stürzte, blieb diesesSchicksal dem nicht minder autoritären Diktator Kim Jong-il erspart.Dass dabei nicht nur die Bindung des US-Militärs am Kriegsschau-platz Irak und in Afghanistan eine Rolle spielte, sondern auch dieBefürchtung, Nordkorea könnte nach einem Angriff mit konventio-nellen Waffen noch zu einem atomaren Gegenschlag in der Lagesein, scheint plausibel. Schon die nachträgliche Annahme, dass es sogewesen sein könnte, kann Ansporn für andere, den USA feindlichgesonnene Länder sein, ebenfalls dem Weg Nordkoreas zu folgen.Das aktuelle Beispiel für derlei Ambitionen ist der Iran, wenngleichdie dortigen Machthaber stets schwören, alle Atomanlagen im Landedienten allein der zivilen Nutzung der Atomenergie.

All diesen Entwicklungen liegt ein fundamentales Problem derAtomtechnologie zugrunde: Ihre zivile und militärische Ausprägunglässt sich selbst bei bestem Willen und unter Einsatz modernsterÜberwachungstechniken nicht fein säuberlich voneinander trennen.Insbesondere der Brenn- beziehungsweise Spaltstoffkreislauf ver-läuft in der friedlichen und unfriedlichen Variante weitgehend paral-lel. Technologien und Know-how lassen sich vielfach zivil wie mili-tärisch nutzen („dual use“) – mit einer fatalen Konsequenz: JedesLand, das die von der IAEA oder der Europäischen Atomgemein-schaft (Euratom) geförderte zivile Kerntechnik beherrscht, kann sichüber kurz oder lang in die Lage versetzen, die Bombe zu bauen.Immer wieder im Verlauf der vergangenen 50 Jahre installiertenambitionierte und skrupellose Machthaber neben den zivilen Atom-programmen klandestine militärische Seitenpfade. Aber auch ohnegeheime Sonderprogramme sind die wichtigsten Stationen der zivi-len Nuklearkette massiv anfällig für den militärischen Missbrauch:

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– Anlagen zur Anreicherung des spaltbaren Uranisotops U-235 wer-den zur Brennstoffproduktion für die weltweit dominierendenLeichtwasserreaktoren eingesetzt. Die Fortführung des Prozesseshin zu einer höheren Aufkonzentration des Spaltstoffs Uran-235(Highly Enriched Uranium, HEU) ergibt Spaltstoffe für For-schungsreaktoren – oder für Atombomben vom Hiroshima-Typ.

– Forschungsreaktoren und kommerzielle Meiler zur Stromerzeu-gung können den ihnen offiziell zugedachten Zwecken dienen –oder der gezielten Produktion von waffentauglichem Plutonium(Pu-239) für Atombomben vom Nagasaki-Typ. Das gilt in nochstärkerem Maß für Schnelle Brutreaktoren.

– In Wiederaufbereitungsanlagen (WAA) wird vor allem der Reak-torbrennstoff Plutonium von anderen Radioisotopen, die zuvorbei der Kernspaltung in Reaktoren entstanden sind, separiert –oder gezielt das als Sprengstoff in Atombomben geeignete Pluto-niumisotop Pu-239 abgetrennt.

– WAA-Technologien ermöglichen darüber hinaus in abgeschirm-ten „heißen Zellen“ die Ver- und Bearbeitung radioaktiver Spalt-stoffe im Rahmen des zivilen Brennstoffkreislaufes – oder dieVer- und Bearbeitung von Atombomben-Komponenten.

– Zwischenlager für Plutonium, Uran oder andere Spaltstoffe die-nen entweder als Brennstoffdepot für Atomkraftwerke – oder alsSprengstofflager für die Atombombenproduktion.

Die Umwandlung ziviler in militärische Komponenten des Brenn-stoffkreislaufes kann sich – vom jeweiligen Staat sanktioniert – übergeheime militärische Parallelprogramme vollziehen. Oder sie kannüber die heimliche Abzweigung ziviler Spaltstoffe unter Umgehungnationaler wie internationaler Kontrollen erfolgen. Befürchtet wer-den muss auch der Diebstahl solcher Stoffe, militärisch relevanterTechnologien oder des entsprechenden Know-hows.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wuchs zunächst die Hoff-nung, das gemeinsame Interesse der Atomwaffenstaaten, die Wei-terverbreitung von sensiblen Stoffen und nuklearer Technologie ein-zudämmen, werde die Risiken der unkontrollierten Verbreitungmilitärischer Atomtechnologie stoppen. Gleichzeitig drohten jedoch„Lecks“ in zuvor streng abgeschirmten, zivilen wie militärischenAtomarsenalen, vorrangig in der zerfallenden Sowjetunion. Ange-trieben von dubiosen Geschäftemachern und kriminellen Bandenentstand ein regelrechter Schwarzmarkt für „Nuklearia“ aller Art. 28

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Zwar waren die meisten Strahlenstoffe, die vor allem Anfang derneunziger Jahre zu horrenden Preisen in zumeist kriminellen Zir-keln kursierten oder angeboten wurden, für den Bombenbau gänz-lich ungeeignet. Doch beruhigend wirkte die Tatsache nicht, dassplötzlich radioaktives Material aus zuvor hermetisch abgeschlosse-nen Lagern sickerte.

Unbestritten ist, dass mit jeder Ausweitung der zivilen Atom-technik über die 31 Länder hinaus, die sie derzeit kommerziell ein-setzen, der Aufwand zur Eindämmung der militärischen Weiterver-breitung zunimmt. Eine neue, dem Boom der siebziger Jahre ver-gleichbare Atomenergiekonjunktur, an deren Ende 50, 60 oder mehrStaaten Zugang zu den Spalttechnologien hätten, würde die in derVergangenheit bereits überforderte und chronisch unterfinanzierteIAEA vor unlösbare Überwachungsprobleme stellen. Dazu kommtdie neuartige Gefahr eines Terrorismus, der im Ernstfall wohl auchvor der Zündung einer „schmutzigen Bombe“ nicht zurückschrek-ken würde. Die Detonation eines mit radioaktivem Material zivilerHerkunft versetzten konventionellen Sprengsatzes würde nicht nurakut viele Opfer fordern und Angst und Unsicherheit in potenziellenZielländern der Terroristen immens steigern, sondern darüber hin-aus den Ort der Explosion unbewohnbar machen.

7 Der offene Kreislauf:Lecks am Anfang und am EndeDer Begriff des atomaren „Brennstoffkreislaufs“ gehört zu jenenerstaunlichen Wortschöpfungen, die sich über Jahrzehnte umfas-send durchgesetzt haben, obwohl sie, wörtlich genommen, andau-ernd von der Realität widerlegt werden. Der Mythos vom nuklearenKreislauf rührte vom frühen Traum der Atomtechniker her, mankönne nach dem Start mit kommerziellen Uran-Meilern das inihnen erzeugte spaltbare Plutonium in Wiederaufbereitungsanlagenabtrennen und dann in Schnellen Brutreaktoren – einem Perpe-tuum Mobile gleich – aus nicht-spaltbarem Uran (U-238) immeraufs Neue Plutonium (Pu-239) für weitere Brüterkraftwerke erzeu-gen. Ein gigantischer industrieller Kreislauf sollte so entstehen mitweltweit tausend und mehr Schnellen Brutreaktoren und DutzendenWiederaufbereitungsanlagen, wie sie bis heute im zivilen, großin-dustriellen Maßstab nur im französischen La Hague und im briti-schen Sellafield existieren. Allein in Deutschland erwarteten dieAtomstrategen Mitte der sechziger Jahre für die Jahrtausendwende29

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ein Brüter-Arsenal mit einer Gesamtkapazität von 80.000 MegawattKraftwerksleistung. Doch der Plutoniumpfad der Kerntechnik, dender Energiewissenschaftler Klaus Traube, zunächst selbst Leiter desdeutschen Brüterprojekts im niederrheinischen Kalkar, später die„Erlösungsutopie der 50er Jahre“9 nannte, wurde zum vielleichtgrößten Fiasko der Wirtschaftsgeschichte. Überteuert, technologischunausgereift, sicherheitstechnisch noch umstrittener als konventio-nelle Atomkraftwerke, besonders anfällig für die militärischeZweckentfremdung setzte sich die Brüter-Technologie bis heute nir-gendwo auf der Welt durch. Einzig Russland und Frankreich betrei-ben noch je einen Brutreaktor aus den Frühzeiten der Entwicklung.Japan (dessen Demonstrations-Brüter in Monju seit einem schwerenNatriumbrand im Jahr 1995 stillsteht) und Indien verfolgen die Linieoffiziell weiter.

Ohne Aussicht auf den Brüterpfad ist das historische Hauptmotivzur Plutoniumabtrennung in Wiederaufbereitungsanlagen (WAA)eigentlich hinfällig geworden. Dennoch betreiben neben Frankreichund Großbritannien auch Russland, Japan und Indien kleinere WAAzum nachträglich erklärten Zweck, das dort erzeugte Plutonium inGestalt so genannter Mischoxid (MOX)-Brennelemente erneut inkonventionellen Leichtwasserreaktoren einsetzen zu wollen. DieWiederaufbereitungsanlagen produzieren, wenn sie nicht wegentechnischer Probleme stillstehen, neben Plutonium und Uran vorallem horrende Kosten; darüber hinaus hochradioaktiven Atommüll,der endgelagert werden muss, und eine Strahlenbelastung der Um-gebung, die die eines Leichtwasserreaktors mehrere zehntausendMal übertrifft. Die Wiederaufbereitung erfordert außerdem einegroße Anzahl prekärer Transporte hochradioaktiver, zum Teil auchfür die militärische oder terroristische Zweckentfremdung anfälligerMaterialien. Sie erhöht so auch massiv die Zahl möglicher Angriffs-ziele für Terroristen.

Weil stets nur ein vergleichsweise geringer Anteil des auf derWelt in kommerziellen Kraftwerken erzeugten hochradioaktivenAtommülls wiederaufgearbeitet wird und abgebrannte MOX-Brenn-elemente in aller Regel nicht noch einmal recycelt werden, ist vomatomaren Brennstoffkreislauf nur der Name geblieben. In der realenWelt ist dieser Kreis offen. Atomkraftwerke erzeugen neben Stromvor allem hoch-, mittel- und schwachradioaktive Abfälle, die darüber

309 Klaus Traube: Plutonium-Wirtschaft? Hamburg 1984, S. 12

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hinaus häufig hoch giftig sind. Sie müssen für ungeheure Zeit-räume sicher endgelagert werden. Wie lange, bestimmt sich nachden naturgegebenen, so genannten Halbwertszeiten der Radio-nuklide, die extrem unterschiedlich ausfallen. Das Plutonium-IsotopPu-239 verliert seine halbe Radioaktivität nach 24.110 Jahren, dasKobalt-Isotop Co-60 nach 5,3 Tagen.

Ein halbes Jahrhundert nach dem Start der nuklearen Stromerzeu-gung gibt es auf der Welt kein einziges genehmigtes und betriebs-bereites Endlager für hoch radioaktive Abfälle – ein Umstand, derdas Bild vom atomaren Flugzeug populär machte, das gestartet ist,ohne dass sich irgendjemand Gedanken über die Landebahn ge-macht hätte. Vergleichsweise kurzlebige und mittel- oder schwach-radioaktive Abfälle werden in einer Reihe von Ländern – zum Bei-spiel in Frankreich, den USA, Japan oder Südafrika – oberflächen-nah in speziellen Behältern gelagert. Deutschland hat die ehemaligeEisenerzgrube Schacht Konrad im niedersächsischen Salzgitter füreine Tiefenlagerung nicht Wärme entwickelnder Abfälle aus Atom-kraftwerken, aber auch aus Forschungsreaktoren und dem medizi-nischen Einsatz der Kerntechnik vorbereitet. Die Einlagerung vonAtommüll in der früheren Erzgrube ist weiter Gegenstand gericht-licher Auseinandersetzungen.

Wie unbekümmert das Atommüllproblem anfangs angegangenwurde, belegt eine Äußerung des bereits einmal zitierten Carl Fried-rich von Weizsäcker aus dem Jahr 1969. Damals erklärte der Physi-ker und Philosoph zur Beseitigung atomarer Abfälle: „Das ist über-haupt kein Problem … Ich habe mir sagen lassen, dass der gesamteAtommüll, der in der Bundesrepublik im Jahr 2000 vorhanden seinwird, in einen Kasten hineinginge, der ein Kubus von 20 MeternSeitenlänge ist. Wenn man das gut versiegelt und verschließt und inein Bergwerk steckt, dann wird man hoffen können, dass man damitdieses Problem gelöst hat.“10 Inzwischen sind damals diskutierte,exotische Vorschläge wie die Endlagerung im Weltall, in der Tiefseeoder im antarktischen Eis aus der öffentlichen Debatte verschwun-den. In der wissenschaftlichen Diskussion herrscht darüber hinausweitgehende Einigkeit, dass die Einlagerung in tiefen geologischenFormationen und dafür eigens eingerichteten Bergwerken am ehe-

3110 Zitiert nach B. Fischer, L. Hahn u.a.: Der Atommüll-Report, Hamburg1989, S. 77

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sten geeignet ist, das Endlagerproblem zu bewältigen. Ob Granit,Salz, Ton oder andere Wirtsgesteine am besten für die Langzeitauf-bewahrung hochradioaktiver und Wärme entwickelnder Abfällegeeignet sind, mögen die Experten allerdings nicht entscheiden. Inallen Fällen, erklären sie übereinstimmend, gebe es Vor- undNachteile.

Die Frage, ob radioaktiver Müll überhaupt für hunderttausendeoder gar Millionen von Jahren sicher von der Biosphäre ferngehaltenwerden kann, ist letztlich eine philosophische. Sie sprengt dasmenschliche Vorstellungsvermögen. Die Zeit der Pyramiden liegtgerade 5000 Jahre zurück. Dennoch ist klar: Weil der Atommüll exi-stiert und es absolute Gewissheit in dieser Frage nicht geben kann,muss die nach heutigem Wissen beste technische Möglichkeitgesucht und gefunden werden. Ausweichreaktionen jedenfalls hel-fen nicht weiter. Eine solche ist zweifellos die so genannte Trans-mutation. Ihre Verfechter schlagen vor, die gefährlichsten und lang-lebigsten Abfallstoffe der Nukleartechnik in eigens zu diesem Zweckerrichteten Reaktoren zu spalten und auf diesem Wege in solcheRadioisotope umzuwandeln, die nur noch einige Jahrhunderte strah-len. Schon seit Jahrzehnten wird diese Möglichkeit von einer wis-senschaftlichen Minderheit ins Spiel gebracht. Doch selbst ihreAnhänger glauben vermutlich nicht wirklich an eine entscheidendeVerminderung der gefährlichsten Hinterlassenschaft der Atom-technik.

Für die Transmutationstechnik müssten zunächst neuartigeWiederaufbereitungsanlagen errichtet werden, in denen der hochra-dioaktive Isotopencocktail aus den Atomkraftwerken in einem kom-plexen chemischen Prozess erheblich ausdifferenzierter in einzelneElemente zerlegt werden müsste als in bestehenden Anlagen. DiePlutoniumfabriken von La Hague und Sellafield erschienen dagegeneher wie simple Chemielabors. Außerdem müsste ein Arsenal vonReaktoren entwickelt werden, in denen die abgetrennten Isotopeselektiv mit so genannten Schnellen Neutronen bombardiert, gespal-ten und in weniger gefährliche Radionuklide umgewandelt würden.Selbst wenn die technische Realisierung derartiger Anlagen gelänge:Niemand könnte und wollte eine solche atomare Infrastrukturbezahlen. Ebenso unbestreitbar wäre dieser Entsorgungspfad mitweit größeren Risiken verbunden als die heute in vielen Ländern derWelt verfolgte direkte Endlagerung in sorgsam gewählten Tiefen-lagern. Dass die Idee der Transmutation trotzdem vor allem in 32

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Frankreich und Japan überlebt, hängt denn auch mehr mit den nochnicht endgültig ausgeträumten Brüter-Visionen eines Teils derNuclear Communities dieser Länder zusammen als mit einer ernst-haften Realisierungsperspektive.

Erst allmählich und zögerlich setzt sich in den größten Atom-energieländern die Erkenntnis durch, dass die Auswahl eines End-lagerstandorts nicht nur ein technisch-wissenschaftliches Problemdarstellt. Keines der nationalen Standort-Auswahlverfahren, die zu-meist in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gestar-tet wurden, hat bisher zu einem genehmigten Endlager geführt. DerGrund: Viel zu lange wurden gesellschaftliche Widerstände, demo-kratische Partizipation und Transparenz bei der Standortwahl miss-achtet oder verweigert. Der Versuch, aus diesen Fehlern zu lernen,führte in Deutschland zur Entwicklung und Formulierung einesmehrstufigen Auswahlverfahrens mit kontinuierlicher Beteiligungder Öffentlichkeit. Ob das Konzept, auf das sich Wissenschaftler ausdem Lager der Atomenergie-Befürworter und dem der Gegner nachJahren intensiver Debatten im Jahr 2002 verständigten, eine Reali-sierungschance erhält, ist derzeit unsicher. Die im Herbst 2005 insAmt gewählte deutsche Bundesregierung aus CDU/CSU und SPDhat die Frage, ob neben dem bereits seit den achtziger Jahren vorbe-reiteten Endlager im Salzstock von Gorleben alternative Standorteernsthaft untersucht werden sollen, zunächst verschoben.

Relativ weit fortgeschritten sind derzeit die Endlagerpläne inFinnland und den USA. Allerdings wird über das gigantische End-lager von Yucca Mountain in Nevada bereits seit Jahrzehnten gestrit-ten. Das im finnischen Olkiluoto weitgehend fertiggestellte Endlagerprofitiert von der vergleichsweise hohen Akzeptanz der örtlichenund regionalen Bevölkerung. Das seit vielen Jahren am selbenStandort ohne größere Zwischenfälle betriebene Atomkraftwerk undein bereits arbeitendes Endlager für schwach- und mittelradioaktiveAbfälle haben die Mehrheit der Anwohner beruhigt.

Der angebliche Brennstoffkreislauf ist jedoch nicht nur an sei-nem hinteren Ende offen. Er erwies sich von Anbeginn an auch anseinem Startpunkt als hoch problematisch. Der Uranbergbau zurGewinnung des Spaltstoffs für die Bombe und später die zivileNutzung in Atomkraftwerken forderte vor allem anfangs immenseOpfer. Große Mengen radioaktiver Nuklide, die zuvor abgeschirmtunter der Erdoberfläche gebunden waren, gelangten in die Bio-sphäre. Bei einer Fortsetzung oder gar erheblichen Ausweitung des33

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Atomenergieeinsatzes werden die gesundheitlichen und ökologi-schen Folgekosten des Uranbergbaus voraussichtlich wieder erheb-lich zunehmen.

Die Jagd nach dem insgesamt nicht außergewöhnlich seltenen,aber nur in wenigen Lagerstätten in abbauwürdiger Konzentrationverfügbaren Schwermetall begann bald nach dem 2. Weltkrieg. Dieverheerende Wirkung der US-amerikanischen Atombombenabwür-fe über Japan hatte die Ambitionen der Siegermächte, sich den Zu-griff auf die strategische Ressource zu sichern, nicht etwa gebremst,sondern zusätzlich angeheizt. Gewaltige Anstrengungen wurdenunternommen, um den Zugang zu den Uranressourcen zu erwei-tern und abzusichern. Rücksichten auf die gesundheitlichen Folgenfür die Minenarbeiter oder gar die Umwelt spielten unter den dama-ligen Bedingungen nur eine untergeordnete Rolle. Die USA beute-ten Minen im Inland und im benachbarten Kanada aus, die Sowjet-union entwickelte den Uranbergbau in der DDR, der Tschechoslowa-kei, in Ungarn und Bulgarien. Tausende Bergarbeiter starben nachlangjähriger Schwerstarbeit in schlecht belüfteten, staubigen undmit hohen Konzentrationen des radioaktiven Gases Radon belaste-ten Stollen qualvoll an Lungenkrebs. Betroffen waren insbesondereKumpel der ostdeutschen „Wismut“, wo zeitweise über 100.000Menschen beschäftigt waren. Weil sich die Urankonzentrationen inden Minen meist nur im Bereich von wenigen Zehntel-Prozentbewegten, fielen große Mengen Abraum an. Die aufgeschlossenenUranerze enthielten vergleichsweise hohe Konzentrationen desradioaktiven Gases Radon und anderer strahlender Nuklide, diebeim Abbau freigesetzt wurden. Die Folge: Schwere radiologischeDauerbelastungen nicht nur der Bergleute selbst, sondern auch derUmgebung und der dort lebenden Menschen. Chemische Uran-Extraktionsverfahren mit flüssigen Reagenzien, die die Umgebung,die Oberflächengewässer und das Grundwasser belasteten, ver-schärften die Probleme.

Die Situation verbesserte sich zunächst mit dem in den siebzigerJahren einsetzenden Boom der nuklearen Stromproduktion. Regie-rungen waren fortan nicht mehr die einzigen Abnehmer des Spalt-stoffs. Ein privater Uran-Markt konnte sich entwickeln, so dass diemilitärisch-strategische Sonderstellung des Uranbergbaus nichtmehr als Grund für besonders harsche Abbaubedingungen vorge-schoben werden konnte. Mit dem Ende des Kalten Krieges ändertensich die Verhältnisse noch einmal grundlegend. Die militärische 34

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Nachfrage nach Uran brach massiv ein. Nicht mehr benötigte Lager-bestände der USA und aus der früheren Sowjetunion wurden in denzivilen Spaltstoffmarkt eingespeist. Außerdem standen wegen derErfolge bei der atomaren Abrüstung bald große Mengen an Bom-benuran mit hohem Spaltstoffanteil aus eingemotteten sowjetischenund amerikanischen Atomwaffen zur Verfügung. Die Folge war undist das vielleicht umfassendste, jemals umgesetzte Konversions-programm von Kriegswaffen in den zivilen Wirtschaftskreislauf. Derbrisante Bombenstoff wird in großem Stil mit natürlichem oder demso genannten abgereicherten Uran (Uran-238 aus dem das spaltbareIsotop Uran-235 zuvor extrahiert worden war) „verdünnt“ und an-schließend als Brennstoff in konventionellen Atomkraftwerken ein-gesetzt. Infolge dieser völlig neuen Situation am Uranmarkt brachder Weltmarktpreis für Reaktoruran massiv ein. Nur noch Lager-stätten mit vergleichsweise hohen Urankonzentrationen überlebten.Bis ins Jahr 2005 hinein stammte fast die Hälfte des weltweit inAtomkraftwerken gespaltenen Urans nicht mehr aus angereicher-tem, „frischem“ Uranerz, sondern aus der kriegerischen Hinter-lassenschaft der Supermächte.

Andererseits ist absehbar, dass die militärischen Uranbeständeaus der Zeit des Kalten Krieges in wenigen Jahren aufgebraucht seinwerden. Ein erneuter kräftiger Anstieg der Uranpreise hat bereitseingesetzt und wird sich noch verstärken. Neben der Wiedereröff-nung eingemotteter Bergwerke müssten bei einem Weiterbetriebder Atomkraftwerke auf heutigem Niveau oder gar einem Ausbaudes globalen Reaktorarsenals neue, immer weniger ertragreicheLagerstätten aufgeschlossen werden, die tendenziell immer wenigerUran und immer mehr prekären Abraum mit einem überdurch-schnittlichen Gehalt an radioaktiven Isotopen produzieren – ein Pro-blem für die Gesundheit der Menschen und die Umwelt in denbetroffenen Regionen. Außerdem benötigt die Industrie für eineAusweitung ihrer Uran-Förderkapazitäten Zeit, die sie im Falle einesraschen Ausbaus der weltweiten Atomenergiekapazität nicht hätte.Weil die Explorationsanstrengungen – ähnlich wie in Zeiten billigenÖls – auch beim Uran in Folge des militärischen Überschuss-Ange-bots massiv heruntergefahren wurden, existieren heute nur relativwenige bekannte Lagerstätten. Außerdem vergehen zwischen demAuffinden eines Uranlagers und dem Beginn der Förderung imDurchschnitt noch einmal mindestens zehn Jahre. Der bevorstehen-de Engpass in der Uranversorgung verschärft sich aufgrund eines35

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massiven Ungleichgewichts zwischen Förder- und Verbraucherlän-dern. Weltweit sind Kanada und Südafrika die beiden einzigen Staa-ten, die die Atomenergie zur Stromproduktion einsetzen und nichtauf Uran-Importe angewiesen sind. Die wichtigsten Atomkraft-Nationen verfügen entweder über so gut wie gar keine eigene Uran-förderung (Frankreich, Japan, Deutschland, Südkorea, Großbritan-nien, Schweden, Spanien) oder über erheblich weniger Kapazitätenals sie für den dauerhaften Betrieb ihrer Reaktoren benötigen (USA,Russland). Atomkraft ist, bezogen auf die Brennstoffversorgung, fastnirgends auf der Welt eine heimische Energiequelle. InsbesondereRussland läuft Gefahr, schon in 15 Jahren in eine ernste Uran-Ver-sorgungskrise zu rutschen. Ein Umstand, der auf die AKW-Betreiberin der EU ausstrahlen könnte, die derzeit rund ein Drittel ihresBrennstoffs von dort beziehen. Neben Russland könnten auch Chinaund Indien in einen Versorgungsengpass laufen, wenn beide ihrReaktorarsenal wie angekündigt ausbauen.

Nach all dem ist klar: Weder die Ver- noch die Entsorgung der aufder Welt betriebenen Atomkraftwerke kann als dauerhaft gesichertgelten. Der in einigen Ländern diskutierte und von manchen Regie-rungen betriebene Zubau neuer Reaktoren würde die Probleme ver-schärfen. Weil die Uranvorräte knapp und zu großen Teilen nur mitunverhältnismäßig hohem Aufwand abzubauen sind, muss einerdezidierten Ausbaustrategie sehr bald der endgültige Einstieg in diePlutoniumwirtschaft folgen – mit flächendeckender Wiederaufberei-tung und dem Schnellen Brüter als Standardreaktor. Ein solcher Ent-wicklungspfad würde die Probleme der Gegenwart potenzieren. Erwürde schließlich die Menge der dauerhaft zu lagernden hochradio-aktiven Abfälle vervielfachen. Die Endlagersuche müsste auf mehrStandorte mit einem insgesamt entsprechend größeren Einlage-rungsvolumen ausgedehnt werden.

8 Nuklearer Klimaschutz:Ratschläge vom MilchmädchenEntscheidend für die in einigen Industriestaaten neu entflammteAuseinandersetzung um die zukünftige Rolle der Atomenergie istihr Potenzial zur Reduzierung der globalen Treibhausgase. DiesesPotenzial ist es, das die Verfechter der Nukleartechnik nach Jahr-zehnten der Stagnation auf eine „Renaissance der Kernenergie“ hof-fen und drängen lässt. Atomkraftwerke erzeugen bei ihrem Betriebnur wenig Kohlendioxid (CO2). Den Anhängern der Atomenergie 36

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gelten sie deshalb als unverzichtbarer Baustein zur Eindämmungder globalen Klimaerwärmung. Oder umgekehrt: Der Treibhaus-effekt befeuert die Hoffnung, die seit Jahrzehnten andauerndeFlaute bei der Atomenergie erst zu stoppen und schließlich umzu-kehren. „Eine Energie-Agenda, die über den Tag hinaus trägt“, sin-niert etwa Wulf Bernotat, der Vorstandsvorsitzende des DüsseldorferKonzerns E.ON Ruhrgas, „muss sich mit dem Zielkonflikt zwischenAtomausstieg und drastischer Reduzierung des CO2-Ausstoßesbefassen.“ 11 Beides gleichzeitig gehe nicht. Das ist pure Illusion.Aber wie viele andere Protagonisten der traditionellen Energiewirt-schaft arbeitet der Chef des größten privaten Energiekonzerns derWelt damit am wichtigsten Argument zur Fortführung der nuklea-ren Stromerzeugung. Es lautet: Klimaschutz ist ohne den Einsatzder Atomenergie zum Scheitern verurteilt. Wer die Renaissance dernuklearen Stromerzeugung aus guten anderen Gründen nicht will,muss auch die Frage beantworten, ob der genannte Zielkonflikt inder von den Atomenergie-Anhängern beschworenen Zuspitzungexistiert.

An der Realität des Klimaeffekts sind Zweifel nach Überzeugungder überwältigenden Mehrheit der Experten nicht mehr erlaubt. Zuseiner Eindämmung auf ein für die Menschheit und die globalenÖkosysteme erträgliches Maß – keine globale Temperaturerhöhungum mehr als zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit– sind in den kommenden Jahrzehnten fundamentale Einschrän-kungen der CO2-Emissionen unausweichlich. In den Industriestaa-ten schlagen die Klimaexperten Reduktionen von 80 Prozent bis zurMitte des 21. Jahrhunderts vor. In den sich entwickelnden Schwel-lenländern muss wenigstens der massive Anstieg begrenzt werden.Die bevölkerungsreichen Länder des Südens dürfen bei ihrem be-rechtigten Streben nach Wohlstand den energieintensiven, auf derBereitstellung fossiler Energie basierenden Entwicklungspfad deralten Industriestaaten des Nordens nicht einfach kopieren. Zu beant-worten ist demnach die Frage: Ist das Potenzial der Atomenergie zurEindämmung der globalen Klimagasemissionen so groß und soalternativlos, dass die unbestrittenen Großrisiken dieser Technikdafür in Kauf zu nehmen sind?

37 11 Berliner Zeitung, 3. Dezember 2005

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Die Situation wird kompliziert durch die Tatsache, dass der glo-bale Klimaeffekt und die Möglichkeit schwerster Unfälle in Atom-anlagen zwar Großrisiken unterschiedlicher Art darstellen, ihre Rea-lisierung aber jeweils beispiellose und andauernde Verheerungenzur Folge hätte. Während sich die Klimaerwärmung ohne ein mas-sives Gegensteuern in den vor uns liegenden Jahrzehnten mit hoherSicherheit beschleunigt und weltweit unterschiedliche, weit über-wiegend aber dramatische Veränderungen zum Schlechterenbewirkt, unterliegt der große kerntechnische Unfall schwer fass-baren Wahrscheinlichkeiten. Wenn er eintritt, hat auch er verhee-rende, lang anhaltende und für das betroffene Land allein kaum zubewältigende Konsequenzen. Zu rechnen ist auch mit massivenRückwirkungen auf die Weltwirtschaft. Das hat schon das Desastervon Tschernobyl bewiesen, dass sich eher an der Peripherie der öko-nomischen Kernzonen ereignete.

Nach den Statistiken der Wiener Atombehörde IAEA waren Ende2005 weltweit 443 Atomreaktoren mit einer elektrischen Leistungvon knapp 370.000 Megawatt elektrischer Leistung in Betrieb. Dochder Ausbau, vor allem in den westlichen Industriestaaten, stagniertzum Teil schon seit Jahrzehnten. Die OECD geht davon aus, dasssich daran bis 2030 wenig ändert. Sie rechnet mit einem durch-schnittlichen Zuwachs der globalen Kapazität von 600 Megawatt proJahr. Für diesen marginalen Ausbau müssten, weil gleichzeitig alteMeiler stillgelegt werden, jährlich rund 4.000 bis 5.000 Megawattzugebaut werden, also drei bis vier große Kraftwerke. Weil nach denPrognosen der Internationalen Energie-Agentur IEA (einer OECD-Organisation) der Weltstrombedarf im selben Zeitraum weiter kräf-tig ansteigt, schrumpft der Anteil der Atomenergie sogar von etwa 17Prozent im Jahr 2002 auf nur noch 9 Prozent im Jahr 2030. DasFachblatt Nuclear Engineering International machte im Juni 2005noch eine andere Rechnung auf: Weil zu diesem Zeitpunkt bereits79 Reaktoren seit mehr als 30 Jahren am Netz waren, werde es„praktisch unmöglich sein, die Zahl der Atomkraftwerke in dennächsten 20 Jahren konstant zu halten“ 12. Allein um den Status quozu stabilisieren, müssten demnach wegen anstehender Stillegungenin den kommenden zehn Jahren 80 neue Reaktoren geplant, gebautund in Betrieb genommen werden – alle sechs Wochen einer. Imdann nachfolgenden Jahrzehnt müssten sogar 200 Meiler ans Netz

3812 Nuclear Engineering International, Juni 2005

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gehen – alle 18 Tage einer. Atomkraft als Mittel gegen den Klima-kollaps wird so kurz- und mittelfristig zur reinen Illusion.

Dennoch wurden in einigen Langzeitstudien Szenarien entwik-kelt, in denen das Reduktionspotenzial der Atomenergie unter denBedingungen ehrgeiziger globaler Klimaschutzziele untersuchtwird. Eine Verzehnfachung der Atomstromerzeugung bis 2075würde beispielsweise bedeuten, dass bis zur Mitte des Jahrhundertsjedes Jahr 35 neue Großmeiler ans Netz gebracht werden. Eine imVergleich dazu fast schon moderate Ausbaustrategie auf 1,06 Millio-nen Megawatt (1060 Gigawatt) elektrischer Leistung bis 2050 ent-spräche einer Verdreifachung der Atomkraftwerksleistung gegen-über dem Status quo. Im Vergleich zum normalen Ausbau der glo-balen Stromerzeugung mit Kohle- und Gaskraftwerken könnten soim Jahr 2050 rund fünf Milliarden Tonnen CO2 eingespart werden.Gemeinsam ist solchen Überlegungen, dass sie mit der nuklearenRealität und den Erfahrungen der Vergangenheit rein gar nichts zutun haben.

25 bis 40 Milliarden Tonnen CO2 müsste die Welt im Jahr 2050einsparen, wenn man die Prognosen der IEA und die Forderungender Klimaforscher des Intergovernmental Panel on Climate Change(IPCC) den Schätzungen zugrunde legt. Würden ab sofort tatsäch-lich weltweit alle verfügbaren Mittel in den Ausbau der Atomenergiegelenkt, um zum Beispiel das oben erwähnte Szenario einer Verdrei-fachung der Atomstromproduktion bis 2050 zu realisieren, könnteElektrizität aus der Kernspaltung zur Mitte des Jahrhunderts immer-hin mit 12,5 bis 20 Prozent zur Klimaentlastung beitragen. Das wärenicht marginal, würde aber andererseits auch nicht ausreichen, umandere Optionen zur Eindämmung des Klimaeffekts überflüssig zumachen. Ein solcher Erfolg wäre nicht nur ökonomisch teuererkauft. So würden außerdem

– neue technische Katastrophenherde in großer Zahl über denGlobus verteilt;

– in Entwicklungs-, Schwellenländern und Krisenregionen neueZiele für kriegerische und terroristische Übergriffe geschaffen;

– die Endlagerprobleme und die Gefahr der unkontrollierten Wei-terverbreitung von Atomwaffen in allen Weltregionen eine neueDimension erhalten;

– wegen der knappen Uran-Vorräte die heute üblichen Leicht-wasserreaktoren schon bald flächendeckend von einer für kata-39

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strophale Unfälle und terroristische oder kriegerische Eingriffenoch verwundbareren Plutoniumwirtschaft mit Wiederaufberei-tung und Schnellen Brutreaktoren abgelöst;

– enorme Finanzmittel statt in die Armutsbekämpfung in denKrisenregionen der Welt für den Ausbau einer atomaren Infra-struktur eingesetzt.

Eine solche Strategie wäre angesichts der offensichtlich schwerenNebenwirkungen allenfalls dann diskussionswürdig, wenn ein ver-gleichbarer Effekt mit anderen, weniger problematischen Maßnah-men zur Eindämmung des Klimaeffekts nicht zur Verfügung stün-de. Das ist aber nach allem, was man heute weiß, nicht der Fall.Selbst ambitionierte Ziele zur Eindämmung der Treibhausgase kön-nen nach realistischen Abschätzungen ohne einen Beitrag derAtomenergie erreicht werden. Reduktionen um 40 bis 50 MilliardenTonnen Kohlendioxid (bei einem Reduktionsbedarf von 25 bis 40Milliarden Tonnen) sind demnach bis zur Mitte des 21. Jahrhundertsmöglich, wenn

– die Energieeffizienz in Gebäuden verbessert wird;– die Industrie ihre Energie- und Materialeffizienz auf den

Standard bereits heute verfügbarer Technik verbessert;– die Energieeffizienz im Verkehrssektor entsprechend erhöht

wird;– Effizienzspielräume im Energiesektor bei der Erzeugung und in

der Anwendung besser ausgeschöpft werden;– bei der Stromerzeugung verstärkt Erdgas statt Kohle oder Öl

(„fuel switch“) eingesetzt wird;– die erneuerbaren Energien aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse

und Geothermie im Strom- und Wärmesektor systematisch aus-gebaut werden;

– und schließlich die „Clean Coal-Technologie“ (bei der das bei derKohleverbrennung in Kraftwerken entstehende Kohlendioxidabgeschieden und endgelagert wird) zur Anwendungsreife ent-wickelt und großtechnisch eingesetzt wird.

Aufwendige Untersuchungen einer Enquete-Kommission desDeutschen Bundestages aus dem Jahr 2002 ergaben, dass für einIndustrieland wie Deutschland CO2-Reduktionen um 80 Prozentbis zur Jahrhundertmitte mit verschiedenen Strategien und Instru- 40

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menten realisiert werden können. Die umfassende Verbesserungder Energieeffizienz erweist sich dabei in allen Varianten als ebensounabdingbar wie der massive Ausbau erneuerbarer Energien. Dage-gen fand die Kommission keine Anhaltspunkte dafür, dass für eineerfolgreiche Klimaschutzstrategie die Fortführung oder gar derAusbau der Atomenergie von entscheidender Bedeutung sein könn-te. Ein großer oder wachsender Anteil von Atomenergie an derStromerzeugung kann sich für eine erfolgreiche Klimaschutzstrate-gie sogar als kontraproduktiv erweisen. Deren unverzichtbare Bau-steine erneuerbare Energien und Energieeffizienz sind mit großen,zentralen Grundlastkraftwerken, wie sie Atomkraftwerke darstellen,nur schwer vereinbar. Die fluktuierenden erneuerbaren EnergienWind und Sonne benötigen ab einer bestimmten Ausbaustufe Kraft-werke mit einer flexiblen Leistungssteuerung, wie etwa moderneGaskraftwerke, um die Leistungsschwankungen auszugleichen undein Stromnetz, das die veränderte geografische Lage und insgesamtdezentralere Struktur der Elektrizitätserzeugung widerspiegelt.

Außerdem wäre ein umfassender Ausbau der Atomenergie – nurer, nicht eine mühsame Stagnation auf gegenwärtigem Niveau,könnte die nukleare Stromproduktion zu einem wirksamen Faktorim Klimaschutz machen – mit massiven ökonomischen Unsicher-heiten verbunden. Denn dafür müsste die Branche in wenigen Jahr-zehnten den Übergang von den gegenwärtigen Leichtwasserreakto-ren hin zu Brütertechnik und Wiederaufbereitung bewältigen, andem sie bereits einmal gescheitert ist. Keine andere Technologie exi-stiert darüber hinaus unter einem vergleichbaren Damoklesschwert:Ein einziger schwerer Unfall oder terroristischer Angriff wäre aus-reichend, um die Akzeptanz für diese Technologie national odersogar international endgültig zusammenbrechen zu lassen. Voraus-sichtlich müsste ein Großteil der Reaktoren vorzeitig stillgelegt wer-den. Schließlich verhindert der Endlosstreit um die Atomenergie inwichtigen Industriestaaten die unverzichtbare Hinwendung zu einerkonsistenten Effizienzstrategie. Insgesamt ist national wie interna-tional eine politische Strategie möglich und auch zielführend, diebeide Großrisiken, die der globalen Klimaänderung und die kat-astrophaler Atomunfälle, gleichermaßen minimiert. Das spezifischeGefahrenpotenzial der Atomenergie macht jede Klimaschutzstrate-gie, die sie einschließt, weniger robust und innovativ als eine Strate-gie ohne die nukleare Option. Der propagierte Zielkonflikt zwischenAtomausstieg und Klimaschutz entpuppt sich deshalb als eine von41

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sachfremden Interessen geleitete Erfindung der Verfechter derAtomenergie. Er ist konstruiert. Für die unsinnige Wahl zwischenTeufel und Beelzebub gibt es keine reale Notwendigkeit.

9 Billige Atomkraft:Wenn der Staat die Rechnung zahltAtomkraftwerke gehören als mehr oder weniger gewichtigerBestandteil der Elektrizitätsversorgung zur Basis des ökonomischenSystems der Länder, die sie nutzen. Deshalb entscheidet, wo nichtsachfremde strategische oder militär-strategische Interessen eineRolle spielen, vor allem die Energiewirtschaft über ihre Zukunft.Und die tut es im Normalfall entlang nüchterner betriebswirtschaft-licher Erwägungen. Die Frage, ob die nukleare Stromproduktioneiner Lizenz zum Gelddrucken gleichkommt oder doch eher zueinem Fass ohne Boden wird, entscheidet sich nach den jeweiligenUmständen: Produziert der Reaktor schon zwanzig Jahre zuverlässigStrom, und es besteht Grund zu der Annahme, dass er das noch malso lange tut, trifft eher das erste zu. Jedenfalls solange sich das jedemNuklearbetrieb innewohnende latente Katastrophenrisiko nicht rea-lisiert. Muss das Atomkraftwerk erst gebaut werden, und soll es nochdazu eine neue Baureihe eröffnen, dann empfiehlt es sich, dieFinger von einem solchen Projekt zu lassen. Es sei denn, es gelingt,die finanziellen Unwägbarkeiten auf Dritte abzuwälzen.

Für Investoren, die heute in einem marktwirtschaftlichen Umfeldvor der Entscheidung zum Ersatz- oder Neubau ihrer Kraftwerks-kapazität stehen, gehören Atomkraftwerke ganz offensichtlich nichtzur ersten Wahl. Dafür spricht die Empirie. In den USA haben dieReaktorbauer seit 1973 keine Bestellung mehr entgegengenommen,die später nicht wieder annulliert wurde. In Westeuropa warteten dieReaktorhersteller – außerhalb Frankreichs – bis 2004 ein Viertel-jahrhundert auf einen Neubau-Auftrag. Jetzt gibt es einen im finni-schen Olkiluoto. Insgesamt waren nach Angaben der Internationa-len Atomenergie-Agentur IAEA im Jahr 2005 weltweit 28 Atomkraft-werke mit einer Gesamtkapazität von etwa 27.000 Megawatt im Bau.Fast die Hälfte dieser Vorhaben dümpeln schon 18 bis 30 Jahre vorsich hin. Von einer ganzen Reihe von ihnen nimmt niemand mehran, dass sie jemals Strom liefern werden – normalerweise nenntman so etwas Bauruinen. Die verbleibenden Kraftwerksprojekte, mitderen Fertigstellung in den nächsten Jahren ernsthaft gerechnetwerden kann, entstehen fast alle in Ostasien in einem nicht oder nur 42

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sehr bedingt marktwirtschaftlichen Umfeld. Kurz: Die nukleareAuftragslage ist niederschmetternd. Sie ist es noch mehr angesichtsdes Kontrastprogramms: Weltweit erhöhten sich die Stromkapazitä-ten seit der Jahrtausendwende um jährlich rund 150.000 Megawattinstallierte Kraftwerksleistung. Atomkraft hatte daran einen Anteilvon gerade zwei Prozent. In den USA gingen allein zwischen 1999bis 2002 konventionelle, fossil befeuerte Kraftwerke mit einerLeistung von 144.000 Megawatt ans Netz. In China wurde in dendrei Jahren zwischen 2002 und 2005 ein kohlebefeuerter Kraft-werkspark mit 160.000 Megawatt Gesamtleistung neu errichtet.Selbst die erst im Aufbau befindliche Windindustrie brachte esallein 2005 weltweit auf eine Neubauleistung von mehr als 10.000Megawatt.

So marginal sich die Rolle der Atomenergie angesichts eines gigan-tischen globalen Zubaus von Kraftwerkskapazität darstellt, so ent-schlossen kämpfen die Betreiber für den Erhalt der bestehendenMeiler weit über die ursprünglich geplanten Laufzeiten hinaus.Zwar erreichte das Durchschnittsalter aller im Jahr 2005 betriebe-nen Reaktoren gerade mal 22 Jahre. Das hinderte den früherenSiemens-Vorstandschef Heinrich von Pierer im Bundestagswahl-kampf desselben Jahres nicht daran, der Kanzlerkandidatin AngelaMerkel trotz des in Deutschland vereinbarten Atomausstiegskonsen-ses Betriebszeiten von 60 Jahren ans Herz zu legen. Schließlich plä-dieren inzwischen die meisten AKW-Verfechter in Europa und Ame-rika für diese Marke. Für die Mehrzahl der 103 Atomkraftwerke inden USA sind nach Angaben der IAEA entsprechend verlängerteLaufzeiten entweder bereits genehmigt, beantragt oder sollen bean-tragt werden. Von Pierer führte für seinen Vorstoß Gründe der „öko-nomischen Vernunft“ an. Und die gibt es in der Tat. Solange keineschweren Störfälle auftreten, teure Reparaturen oder der Austauschzentraler Komponenten wie der Dampferzeuger aus Verschleiß-oder Korrosionsgründen notwendig werden, solange kann Stromaus alten, längst abgeschriebenen Meilern der 1000-Megawatt-Klasse fast konkurrenzlos günstig produziert werden. Eine Laufzeit-verlängerung zögert darüber hinaus das so genannte „dicke Ende derAtomenergie“ hinaus. Gemeint sind Stilllegung und Abriss der gro-ßen Reaktoren, die nicht nur sicherheitstechnisch, sondern auchfinanziell eine echte Herausforderung sein können. Weil die laufen-den Brennstoffkosten beim Betrieb von Atomkraftwerken zudem43

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weniger ins Gewicht fallen, rechnen die Betreiber mit satten Zusatz-renditen. Könnten die Meiler in Deutschland statt der im Ausstiegs-vertrag ausgehandelten 32 Jahre schließlich 45 Jahre am Netz blei-ben – das entspricht der durchschnittlichen Lebenszeit fossilerGroßkraftwerke – ergäbe sich für die Branche ein hübscher Zusatz-gewinn von etwa 30 Milliarden Euro. Solche Zahlen erklären die invielen Ländern von den AKW-Betreibern forcierte Debatte über län-gere Laufzeiten. Mit einer möglichen Renaissance der Atomenergiehat das Geschacher allerdings nichts zu tun. Eher mit dem Gegen-teil. Die Forderungen nach einer „Nachspielzeit“ belegen, dass dieAtomkraftbetreiber aus ökonomischer Einsicht vor Investitionen inneue Atomkraftwerke zurückschrecken. Statt in neue nukleare odernicht-nukleare Technologien zu investieren, zehren die Unterneh-men von der Substanz, ohne Rücksicht auf die wachsende Störfall-anfälligkeit ihrer Reaktoren.

Der seit Jahrzehnten anhaltende Niedergang der Atomenergie-Konjunktur ist somit keinesfalls gestoppt. In den USA und West-europa gibt es eine einzige Neubaustelle an der finnischen Ostsee-küste. Auf sie wird noch zurückzukommen sein. Gleichzeitig häufensich in den vergangenen Jahren aufwändige Studien, die eine Kon-kurrenzfähigkeit neuer Atomkraftwerke gegenüber der fossilen Kon-kurrenz nahelegen. Ihr Manko: Glauben schenken diesen Zukunfts-prognosen bisher allenfalls die Autoren und ihre Auftraggeber –nicht jedoch die potenziellen Finanziers neuer Kraftwerksvorhaben.Das ist der erste Grund für die beispiellose Unsicherheit über diewahren Kosten einer neuen Generation von Atomkraftwerken: Esgibt kaum verlässliche Daten über die großen Kostenblöcke, insbe-sondere die Errichtungskosten, die Entsorgungs- und Abrisskostensowie die laufenden Kosten für Betrieb und Wartung. Das liegteinerseits daran, dass praktisch alle veröffentlichten Abschätzungenvon Analysten mit einem hohen Maß an Skepsis bewertet werden.Denn diese Zahlenreihen stammen in aller Regel von den Herstel-lern, die Kraftwerke verkaufen wollen und deshalb nach außen eherzu niedrig als zu hoch kalkulieren. Oder von Regierungen, Verbän-den und Lobbygruppen, die die ungeliebte Atomenergie den Bür-gerinnen und Bürgern wenigstens über den angeblich zu erwarten-den niedrigen Strompreis ans Herz legen wollen.

Doch es gibt auch objektive Probleme jenseits der Interessen:Weil bisher jede neue Reaktorbaureihe mit kostentreibenden Kin-derkrankheiten und in der Folge lang andauernden Stillstandszeiten 44

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zu kämpfen hatte, mustern potenzielle Finanziers die stets erfreu-lich optimistischen Vorhersagen der Hersteller neuer Meiler mitimmensem Unbehagen. Die „Performance“ eines neuen Kraftwerksist nicht vorherzusagen. Noch viel mehr gilt dies für neueReaktortypen, die auf weitgehend neuer und damit unerprobterTechnik basieren. Während sich also bei fast allen anderen techno-logischen Entwicklungen – auch jenseits des Segments der Kraft-werkstechnik – die Hersteller auf einer „Lernkurve“ relativ kontinu-ierlich und vorhersagbar zu immer günstigeren Preisen bewegen,fangen die Reaktorhersteller ein halbes Jahrhundert nach dem Startder kommerziellen Kernspaltung immer wieder von vorne an. Inden siebziger und achtziger Jahren boten die Reaktorhersteller des-halb immer größere Meiler an, in der teilweise berechtigten Annah-me, sie würden den Strom insgesamt kostengünstiger erzeugen alskleinere Einheiten. Doch gelöst hat das Ausweichen auf die„Economy of Scale“ das Problem letztlich nicht. Ein klarer Trend zuimmer kostengünstigeren Reaktoren blieb bis heute aus. Inzwischenverschärft sich die Situation dadurch, dass wegen der andauerndenFlaute auf dem nuklearen Kraftwerksmarkt AKW-Baureihen mitweiterentwickelter Technologie nur noch als Blaupausen – oder zeit-gerecht als Computeranimationen – existieren. Dieses Dilemmaerhöht wiederum die Unwägbarkeiten für potenzielle Geldgeber.Nicht nur sicherheitstechnisch, auch finanztechnisch wird Atom-kraft auf diese Weise zu einer Hochrisikotechnologie.

So ist allenfalls noch Risikokapital mit einem Reaktorneubauanzulocken, zu entsprechend hohen Preisen. Die Kapital- werdenneben den Baukosten der zweite große Brocken bei der Finanzie-rung eines Atomkraftwerks. Auch dieses Problem hat sich mit derLiberalisierung der Energiemärkte in wichtigen Industriestaaten zu-gespitzt. Denn während die Investoren zu Zeiten großer, staatlichabgesicherter Monopolstrukturen davon ausgehen konnten, dass ihrKapital auch bei schlechter Performance eines Meilers letztlichimmer von den Stromverbrauchern refinanziert werden würde, istdas in einem liberalisierten Strommarkt nicht mehr der Fall. Atom-kraft mit seinen exorbitant hohen Anfangsinvestitionen und Jahr-zehnte dauernden Kapitalrücklaufzeiten passt nicht zu liberalisier-ten Märkten. Die Kapitalkosten explodieren – sofern die potenziellenFinanziers es nicht gleich vorziehen, in andere Technologien zuinvestieren, die diese Probleme nicht aufweisen. Tatsächlich sind invielen Ländern, in denen hocheffiziente Gaskraftwerke in den ver-45

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gangenen beiden Dekaden einen massiven Boom erlebten, dieErrichtungskosten pro installierter Kilowattstunde entscheidend nie-driger, ist die Frist zwischen Auftragsvergabe und Betriebsbeginnkurz, werden die Anlagen größtenteils unter „kontrollierten Bedin-gungen“ in Fabriken in Serie gefertigt. Weil darüber hinaus dieBrennstoffkosten für Erdgas, die an den Gesamtkosten einen höhe-ren Anteil ausmachen als der Brennstoff Uran in Atomkraftwerken,vergleichsweise günstig waren, hatten Atomkraftwerke praktischkeine Chance.

Ein ganzes Bündel weiterer Unwägbarkeiten macht Atomkraft-werke für jeden Investor zu einem Vabanque-Spiel. So sind dieFristen zwischen der Investitionsentscheidung und dem Start deskommerziellen Betriebs bei keiner anderen Kraftwerkstechnologieannähernd so lang. Es kann immense Planungsprobleme geben,Verzögerungen bei der Genehmigung, weil die zuständigen Behör-den unter öffentlicher Beobachtung besonders penibel vorgehen,weil neue, sicherheitsrelevante Erkenntnisse eine Revision derGenehmigungsmodalitäten notwendig machen oder Atomkraftgeg-ner vor den Gerichten obsiegen. Die Bauentscheidung über denjüngsten britischen Reaktor Sizewell B beispielsweise fiel 1979, derkommerzielle Betrieb startete 16 Jahre später. Wenn ein Prototyp inBetrieb geht, ist nicht einmal sicher, ob er die vorausberechneteLeistung wirklich erbringt, von der aber natürlich am Ende dieEinnahmen abhängen. Wichtiger noch ist die Zuverlässigkeit, mitder der Reaktor über seine gesamt Betriebszeit zu Verfügung steht.Im Gegensatz zu den Kapitalkosten ist die so genannte Verfügbar-keit der Überprüfung zugänglich. Wann ein Atomkraftwerk inBetrieb ist und wie lange es wegen Revisionsarbeiten, wegen desWechsels der Brennelemente oder infolge von Störfällen stillsteht,ist in der Regel bekannt. Die Verfügbarkeit berechnet sich aus dentatsächlich geleisteten Vollaststunden im Vergleich zu einem Betriebdes Meilers ohne jede Unterbrechung, angegeben in Prozent. Dievon den Herstellern prognostizierten Verfügbarkeiten erwiesen sichdabei insbesondere bei den ersten Meilern einer Baureihe regelmä-ßig als zu hoch. Wenn ein Reaktor statt der vorhergesagten Verfüg-barkeit von 90 nur 60 Prozent erreicht, steigen die Kosten um einDrittel. Dazu kommen zusätzliche Wartungs- und Reparaturkosten.Nur etwa zwei Prozent aller Reaktoren erreichen Verfügbarkeitenvon 90 Prozent oder mehr, etwa hundert kommen auf mehr als 80Prozent. 46

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Auch das während der euphorischen Aufbruchzeiten von denBetreibern gern verbreitete Versprechen, Atomkraftwerke würdenpraktisch automatisch laufen und deshalb gegenüber anderen Kraft-werken vergleichbarer Leistung günstigere laufende Kosten aufwei-sen, hat sich als zu optimistisch erwiesen. Zwar machen die Brenn-stoffkosten nur einen relativ geringen Anteil der Gesamtbelastungenaus. Sie erhöhen sich allerdings, wenn statt „frischer“ Uranoxid- sogenannte Mischoxid-Brennelemente mit einem gewissen Anteil anPlutoniumoxid aus der Wiederaufbereitung zum Einsatz kommen.Dagegen sind Betrieb und Wartung kostenträchtig, weil im Ver-gleich etwa zu Gaskraftwerken erheblich höhere Personalkostenanfallen. In den USA wurden Ende der achtziger, Anfang der neun-ziger Jahre sogar einige Atomkraftwerke stillgelegt, weil es sich alsgünstiger erwies, neue Gaskraftwerke zu errichten und zu betreiben.

Im Vergleich zu anderen Kraftwerkstechnologien fallen bei Atom-kraftwerken auch noch nach dem Betrieb über Jahrzehnte massivKosten an: für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle, für die Über-wachung der stillgelegten Meiler, schließlich für den Abriss derReaktoren nach einer mehr oder weniger langen „Abklingzeit“. Alldiese Mittel müssen während des Betriebs verdient und für den vielspäteren Einsatz gesichert werden. Die Kosten, die dabei und für dieVersicherung gegen mögliche Unfälle aufgebracht werden, unter-scheiden sich von Land zu Land. Erschwert wird ihre Abschätzunginsbesondere dadurch, dass die normale Abdiskontierung über diehier erwarteten Zeiträume nicht funktioniert. Bei einer Diskontratevon 15 Prozent sind Kosten, die 15 Jahre oder mehr später anfallen,zu vernachlässigen. Da sie aber dennoch sicher in der realen Weltunserer Kinder anfallen werden, ist dies ein weiterer Ausgangspunktvon Unsicherheit bei der Reaktorfinanzierung und bei derBestimmung der nuklearen Stromerzeugungskosten.

Die in einigen Ländern angelaufene Diskussion über eine möglicheWiederbelebung der weltweiten Atomenergie-Konjunktur der siebzi-ger Jahre des vergangenen Jahrhunderts findet bisher keine Entspre-chung in der Wirklichkeit. Jenseits der Debatte über verlängerteReaktorlaufzeiten passiert wenig. Konkrete neue Projekte sind dieabsolute Ausnahme. Der weit überwiegende Teil der derzeit nocherrichteten Kraftwerke basiert auf indischer, russischer oder chine-sischer Technologie. Die führenden westlichen Hersteller schauennach wie vor in gähnend leere Auftragsbücher. Das US-amerikani-47

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sche Unternehmen Westinghouse brachte es in einem Vierteljahr-hundert auf eine einzige Reaktorbestellung. Für Framatome-ANP(zu 66 Prozent im Besitz des französischen Atomkonzerns Arevaund zu 34 Prozent bei Siemens) und seine Vorgängerunternehmenist der finnische Reaktor Olkiluoto die erste Bestellung überhaupt inetwa 15 Jahren. So wird die Debatte über eine Renaissance der Atom-energie mehr noch als von den Reaktorherstellern selbst von Politi-kern und Publizisten vorangetrieben, die glauben, mit Atomkraftund unter Beibehaltung hergebrachter energiewirtschaftlicherStrukturen kurzfristig Klimaschutz-Verpflichtungen besser einhal-ten oder Stromengpässen entgehen zu können. Das hat Folgen.Denn je intensiver Politik und Öffentlichkeit auf eine Wiederbele-bung der Nukleartechnik drängen, umso unverkrampfter forderndie potenziellen Investoren staatliche Hilfestellung.

In den USA setzt die Bush-Administration nicht nur massiv aufdie Laufzeitverlängerung des alternden Reaktorarsenals, sondernsteuert nach dem Auftreten von Stromengpässen in wichtigen Bun-desstaaten wie Kalifornien und spektakulären Netzzusammen-brüchen auch auf den Neubau von Atomkraftwerken zu. Die von derverheerenden Hurrikan-Saison des Jahres 2005 ausgelöste Debatteüber die Klimaerwärmung heizt die Diskussion weiter an. Zu einemReaktorneubau oder auch nur einem Bauantrag hat das bisher nichtgeführt. Zwar bemühen sich mehrere Konsortien um eine kombi-nierte Lizenz zum Bau und Betrieb neuer Meiler. Doch ohne staatli-che Unterstützung, werden sie nicht müde zu betonen, geht nichts.Allein die Genehmigungsprozedur für eine neue Baureihe wird vor-aussichtlich rund 500 Millionen Dollar verschlingen. Wie teuer dieReaktoren selbst werden, weiß bisher niemand. Vorsorglich verlan-gen die Unternehmen Milliardensubventionen vom Staat, die Präsi-dent Bush mittlerweile avisiert hat. Das im Sommer 2005 im Kon-gress verabschiedete neue Energiegesetz stellt für die Atomenergie3,1 Milliarden Dollar Finanzhilfen über einen Zeitraum von zehnJahren in Aussicht. Damit soll der Staat unter anderem Risiken zurAbsicherung möglicher Verzögerungen übernehmen. Schon zuvorhatten die potenziellen Investoren bei Bush eine Art Rundum-sorg-los-Paket eingefordert: Als Bedingung für ihr Engagement verlang-ten sie eine steuerfreie Finanzierung und die spätere Stromabnah-me zu staatlich garantierten Preisen. Außerdem soll der Staat imFall schwerer Unfälle haften und nicht zuletzt die Endlagerfragelösen. In Frankreich hat der inzwischen teilprivatisierte Staats- 48

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konzern EDF zwar nach langem Zögern im Jahr 2004 mit Flaman-ville im Departement Manche einen Standort für eine Pilotanlagedes Europäischen Druckwasserreaktors EPR benannt. Die Neigungdes Staates, für die Finanzierung wie gewohnt in Vorlage zu treten,ist gegenüber früheren Zeiten jedoch abgeflaut. Der frühere EDF-Chef Francois Roussely hat außerdem bekundet, es gehe in abseh-barer Zeit beim Bau eines solchen Reaktors nicht so sehr um Strom,sondern darum, „die europäische industrielle Kompetenz in diesemBereich zu erhalten“ 13. Mit anderen Worten, Hintergrund des Bauseiner EPR-Pilotanlage in Frankreich ist nicht eine energie-, sonderneine industriepolitische Motivlage.

Politische Motive spielten auch bei der – im Vorfeld hoch umstrit-tenen – Entscheidung des finnischen Parlaments für einen neuenMeiler eine wesentliche Rolle. Als Treibsatz diente der seit zweiDekaden unaufhörlich wachsende Stromhunger, der Finnlandgegenüber dem EU-Durchschnitt einen mehr als doppelt so hohenPro-Kopf-Stromverbrauch bescherte. Gleichzeitig wuchs in derPolitik die Sorge, bei der Elektrizitätsversorgung in eine zu großeAbhängigkeit von russischem Gas zu geraten, und die Befürchtung,die nationale Klimaschutz-Verpflichtung im Rahmen des Kyoto-Protokolls ohne verstärkten Einsatz der Atomenergie nicht einhaltenzu können. Der Auftrag an den französisch-deutschen ReaktorbauerFramatome-ANP, an der finnischen Ostseeküste die Pilotanlage desEuropäischen Druckwasserreaktors EPR zu errichten, kam schließ-lich vom Stromversorger TVO. Das Unternehmen gehört zu 43 Pro-zent der öffentlichen Hand. Spätestens seit dem offiziellen Baube-ginn im August 2005 gilt das Projekt Olkiluoto 3 der internationalenNuclear Community als Beweis, dass Atomkraft auch in einem libe-ralisierten Strommarkt wieder ein lohnendes Investment sein kann.An dieser Lesart sind Zweifel angebracht. Denn ob ein solcherReaktor auch unter ganz normalen Wettbewerbsbedingungen eineChance gehabt hätte, ist unwahrscheinlich.

Die Finanzierung wurde durch eine Konstruktion ermöglicht, beider die rund 60 Teilhaber, zumeist Elektrizitätsversorger, im Gegen-zug zu ihren Beteiligungen Abnahmegarantien für den später imReaktor erzeugten Strom zu vergleichsweise hohen Preisen zeich-neten. Außerdem vereinbarten TVO und Framatome-ANP einen Fix-preis für den „schlüsselfertigen“ Meiler, der sich auf 3,2 Milliarden

49 13 Francois Roussely, a.a.O.

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Euro belaufen soll. Eine solche, für den Käufer ebenso attraktive wieungewöhnliche Vertragsgestaltung, war möglich, weil Framatome-ANP nach mehr als einem Jahrzehnt der EPR-Entwicklung umbuchstäblich jeden Preis eine Bauentscheidung brauchte. Schon vordem ersten Spatenstich zeichnete sich ab, dass das Hersteller-Konsortium Areva/Siemens einen ausgesprochen kühnen Kal-kulationsrahmen setzte, um den Prototyp-Reaktor gegenüber fossi-len Kraftwerken und anderen Bietern aus dem Atombereich auf dieSiegerstraße zu bringen.

Zunächst wurde die Reaktorleistung schon während der EPR-Ent-wicklung in den neunziger Jahren immer weiter erhöht. Die schiereGröße sollte für Wirtschaftlichkeit sorgen. Nun ist der EPR mit einerprojektierten Stromleistung von 1.750 Megawatt (brutto) und einemOutput von 1.600 Megawatt das mit Abstand leistungsstärksteAtomkraftwerk der Welt – was im Übrigen die Integration in diemeisten Stromnetze erheblich erschwert. Ein Bündel andererPrognosen, die den Reaktor auf dem Papier gegenüber anderen,auch nicht-nuklearen Optionen konkurrenzfähig machten, könntesich als schwer einzulösender Wechsel auf die Zukunft erweisen.Versprochen wurde: eine Bauzeit von nur 57 Monaten, eine Verfüg-barkeit von 90 Prozent, ein Wirkungsgrad von 36 Prozent, eine tech-nische Lebensdauer von 60 Jahren, ein gegenüber Vorgänger-reaktoren um 15 Prozent verringerter Uranbedarf sowie gegenüberheutigen Meilern erheblich verringerte Betriebs- und Wartungs-kosten.

Jede einzelne dieser Vorgaben gilt unter Fachleuten als extremoptimistisch. Weder die angestrebte Bauzeit noch die versprocheneVerfügbarkeit wurden von früheren Pilot-Meilern je erreicht.Voraussichtlich wird aber auch dieses deutsch-französische Gemein-schaftswerk nicht von Bauverzögerungen, Kinderkrankheiten imfrühen Betrieb und ungeplanten Abschaltungen verschont bleiben.Trotzdem sollen die Betriebs- und Wartungskosten geringer ausfal-len als bei heute laufenden Standardreaktoren und zwar über eineLaufzeit von 60 Jahren. Gleichzeitig sollen zusätzliche Sicherheits-einrichtungen wie der so genannte „Core-Catcher“ den EPR sicherer,aber nicht teurer machen als seine Vorgänger.

Dass sich alle diese Zukunftsversprechen in Olkiluoto realisierenlassen, scheint nahezu ausgeschlossen. Schon unter optimaler Ein-haltung aller Vorgaben – etwa über die Bauzeit – gilt der kalkuliertePreis von 3,2 Milliarden Euro als geschönt. Er sollte ursprünglich 50

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erst bei einer „Serienproduktion“ von etwa zehn Reaktorblöckenerreicht werden. Die ist jedoch nicht einmal am Horizont erkennbar.In anderen Wirtschaftsbereichen gibt es für eine derartige Preisge-staltung deshalb einen klaren Begriff: Dumping.

Sollten die Baukosten tatsächlich davonlaufen, wird das Geschäftwegen des mit dem finnischen Kunden vereinbarten Fixpreises fürFramatome-ANP rasch zum ökonomischen Alptraum. Dann wirdder Ruf nach dem Staat nicht lange auf sich warten lassen. Wieschon im Vorfeld, bei der Absicherung der Finanzierung. Da spieltedie Bayerische Landesbank mit Sitz in München und zu fünfzigProzent im Besitz des Freistaates Bayern, wo auch der ReaktorbauerSiemens seinen Hauptsitz hat, eine wichtige Rolle. Sie ist Partnereines internationalen Konsortiums, das den finnischen EPR miteinem zinsverbilligten Kredit (berichtet wird von einem Zinssatz von2,6 Prozent) in Höhe von 1,95 Milliarden Euro fördert. Die französi-sche Regierung griff der Framatome-ANP-Mutter Areva mit einer –eigentlich für Investitionen in politisch und wirtschaftlich instabilenLändern reservierte – Exportkreditgarantie in Höhe von 610 Millio-nen Euro über die Exportkreditagentur Coface unter die Arme. DieEuropean Renewable Energies Federation (EREF) hat wegen deroffensichtlich konzertierten Unterstützung aus mehreren besondersan dem Projekt interessierten Staaten bei der EU-Kommission eineBeschwerde wegen Verletzung der europäischen Wettbewerbsregelneingereicht.

Fest steht demnach: Auch die Entscheidung für den finnischenReaktor wäre ohne staatliche Unterstützung anders ausgefallen. Indiesem Fall kommt die Hilfe aus den Ländern der Hersteller unddem Land des Käufers. Offensichtlich ist die Atomenergie nur dortkonkurrenzfähig, wo Subventionen in erheblicher Höhe zugeschos-sen werden. Oder in Staaten, in denen die Nukleartechnologie mehroder weniger Teil der Staatsdoktrin ist, die Kosten also eine unterge-ordnete Rolle spielen. Wo auch immer in Zukunft in einem funktio-nierenden marktwirtschaftlichen Umfeld ein Reaktorneubau insAuge gefasst wird, muss deshalb damit gerechnet werden, dass dieInvestoren staatliche Hilfe in Anspruch nehmen: zur Absicherunggegen Kostensteigerungen beim Bau, während des Betriebs gegenunerwartet lange Stillstandszeiten, bei Schwankungen der Brenn-stoffkosten und wegen der nur schwer zu kalkulierenden Stille-gungs-, Abriss- und Entsorgungskosten. Schließlich müssen undwerden Staaten die Folgen jedes künftigen schweren Unfalls mit51

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massiver Radioaktivitätsfreisetzung zu bewältigen versuchen. KeinUnternehmen der Welt kann das allein. Versicherungen überneh-men einen von Land zu Land unterschiedlichen, angesichts der zuerwartenden Gesamtkosten aber in jedem Fall eher lächerlichen Teilder Schäden.

Damit nimmt die Atomtechnik eine beispiellose Sonderrolle ein.Ein halbes Jahrhundert nach ihrem mit Milliardensubventionengezündeten, kommerziellen Start verlangen, benötigen und erhaltenihre Protagonisten für den Neustart weiter staatliche Subventionen.Gerade so, als gehe es um die Anschubfinanzierung zu ihrer Markt-einführung. Gefordert und befürwortet wird dieses außergewöhnli-che Vorgehen erstaunlicherweise auch und besonders von Politi-kern, die sonst stets und gerade in der Energiepolitik gar nicht lautgenug nach „mehr Markt“ rufen können. Es sind dieselben, die invielen Industriestaaten mit Argumenten aus der reinen Marktlehregegen tatsächliche Markteinführungshilfen für die erneuerbarenEnergien aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse oder Geothermie zuFelde ziehen. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied:Atomenergie hat ihre Zukunft hinter sich, die Erneuerbaren habensie vor sich.

10 Fazit:Renaissance der AnkündigungenUnter dem Eindruck sich verstärkender Klima- und Energiekrisenerlebt die Diskussion über die Atomenergie in einer Reihe wichtigerStaaten eine Neuauflage. Angeheizt von Reaktorherstellern undihren publizistischen Lautsprechern ist die These von der „Renais-sance der Atomenergie“ auch Ausdruck einer bevorstehenden, fun-damentalen Entscheidungssituation. Die Masse der während derersten und bis heute letzten Atomenergiekonjunktur weltweit errich-teten Atomkraftwerke nähert sich ihrer projektierten technischenAltersgrenze. In den kommenden zehn Jahren und vor allem in derdarauf folgenden Dekade muss die plangemäß rasch schrumpfendenukleare Kraftwerkskapazität ersetzt werden. Zur Debatte stehenneue, nicht-nukleare Kraftwerke oder die Verlängerung der Atom-stromproduktion in die Zukunft. Ohnehin beschäftigt einige derwichtigsten Länder mit Atomenergie die Frage, ob sie ihre altenMeiler über die ursprünglich geplante Laufzeit hinaus am Netz hal-ten wollen. Diese Option ist attraktiv für Stromunternehmen, die somilliardenschwere Investitionsentscheidungen stornieren und von 52

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den günstigen laufenden Stromproduktionskosten abgeschriebenerAltreaktoren profitieren können. Das damit unausweichlich verbun-dene zusätzliche Risiko ist für den einzelnen Manager subjektiv kal-kulierbar: Er rechnet nicht mit dem schweren Unfall, ausgerechnetin einem Atomkraftwerk seines Unternehmens und ausgerechnetunter seiner Verantwortung. Darin liegt der Unterschied zu denInteressen der Allgemeinheit. Laufzeitverlängerungen erhöhen dasKatastrophenrisiko überproportional. Wenn alle oder viele Atom-kraftwerke länger betrieben werden, wächst das Risiko insgesamterheblich.

Die bevorstehenden Entscheidungen über die Frage, wie die glo-bale Energieversorgung in einer von Bevölkerungswachstum undextremem Wohlstandgefälle geprägten Welt nachhaltig gestaltet wer-den kann, weist über die Frage des künftigen Umgangs mit derAtomenergie weit hinaus. In der Verantwortung stehen alle ent-wickelten Industriestaaten und viele Schwellenländer, die die Atom-energie bisher überhaupt nicht oder nicht in nennenswertem Um-fang nutzen. Sicher ist schon jetzt: Die neue Struktur wird nichtmehr ausschließlich, vermutlich nicht einmal mehr vorrangig aufgroßen Kraftwerkseinheiten basieren. Sicher ist darüber hinaus: DieZukunft liegt nicht in einer aus den Interessen der traditionellenEnergiewirtschaft geborenen Wiederbelebung einer Risiko-Techno-logie aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts.

Bis heute gibt es keine Renaissance der Atomenergie. Was es gibt, isteine Renaissance der Ankündigungen über die Atomenergie. ImVorfeld des zwanzigsten Jahrestages des Desasters von Tschernobylgibt es auch eine Renaissance der Auseinandersetzung über dieseArt der Energiegewinnung und – bei manchen – eine Renaissanceder Hoffnungen. Es gibt die Wiederbelebung der politisch-gesell-schaftlichen Debatte in einer Reihe für die Zukunft der Atomenergiewichtiger Staaten. Ihr Ausgang ist ungewiss. Ein Kraftwerksprojektin Finnland beweist nichts. Die bisher bekannten, auf der Weltbeschlossenen Neubauprojekte reichen nicht einmal aus, den Bei-trag der Atomenergie zur globalen Stromproduktion konstant zuhalten, nicht im absoluten Maßstab und im relativen erst recht nicht.Neue Atomkraftwerksprojekte existieren bisher nur, wo diese Formder Stromerzeugung Teil der Staatsdoktrin ist; oder dort, wo staat-liche Stellen bereit sind, bei der Absicherung sicherheitstechnischerund finanztechnischer Risiken in Vorlage zu treten. Wer heute neue53

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Atomkraftwerke bauen will oder – wie in den Vereinigten Staaten –von der Politik dazu angehalten wird, braucht den Staat fast so sehrwie die Pioniere der Atomenergie in den sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts.

Es klingt nur paradox: Die Markteinführung der Kernenergiegelang seinerzeit, weil es einen Strommarkt nicht gab, der sie hätteunwirtschaftlich machen können. Weil die Bereitstellung vonElektrizität nach damaliger Lesart einerseits wegen des Netzmono-pols insgesamt als „natürliches Monopol“ galt und andererseits zuröffentlichen Daseinsvorsorge gehörte, wurde sie von staatseigenenoder staatsnahen, jedenfalls monopolartigen Unternehmen getra-gen. In den meisten Industrieländern war es denn auch der Staat,der anfangs aus offen oder verdeckt militärischen, später aus ge-mischten oder ausschließlich industriepolitischen Motiven bei derEinführung der Atomenergie den Takt bestimmte. Die öffentlicheHand übernahm die immensen Kosten für Forschung, Entwicklungund Markteinführung der neuen Technologie entweder direkt selbst,oder er stellte über seinen Einfluss auf die Strompreisgestaltung derElektrizitätsversorger ihre Überwälzung auf die Verbraucher sicher.In einem liberalisierten, funktionierenden Strommarkt ist derZubau neuer Atomkraftwerke für die Unternehmen bis heute nichtattraktiv. Es gibt günstigere Optionen, mit nicht annähernd ver-gleichbaren ökonomischen Risiken. Deshalb werden in einemmarktwirtschaftlichen Umfeld auch dann keine neuen Atomkraft-werke gebaut, wenn Strombedarf und Kraftwerksleistung insgesamtzunehmen – es sei denn, die öffentliche Hand übernimmt wieder,wie einst bei der Einführung der Atomenergie, einen Großteil derRisiken. Das ist der finnische Weg. Er ist auch deshalb nicht verall-gemeinerungsfähig, weil in einem funktionierenden Kraftwerks-Herstellermarkt die Konkurrenten aus anderen Branchen die einsei-tige staatliche Alimentierung einer fünfzig Jahre alten Technologieauf Dauer nicht tatenlos hinnehmen werden. Das finnische Projektbeschreitet auch insofern einen Sonderweg, als der ReaktorbauerFramatome-ANP fast zwanzig Jahre nach dem Entwicklungsstart desEuropäischen Druckwasserreaktors EPR endlich einen Demonstra-tionsmeiler vorzeigen will und die Unternehmensmütter Areva undSiemens dafür offenbar bereit sind, finanzielle Risiken in beträcht-licher Höhe in Kauf zu nehmen. Zur Erinnerung: 1992 hattenSiemens und Framatome den gemeinsamen Meiler vollmundig als„deutsch-französisches Kernkraftwerk für Europa und den Welt- 54

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markt“ angepriesen, das zunächst die „Heimatmärkte“ beidseits desRheins und danach die „Drittländer“ erobern sollte.14 Für die beidenPilotreaktoren sollte der erste Spatenstich bis 1998 erfolgen. Undschon 1990 hatte die deutsche Wirtschaftswoche unter der Schlagzeile„Nukleare Renaissance“ das Ende der atomaren Dauerflaute ver-kündet.

Eine unvoreingenommene Neubewertung aller Aspekte derAtomenergie führt auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zueinem eindeutigen Ergebnis. Es ist im Wesentlichen dasselbe wievor 30 Jahren. Die Katastrophenrisiken, die die Atomenergie damalszur umstrittensten Form der Stromerzeugung gemacht haben, sindnicht verschwunden. Die neuen terroristischen Gefahren schließeneine Ausweitung dieser Technologie in unsichere Weltregionenkategorisch aus. Der globale Ausbau der nuklearen Stromerzeugungwürde noch schneller als die Aufrechterhaltung des Status quo zurVerknappung des Brennstoffs Uran führen – oder aber den flächen-deckenden Umstieg auf die Brütertechnologie erzwingen. Eine sol-che technologische Neuausrichtung wäre gleichbedeutend mit derendgültigen Festlegung der Atomtechnologie auf den so genanntenPlutoniumpfad. Sie würde das Risiko katastrophaler Unfälle, terro-ristischer Angriffe und der Weiterverbreitung von Atomwaffen aufeine neue, noch kritischere Ebene heben. Nicht zuletzt deshalbhaben in der Vergangenheit fast alle Staaten den Brüterpfad nachersten Rückschlägen aufgegeben. Ob mit oder ohne Brütertechno-logie – auch das Endlagerproblem ist nicht bewältigt. Eine Lösungwird kommen müssen, schon weil die Abfälle nun einmal in derWelt sind. Aber sie wird nur eine relative Lösung sein können. Dasallein wäre ein ausreichender Grund, dieses Menschheitsproblemnicht dadurch zu verschärfen, dass man das Müllvolumen ver-größert.

Die Atomenergie kann auch das Klimaproblem nicht lösen. Selbsteine Verdreifachung der globalen Nuklearkapazität bis zur Mitte des21. Jahrhunderts würde nur einen bescheidenen Beitrag zur Klima-entlastung leisten. Sie wäre mangels industrieller Kapazitäten,wegen der immensen Kosten und einer Vervielfachung der mit ihrverbundenen Risiken ebenso unrealistisch wie unverantwortlich.

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14 Adolf Hüttl: Ein deutsch-französisches Kernkraftwerk für Europa und denWeltmarkt, Vortrag bei der Wintertagung des Deutschen Atomforums, Bonn1992, Manuskript.

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Vorgezeichnet und viel wahrscheinlicher ist dagegen angesichts derAlterstruktur der laufenden Kraftwerke, dass die globale Reaktor-leistung in den kommenden Jahrzehnten erheblich sinkt. Gleich-zeitig ergeben robuste Schätzungen, dass eine globale Energiestrate-gie, die vor allem auf mehr Effizienz in Energiewirtschaft, Industrie,im Transportsektor und bei der Wärmebereitstellung setzt und dieerneuerbaren Energien konsequent entwickelt, in der Lage ist, dieCO2-Reduktionsforderungen der Klimaforscher einzulösen – auchohne Rückgriff auf die Atomenergie. Die damit verbundene Heraus-forderung ist freilich beispiellos und erfordert nicht weniger als eineWeltklimapolitik, bei der alle für die globalen Treibhausgas-Emis-sionen wesentlichen Staaten mitziehen. Der behauptete Zielkonflikt„Klimaschutz oder Atomausstieg“ bleibt dennoch – abgesehen vonregionalen und zeitlich befristeten Sonderfällen – nichts weiter alseine aus den Interessen der Atomenergiewirtschaft geboreneSchimäre.

Wir haben gesehen: ohne massive staatliche Interventionen wird eseine Wiederbelebung der Atomtechnik in absehbarer Zeit nichtgeben. Das heißt freilich nicht, dass sie ausgeschlossen ist. Dennmehr als die Stromwirtschaft, die vor allem alte, abgeschriebeneInvestments weiternutzen will, ist es die Politik, die unter dem Ein-druck galoppierender Energiepreise und in Erwartung harter Klima-schutzverpflichtungen die Atomenergie ins Spiel bringt. Beide Ele-mente treiben seit Jahren die Debatte in den USA, sie waren der Aus-löser für den Reaktorneubau in Finnland, für die Offensive zumAusstieg aus dem Atomausstieg in Deutschland und neuerdings dieNeubaudiskussion in Großbritannien. Politiker neigen dazu, in denStrukturen und mit den Akteuren weiterzumachen, die sie kennen.Manche von ihnen werden sich deshalb nicht scheuen, mehr als einhalbes Jahrhundert nach dem Start der kommerziellen Strompro-duktion in Atomkraftwerken noch einmal Markteinführungshilfenfür die Atomenergie zu gewähren – als sei das das Normalste derWelt.

Überall wo es so kommt, wird die Neubaudiskussion voll ent-brennen. Neue Reaktoren werden weder nachhaltig die Klimaerwär-mung eindämmen, noch dauerhaft die Energiepreise dämpfen kön-nen. Sie werden stattdessen die mit der Energieerzeugung verbun-denen Katastrophenrisiken weiter verschärfen und von den Klima-schutzstrategien ablenken, die wirklich Entlastung bringen. Mit 56

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anderen Worten: Wie zu Hochzeiten der ersten Atomenergie-diskussion in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahr-hunderts werden die Atomkraftgegner die besseren Argumente aufihrer Seite haben.

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KAPITEL 2

DIE RISIKEN VON ATOMREAKTOREN

Von Antony Froggatt

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Bei Apach (Frankreich) entgleisten drei Spezial-Waggons auf dem Weg in diebritische Wiederaufbereitungsanlage Sellafield. Die hochradioaktive Ladung bestandaus je sechs abgebrannten Brennelementen aus dem AKW Emsland. Der Unfallpassierte bei Rangierarbeiten bei niedriger Geschwindigkeit, was eine katastrophaleradioaktive Freisetzung verhinderte. © Becker+Bredel/Greenpeace

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1 EinleitungDieser Text basiert ausschließlich auf dem im April 2005 von Green-peace International veröffentlichten Bericht „Nuclear ReactorHazards, Ongoing Dangers of Operating Nuclear Technology in the21st Century“ (GREENPEACE 2005). Der erste Teil befasst sich zu-nächst mit den Charakteristika und inhärenten Schwachstellen derwichtigsten heute betriebenen Reaktortypen sowie den Risikenneuer Reaktortypen, der zweite Teil diskutiert das Problem der„Alterung“ der in Betrieb befindlichen Reaktoren, und im drittenund abschließenden Teil geht es um die Gefährdung nuklearer An-lagen durch den Terrorismus. Die wichtigsten Schlussfolgerungensind:

– Alle in Betrieb befindlichen Reaktoren weisen schwerwiegendeinhärente Sicherheitsmängel auf, die sich auch durch nachträg-liche Verbesserungen der Sicherheitsmaßnahmen nicht behebenlassen.

– Ein größerer Unfall in einem Leichtwasserreaktor – der großenMehrheit der Reaktoren – kann zu radioaktiven Freisetzungenführen, die das Mehrfache dessen betragen, was beim Tscherno-byl-Unfall freigesetzt wurde (und über das Tausendfache dessen,was bei der Explosion einer Atombombe freigesetzt wird).

– Die als prinzipiell sicher gepriesenen neuen Reaktortypen leidennicht nur unter ganz eigenen spezifischen Sicherheitsproblemen,ihre Entwicklung würde auch – bei mehr als ungewissen Ergeb-nissen – enorme Summen verschlingen.

– Das Durchschnittsalter der Reaktoren weltweit liegt bei rund 21Jahren, und viele Länder planen, die Laufzeit ihrer Reaktorenüber die ursprünglich geplante Betriebsdauer hinaus zu verlän-gern. Längere Laufzeiten führen zum Verschleiß kritischer Kom-ponenten und damit zu einem höheren Risiko ernsthafterZwischenfälle. Angesichts unseres begrenzten Wissens überaltersbedingte Abnutzungsprozesse lassen sich diese nur schwervorhersagen.

– Im Zuge der Liberalisierung der Strommärkte haben die nuk-learen Energieversorger ihre Investitionen in Sicherheitsmaßnah-men reduziert und Personal abgebaut. Parallel dazu steigern siedie Reaktorleistung durch die Erhöhung des Reaktordrucks, derBetriebstemperatur und des Abbrands, was die Alterung be-schleunigt und Sicherheitsabstände vermindert. Dazu kommt,61

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dass die Atomaufsichtsbehörden nicht immer in der Lage sind,auf diese Änderungen angemessen zu reagieren.

– Atomreaktoren lassen sich nicht ausreichend gegen Terroran-schläge schützen. Neben dem Absturz eines Verkehrsflugzeugsauf ein Atomkraftwerk gibt es mehrere andere Szenarien, die zueinem größeren Reaktorunfall führen können.

2 Kommerzielle Reaktortypen und ihre Mängel Anfang 2005 waren weltweit 441 Atomkraftwerke in insgesamt31 Ländern in Betrieb. Ungeachtet mehrerer Dutzend unterschiedli-cher Reaktortypen und -größen lassen sich die gegenwärtig inBetrieb oder der Entwicklung befindlichen Anlagen in vier grobeKategorien unterteilen:

– Generation-I-Reaktoren waren Prototypen kommerzieller Reak-toren, die in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelt wur-den und bei denen es sich um modifizierte oder vergrößertemilitärische Reaktoren handelte, die ursprünglich für den Antriebvon Unterseebooten oder zur Plutoniumerzeugung gebautwurden.

– Als Generation-II-Reaktoren wird die große Mehrzahl der heuteim kommerziellen Betrieb befindlichen Reaktoren klassifiziert.

– Generation-III-Reaktoren werden derzeit in einigen Ländern, ins-besondere in Japan, gebaut.

– Generation-IV-Reaktoren werden gegenwärtig mit dem Ziel einerkommerziellen Nutzung in 20 bis 30 Jahren entwickelt.

2.1 Generation IDie frühen sowjetischen Reaktortypen, die WWER 440-230s, werdenals Generation I klassifiziert. Diese Reaktoren, die unter Druck ste-hendes Wasser als Kühlmittel nutzen, weisen dasselbe Grunddesignwie der Druckwasserreaktor (DWR) auf, dem weltweit am weitestenverbreiteten Reaktortyp (siehe Generation II). Allerdings leiden dieWWER 440-230s unter so signifikanten und schwerwiegenden bau-typischen Mängeln, dass die G8 und die EU eine wirtschaftliche undakzeptable sicherheitstechnische Modernisierung dieser Reaktorenfür ausgeschlossen halten. Während in Mitteleuropa alle Reaktorendieses Bautyps bis Ende des Jahrzehnts stillgelegt werden sollen,dürften die russischen WWERs aller Wahrscheinlichkeit nach weiterbetrieben werden. Anlass zur Sorge bereitet insbesondere das Feh- 62

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len eines sekundären Containment- und eines ausreichenden Not-kühlsystems.

Der zweite Generation-I-Reaktortyp, der noch in Betrieb ist, istder britische Magnox-Reaktor – ein gasgekühlter und graphitmode-rierter Natururanreaktor. Aufgrund der geringen Leistungsdichtehaben Magnox-Reaktoren einen vergleichsweise großen Reaktor-kern. Im Primärkreislauf zirkuliert Kohlendioxidgas.

Der Reaktorkern befindet sich innerhalb eines voluminösenDruckbehälters. Einige Magnox-Reaktoren sind mit korrosionsanfäl-ligen Druckbehältern aus Stahl ausgerüstet. Dazu kommt noch dasProblem der thermischen Alterung und der Materialversprödungdurch Neutronenstrahlung.

Sprödbruch des Druckbehälters könnte zu einem Komplettverlustdes Primärkühlmittels und in der Folge zu einer massiven Freiset-zung radioaktiver Stoffe führen. Obwohl aus diesen und anderenGründen bereits mehrere Magnox-Anlagen stillgelegt wurden, wer-den etliche andere bis 2010 weiter betrieben und damit eine Gesamt-laufzeit von rund 40 Jahren erreichen.

Da Generation-I-Reaktoren kein sekundäres Containmentsystemhaben – das den Reaktorkern vor externen Ereignissen schützt undim Falle eines Unfalls die Freisetzung von Radioaktivität verhindernsoll –, geht von diesen Reaktoren ein hohes Risiko massiver radio-aktiver Freisetzungen aus. Aufgrund dieser zahlreichen Sicherheits-mängel müssen die britischen Magnox-Reaktoren als besondersgefährlich eingestuft werden.

2.2 Generation IIIn diese Klasse gehört unter anderem der weltweit wohl berüchtigt-ste Bautyp, der russische RBMK-Reaktor. Dabei handelt es sich umeinen graphitmoderierten Siedewasser-Druckröhrenreaktor, wie erauch in Tschernobyl zum Einsatz kam, wo sich 1986 der bislangschwerste Unfall bei der friedlichen Nutzung der Atomenergie ereig-nete. Dieser Reaktor weist neben mehreren grundsätzlichen Design-problemen, namentlich einem positiven Void-Koeffizienten undKerninstabilität, eine Reihe weiterer Schwächen auf, die diese Pro-bleme noch verstärken – wobei insbesondere die große Anzahl derDruckröhren (1693 im RBMK-1000) zu erwähnen ist.

Ein Teil der Bauartmängel der RBMKs wurde auf Grundlage derErfahrungen aus dem Tschernobyl-Unfall behoben, so wird inzwi-schen höher angereichertes Uran eingesetzt und die Regelstäbe63

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wurden modifiziert (Donderer 1996; Butcher 2001). Allerdings blei-ben aufgrund technischer und ökonomischer Gründe andere Pro-bleme bestehen. Beispielsweise verfügen nur zwei der noch inBetrieb befindlichen RBMK-Reaktoren über voll unabhängige sekun-däre Abschaltsysteme, was heißt, dass die anderen Einheiten denIAEA-Sicherheitsanforderungen nicht entsprechen (IAEA 1999).

RBMK-Reaktoren enthalten nicht nur mehr Zirkalloy im Kern alssämtliche andere Reaktortypen (über 50 Prozent mehr als ein kon-ventioneller Siedewasserreaktor), sondern auch große Mengen anGraphit (über 1700 Tonnen). Ein Graphitbrand kann einen Störfallmassiv verschlimmern – und Graphit kann bei höheren Tempera-turen heftig mit Wasser reagieren und explosiven Wasserstoff er-zeugen.

Der Ausfall einer einzelnen Druckröhre in einem RBMK hat nichtnotwendigerweise katastrophale Auswirkungen. Doch die große An-zahl von Röhren und Leitungen bedingt eine entsprechend hohe An-zahl an Schweißstellen und bildet ein System, das sich nur schwerinspizieren und warten lässt. Aufgrund der verbesserten Fähigkeitder Containmentsysteme der RBMKs zur Druckentlastung könnenheute simultane Brüche von bis zu neun Druckröhren beherrschtwerden. Allerdings können bei einem Kühlmittelverlustunfall sohohe Temperaturen erreicht werden, dass es in bis zu 40 Röhren zueinem Bruch und in der Folge zur Zerstörung des gesamtenReaktorkerns kommen könnte (Butcher 2001).

Aufgrund der prinzipiellen bauartbedingten Schwächen dieserReaktoren beschloss die internationale Gemeinschaft, sie als „nichtmodernisierbar“ zu deklarieren und ihre Stillegung anzustreben.Während in Litauen und der Ukraine RBMK-Reaktoren stillgelegtwurden beziehungsweise werden sollen, plant Russland offenbar,die Laufzeit seiner RBMK-Reaktoren zu verlängern, statt sie, wievom Westen gefordert, vorzeitig stillzulegen.

Der am weitesten verbreitete Bautyp ist der Druckwasserreaktor(DWR), von dem sich derzeit weltweit 215 in Betrieb befinden. Da dasDWR-Design ursprünglich als Antrieb für militärische U-Boote ent-wickelt wurde, sind die Reaktoren bei – im Vergleich zu anderenReaktortypen – hoher Energieabgabe sehr klein. Das bedingt aberauch eine im Vergleich zu anderen Reaktortypen hohe Temperaturdes Kühlwassers und einen hohen Druck im Primärkreislauf desReaktors, was einer stärkeren Korrosion der Komponenten Vor-schub leistet und dazu führt, dass inzwischen insbesondere die 64

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Dampferzeuger häufig ersetzt werden müssen. Druckwasserreakto-ren werden mit niedrig angereichertem Uran betrieben.

Eine umfangreiche Dokumentation liegt heute zum Problem derRissbildung im Reaktordruckbehälterdeckel vor. Dieser auf demReaktordruckbehälter aufliegende Deckel enthält die Röhren, durchdie die Regelstäbe zur Kontrolle der Kettenreaktion in den Reaktor-kern eingeführt werden. Nachdem in den frühen neunziger Jahrenin den Druckbehälterdeckeln einiger Reaktoren in Frankreich erst-mals Risse auftauchten, wurden bei weltweiten Untersuchungenähnliche Probleme in Schweden, der Schweiz und den VereinigtenStaaten festgestellt. Der bislang schwerwiegendste Fall war im Davis-Besse-Reaktor in Ohio, USA, bei dem die Rissbildung trotz Routine-prüfungen über ein Jahrzehnt hinweg unbemerkt blieb und derRiss, als er schließlich doch entdeckt wurde, den 160 mm dickenDruckbehälter durchzog und nur noch die fünf Millimeter dickeStahlummantelung – die sich bereits unter dem Druck ausbeulte –einen Bruch des Primärkühlsystems und damit des wichtigstenSicherheitsmechanismus verhinderte.

Obwohl Druckwasserreaktoren von allen kommerziellen Reaktor-typen die höchste Anzahl an Betriebsjahren auf sich vereinen, tau-chen immer wieder neue Probleme auf, was sich aufgrund des Alte-rungsprozesses noch verschärfen könnte, wenn die Anlagen überdie ursprünglich geplante Laufzeit hinaus betrieben werden.

Der russische WWER-Reaktortyp ähnelt von seiner Bauweise undGeschichte her dem Druckwasserreaktor. Gegenwärtig befindensich von den drei wichtigsten WWER-Reaktortypen insgesamt 53 Ein-heiten in sieben osteuropäischen Ländern im Einsatz. Der ältesteBautyp, der WWER 440-230, wurde bereits oben erwähnt und wirdals Generation-I-Reaktor klassifiziert.

Mit der Generation-II-Baureihe, dem WWER 440-213, wurde einverbessertes Notkühlsystem eingeführt, das zwar über kein vollstän-diges sekundäres Containment, aber zumindest über ein Systemverfügt, das darauf ausgelegt ist, freigesetzte Radioaktivität durcheinen Blasenkondensationsturm zurückzuhalten, den Reaktorkernaber nicht vor externen Ereignissen schützt.

Obwohl der dritte WWER-Bautyp, der 1000-320, weitere Neuerun-gen und eine Leistungssteigerung auf 1000 MW brachte, gilt derBautyp als unsicherer als moderne Druckwasserreaktoren. Nach derWiedervereinigung Deutschlands wurde aufgrund sicherheitstech-nischer und wirtschaftlicher Überlegungen beschlossen, sämtliche65

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in Ostdeutschland betriebenen WWERs stillzulegen oder den Baudaran einzustellen.

Der nach dem Druckwasserreaktor am weitesten verbreitete –und auf diesem basierende – Reaktortyp ist der Siedewasserreaktor(SWR), vom dem weltweit 90 Einheiten in Betrieb sind. Die Modifi-kationen gegenüber dem DWR zielten auf eine Vereinfachung desDesigns und eine höhere thermische Effizienz durch die Reduzie-rung auf einen einzigen Kreislauf und die Erzeugung des Dampfsdirekt im Reaktorkern ab, was allerdings kaum Sicherheitsgewinnegebracht hat. Abgesehen davon, dass SWRs die meisten riskantenEigenschaften mit DWRs teilen, weisen sie noch eine Reihe zusätz-licher Schwachstellen auf.

Siedewasserreaktoren haben eine hohe Energiedichte im Kernsowie einen hohen Druck und hohe Temperaturen im Kühlkreis-lauf, wobei alle diese Parameter etwas geringer als in Druckwasser-reaktoren ausfallen. Im Gegenzug ist das Notkühlsystem weitauskomplexer und werden die Regelstäbe von unten in den Reaktorkerneingeführt. Da deshalb bei einer Notabschaltung im Gegensatz zuDruckwasserreaktoren die Schwerkraft nicht genutzt werden kann,sind zusätzliche aktive Sicherheitssysteme erforderlich.

In vielen Siedewasserreaktoren wurden massive Korrosionspro-bleme beobachtet. In den frühen neunziger Jahren wurden bei einerReihe deutscher Siedewasserreaktoren zahlreiche Rissbildungenfestgestellt, und zwar in einem Rohrleitungsmaterial, das als resis-tent gegen die sogenannte Spannungsrisskorrosion galt.

Im Jahr 2001 trat ein weiteres anhaltendes Problem von Siede-wasserreaktoren zutage: Rohrleitungsbrüche in den ReaktorenHamaoka 1 (Japan) und Brunsbüttel (Deutschland), in beiden Fällenverursacht durch die Explosion eines Wasserstoff/Sauerstoff-Gemischs, das sich durch Hydrolyse im Kühlwasser gebildet hatte.Falls eine Knallgasexplosion zentrale Komponenten des Kontroll-und Sicherheitssystems des Reaktors und/oder die Containment-hülle beschädigt, wird das zu einem schwerwiegenden Unfall miteiner katastrophalen Freisetzung von radioaktiven Stoffen (ver-gleichbar der des Tschernobyl-Unfalls) führen.

Der dritthäufigste derzeit in Betrieb befindliche Reaktortyp ist derSchwerwasser-Druckwasserreaktor (PHWR, Pressurized HeavyWater Reactor) mit derzeit 39 operativen Einheiten in sieben Län-dern. Der wichtigste Bautyp ist der kanadische CANDU-Reaktor, einschwerwassergekühlter und -moderierter Druckröhren-Natururan- 66

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Störfall im AKW Brunsbüttel. Nach einer Wasserstoff-Explosion zerstörtes Rohr in

der Nähe des Reaktorkerns. Der damalige Betreiber, die HEW (heute Vattenfall-

Konzern), informierte die Öffentlichkeit erst zwei Monate später und verweigert bis

heute Akteneinsicht. © Greenpeace

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reaktor. Das primäre Reaktorgefäß enthält 390 einzelne Druckröh-ren. Der Bautyp weist einige inhärente Konstruktionsmängel auf,insbesondere einen positiven Void-Koeffizienten, was bedeutet, dassbei einem Kühlmittelverlust die Reaktorreaktivität zunimmt. WeilNatururan als Brennstoff verwendet wird, ist das Uranvolumen imKern signifikant höher, was zu Instabilitäten führen kann. Außer-dem sind die Druckröhren, die die Uranstäbe enthalten, einemsignifikanten Neutronenbeschuss ausgesetzt, und in Kanada hat dieErfahrung gezeigt, dass sie in Folge davon ermüden, was in man-chen Fällen bereits nach nur 20 Jahren Laufzeit kostspielige Repara-turprogramme erforderlich gemacht hat.

Diese und andere Betriebsprobleme haben den CANDU-Reak-toren gewaltige sicherheitstechnische und ökonomische Problemebeschert. Im Juni 1990 waren sechs der zehn Reaktoren mit derweltweit höchsten Laufzeitleistung CANDU-Reaktoren, vier davonvon Ontario Hydro. Binnen der nächsten sechs Jahre fiel die Leis-tungsausnutzung der CANDUs aufgrund eines Vorgangs, den eineFachzeitschrift als „Wartungskernschmelze“ bezeichnete, jedochdrastisch ab, und in den späten neunziger Jahren beschloss OntarioHydro, den Betrieb von acht seiner CANDU-Reaktoren auszusetzenoder auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben (allerdings wurdenseitdem einige dieser Reaktoren wieder in Betrieb genommen).

Fortgeschrittene gasgekühlte Reaktoren (AGR, Advanced GasReactor) befinden sich ausschließlich in Großbritannien in Betriebund stellen eine modifizierte und modernisierte Version desMagnox-Reaktors dar, die nichtsdestotrotz einige der inhärentenProbleme des Vorläufermodells aufweist, insbesondere das Fehleneines sekundären Containmentsystems und alterungsbedingteMaterialermüdung. So wurden erst unlängst im Reaktorkern einesAGRs Risse in einer Anzahl Graphitziegel entdeckt, ein Problem,das, sollte es sich bei anderen Einheiten wiederholen, die vorzeitigeStillegung von Reaktoren erzwingen könnte (NUCWEEK50_04).

2.3 Generation IIIBei Generation-III-Reaktoren handelt es sich um sogenannte „Ad-vanced Reactors“ – fortgeschrittene Reaktoren, von denen drei inJapan bereits in Betrieb und weitere im Bau oder geplant sind.Berichten zufolge befinden sich derzeit über 20 unterschiedlicheGeneration-III-Reaktortypen in der Entwicklung (IAEA 2004; WNO2004a). Die meisten von ihnen sind „evolutionäre“, sprich weiteren- 68

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twickelte Reaktortypen, die auf modifizierten Generation-II-Reaktor-typen basieren, ohne dabei aber massiv von ihnen abzuweichen. Nurein paar repräsentieren wirklich innovative Ansätze. Laut Angabender World Nuclear Association sind für Generation-III-Reaktorenfolgende Eigenschaften charakteristisch (WNA 2005):

– ein standardisiertes Design für jeden Reaktortyp, um den Geneh-migungsprozess zu beschleunigen und Kapitalkosten sowieBauzeit zu reduzieren;

– ein simpleres und robusteres Design, das den Reaktorbetriebvereinfacht und die Anfälligkeit der Anlage für Betriebsstörungensenkt;

– höhere Verfügbarkeit und längere Laufzeiten – normalerweise biszu 60 Jahren;

– vermindertes Risiko einer Kernschmelze; – minimale Auswirkungen auf die Umwelt;– höherer Abbrand und dadurch Verminderung des Brennstoffs-

einsatzes und der Abfallmenge; – abbrennbare Neutronenabsorber („Reaktorgifte“) zur Erhöhung

der Brennstofflebensdauer.

Ganz offenkundig zielen diese Veränderungen hauptsächlich aufeine höhere Wirtschaftlichkeit. Inwieweit sie zu höheren Sicher-heitsstandards beitragen, ist unklar.Der Europäische Druckwasserreaktor (EPR, European PressurizedReactor) ist ein Druckwasserreaktor, der auf der französischen N4-und der deutschen Konvoi-Reaktorbaureihe basiert, den modernstenGeneration–II-Reaktoren, die in diesen Ländern in Betrieb genom-men wurden (Hainz 2004).

Die erklärten Ziele bei der Entwicklung des EPRs lauteten, dasSicherheitsniveau des Reaktors zu verbessern (und insbesondere dieWahrscheinlichkeit eines ernsten Unfalls um den Faktor zehn zureduzieren), die radiologischen Folgen schwerwiegender Unfälle aufdie Anlage selbst zu beschränken und die Kosten zu begrenzen.Im Vergleich zu seinen Vorgängern weist der EPR allerdingsmehrere Modifikationen auf, die zu einer Verminderung der Sicher-heitsabstände führen:

– Das Volumen des Reaktorgebäudes wurde durch die Vereinfa-chung des Notkühlsystems und auf Grundlage neuer Berechnun-69

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gen verringert, laut denen während eines Unfalls wenigerWasserstoff entsteht.

– Die thermische Leistung der Anlage wurde im Vergleich zum N4durch eine höhere Kühlmittelaustrittstemperatur, die höhereKapazität der Hauptkühlmittelpumpen und die Modifikation derDampferzeuger um 15 Prozent erhöht.

– Im Gegensatz zu den Konvoi-Reaktoren besitzt der EPR wenigerRedundanz in den Sicherheitssystemen, zum Beispiel verfügt dasNotkühlsystem nur über vier statt acht Drucktanks.

Mehrere andere Modifikationen werden als wichtige Sicherheits-fortschritte gepriesen:

– Der Tank des Notspeisewassersystems innerhalb des Contain-ments befindet sich am Boden des Reaktorgebäudes und dientzugleich als Kühlmitteltank und „Sumpf“, was bei einem Kühl-mittelverlustunfall die Umschaltung von der Reserve-Notspei-sung zur Sumpfrezirkulation überflüssig macht und dadurchgleiche mehrere Fehlerquellen ausschließt. Insgesamt betrachteterscheint der Sicherheitsgewinn allerdings eher gering.

– Die Kernschmelzrückhalteeinrichtung dient bei einem Kern-schmelzunfall zum Auffangen und Kühlen des geschmolzenenReaktorkerns. Im EPR sammelt sich die Kernschmelze im unte-ren Bereich des Reaktordruckbehälters. Nachdem sie sich, wie zuerwarten, durch den Boden gebrannt hat, fließt die Kernschmelzedurch die Schwerkraftwirkung in die Reaktorgrube, wo sich dasgeschmolzene Metall verteilt und abkühlt. Mittels passiver Vor-richtungen wird dann das Wasser aus dem Notspeisewasser-system zur Flutung und Abkühlung der Schmelzmasse in diesemBereich freigesetzt. Um exzessive Temperaturen in der Beton-konstruktion des Reaktorgebäudes zu vermeiden, ist der Bodender Reaktorgrube mit einem Kühlsystem ausgerüstet. Allerdingskönnte sich, noch bevor die Kernschmelze die Kernschmelzrück-halteeinrichtung erreicht, bei einem Versagen des Sicherheits-behälters im Reaktordruckbehälter eine verheerende Dampf-explosion ereignen. Darüber hinaus kann es auch im späterenVerlauf des Unfalls zu Dampfexplosionen kommen, wenn dieSchmelze im Ausbreitungsbereich mit dem Notspeisewasser inKontakt kommt. Und selbst wenn das nicht passiert, ist unklar, obeine effektive Kühlung der sich verteilenden Kernschmelzmasse 70

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möglich ist. So könnte sich auf der Oberfläche der Kernschmelzeeine feste Schicht bilden, die die Wärmeableitung verhindert, wasdazu führen würde, dass der Kern den Beton unterhalb derReaktorgrube durchdringt.

– Das Containment-Kühlsystem basiert auf dem N4-Design. DasSystem soll den Druck im Sicherheitsbehälter verringern unddadurch ein Überdruckversagen vermeiden, um eine kontinuier-liche Kühlung zu gewährleisten. Bislang liegen noch keine Infor-mationen über seine Versagenswahrscheinlichkeit vor.

– Wasserstoffrekombinatoren reduzieren durch passive kataly-tische Prozesse die Wasserstoffkonzentration im Containment.Derartige Rekombinatoren, die weltweit in vielen Druckwasser-reaktoren zum Einsatz kommen, verringern zwar das Risiko vonWasserstoffexplosionen, vollständig ausschließen können sie esaber nicht.

– Der EPR ist mit einem digitalen Steuer- und Kontrollsystem aus-gerüstet. Abgesehen davon, dass ein solches System sehr hoheAnsprüche an die Entwickler stellt, lässt sich seine einwandfreieImplementation nur sehr schwer überprüfen. Als ein vergleich-bares System im Jahr 2000 bei dem deutschen Druckwasser-reaktor Neckar 1 installiert wurde, war danach die Fähigkeit zurReaktorschnellabschaltung eine Zeit lang blockiert. Beim bri-tischen Druckwasserreaktor Sizewell B, der von Anfang an miteinem digitalen Steuer- und Kontrollsystem ausgerüstet war, kames im April 1998 zu schwerwiegenden Ausfällen des Reaktor-schutzsystems.

Der Schutz des EPR gegen Flugzeugabstürze entspricht dem derdeutschen Konvoi-Reaktoren und stellt damit keine Verbesserunggegenüber dem bisherigen Sicherheitsstandard dar.

Ungeachtet der angestrebten Änderungen droht dem EPR einProblem, das unter Druckwasserreaktoren der Generation II weitverbreitet und noch nicht voll gelöst ist: Entgegen den Versiche-rungen französischer Experten, dieses Problem sei aufgrund derKonstruktionsunterschiede zu den Vorgängermodellen irrelevant,besteht nach Ansicht der finnischen Atomaufsicht auch beim EPRdie Gefahr einer Verstopfung des Sumpffilters. Obwohl das Themavon den finnischen Behörden schon vor etlichen Jahren ange-sprochen wurde, scheint es beim EPR noch nicht gelöst worden zusein (NUCWEEK 11_04).71

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Alles in allem gibt es keine Garantie, dass das Sicherheitsniveaudes EPRs im Vergleich zu den N4- und Konvoi-Reaktoren signifikanthöher ist; insbesondere ist die Reduzierung der Wahrscheinlichkeiteines Kernschmelzunfalls um den Faktor zehn nicht erwiesen.Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel, ob die Eindämmungund Kontrolle eines Kernschmelzunfalls mit Hilfe des „Kern-schmelzrückhalteeinrichtung“-Konzepts tatsächlich wie vorherge-sagt funktionieren wird.

Beim Kugelhaufenreaktor (PBMR, Pebble Bed Modular Reactor)handelt es sich um einen gasgekühlten Hochtemperaturreaktor(HTR, High Temperature Gas Cooled Reactor). Der HTR-Bautypwurde bis in die späten achtziger Jahre hinein in mehreren Länderverfolgt, allerdings gingen nur ein paar Prototypenanlagen inBetrieb, von denen es aber keine auf eine signifikant hohe Laufzeitbrachte: Peach Bottom 1 und Fort St. Vrain (Vereinigte Staaten),stillgelegt 1974 beziehungsweise 1989; Winfrith (Großbritannien),stillgelegt 1976, und der THTR Hamm-Uentrop in Deutschland,abgeschaltet 1988 nach nur dreijähriger Laufzeit (WNIH 2004).

Im Gegensatz zu Leichtwasserreaktoren, die Wasser und Dampfverwenden, treibt in Kugelhaufenreaktoren unter Druck stehendesHelium, das im Reaktorkern aufgeheizt wird, eine Reihe von Turbi-nen an, die an Stromgeneratoren angeschlossen sind. Das Heliumwird in einem Wärmetauscher durch einen sekundären Helium-kreislauf abgekühlt und dann zur Kühlung wieder in den Reaktor-kern gepumpt. Das Helium hat beim Kernaustritt über 900°C undsteht unter einem Druck von 69 bar. Der sekundäre Heliumkreis-lauf ist wassergekühlt (ESKOM 2005).

Die Entwickler behaupten, dass es bei diesem Reaktortyp keineUnfallszenarien gibt, die zu signifikanten Brennstoffschäden undeiner katastrophalen Freisetzung von Radioaktivität führen. DieseBehauptung basiert auf der Hitzeresistenz und Stabilität der rund400.000 tennisballgroßen Graphitbrennstoffkugeln (Englisch: „peb-bles“), die kontinuierlich aus einem Brennstoffsilo zugegeben wer-den und langsam durch den Reaktorkern nach unten wandern. Diesphärischen Brennstoffelemente bestehen aus einem Graphitkern,in dem Tausende kleiner mit Pyrokohlenstoff und Siliziumkarbidbeschichteter Brennstoffteilchen aus angereichertem Uran (bis zu 10Prozent) eingebettet sind. Dank der langsamen Zirkulation derBrennstoffelemente durch den Reaktorkern ist der Kern relativ klein, 72

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was die Überschussreaktivität und die Energiedichte verringert undsomit die Sicherheit erhöht. Allerdings wird der Fähigkeit der be-schichteten Brennstoffelemente, die Radioaktivität zurückzuhalten,so sehr vertraut, dass die Kugelhaufenreaktoren ohne Containmentgeplant werden. Während der Verzicht auf einen Sicherheitsbehältereine beträchtliche Kosteneinsparung für die Energieversorger bedeu-tet – und den Bautyp möglicherweise sogar wirtschaftlich macht –,wird dieser Vorteil auf Kosten der öffentlichen Gesundheit undSicherheit erkauft (Gunter 2001).

Laut Eskom, dem südafrikanischen Energieversorger, der einenKugelhaufenreaktor betreiben will, ist der Reaktor „walk-away-safe“,d.h. er könnte selbst dann, wenn das gesamte Personal des Atom-kraftwerks abgezogen würde, in keinen kritischen Zustand geraten.Weiter wird behauptet, dass die Brennstofftemperatur in keinemFall 1600° C überschreiten wird, während Brennstoffschäden erst ab2000° C auftreten (ESKOM 2005).

Allerdings ist das Temperaturlimit von 1600° C in der Realitätkeineswegs garantiert. Es hängt sowohl von einer erfolgreiche Reak-torschnellabschaltung als auch einem Funktionieren der passivenKühlsysteme (die beispielsweise durch Rohrbrüche und Kühlerlecksgeschädigt werden können) ab. Darüber hinaus beginnt die Frei-setzung von Spaltprodukten in den Brennstoffelementen bereits beiTemperaturen von knapp über 1600° C. In diesem Kontext ist esirrelevant, wenn ernsthafte Brennstoffschäden oder eine Kern-schmelze erst über 2000° C eintreten, da massive radioaktive Frei-setzungen bereits deutlich unterhalb dieser Grenze möglich sind.

Während es zutrifft, dass sich der Reaktorkern nach einem Ver-sagen des Kühlsystems vergleichsweise langsam aufheizt, verursachtdiese thermische Trägheit ganz eigene Probleme, und zwar weilGraphit als Moderator und Strukturmaterial verwendet wird. FallsLuft in den primären Heliumkreislauf eindringt, könnte das einenGraphitbrand mit katastrophalen radioaktiven Freisetzungen aus-lösen. Auch im Falle eines Wassereintritts in den sekundärenHeliumkreislauf – zum Beispiel durch ein Leck im Wärmetauscher– sind heftige Dampf/Graphit-Reaktionen möglich. Allem Dafür-halten nach ist ein Graphitbrand das wahrscheinlichste Szenarioeines schwerwiegenden Unfalls für einen Kugelhaufenreaktor(Hahn 1988).

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Andere Reaktortypen der Generation IIIDerzeit befinden sich eine Vielzahl verschiedener Konzepte mit demEtikett „Generation III“ in unterschiedlichen Entwicklungs- undBaustadien. Auch wenn hier keine vollständige Liste wiedergegebenwerden kann, werden im Folgenden basierend auf den Aufstellun-gen der World Nuclear Association (WNO 2005) und der Inter-national Atomic Energy Agency (IAEA 2004) die wichtigsten Bau-typen angeführt.

– Druckwasserreaktoren: Die wichtigsten großen Reaktortypensind der APWR (Mitsubishi/Westinghouse), der APWR+ (Mitsu-bishi), der EPR (Framatome ANP), der AP-1000 (Westinghouse),der KSNP+ und der APR-1400 (Korean Industry) sowie der CNP-1000 (China National Nuclear Corporation). Bei den WWERshaben Atomenergoproject und Gidropress in Russland einen fort-geschrittenen WWER-1000 entwickelt. Bei den wichtigsten klei-nen und mittleren fortgeschrittenen DWR-Bautypen handelt essich um den AP-600 (Westinghouse) und den WWER-640(Atomenergoproject und Gidropress).

– Siedewasserreaktoren: Die wichtigsten großen Bautypen sind derABWR und der ABWR-II (Hitachi, Toshiba, General Electric), derSWR 90+ (Westinghouse Atom of Sweden), der SWR-1000(Framatome ANP) und der ESBWR (General Electric). BeimHSBWR und HABWR (Hitachi) handelt es sich um kleine undmittlere fortgeschrittene SWR-Konzepte. In Japan befinden sichbereits drei ABWRs in Betrieb: zwei auf Kashiwazaki-Kariwa seit1996 und ein dritter seit 2004.

– Schwerwasserreaktoren: Der ACR-700 ist ein weiterentwickeltesCANDU-Design (Atomic Energy of Canada Limited). Indien ent-wickelt den AHWR (Advanced Heavy-Water Reactor ), einen fort-geschrittenen schwerwassermoderierten und leichtwassergekühl-ten Siedewasserreaktor evolutionären Designs.

– Gasgekühlte Reaktoren: Abgesehen vom KugelhaufenreaktorPBMR (ESKOM/BNFL) wird im Rahmen einer internationalenKooperation noch ein kleiner heliumgekühlter Hochtemperatur-reaktor (GT-MHR – Gas Turbine Modular Helium Reactor)entwickelt.

– Schnelle Brutreaktoren: Derzeit wird kein evolutionärer Brütertypentwickelt. Zu den Konzepten, die für Reaktoren der GenerationIV erwogen werden, gehören mehrere Schnelle Reaktoren. 74

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2.4 Generation IVDas amerikanische Energieministerium, das Department of Energy(DOE), initiierte im Jahr 2000 das „Generation IV InternationalForum“ (GIF). Heute gehören dieser Initiative zehn Länder (Argen-tinien, Brasilien, Kanada, Frankreich, Japan, Südkorea, Südafrika,Schweiz, Großbritannien und die Vereinigten Staaten) sowieEURATOM an. Ziel der Initiative ist die Entwicklung innovativernuklearer Systeme (Reaktoren und Brennstoffkreisläufe), die voraus-sichtlich bis 2030 technisch ausgereift sein sollen, ein Datum, dasallerdings weithin für sehr optimistisch gehalten wird. DieGeneration-IV-Reaktoren sollen sehr wirtschaftlich und deutlichsicherer sein, nur minimale Mengen an Atommüll erzeugen undkein Proliferationsrisiko darstellen. Außerdem sollen diese Themenauf eine Art und Weise angegangen werden, die die Akzeptanz derAtomenergie in der Öffentlichkeit verbessert.

Entsprechend werden die Ziele für Reaktoren der Generation IVin vier allgemeine Bereiche unterteilt:

– Nachhaltigkeit (Umweltverträglichkeit/Zukunftsfähigkeit);– Wirtschaftlichkeit;– Sicherheit und Zuverlässigkeit;– Proliferationsbarrieren und physischer Schutz.

Zur Identifikation und Evaluation geeigneter Systeme und zur Defi-nition von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zu derenUnterstützung wurden aus Fachleuten aus Industrie und Forschunginternationale Expertengruppen gebildet. Insgesamt identifiziertenund bewerteten die Experten rund 100 verschiedene mögliche Reak-tortypen. Darunter Konzepte, die eigentlich zu den Reaktoren derGeneration III+ gehörten, aber auch neue, die sich von allen be-kannten Technologien unterschieden. Am Ende des Auswahlprozes-ses wurden sechs Konzepte für die weitere Entwicklung empfohlen(siehe unten). Wie das GIF anmerkte, könnten sich einige der Kon-zepte als nicht realisierbar oder kommerziell einsetzbar erweisen.

Zur weiteren Unterstützung und Stärkung der Forschung undEntwicklung von Reaktoren der Generation IV haben die Vereinig-ten Staaten, Kanada, Frankreich, Japan und Großbritannien am 28.Februar 2005 in Washington das International Forum FrameworkAgreement unterzeichnet, das ein besonderes Augenmerk auf dieEntwicklung von Systemen zur Erzeugung von Wasserstoff und75

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Strom legt (NNF 2005; Anderson 2005). Mit dem International Pro-jects on Innovative Nuclear Reactors and Fuel Cycles (INPRO) hattedie IAEA bereits 2001 eine ähnliche Initiative ins Leben gerufen, diesich in Abhängigkeit von regionalen Bedürfnissen wohl auf mehr alsein System konzentrieren wird. Finanziert wird INPRO von derIAEA. Im November 2004 gehörten INPRO 21 Länder oder Orga-nisationen an. GIF und INPRO haben auf der technischen Ebeneeine Formalisierung der Kooperation vereinbart. Die USA zögernmit der Teilnahme an INPRO, weil sie es für eine russische Initiativehalten. (NUCWEEK 14_02)

Für die Generation IV ausgewählte Konzepte Wie bereits erwähnt, wurden im Rahmen des GIF sechs Konzeptezur weiteren Entwicklung ausgewählt, die im Folgenden kurzvorgestellt werden.

Gasgekühlte schnelle Reaktorsysteme (GFR)GFR-Systeme (Gas-Cooled Fast Reactor) bestehen aus einemheliumgekühlten Reaktor mit schnellem Neutronenspektrum undeinem geschlossenen Brennstoffkreislauf, der primär der Strom-erzeugung und dem Aktinidenmanagement dient. Der GFR ist nichtfür die Wasserstofferzeugung gedacht. Man hofft, dass der GFR dieEntwicklung der HTGR-Technologie (die unter vielerlei Problemenleidet, siehe den Abschnitt über den VHTR weiter unten) sowie dieEntwicklung innovativer Brennstoffe und hochtemperaturbeständi-ger Werkstoffe für den VHTR voranbringt. Trotz erheblicher techno-logischer Lücken rangiert der GFR laut GIF dank seines geschlosse-nen Brennstoffkreislaufs und seinem exzellenten Aktinidenmanage-ment im Hinblick auf Nachhaltigkeit ganz oben. Auch hinsichtlichSicherheit, Wirtschaftlichkeit sowie Proliferationsbarrieren und phy-sischem Schutz wird der Reaktortyp hoch bewertet. Man geht davonaus, dass der GFR bis 2025 einsatzfähig sein wird (DOE 2002).

Mehrere GIF-Mitglieder haben ein spezielles Interesse an einersequenzierten Entwicklung gasgekühlter Systeme: Der erste Schrittdes sogenannten „Gas Technology Paths“ zielt auf die Entwicklungeines modularen HTGR (High Temperature Gas Cooled Reactor) ab,gefolgt im zweiten Schritt vom VHTR und im dritten Schritt vomGFR (Carré 2004). Europa und die Vereinigten Staaten betrachtendie gasgekühlten Systeme VHTR und GFR als die aussichtsreichstenKonzepte. 76

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Bleigekühlte schnelle Reaktorsysteme (LFR)LFRs (Lead-Cooled Fast Reactor) sind Reaktoren mit einer Flüssig-metallkühlung (Blei oder Blei und Wismut), die über ein schnellesNeutronenspektrum verfügen und sich durch einen geschlossenenBrennstoffkreislauf zur effizienten Umwandlung von brutfähigemUran und Verwertung von Aktiniden auszeichnen. Geplant ist einegroße Leistungsbandbreite, von „Batterie-Kraftwerken“ mit 50 bis150 MWe über modulare Blöcke von 300 bis 400 MWe bis hin zugroßen Einzelanlagen mit 1200 MWe. Die LFR-Batterien sind alskleine, industriell vorgefertigte Anlagen mit sehr langen Abbrand-zyklen (10 bis 30 Jahre) geplant. Zielgruppe sollen kleine Netze undEntwicklungsländer sein, die keine eigene Brennstoffkreislauf-infrastruktur aufbauen möchten. Unter den LFR-Konzepten gilt dieBatterie-Option als das aussichtsreichste Konzept, was die Erfüllungder Generation-IV-Ziele betrifft. Allerdings besteht bei dieser Optionauch der größte Forschungsbedarf, und sie dürfte die längste Ent-wicklungszeit erfordern.

Obwohl Russland – das über die größte Erfahrung mit LFRs ver-fügt – dem GIF nicht angehört, entspricht der Bautyp dem russi-schen BREST-Reaktor. (BREST ist ein Schneller Reaktor mit einerLeistung von 300 MWe und Blei als primärem Kühlmittel. EinePilotanlage wird derzeit auf Beloyarsk errichtet.) Von den GIF-Mitgliedern hat nur die Schweiz ein größeres Interesse an der Ent-wicklung eines LFR bekundet, während die Vereinigten Staatenunterschiedliche Bautypen studieren, von denen besonders der soge-nannte Small Secure Transportable Autonomous Reactor (SSTAR,sicherer mobiler und autonomer Kleinreaktor) zu erwähnen ist.

Das LFR-System erzielt wegen seines geschlossenen Brennstoff-kreislaufs Höchstwerte bei der Nachhaltigkeit und – aufgrund deslanglebigen Kerns – bei den Proliferationsbarrieren und beim physi-schen Schutz. Hinsichtlich Sicherheit und Wirtschaftlichkeit erhältder Bautyp gute Noten. Es wird geschätzt, dass die ersten LFR-Systeme bis 2025 einsatzfähig sind (DOE 2002).

Salzschmelze-Reaktor-System (MSR)Das MSR-System (Molten Salt Reactor) basiert auf einem thermi-schen Neutronenspektrum und einem geschlossenen Salzschmelze-Brennstoffkreislauf. Der Uranbrennstoff ist in flüssigem Natrium-fluoridsalz gelöst, das als Kühlmittel durch die Graphit-Kernkanälezirkuliert. Die direkt in dem geschmolzenen Salz erzeugte Wärme77

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wird über ein sekundäres Kühlmittelssystem und durch einen ter-tiären Wärmetauscher zu den Stromgeneratoren geleitet. Der Bau-typ soll primär der Stromerzeugung und der Aktinidenverbrennungdienen. Die Referenzanlage hat eine Leistung von 1000 MWe. DieKühlmitteltemperatur beträgt bei einem sehr niedrigen Druck700° C, woraus sich eine hohe Temperaturdifferenz zum Siede-punkt des Salzes (1400° C) ergibt.

Die GIF wählte den MSR als das innovativste nichtklassische Kon-zept aus. Von allen sechs Reaktorsystemen erfordert der MSR diehöchsten Entwicklungskosten (eine Milliarde Dollar). Insgesamt istdas Interesse der GIF-Mitglieder an dem MSR eher gering. Diehohen Entwicklungskosten und der absehbar lange Zeitrahmenkönnten bedeuten, dass das MSR-System aus der Kategorie derGeneration IV gestrichen wird (NUCWEEK 02_05).

Leichtwasserreaktor mit überkritischen Dampfzuständen (SCWR)Der SCWR (Supercritical Water-Cooled Reactor) ist ein Hochtempe-raturreaktor, der mit unter hohem Druck stehendem Wasser gekühltund oberhalb des thermodynamisch kritischen Punkts des Wassersbetrieben wird (sprich bei einem Druck und bei Temperaturen, beidenen es keinen Unterschied mehr zwischen der flüssigen und derDampfphase gibt). Die Referenzanlage hat eine Leistung von 1700MWe, wird bei einem Druck von 25 MPa und einer Kernaustrittstem-peratur von 550° C betrieben. Als Brennstoff dient Uranoxid. Die pas-siven Sicherheitseigenschaften sind denen des Simplified BoilingWater Reactor (SBWR) vergleichbar. SCWRs können zwar mit ther-mischen oder schnellen Neutronen arbeiten, gegenwärtig jedochkonzentrieren sich die weltweiten Forschungsanstrengungen aufdas thermische Design.

Der thermische Wirkungsgrad eines SCWR kann bis zu 44 Pro-zent erreichen, verglichen mit 33 bis 35 Prozent bei herkömmlichenLeichtwasserreaktoren. Weil der SCWR im überkritischen Dampf-bereich, also einphasig arbeitet und (wie Siedewasserreaktoren) übereinen direkten Kreislauf verfügt, entfällt die Notwendigkeit vonDampfabscheidern, Dampftrocknern, Dampferzeugern und Rezir-kulationspumpen, was gegenüber herkömmlichen Leichtwasser-reaktoren (LWR) zu einem beträchtlich einfacheren und kompakte-ren System führt. Aufgrund des höheren thermischen Wirkungs-grads und der einfacheren Auslegung dürften SCWRs wirtschaft-licher als LWRs sein. Die Regierungen von Japan, den Vereinigten 78

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Staaten und Kanada engagieren sich in der Entwicklung des SCWR,bislang aber wurden noch keine Prototypen gebaut.

Das Interesse der GIF-Mitglieder an der Entwicklung des SCWRist fast durchgängig sehr hoch – fast so hoch wie das an der Entwick-lung gasgekühlter Reaktoren.

Natriumgekühlter schneller Reaktor (SFR)Das SFR-System (Sodium-Cooled Fast Reactor) verfügt über einschnelles Neutronenspektrum und einen geschlossenen Brennstoff-kreislauf. Es lassen sich zwei Grundversionen unterscheiden: ein-mal ein modulares Reaktorsystem (150 bis 500 MWe) mit metalli-schem Brennstoff, wobei der Brennstoff pyrometallurgisch direkt ineiner angeschlossenen Anlage wiederaufarbeitet wird; zum Zweitenmittlere bis monolithische Reaktoren (500 bis 1500 MWe) mit MOX-Brennstoff (Uran-Plutonium-Mischoxid) und einer technologischaufwendigen Aufarbeitung der Brennstoffe in einer zentralen An-lage, die mehrere Reaktoren versorgt. Das primäre Kühlmittelsystemkann entweder nach dem Pool- oder Loop-Prinzip ausgeführt wer-den. Die Kühlmittelaustrittstemperatur beträgt bei beiden Variantenetwa 550° C (DOE 2002, Lineberry 2002).

Laut GIF verfügt der SFR über die umfassendste Entwicklungs-basis aller Konzepte der Generation IV. Allerdings basiert das der-zeitige Know-how hauptsächlich auf älteren Reaktoren, die ausGründen wie Sicherheit, Wirtschaftlichkeit, Protesten in der Bevöl-kerung inzwischen stillgelegt sind. Im Jahr 2004 befanden sich nurdrei Prototypen von natriumgekühlten Brütern in Betrieb. Aufgrundder Geschichte wie auch der erheblichen Risiken dieser Reaktorliniefällt es schwer nachzuvollziehen, warum das GIF den SFR ausge-wählt hat. Nach GIF-Angaben sind weitere Forschungen zum Brenn-stoffzyklus wie auch zum Reaktorsystem selbst erforderlich, bevorder SFR einsatzfähig ist. Zudem müssen noch wichtige Sicher-heitsfragen geklärt werden, wobei es insbesondere darum geht, dieZuverlässigkeit des passiven Feedbacks durch die Aufheizung derReaktorstrukturen zu bestätigen und die langfristige Fähigkeit zuermitteln, nach einem Bruch der Brennstabhüllen das Mischoxidoder Metallrückstände aus dem Brennstoff zu kühlen (DOE 2002).

Höchsttemperaturreaktor (VHTR)Das VHTR-System (Very High-Temperature Reactor) verfügt überein thermisches Neutronenspektrum und einen offenen Uranbrenn-79

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stoffzyklus. Der Referenzreaktor hat einen 600-MWth graphitmo-derierten und heliumgekühlten Kern, der entweder auf dem prisma-tischen Kern des GT-MHR oder dem Kugelhaufen des PBMR basiert.Es gilt als das vielversprechendste und effizienteste System für dieWasserstoffproduktion, entweder unter Verwendung des thermo-chemischen Jod-Sulfat-Prozesses oder von Wärme, Wasser undErdgas durch nukleare Dampfreformation bei Kernaustrittstempera-turen von über 1000° C. Der VHTR soll auch Elektrizität mit einemhohen Wirkungsgrad erzeugen (über 50 Prozent bei 1000 °C).Geplant wird, das Heliumturbinensystem direkt mit dem primärenKühlmittelkreislauf zu koppeln, allerdings muss eine entsprechendeHochleistungs-Heliumturbine erst noch entwickelt werden. DerVHTR erfordert signifikante Fortschritte bei der Entwicklung vonBrennstoff-Formen und hochtemperaturbeständigen Werkstoffen(DOE 2002). Der VHTR stellt die nächste Stufe in der Weiterent-wicklung gasgekühlter Hochtemperaturreaktoren (HTR) dar. DieTechnologie basiert auf einer Reihe inzwischen stillgelegter Pilot-und Demonstrations-HTRs mit thermischem Spektrum, die größ-tenteils nur kurze Zeit und dabei wenig erfolgreich in Betrieb waren,beispielsweise der kleine Dragon-Versuchsreaktor (20 MWth, 1966-1975, Großbritannien), der AVR (15 MWe, 1967–1988, Deutschland),der THTR (308 MWe, 1986–1988, Deutschland) sowie die US-Anla-gen Peach Bottom I (42 MWe, 1967–1974) und Fort St. Vrain (342MWe, 1976–1989).

Bewertung von Systemen der Generation IV und SchlussfolgerungenUnvorhergesehene technische Probleme, Unfälle, das ungelöstenukleare Abfallproblem sowie die hohen Kosten von Atomstromhaben im Verein mit der geringen öffentlichen Akzeptanz zu einemBedeutungsverlust der Atomenergie geführt. Das ist der Hinter-grund für die Generation-IV-Initiative des amerikanischen Depart-ment of Energy. Mit dem Etikett Generation IV soll der Öffentlich-keit die Illusion verkauft werden, man sei dabei, eine vollständigneue Reaktorgeneration zu entwickeln, die frei von allen Problemenist, unter denen die heutigen kerntechnischen Anlagen leiden.

Ein primäres Ziel der Generation-IV-Initiative liegt darin, dieFinanzierung für die Atomforschung zu sichern. Gegenwärtig fließtzwar noch ein hoher Anteil der Mittel für Forschung und Entwick-lung (FuE) in die Förderung des Atomstroms – zwischen 1991 und2001 ging die Hälfte des FuE-Haushalts im Energiebereich der 26 80

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OECD-Mitgliedsländer (87,6 Milliarden US-Dollar) in die Atomfor-schung, während auf die erneuerbaren Energien gerade einmal achtProzent entfielen (Schneider 2004). Doch langsam vollzieht sich beider Forschungsfinanzierung eine Abkehr von der Atomenergie. DieGeneration-IV-Initiative versucht diese Trendwende umzukehren,indem sie Atomenergie als wirtschaftlich attraktiv, als nachhaltigund als CO2-frei propagiert – Etiketten, die üblicherweise (und zuRecht) für die erneuerbaren Energien reserviert sind.

Die Aussichten stehen gut, dass diese Strategie mit dazu beiträgt,die Atomindustrie und die Kernforschungsinstitutionen am Lebenzu erhalten. Ob sie allerdings auch zur Entwicklung neuer Reakto-ren führen wird, ist höchst zweifelhaft. Die geschätzten Entwick-lungskosten für die sechs ausgewählten Konzepte der Generation IVliegen bei über sechs Milliarden US-Dollar (zwischen 600 Millionenbis eine Milliarde Dollar pro System zuzüglich etwa 700 MillionenUS-Dollar für die Querschnittforschung) (DOE 2002). Zudem mussman davon ausgehen, dass weder die Kosten- noch die Zeitprogno-sen eingehalten werden. Die französische Regierung, die mit amentschiedensten für das GIF-Programm eintritt, geht davon aus,dass die ersten Generation-IV-Reaktoren „frühestens um 2045herum für den kommerziellen Einsatz bereit sein werden“ (NUC-WEEK 20_04), und nicht bis 2030, wie offiziell vom GIF propagiert.

Das muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Atom-energie in liberalisierten Märkten von den Kosten her weder mitKohle und Erdgas (MIT 2003) noch mit der Windenergie konkur-rieren kann. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie erzeugen beiderselben Investition Windkraftwerke 2,3-mal mehr Strom als einNuklearreaktor (GREENPEACE 2003).

Seit dem Beginn der Nutzung von Atomkraftwerken zur Strom-erzeugung in den fünfziger Jahren ist die Leistung der Reaktor-blöcke von 60 MWe auf über 1300 MWe angestiegen, was zu entspre-chenden Größeneffekten beim Betrieb geführt hat. Heute geht derTrend eher zur Entwicklung kleiner Blöcke, die allein stehend ge-baut oder als Module zu einem größeren – und je nach Bedarf suk-zessive erweiterbaren – Reaktorkomplex zusammengefasst werden.Wichtigste Auslöser für diesen Trend sind die Verminderung desfinanziellen Risikos und die Notwendigkeit, in vielen Entwicklungs-ländern kleinere Netze zu integrieren. Die größte Zunahme derAtomstromproduktion wird für die Entwicklungsländer prognos-tiziert, die als potenzieller Markt für Generation-IV-Reaktoren gel-81

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ten. Allerdings hat ein IAEA-Experte erhebliche Zweifel an dieserHoffnung geäußert: Dass Entwicklungsländer neu entwickeltekleine AKWs bestellen, die nicht andernorts erfolgreich gebaut undbetrieben wurden, erscheint höchst unwahrscheinlich (NPJ 2002).Darüber hinaus wird die Auffassung, dass der Bau kleiner Moduledie einzige Methode ist, Atomstrom von den Kosten her konkurrenz-fähig zu machen, nicht von allen Atomindustrieexperten geteilt.

Ein weiterer Versuch, die Wirtschaftlichkeit von Atomstrom zuverbessern, ist die Produktion von Wasserstoff, wie das bei mehre-ren Konzepten der Generation IV geplant ist. „Wasserstoff ist einerder drei Pfeiler der nuklearen Hoffnungen für die Zukunft (dieanderen beiden sind die Notwendigkeit, die Verbrennung fossilerBrennstoffe zu reduzieren und die für die Entwicklungsländererwartete wachsende Stromnachfrage)“ (Gordon 2004).

Das GIF preist den geschlossenen Brennstoffkreislauf als einender wichtigsten Vorzüge der Konzepte der Generation IV an. Dazumuss in der Wiederaufbereitung Plutonium aus dem abgebranntenKernbrennstoff extrahiert und das Plutonium anschließend alsKernbrennstoff verwendet werden. Das hat signifikante Prolifera-tionsfolgen, zumal die neuen Reaktortypen weltweit exportiert wer-den sollen. Außerdem wird die Wiederaufbereitung von Plutoniumwegen der massiven negativen Umweltfolgen, der hohen Kostenund der sicherheitstechnischen Risiken heftig kritisiert. Die allge-meine Einführung geschlossener Brennstoffkreisläufe würde ineiner ganzen Reihe von Ländern, darunter auch den USA, eine Ab-kehr von der aktuellen Nichtproliferationspolitik und in den meis-ten, die Atomenergie nutzenden Ländern eine Revision der aktuel-len Industriepolitik voraussetzen. Sollten tatsächlich Generation-IV-Reaktoren mit geschlossenen Brennstoffkreisläufen in größererZahl in Betrieb gehen, müssten gewaltige Summen in den Bau vonWiederaufbereitungsanlagen investiert werden.

Darüber hinaus wären die Kosten solcher Brennstoffkreislauf-konzepte – sprich die Wiederaufbereitung – sehr hoch. Laut einerjüngeren Studie des Massachusetts Institute of Technology mit demTitel The Future of Nuclear (MIT 2003) konnte bislang noch nichtüberzeugend belegt werden, dass die langfristigen Vorteile fortge-schrittener geschlossener Brennstoffkreisläufe, die auf der Wieder-aufbereitung von abgebranntem Brennstoff basieren, nicht durchdie kurzfristigen Risiken und Kosten einschließlich der Prolifera-tionsrisiken übertroffen werden. Zudem kam die MIT-Studie zu 82

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dem Ergebnis, dass die Brennstoffkosten bei einem geschlossenenKreislauf einschließlich der Kosten für die Abfallagerung und -ent-sorgung um das bis zu 4,5fache über denen eines offenen Systemsliegen. Daher, so die MIT-Forscher, ist es unrealistisch, davon aus-zugehen, dass jemals neue Reaktor- und Brennstoffkreislauftechno-logien entwickelt werden, die gleichzeitig sämtliche Probleme hin-sichtlich der Kosten, der sicheren Abfallentsorgung und der Prolife-ration lösen werden. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass deroffene Brennstoffzyklus hinsichtlich der Kriterien „Kosten“ und„Proliferationsbarrieren“ am besten abschneidet (NEI 2003).

Bei thermischen Reaktoren soll „Nachhaltigkeit“ durch einehöhere Anreicherung erreicht werden, womit allerdings das Abfall-problem noch nicht gelöst wäre. Im Gegenteil, Experten warnen,dass Brennstoffelemente mit hohen Abbrandwerten nicht nur imReaktorbetrieb, sondern auch bei der Zwischen- und Endlagerungfür zusätzliche Probleme sorgen werden (Born 2002).

Wie nicht anders zu erwarten, werden sich die kurzfristigenBemühungen auf thermische Reaktoren konzentrieren. Laut einerneueren Verlautbarung des amerikanischen Energieministeriumswurden die GIF-Bemühungen unterteilt in Generation-IV-A-Syste-me – thermische Reaktoren, die Brennstoffelemente mit hohem Ab-brand verwenden – und Generation-IV-B-Systeme, die mit SchnellenReaktoren arbeiten (Fabian 2004).

Alles in allem sind Reaktoren der Generation IV noch weit vondem erklärten Ziel entfernt, nuklearen Abfall zu minimieren und zumanagen. Abgesehen davon, dass die nukleare Wiederaufbereitungnicht wirtschaftlich ist, wird in dem Prozess Plutonium separiert,was ein ernsthaftes Proliferationsproblem darstellt. Wie das NuclearControll Institute (NCI) warnte, bietet die Transmutation abgebran-nten nuklearen Brennstoffs keine Garantie gegen eine Proliferation(ENS 2004). Zudem werden in keinem der Konzepte die Bedenkenhinsichtlich des sicheren Transports nuklearer Stoffe und des Schut-zes nuklearer Einrichtungen gegen Terroranschläge angemessenberücksichtigt. Da allgemein akzeptiert wird, dass sich zivile Atom-energiesysteme in der Praxis nicht vollständig gegen eine atomareWeiterverbreitung schützen lassen, kann auch nicht davon ausge-gangen werden, dass die Konzepte der Generation IV diesbezüglicheinen deutlichen Fortschritt bringen werden (Anderson 2005).

Die amerikanische Atomaufsichtsbehörde hat nicht gerade enthu-siastisch auf die neuen Reaktorkonzepte reagiert. Neue Atomkraft-83

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werke sollten, so ein hochrangiger Mitarbeiter der Nuclear Regula-tory Commission, auf evolutionären, nicht auf revolutionären Tech-nologien basieren. Er warnte vor „zu viel Innovation“, die das Risikoneuer Probleme mit unerprobten Reaktortypen berge, und fordertedie Industrie auf, die Fähigkeiten der neuen Reaktorsysteme nichtzu „übertreiben“ (NNF 2005).

Selbst innerhalb der Atomindustrie werden skeptisch-ironischeStimmen über die Systeme der Generation IV laut. „Wir wissen, dersicherste aller Reaktortypen ist der papiermoderierte und tinten-gekühlte Reaktor. Nach Beginn eines Projekts können sich jedeMenge unerwarteter Probleme einstellen“ (Güldner 2003).

Wie ein genauerer Blick auf die technischen Konzepte zeigt, sindviele Sicherheitsprobleme noch nicht vollständig gelöst. In gewisserHinsicht erzeugt jede sicherheitstechnische Verbesserung neue Si-cherheitsprobleme. Und im Hinblick auf die Proliferationsbarrierengehen selbst die Generation-IV-Strategen von keinen signifikantenVerbesserungen aus.

Außerdem werden selbst echte technische Verbesserungen, dieim Prinzip machbar sind, nur implementiert, wenn sie nicht zu vielkosten. Zwischen den Schlagworten, mit denen die Generation-IV-Konzepte den Medien, Politikern und der Öffentlichkeit schmack-haft gemacht werden sollen, und dem eigentlichen Motiv hinter derInitiative – ökonomische Wettbewerbsfähigkeit – liegen Welten.

Tatsache ist, dass sehr viel Geld in die Entwicklung von Konzep-ten investiert wird, die keineswegs alle Probleme der Atomenergielösen – Geld, das besser genutzt werden könnte.

3 Alterung, Laufzeitverlängerung und SicherheitDie Verlängerung der Reaktorlaufzeiten, darüber herrscht allgemeinKonsens, steht heute ganz oben auf der Prioritätenliste der Atom-industrie. Die International Energy Agency (IEA 2001) hat das tref-fend auf den Punkt gebracht: „Falls es zu keinen grundlegenden Än-derungen in der Atomstrompolitik kommt, ist die Anlagenlaufzeitdie wichtigste Determinante der Atomstromproduktion im kom-menden Jahrzehnt.“

Weltweit ging der allgemeine Trend in den letzten zwei Jahr-zehnten gegen den Bau neuer Reaktoren. Verantwortlich dafür sindeine Vielzahl von Faktoren: die gestiegene Angst vor den Folgeneines nuklearen Unfalls nach den Reaktorunfällen von Three MileIsland, Tschernobyl und Monju, die historischen Überkapazitäten 84

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bei der Stromerzeugung, die genauere Bewertung der Wirtschaft-lichkeit und Finanzierung von Atomstrom seit der Liberalisierungder Strommärkte sowie ökologische Faktoren wie die Abfallentsor-gung und radioaktive Freisetzungen. Infolge des drastischen Bestell-rückgangs ist das Durchschnittsalter der Reaktoren weltweit kon-tinuierlich gestiegen und lag 2004 bereits bei 21 Jahren (Schneider2004).

Abbildung 1

Altersprofil der globalen Reaktorflotte

Bei den meisten Reaktoren ging man zum Zeitpunkt ihres Bausnoch von Laufzeiten von maximal 40 Jahren aus. Um den Atom-stromanteil am Energiemarkt zu halten und die Profite zu maxi-mieren, stellt die Laufzeitverlängerung jetzt allerdings eine überausattraktive Option für die Betreiber der Reaktoren dar, zumal diehohen Bau- und Stillegungskosten zumindest theoretisch ja schonabbezahlt sind.

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Alter in JahrenQuelle: IAEA 2005

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3.1 Was ist Alterung?In jeder industriellen Anlage kommt es aufgrund der Belastung, derdie Komponenten im Betrieb ausgesetzt sind, zu einer Verschlech-terung der Materialeigenschaften. Die IAEA definiert Alterung alseine durch die Betriebsbedingungen verursachte kontinuierlicheund zeitabhängige Verschlechterung der Materialqualität (IAEA1990).

Alterungsprozesse lassen sich nur schwer feststellen, da sie sichüblicherweise auf der mikroskopischen Ebene der inneren Strukturvon Materialien vollziehen. Häufig werden sie erst offenkundig,nachdem es zum Versagen einer Komponente – zum Beispiel einemRohrbruch – gekommen ist.

Typischerweise sind die Ausfallraten unmittelbar nach Inbetrieb-nahme einer Anlage höher, da in dieser Phase Baufehler und Kon-struktionsmängel ans Tageslicht kommen. Da ein hoher ökono-mischer Anreiz besteht, so schnell wie möglich ein reibungslosesFunktionieren der Anlage zu erreichen, werden in dieser Phase zu-meist erhebliche Anstrengungen zur Behebung sämtlicher Proble-me unternommen.

Im „mittleren Alter“ einer Anlage sinkt die Ausfallrate üblicher-weise auf ein Minimum. Später dagegen treten Alterungsprozesseauf und steigt die Ausfallrate langsam wieder an. Das Resultat isteine „Badewannenkurve“ der unten abgebildeten Art:

Abbildung 2

Badewannenkurve der typischen Ausfallrate in einer nuklearen Anlage

86

Ausfallquote

Sicherheitslevel

Betriebsdauer

Badewannenkurve

Theoretische Betriebsdauer

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Dieser Vorgang, der nicht immer problemlos zu erkennen und zuverfolgen ist, erhöht das Anlagenrisiko ganz beträchtlich. Bei Atom-kraftwerken beginnt die Alterungsphase unabhängig vom Reaktor-typ nach rund 20 Betriebsjahren, wobei diese Zahl nur als Faustregelbetrachtet werden sollte und Alterungsphänomene auch früherauftreten können.

Mit zunehmendem Alter der Reaktoren weltweit mehren sichauch die Bemühungen, die Folgen der Alterung herunterzuspielen.Dazu gehört beispielsweise, die Definition von Alterung entspre-chend den eigenen Bedürfnissen einzuengen. In einer deutschenStudie aus den späten neunziger Jahren beispielsweise werdenalterungsbedingte Schäden auf Schäden begrenzt, die – trotz Übere-instimmung von Konstruktion und Betrieb mit den Anforderungen– durch unvorhergesehene Belastungen im Normalbetrieb verur-sacht werden. Schäden, die später in der Anlage auftreten, weilKonstruktion, Fertigung, Inbetriebnahme oder der laufende Betriebnicht den Vorschriften entsprechen, gelten nicht als alterungs-bedingt (Liemersdorf 1998). Schränkt man – was natürlich nichtakzeptabel ist – die Definition von Alterung so ein, dann ist lauteiner neueren Studie nur ein geringer Prozentsatz der Ausfälle indeutschen Atomkraftwerken alterungsbedingt.

3.2 Das Phänomen der Alterung Alterungsprozesse können auch in dem Zeitraum auftreten, der alsdie typische kommerzielle Betriebszeit (30 bis 40 Jahre) gilt. Natur-gemäß spielen bei einer Laufzeitverlängerung die Alterungs-mechanismen im Laufe der Zeit eine immer größere Rolle und füh-ren zu einer signifikanten Erhöhung des Anlagengesamtrisikos.

Die wichtigsten Faktoren, die den Alterungsprozess in einemAtomkraftwerk antreiben, sind (Meyer u.a. 1998):

– Strahlenexposition;– thermische Belastungen;– mechanische Belastungen;– korrosive, abrasive und erosive Prozesse;– Kombinationen und Wechselwirkungen der oben genannten

Prozesse.

Da Änderungen der mechanischen Eigenschaften bei zerstörungs-freien Prüfungen häufig gar nicht erkannt werden können, fällt es87

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schwer, eine zuverlässige Bewertung des tatsächlichen Materialzu-stands zu erhalten. In vielen Fällen können mit zerstörungsfreienPrüfungen Rissentwicklungen, Oberflächenveränderungen undWanddicken überwacht werden, doch wegen der aus baulichenGründen und/oder der hohen Strahlungsbelastung begrenzten Zu-gänglichkeit können nicht alle Komponenten vollständig untersuchtwerden. Daher versucht man mit Modellberechnungen die Belastun-gen und ihre Auswirkungen auf die Werkstoffe zu ermitteln. DerNachteil solcher Modelle ist, dass sie sich nur anhand simplifizierterSysteme, Stichproben oder Nachbildungen validieren lassen undsomit nicht quantifizierbare Unsicherheiten enthalten. Und selbstdie komplexesten Rechenmodelle können nicht alle denkbarensynergistischen Auswirkungen berücksichtigen.

Mit zunehmendem Anlagenalter steigt die Gefahr von Schäden,die nicht vorhergesehen oder sogar explizit ausgeschlossen wurden(zum Beispiel Spannungsrisskorrosion in titanstabilisiertem Auste-nitstahl) und die die Alterungsprobleme noch verschärfen.

Die Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle der Alterungs-prozesse werden unter dem Überbegriff „Alterungsmanagement“zusammengefasst. Alterungsmanagement beinhaltet Schnellalte-rungsprüfungen, Sicherheitsinspektionen und den vorsorglichenAustausch von Komponenten, bei denen während der InspektionRisse oder andere Schäden festgestellt wurden. Darüber hinausgehört dazu die Optimierung der Betriebsabläufe mit dem Ziel,exzessive Belastungen zu vermeiden. In den Vereinigten Staatenwurde mit der so genannten TLAA-Analyse (Time Limited AgeingAnalysis) ein spezifisches Programm für das Alterungsmanagementvon Reaktordruckbehältern entwickelt (Rinckel 1998).

In den späten neunziger Jahren wurden neue, integrale Metho-den zur Überwachung des Reaktorbetriebs entwickelt, die das Ver-halten einzelner Komponenten auf der Grundlage begrenzter be-kannter Informationen vorhersagen sollen. Antrieb hierfür warneben der fortschreitenden Alterung der Reaktoren weltweit auchder Trend, die Laufzeiten zu verlängern. Das Ziel dabei ist, einerseitswirtschaftlich effizientere und weniger zeitaufwendige Inspektions-programme zu entwickeln, andererseits müssen Ausfälle möglichstvermieden werden, um die Abschaltzeiten möglichst zu reduzieren,sprich Wirtschaftlichkeit und Sicherheit sollen parallel verbessertwerden (Ali 1998; Bartonicek u.a. 1998; Bicego u.a. 1998; Duthie u.a.1998; Esselmann u.a. 1998; Hienstorfer u.a. 1998; Roos 1998). 88

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3.3 Alterungserscheinungen bei spezifischen KomponentenAlterung kann sich in unterschiedlichen Komponenten auf höchstunterschiedliche Weise manifestieren. Im Prinzip sind sämtlicheKomponenten eines Atomkraftwerks alterungsbedingten Änderun-gen in ihren Materialeigenschaften und damit einem Funktiona-litätsverlust ausgesetzt. Dieses operationale Risiko nimmt nicht nurim Laufe der Zeit zu, sondern wird auch noch durch die sich allenquantitativen Modellierungen und Schätzungen widersetzendeKombination dieser negativen Änderungen verstärkt. Auch wenn dieAnlagenbetreiber im Rahmen der allgemeinen Wartung und desAlterungsmanagements Mängel durch Reparaturen und Kompo-nentenaustausch beheben, hat die Erfahrung nichtsdestotrotzgezeigt, dass immer wieder unerwartete alterungsbedingte Schädenauftreten – beispielsweise die Graphitrisse, die 2004 in britischenAGRs entdeckt wurden und die Risse in Rohren aus AustenitstahlAnfang der neunziger Jahre in deutschen Siedewasserreaktoren.Versprödung ist ein besonders schwerwiegendes Problem fürDruckröhrenreaktoren wie CANDUs und RBMKs, da sich das Röh-renmaterial innerhalb des Kerns befindet und deshalb einem beson-ders hohen Neutronenfluss ausgesetzt ist. Bei beiden Reaktortypenmussten bereits Druckröhren in beträchtlicher Zahl ausgetauschtwerden.

Reaktoren mit Graphitmoderatoren sind vom spezifischen Pro-blem der Graphitalterung betroffen. In letzter Zeit wurden in AGRsGraphitrisse entdeckt, von denen eine Gefahr für die Kernintegritätausgehen könnte. Bei den russischen RBMKs haben Graphitquel-lungen zu Lückenschließungen (Gap Closure) zwischen dem Kern-brennstoff und dem ihn abschirmenden Graphitmantel geführt.

Die Alterung stellt insbesondere bei passiven Komponenten, alsoKomponenten ohne bewegliche Teile, ein ernstes Problem dar. Alte-rungsphänomene können hier nicht nur schwer festgestellt werden,die passiven Komponenten können auch schwer ausgetauscht wer-den, weil hierfür keine Vorkehrungen getroffen wurden, da nor-malerweise ein Austausch von Komponenten wie Rohren oderGraphitteilen gar nicht vorgesehen war.

Bei aktiven Komponenten wie Pumpen und Ventilen wird es inder Regel offenkundig, wenn Schäden vorliegen und betroffeneKomponenten können zumeist im Rahmen der normalen War-tungsarbeiten ausgewechselt werden. Dennoch stellt die Alterungaktiver Komponenten einen nicht zu unterschätzenden Risikofaktor89

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dar, wie die Möglichkeit eines katastrophalen Ausfalls von Haupt-kühlmittelpumpen und Turbinen deutlich macht. In elektronischenund elektrischen Geräten können sich Schäden unbemerkt häufen,bis schließlich ein Punkt erreicht ist, an dem es zu einem massivenAusfall kommt.

In der Vergangenheit wurden eine Reihe spezifischer alterungs-bedingter Probleme vergleichsweise detailliert untersucht. Auchwenn inzwischen mehrere Mechanismen bekannt sind, verstehenwir sie noch lange nicht vollständig.

Zum Beispiel ist der Dosisrateneffekt bei der Bestrahlungsver-sprödung von Stahl seit vielen Jahren bekannt. Trotzdem kann derProzess bis heute noch nicht zuverlässig beschrieben und quantifi-ziert werden, was vor allem ältere AKWs einem erhöhten Risikoeines Berstens des Druckbehälters aussetzt. Ein weiteres noch nichtvoll verstandenes Problem ist die Ausbreitung von Rissen inAustenitstahlrohren.

Dieser Wissensmangel in entscheidenden Bereichen nimmt zu,wenn die Anlagenlaufzeit verlängert wird. So gibt es zur Vorhersageder Neutronenversprödung Standardprogramme zur Überwachungdes Reaktordruckbehälters während der geplanten Anlagenlebens-dauer (üblicherweise bis zu 40 Betriebsjahre).

In Spanien, wo die Anlagenbetreiber überlegen, die Laufzeitenvon 40 auf 60 Jahre zu erhöhen, kam man zu dem Ergebnis, dassman die aktuellen Überwachungsprogramme modifizieren muss,um eine präzisere Bewertung der Integrität des Reaktordruckbehäl-ters zu erhalten (Ballesteros u.a. 2004). Das ist höchst problema-tisch, da bei solchen Überwachungsprogrammen Materialprobenüber Jahre hinweg bestrahlt werden und diese Programme, will manzuverlässige Informationen erhalten, vor Inbetriebnahme einesReaktors und nicht Jahrzehnte später geplant werden müssen.

Darüber hinaus können Alterungsprozesse weit reichende Folgenin anderen Bereichen haben, die nicht unmittelbar offenkundig wer-den. So kam etwa eine von der amerikanischen Nuclear RegulatoryCommission initiierte Arbeitsgruppe (Fire Induced Damage to Elec-trical Cables and Circuits) zu dem Ergebnis, dass in alternden Reak-toren Kabelisolierungen häufig Schäden aufweisen und es häufigerzu Kurzschlüssen und nachfolgenden Kabelbränden kommt. Daskann beispielsweise zur irrtümlichen Aktivierung von sicherheits-relevanten Ventilen führen und erfordert zusätzliche Brandschutz-maßnahmen (Röwekamp 2004). 90

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Im Folgenden einige der wichtigsten alterungsbedingten Pro-bleme, die primär Leichtwasserreaktoren (Druckwasserreaktoreneinschließlich WWERs und Siedewasserreaktoren) betreffen:

Reaktordruckbehälter– Kernnahes Material: Versprödung (Verminderung von Zähigkeit,

veränderte Risshaltetemperatur) durch Neutronenbestrahlung.Dieser Effekt ist besonders relevant, wenn Unreinheiten vor-liegen. Kupfer und Phosphor beschleunigen die Versprödung,dasselbe gilt für Nickel bei sehr hohen Neutronenflüssen, wie siein WWER-Reaktorgehäusen vorliegen. Neutronenversprödungbetrifft größtenteils Druckwasserreaktoren. Aufgrund einespotenziellen Durchflusseffekts kann sie auch Siedewasserreakto-ren betreffen (höhere Schäden bei niedrigeren Durchflussratenbei einer gegebenen Gesamtdosis).

– Schweißnähte: Risswachstum aufgrund wechselnder thermischerund mechanischer Belastungen. Bei Druckwasserreaktoren be-trifft das größtenteils versprödete kernnahe Schweißnähte, beiSiedewasserreaktoren Längsschweißnähte.

– Gehäusedeckel: Rissbildung und -wachstum infolge von Korro-sionsmechanismen. Betrifft Druckwasserreaktoren (Meyer 1998).

– Gehäuseboden: Schäden aufgrund von Korrosion, Abrasion undthermomechanischer Ermüdung. Betrifft Siedewasserreaktoren.

– Kerninneres und Kernmantel: Versprödung aufgrund hoher Neu-tronenflüsse sowie Schäden durch Korrosion und Erosion. Nurvisuelle Inspektion möglich. Falls kobalthaltige Materialen ver-wendet werden, besteht zusätzlich die Gefahr, dass aktiviertesKobalt ins Kühlwasser gelangt und zu Kontaminationsproblemenführt, beispielsweise beim Brennstoffwechsel. Betrifft Druck- undSiedewasserreaktoren.

RohrleitungenIn allen deutschen Siedewasserreaktoren wurden Risse in titanstabi-lisierten Austenitstahlrohren festgestellt, die hauptsächlich aufSpannungsrisskorrosion zurückgeführt werden (Erve 1994). Auste-nitstahl ist ein für Korrosionsfestigkeit optimierter Stahl. Wegen desvorteilhafteren Wasserchemismus ging man davon aus, dass es inDruckwasserreaktoren zu keinen durch Spannungsrisskorrosionbedingten Schäden kommen würde. Allerdings kann bei verlän-gerten Laufzeiten spannungsbedingte Korrosion und Erosion nicht91

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ausgeschlossen werden. Abgesehen von den mechanischen Belas-tungen kommt es auch zu bislang wenig bekannten thermischenBelastungen (infolge thermischer Schichtung), die höher sind alsursprünglich in der Anlagenauslegung angenommen (Zaiss u.a.1994). Verringerungen der Wanddicke und Materialermüdungeninfolge von Resonanzschwingungen, Wasserschlag und so weiterkönnen nur schwer überwacht werden. Das alles bedeutet, dass mitder zunehmenden Materialalterung die Gefahr von Schäden steigt.

Im Hinblick auf Rohrbrüche verlässt man sich zusehends auf dasLeck-vor-Bruch-Kriterium. Laut diesem Kriterium werden Lecks ent-deckt, bevor es zu einem gefährlichen Rohrbruch kommt. Anderer-seits ist es schon mehrfach zu kompletten „Guillotine“-Brüchen inAtomkraftwerken gekommen – zum Beispiel 1987 in Surry und1990 in Loviisa, wo es ohne ein vorheriges Leck zu einem Rohrbruchim Sekundärkreislauf kam (Ahlstrand u.a. 1991). Im Februar 1992brach in einem konventionellen Kraftwerk in Griechenland(Kardia 1) ein thermisch versprödetes Speisewasserrohr (Jansky u.a.1993). Diese Vorfälle belegen, dass es unter ungünstigen Umstän-den auch ohne vorherige Lecks zu einem Rohrbruch kommen kann.

HauptkühlmittelpumpenRissbildung und Risswachstum können durch thermische undhochfrequente Ermüdungsvorgänge auftreten und durch korrosiveEinflüsse noch verstärkt werden. Inspektionen sind schwierig.Dieses Problem betrifft Druck- und Siedewasserreaktoren. Bei denkerntechnischen Standards der ASME (Vereinigte Staaten) sowie derKTA (Deutschland) erscheinen korrosive Einflüsse bei der Bestim-mung von Auslegungskurven für Materialermüdung nicht ausre-ichend gewürdigt (Rinckel 1998). Entsprechend ist es trotz einerangenommenen ausreichend langfristigen Stabilität bereits nachvergleichsweise kurzen Betriebszeiten zu Brüchen der Pumpenwellegekommen (beispielsweise nach vier Jahren) (Schulz/Sunder 1987).

DampferzeugerKorrosive und erosive Schäden sowie auch Verringerung der Wand-dicke in den Dampferzeugerrohren haben weltweit zu einer Inten-sivierung des Alterungsmanagements geführt, was seit einigen Jah-ren auch den Austausch kompletter Komponenten umfasst (Meyer1998). Dieses Problem betrifft nur Druckwasserreaktoren und dabeiinsbesondere WWER-1000-Typen. 92

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TurbinenFür das Turbinengehäuse, die Turbinenwellen und die Turbinen-schaufeln muss mit Alterungsphänomenen infolge von Korrosion,Erosion und thermomechanischer Ermüdung gerechnet werden.Große geschmiedete Teile weisen stets Inhomogenitäten (Ein-schlüsse, Seigerungen, Segregationen, kleine Risse) auf, die auf-grund der erwähnten Faktoren zu Schäden führen können. Bei Tur-binenschaufelmaterialien wurde Versprödung infolge von Erosionin der Flüssigphase beobachtet (bei 12Cr-Stahl sowie bei der Kobalt-legierung Stellite 6B) (Lee u.a. 1998).

BetonstrukturenStrukturelle Komponenten wie die Betonelemente des Contain-ments, die Betonhülle, der biologische Schild, Grundstrukturen undKühltürme sind neben thermomechanischen Belastungen auchWettereinflüssen, chemischen Attacken und zum Teil auch hohenStrahlungsbelastungen ausgesetzt. Betroffen davon sind Druck- wieSiedewasserreaktoren. Da sich korrosive Schäden an Stahlverstär-kungen nur schwer überprüfen lassen, besteht die Gefahr, dassFestigkeitsminderungen übersehen werden. Die Schadensmecha-nismen am Beton durch korrosive Vorgänge, wie sie den hohenStrahlendosen entsprechen, sind noch weitgehend unbekannt. Ins-besondere ist es schwierig, die Unsicherheiten der entwickeltenModelle zu quantifizieren und diese Modelle mit experimentellenDaten zu validieren (Naus u.a. 1996).

In den USA wurde eine Datenbank (Structural Materials’ Infor-mation Center) mit dem Ziel erstellt, die Umwelteinflüsse undAlterungsfaktoren für Beton zu bewerten. Eine umfassende Studiezur Alterung französischer Kühltürme gelangte zu dem Schluss,dass die geplante Laufzeit von 40 Jahren wahrscheinlich erreichtwird, die Sicherheitsabstände allerdings beträchtlich geringer alsangenommen sind (Bolvin/Chauvel 1993). In der Schweiz wurde1991 ein systematisches Programm zur Alterungsüberwachung fürAtomkraftwerkstrukturen initiiert (Zwicky/Kluge 1993).

Seismische Sicherheitsanalysen werden im Allgemeinen aufGrundlage der ursprünglichen Anlagenparameter vorgenommen.Bislang wurde in diesem Kontext der Ermüdung der Strukturendurch Alterungsprozesse ungeachtet der Bedeutung des Themaskaum Aufmerksamkeit gewidmet: „Die Evaluation für seismischeBelastung ist besonders wichtig, da geschwächte Strukturen oder93

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Komponenten anfälliger für seismische Belastung sein könnten.Hinsichtlich der seismischen Analyse können Alterungs- oderAbbauprozesse die dynamischen Eigenschaften, die strukturellenReaktionen, Resistenzen oder Kapazitäten, die Ausfallursachen unddie Ursprungspunkte von Ausfällen beeinflussen“ (Shao u.a. 1998).

KabelZunächst einmal verringert sich im Laufe der Zeit durch die Ver-sprödung der isolierenden Schichten die mechanische Stabilität vonKabeln. Das wirkt sich selbst im Falle von Rissbildungen zunächstzwar nicht auf die elektrischen Eigenschaften aus, doch stellen geal-terte Kabel mit gerissener Isolierung in feuchten oder chemischaggressiven Umgebungen insbesondere bei Unfällen ein zusätzlich-es Risiko dar (Sliter 1993).

Elektronische GeräteIn Atomkraftwerken kommen viele elektronische Geräte zumEinsatz. Temperatur und Strahlung sind die wichtigsten Faktoren,die zu ihrer Alterung beitragen; weitere Alterungsfaktoren sindFeuchtigkeit und chemische Einflüsse. Aufgrund der Vielzahl unter-schiedlicher Geräte und der komplexen Alterungsphänomene, diebislang noch nicht systematisch untersucht wurden, sind zuverläs-sige Laufzeitschätzungen sehr schwierig. Die Möglichkeit vonDurchflusseffekten, insbesondere in Halbleiterelementen, stellt einezusätzliche Gefahr dar (IAEA 1990). Das heißt, dass mit dem Anla-genalter die Zuverlässigkeit der elektronischen Geräte abnehmenkann – bei gleichzeitig sinkenden Sicherheitsabständen des Gesamt-systems.

3.4 Die Folgen von AlterungsprozessenAlterungserscheinungen lassen sich grob in zwei Kategorien unter-teilen: Einerseits nimmt die Zahl von Zwischenfällen und melde-pflichtigen Störfällen in einem Atomkraftwerk zu – kleine Lecks,Risse, Kurzschlüsse aufgrund von Kabelschäden und so weiter. InDeutschland beispielsweise entfielen im Zeitraum von 1999 bis2003 auf die zehn ältesten Reaktoren (von insgesamt 19 betriebenenAtomkraftwerken) 64 Prozent aller meldepflichtigen Störfälle (unterBerücksichtigung der Schwere der Ereignisse) (BMU 1999-2003).

Andererseits treten Prozesse auf, die zu einer graduellen Mate-rialschwächung führen. Diese Prozesse können keinerlei Folgen 94

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während der Reaktorlaufzeit zeitigen, aber ebenso gut auch zumkatastrophalen Ausfall von Komponenten mit nachfolgend massivenradioaktiven Freisetzungen führen. Darunter fällt insbesondere dieVersprödung des Reaktordruckbehälters, die die Berstgefahr desDruckbehälters erhöht. Das Versagen des Druckbehälters in einemDWR oder einem SWR stellt einen Unfall besonderer Größenord-nung dar. Da die Sicherheitssysteme für einen solchen Unfall nichtausgelegt sind, kann er nicht beherrscht werden. Darüber hinauskann ein Versagen des Druckbehälters auch zu einem unmittelbarenContainmentversagen führen, beispielsweise durch die Druckspitzenach dem Bersten des Behälters oder durch den Aufschlagenergiereicher Bruchstücke. Die Folge wären katastrophale radioak-tive Freisetzungen.

Die Versprödung von Druckröhren bei RBMKs oder CANDU-Reaktoren gehört ebenfalls in die Kategorie von Alterungsprozessenmit potenziell katastrophalen Konsequenzen. Bei Versagen einereinzelnen oder einiger weniger Röhren kann der Unfall wahrschein-lich kontrolliert werden – nicht aber, wenn eine große Anzahl Röh-ren versagt.

Weitere Beispiele sind Korrosionsprozesse, die jahrelang überse-hen werden können – wie der Fall eines jüngeren Zwischenfalls imamerikanischen Druckwasserreaktor Davis Besse zeigt.

Bei den von Atomaufsichtsbehörden zusehends genutzten proba-bilistischen Risikoanalysen (PRAs) wird die Alterung üblicherweisenicht berücksichtigt. Bei PRAs werden für Komponenten gemeinhinAusfallraten im niedrigen Mittelteil der „Badewannenkurve“ ange-setzt, was zu einer Unterschätzung des Risikos führt (Lochbaum2000). Es gibt zwar einige Versuche, Alterungsprozesse in solcheStudien zu integrieren, zum Beispiel bei einer jüngeren PRA desSchweizer Druckwasserreaktors Beznau, doch wurden Alterungs-erscheinungen dabei nur unzureichend berücksichtigt und die ver-fügbaren Informationen erscheinen etwas widersprüchlich (FEA2004). Da einige Alterungsprozesse, wie weiter oben angemerkt,noch nicht vollständig verstanden werden, ist eine umfassende undausreichende Behandlung von Alterungserscheinungen im Rahmeneiner PRA heute noch nicht möglich und würde umfangreiche wei-tere Forschungen erfordern.

Somit ist klar, dass das Risiko eines nuklearen Unfalls mit jedemJahr, das ein Atomkraftwerk über zwei Jahrzehnte hinaus im Betriebist, signifikant steigt. Allerdings ist es nicht möglich, diese kontinu-95

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ierliche Risikozunahme zu quantifizieren. Eine erhöhte Wachsam-keit während des Betriebs und intensivere Wartungs- und Reparatur-anstrengungen können dieser Gefahr zumindest in gewissem Maßegegensteuern. Allerdings geht im Zeitalter der Liberalisierung unddes wachsenden ökonomischen Drucks auf die Reaktorbetreiber derTrend eher in die entgegengesetzte Richtung, während zugleich dieReaktoren weiter altern.

3.5 GegenmaßnahmenWenn es um Gegenmaßnahmen zur Alterung geht, muss man zwi-schen ersetzbaren und nicht ersetzbaren Komponenten unterschei-den. Unter Reaktorbetreibern besteht der Konsens, dass im Prinzipalle sicherheitsrelevanten Komponenten in Druck- oder Siedewas-serreaktoren bis auf zwei ersetzt werden können: der Reaktordruck-behälter und der Sicherheitsbehälter (Containment). Beim russi-schen Reaktortyp WWER-440 scheint aufgrund des so genanntenBlocksystems darüber hinaus der Austausch des Dampferzeugersnicht möglich zu sein (LMD 2002).

Da der Reaktordruckbehälter im Allgemeinen als die entschei-dende Komponente für die Lebenszeit eines Atomkraftwerkes gilt,wurden in den letzten Jahren Untersuchungen durchgeführt, ob einAustausch des Reaktordruckbehälters nicht doch möglich ist. Sie-mens beispielsweise hat sich mit dieser Option befasst (WISE 1998),und auch in Japan wurde eine Machbarkeitsstudie für einen Siede-wasserreaktor erstellt (Daisuke 1999). Letztere kam zu dem Schluss,dass zur Frage des Austauschs des Reaktordruckbehälters eine denRahmen der Studie sprengende integrierte Bewertung notwendigwäre, prinzipiell aber wurde die technische Machbarkeit bestätigt.Insgesamt jedoch ist der Austausch des Reaktordruckbehälters der-zeit keine ernsthafte Option, und Druckbehälter gelten weiterhin alsnicht ersetzbar (LMD 2002).

RBMKs und CANDUs haben in dieser Hinsicht einen Vorteil, daihre Druckröhren ausgetauscht werden können und das bereits auchschon in größerem Maßstab unternommen worden ist. Allerdingsist das ein kostspieliger und zeitaufwendiger Vorgang. Die Lebens-zeit von Druckröhren ist beträchtlich kürzer als die eines normalenDruckbehälters, da die Röhren einer weitaus höheren Neutronen-strahlung ausgesetzt sind. Die möglichen Gegenmaßnahmen lassensich grob in vier Ebenen unterteilen:

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– Austausch von Komponenten: Das ist – abgesehen von einerdauerhaften Abschaltung – die einzige Option im Fall offenkun-diger Mängel, entstehender Lecks und anderer Probleme, die sichdirekt auf den Kraftwerksbetrieb auswirken. Selbst große Kompo-nenten wie Dampferzeuger und Druckbehälterdeckel (undDruckröhren) lassen sich auswechseln. Die Kosten von Maßnah-men auf dieser Ebene sind üblicherweise sehr hoch. Beim Aus-tausch von Komponenten fällt darüber hinaus zusätzlicherradioaktiver Abfall an.

– Belastungsverminderung: Das betrifft primär den Reaktordruck-behälter. Zur Vermeidung eines thermischen Schocks kann Not-kühlwasser vorgeheizt werden. Zur Verminderung der Neutro-nenstrahlung (und damit der Versprödung) kann der Neutronen-fluss auf die Gehäusewand durch die Platzierung von Blind-elementen oder stark abgebrannten Brennstoffelementen inäußere Kernpositionen reduziert werden. Im Prinzip eignen sichMaßnahmen dieser Art auch für andere Komponenten, allerdingskönnen sie den Trend zu Leistungserhöhung konterkarieren. DieKosten sind auf dieser Ebene mäßig.

– Intensivere Inspektionen und Anlagenüberwachung: Alterungs-effekte in Materialien können durch häufigere Inspektionen und/oder durch eine intensivere Anlagenüberwachung in Verbindungmit entsprechenden Wartungsmaßnahmen „kompensiert“ wer-den, zumindest wenn man davon ausgeht, dass Risse und andereSchäden und Verschlechterungen festgestellt werden, bevor siezu katastrophalen Ausfällen führen. Die Kosten solcher Maßnah-men sind vergleichsweise niedrig, besonders im Hinblick auf dieAnlagenüberwachung.

– Geringere Sicherheitsabstände: Durch eine Verminderung derSicherheitsanforderungen ergeben sich längere Lebenszeiten –zumindest auf dem Papier.

Die Option der Reparatur von Komponenten wurde hier nicht be-rücksichtigt, da Reparaturen unabhängig von Laufzeitverlängerun-gen größtenteils Bestandteil der während des Betriebs ohnehin er-forderlichen Maßnahmen sind. Eine wichtige Ausnahme ist das inOst- und Mitteleuropa praktizierte Tempern des Reaktordruckbehäl-ters zur Reduzierung der Versprödung, das allerdings im Hinblickauf den langfristigen Nutzen fragwürdig ist, da bis heute kein ausrei-chendes Wissen über das Versprödungsverhalten von getemperten97

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Druckbehältern vorliegt. Die meisten jüngeren Publikationen zurAlterung betonen zwar, dass die Maßnahmen zur Kontrolle derAlterungsprozesse im Allgemeinen ausreichend sind. Andererseitsjedoch wird diese Schlussfolgerung durch die häufig geäußerteAnsicht, dass weitere Untersuchungen zu Alterungsfragen dringenderforderlich wären, beträchtlich eingeschränkt, wenn nicht garwiderlegt.

Zum Beispiel stellt eine französisch/deutsche Publikation (Mor-lent/Michel 2001) fest, dass laut internationalen Analysen ein Trendzu mehr und mehr alterungsbedingten Zwischenfällen zu verzeich-nen ist, der weitere Untersuchungen erfordert. Auch zeigten die „Er-fahrungen aus dem Betrieb, dass im Laufe der Zeit neue Erkenntnis-se hinsichtlich der Bewertung des Alterungsverhaltens [von Struktu-ren, Systemen und Komponenten] ans Tageslicht kommen können.Daher wird es als notwendig erachtet, die durchgeführten Unter-suchungen fortzusetzen, um in einem frühzeitigen Stadium Hin-weise auf mögliche sicherheitsrelevante alterungsbedingte Ände-rungen zu erhalten“.

Doch der ökonomische Druck hat inzwischen so sehr zugenom-men, dass selbst Inspektionen reduziert werden – genau das Gegen-teil dessen, was ein wirksames Alterungsmanagement erfordert.Verschärft wird das noch durch die generellen Kostensparprogram-me, die die Atomkraftbetreiber aufgrund der Liberalisierung derStrommärkte und des dadurch verstärkten Wettbewerbs initiierthaben. So wird zum Beispiel behauptet, dass durch eine intensivereAnlagenüberwachung Inspektionen ersetzt werden können (Schulz2001), wobei das allerdings eher ein Versuch zu sein scheint, dieReduzierung der Sicherheitsanforderungen zu kaschieren, was inkeiner Weise beruhigend wirkt.

In Ermangelung von Alternativen wird zusehends auch die Zwi-schenlagerung von abgebrannten Kernbrennstoffen in den Anlagenselbst praktiziert oder geplant (in den USA, Deutschland, mehrerenmittel- und osteuropäischen Staaten und anderen Ländern). Einenotwendige und bislang kaum beachtete Voraussetzung für die Lauf-zeitverlängerung in den betroffenen Ländern ist der Ausbau derLagerkapazität, die mit einer entsprechenden Zunahme des radioak-tiven Inventars am Standort einhergeht.

Wie aus der Aufstellung der Laufzeitverlängerungsprogrammeersichtlich, werden in den meisten Ländern, die Atomkraftwerkebetreiben, Laufzeitverlängerungen geplant. 98

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Tabelle 1

Weltweite Programme zur Laufzeitverlängerung

Argentinien 2 25 Keine Informationen verfügbar.

Armenien 1 24 30 30 Medzamore,WWER 440-230,Laufzeitverlängerung unwahrscheinlich.

Belgien 7 25 30 40 Politische Vereinbarung im Jahr 2003 begrenzt die Lebenszeit auf 40 Jahre.

Brasilien 2 12 Noch kein Thema.

Bulgarien 4 20 30 Politische Vereinbarung zur Stillegung der Blöcke 1 bis 4.

China 11 5 Noch kein Thema.

Deutschland 18 25 32 Eine politische Verein-barung mit den Energie-versorgern sieht eine durchschnittliche Lauf-zeit von 32 Jahren vor.

Finnland 4 25 30 60 Die Olkiluoto-Anlage wurde bereits techni-schen Änderungen unter-zogen, die eine Laufzeit von 40 Jahren ermögli-chen. Derzeit werden Pläne für eine Laufzeit-verlängerung von noch-mals 20 Jahren entwickelt.

Frankreich 59 20 30 40 Konkrete Pläne, die Laufzeit aller Reaktorenauf 40 Jahre zu verlän-gern.

Großbritannien 23 26 Für alle Magnox-Reaktoren wurde eine feste Betriebszeit von biszu 50 Jahren festgelegt.Für die AGRs (Gene-ration II) ist eine be-grenzte Laufzeitverlän-

99

AnzahlReak-toren

Land Durch-schnitt-liches Alter

Ur-sprüng-lich

Ge-plant

Anmerkungen

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gerung (bis zu fünf Jahre) vorgesehen.

Indien 14 17 Berichten zufolge wer-den an einigen Stand-orten progressive Maß-nahmen zur Laufzeit-verlängerung ergriffen,obwohl darüber kaum konkrete Informationen vorliegen.

Japan 54 24 60 Die Betriebslizenz der Energieversorger enthältkeinen definitiven End-punkt. Das MITI unter-sucht gegenwärtig Vor-schläge, die Betriebs-zeiten von 60 Jahren ermöglichen sollen.

Kanada 17 22 30 Verschleißprobleme er-zwangen die zeitweilige Stillegung von acht Reaktoren in den späten 90er Jahren. Die weitereBetriebszeit wird vom Verhalten dieser und deranderen CANDU-Reak-toren abhängig gemacht.

Litauen 1 18 Im Rahmen der Bei-trittsvereinbarungen zur EU soll der letzte noch betriebene Reaktor 2009 stillgelegt werden.

Mexiko 2 12 Noch kein Thema.

Niederlande 1 32 40 Der modernisierte Bors- selle-Reaktor soll bis 2013 in Betrieb bleiben.

Pakistan 2 19 30 45 Die Laufzeit des Kanup-Reaktors wurde um 15 Jahre verlängert.

Rumänien 1 9 Noch kein Thema.

Russische 31 24 In den RBMK-Reak-Föderation toren in Sosnowij Bor

bei St. Petersburg wer-den die Druckröhren ausgetauscht, um eine 100

AnzahlReak-toren

Land Durch-schnitt-liches Alter

Ur-sprüng-lich

Ge-plant

Anmerkungen

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Laufzeit von 40 Jahren zu erreichen, eine Maß-nahme, die für andere vergleichbare Reaktor-typen zu erwarten ist.

Schweden 11 26 Laut einem Referendum sollen zwar sämtliche Reaktoren bis 2010 stillgelegt werden, doch erscheint dieser Stille-gungsfahrplan inzwi-schen überholt und wer-den derzeit alle Reak-toren neu bewertet.

Schweiz 5 30 Einige Reaktoren haben unbeschränkte, andere auf zehn Jahre be-schränkte Betriebslizen-zen; maximale Laufzei-ten wurden nicht fest-gelegt.

Slowakei 6 17 Die vier Reaktorblöcke von Bohunice V1 sollen bis Ende 2008 im Rah-men der Beitrittsverein-barungen zur EU still-gelegt werden.

Slowenien 1 22 40 Keine Pläne, den beste-henden Krsko-Reaktor über die 40jährige er-wartete Lebensdauer hinaus zu betreiben.

Spanien 9 23 40 60 Der älteste Reaktor, JoseCabrera, steht 2006 nach 37 Jahren Betrieb zur Stillegung an.

Südafrika 2 20 40 Keine Pläne, die beste-henden Anlagen über die40jährige erwartete Lebensdauer hinaus zu betreiben.

Südkorea 20 13 An Plänen zur Verlänge-rung der Laufzeit auf biszu 60 Jahre wird gear-beitet.

101

AnzahlReak-toren

Land Durch-schnitt-liches Alter

Ur-sprüng-

lich

Ge-plant

Anmerkungen

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Taiwan 6 23

Tschechien 6 13 40 Ein umfangreiches Modernisierungspro-gramm ist in Gang, um die Laufzeit der Duko-vany-Reaktoren auf 40 Jahre zu verlängern.

Ukraine 15 16 30 Pläne zur Modernisie-rung und Laufzeitverlän-gerung aller ukraini-schen WWER 1000 lie-gen vor.

Ungarn 4 20 30 50 Maßnahmen sind ge-plant, die Laufzeit der Paks-Reaktoren auf 50 Jahre zu erhöhen.

Vereinigte 104 22 Die ersten auf 40 JahreStaaten ausgestellten Betriebs-

lizenzen werden bei drei Anlagen 2009 auslau-fen. Von den restlichen Reaktoren haben 23 Lizenzen, die bis 2015 auslaufen.Reaktoren, deren Lauf-zeit um 20 Jahre verlän-gert wurde: Calvert Cliffs (1 & 2), Oconee (1,2 & 3), Arkansas Nuclear One 1, Edwin I Hatch (1&2),Turkey Point (3 & 4), Surry (1 & 2), North Anna (1 & 2), McGuire (1 & 2),Catawba (1 & 2), PeachBottom (2 & 3), St Lucie (1 & 2), Fort Cal-hourn, Robinson 2,Ginna, Summer, Dresden(2 & 3), Quad Cities (1 & 2).

Quelle: IAEA 2005

102

AnzahlReak-toren

Land Durch-schnitt-liches Alter

Ur-sprüng-lich

Ge-plant

Anmerkungen

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3.6 Die KostenseiteDie Folgen der Alterung werden umso offenkundiger, je mehr Zwi-schenfälle und Störfälle die Anlagenverfügbarkeit reduzieren unddamit auch die produzierte und verkaufte Strommenge. Aus diesemGrund verspüren Anlagenbetreiber – zumindest bis zu einem be-stimmten Punkt – einen deutlichen Anreiz zur Implementierungvon Modernisierungs- und Gegenmaßnahmen.

Auf der anderen Seite lösen Vorgänge, die „lediglich“ die – imVergleich zur Alltagserfahrung vernachlässigbare – Wahrscheinlich-keit eines katastrophalen Versagens erhöhen, keine ökonomischenNachteile aus (zumindest so lange den Anlagenbetreibern das Glückhold bleibt). Deshalb besteht von der ökonomischen Perspektive herkein besonderer Anreiz zu Investitionen in Maßnahmen zur Redu-zierung solcher Alterungsmechanismen und werden die Betreiberversuchen, die damit assoziierten Kosten so niedrig wie möglich zuhalten.

Entsprechend neigen die Reaktorbetreiber dazu, sich auf die bei-den unteren Ebenen (Reduzierung der Belastung und der Sicher-heitsanforderungen) zu konzentrieren und den Komponentenaus-tausch auf kleinere Teile zu beschränken.

Der Austausch großer Komponenten wurde (und wird) nur dannvorgenommen, wenn die verbleibende (und eventuell verlängerte)Laufzeit ausreicht, die Investition zu amortisieren. Beispielsweisewurden in den meisten westlichen Ländern in Kraftwerken mitDruckwasserreaktoren die Dampferzeuger ausgetauscht und inFrankreich und einigen anderen Ländern die Reaktorgehäusedeckel.

Die quantitative ökonomische Bewertung von Laufzeitverlänge-rungen ist kompliziert und hängt stark von den spezifischen Um-ständen der einzelnen Anlagen ab. Mehrere Studien stellen einensubstantiellen Kostenvorteil fest, so hat zum Beispiel unlängst einamerikanischer Analyst die Anlagenkosten der Laufzeitverlängerungfür US-Atomkraftwerke mit rund 10-50 $/kW angegeben. Dagegenwürden sich die Kosten bei den günstigsten nichtnuklearen Alterna-tiven auf 325-405 $/kW und bei einer Laufzeitverlängerung von Koh-lekraftwerken um 20 Jahre auf 100-250 $/kW belaufen (Macdougall1998). Der Neubau kerntechnischer Kapazitäten wäre mit weit über1000 $/kW beträchtlich teurer als alle diese Optionen.

Wie eine systematische Studie der IAEA belegt, variieren dieKostenschätzungen von Laufzeitverlängerungen ganz erheblich. Aufder Grundlage eines Fragebogens, der von Reaktorbetreibern in103

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zwölf Ländern beantwortet wurde, liegt die Bandbreite zwischen 120und 680 US-Dollar pro Kilowatt. Allerdings gibt dieses Spektrumnur den Kernbereich der verschiedenen Schätzungen wider; dieWahrscheinlichkeit, dass die tatsächlichen Kosten darunter bezie-hungsweise darüber liegen, beträgt jeweils 20 Prozent. Da die Anga-ben in den deregulierten Strommärkten der Vertraulichkeit unter-liegen, werden die Kostendaten in dem IAEA-Bericht nur als Band-breiten aufgeführt (IAEA 2002).

Laut Aussage des französischen Industrieministers Pierret, derfür eine Laufzeitverlängerung der französischen Reaktoren eintritt,würde jedes Betriebsjahr über die Anlagenlaufzeit von 30 Jahrenhinaus pro Reaktor einen Gewinn von rund 70 Millionen US-Dollarabwerfen (NUCWEEK 47_00). Für die französischen Reaktoren ins-gesamt würde sich damit bei zehn Jahren zusätzlicher Laufzeit einkumulierter Cashflow von ca. 23 Milliarden Euro ergeben (NUC-WEEK 40_03).

Über diese allgemeinen Kostenschätzungen hinaus liegen füreinige Projekte konkrete Kostenangaben für die Laufzeitverlänge-rung vor. So soll die Modernisierung der beiden finnischen Olkiluo-to-Siedewasserreaktoren mit dem Ziel einer zehnjährigen Laufzeit-verlängerung rund 130 Millionen Euro gekostet haben (Rastas 2003).Die Kosten der Laufzeitverlängerung der WWER-Blöcke im ungari-schen Paks um 20 Jahre werden mit 700 Millionen Euro veran-schlagt (NUCWEEK 47_04), und von den ukrainischen Plänen zurLaufzeitverlängerung (um 10 bis 15 Jahre) heißt es, dass sie um dreibis vier mal günstiger als der Bau neuer Anlagen sein sollen(NUCWEEK 23_03). Für die Laufzeitverlängerung der WWERs derersten Generation auf Kola um 15 Jahre wurden Kosten von 150Millionen Euro für beide Blöcke beziffert (NUCWEEK 33_04).

Die Kosten der Lizenzverlängerung und der Überprüfung durchdie Aufsichtsbehörden machen einen zwar vergleichsweise kleinen,aber doch nicht zu vernachlässigenden Teil der Gesamtkosten derLaufzeitverlängerung aus und werden zum Beispiel für die beidenBlöcke des amerikanischen Siedewasserreaktors Nine Mile Pointauf rund 25 Millionen US-Dollar geschätzt (NUCWEEK 48_03).

Im Vergleich zu neuen Reaktoren wie dem finnischen EPR, derden Energieversorger TVO drei Milliarden Euro kosten wird, neh-men sich die Kosten der Modernisierungsmaßnahmen für eineLaufzeitverlängerung fast bescheiden aus.

104

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3.7 LeistungserhöhungDie Leistungserhöhung ist eine wirtschaftlich attraktive Option fürdie Atomkraftwerkbetreiber, die von der Öffentlichkeit üblicher-weise kaum wahrgenommen wird und sich besonders in Verbin-dung mit einer Laufzeitverlängerung auszahlt.

Leistungserhöhungen werden in den meisten Ländern mit Atom-reaktoren durchgeführt. In Spanien, wo durch die Aufrüstung vonTurbinen und Dampferzeugern die Atomstromkapazität zwischen1995 und 1997 um vier Prozent erhöht wurde, wurde die Leistungs-erhöhung in den letzten Jahren kontinuierlich vorangetrieben undim Siedewasserreaktor Cofrentes die Erzeugungskapazität bis An-fang 2003 um rund elf Prozent erhöht (FORATOM 2004). In Schwe-den konnte die Atomstromkapazität durch Leistungserhöhung um600 MWe gesteigert werden (Varley/Paffernbarger 1998).

Die Leistung des finnischen Atomkraftwerks Olkiluoto wurde um18,3 Prozent erhöht (Rastas 2003), und in Deutschland summiertensich die Leistungserhöhungen bis Mitte 2004 auf über 800 MWeoder 4 Prozent der installierten nuklearen Kapazität. Weitere 450MWe sind geplant (DATF 2003, atw 2004). Auch in den VereinigtenStaaten sind umfangreiche Leistungserhöhungen geplant. Beispiels-weise wird beabsichtigt, die Kapazität des DruckwasserreaktorsGinna (mit einer aktuellen Kapazität von 495 MWe), für den zusätz-lich eine Laufzeitverlängung geplant ist, in den nächsten fünf Jahrenum 17 Prozent zu erhöhen. Da die Investitionskosten pro Kilowatt-stunde reduziert werden sollen, sind ganz offenkundig keine nen-nenswerten Neuinvestitionen in modernere Sicherheitssystemegeplant (NUCWEEK 48_03). Maßnahmen zur Leistungserhöhungwerden auch bei überalterten sowjetischen Reaktortypen durchge-führt, beispielsweise soll die Leistung der vier Generation II-WWER-Blöcke im ungarischen Paks von der (bereits leicht erhöhten)aktuellen Kapazität von 470 MWe auf 510 MWe ausgebaut werden.

Um die elektrische Erzeugungskapazität einer kerntechnischenAnlage zu steigern, gibt es zwei (häufig kombinierte) Optionen:

– Bei konstanter Reaktorleistung wird der thermische Wirkungs-grad der Anlage erhöht. Das wird größtenteils durch die Optimie-rung der Turbinen erreicht. Dadurch ändert sich nichts an derBetriebssicherheit der Anlage. Die Effizienz kann auch durch denAustausch der Dampferzeuger gesteigert werden, wenn dieneuen Wärmetauscher eine höhere Effizienz aufweisen.105

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– Die thermische Leistung des Reaktors wird erhöht, üblicherweisedurch eine höhere Kühlmitteltemperatur. Dadurch wird mehrDampf erzeugt und kann der Reaktor über die Turbinen (dieebenfalls modifiziert werden müssen) mehr Elektrizität erzeugen.Eine Zunahme der thermischen Leistung impliziert mehr Kern-spaltungen und damit ein höheres Betriebsrisiko. Gleichzeitigkommt es zwangsläufig zu stärkeren Belastungen der Materialienim Reaktor. Dass eine höhere Reaktorleistung die Betriebssicher-heit verringert und zugleich Alterungsprozesse beschleunigt, istallgemein akzeptiert.

Da das Potenzial für Leistungserhöhungen durch die Verbesserungder thermischen Effizienz in den letzten Jahren bereits weitgehendausgeschöpft worden ist, geht der Trend derzeit dahin, weitereLeistungserhöhungen über die Erhöhung der Reaktorleistung zuerzielen. In Deutschland beispielsweise fallen alle derzeit geplantenLeistungserhöhungen in letztere Kategorie.Darüber hinaus gilt die Erhöhung der thermischen Leistung einesReaktors als eine besonders kosteneffektive Methode, die Strom-erzeugung zu erhöhen (FRAMATOME 2004).

In Druckwasserreaktoren wird die Reaktorleistung durch die miteinem Temperaturanstieg im Kern einhergehende Erhöhung derdurchschnittlichen Kühlmitteltemperatur erreicht. Das führt zugeringeren Sicherheitsabständen: Neben einem höheren Risiko derKorrosion an den Brennstoffelementhüllen kann der Druck imprimären Kreislauf bei Übergängen höhere Spitzenwerte erreichen.Darüber hinaus nimmt das radioaktive Inventar im Reaktorkern pro-portional zur Leistungserhöhung zu. Die Kontrolle oder Abschwä-chung kritischer Situationen wird entsprechend schwieriger – somuss zum Beispiel bei der Druckentlastung des Containments dieDruckentlastungsrate erhöht werden (Bornemann/Heinz 2001).

Ähnliche Probleme treten bei Leistungserhöhungen bei anderenReaktortypen auf. So kam es beispielsweise nach der Leistungser-höhung beim Siedewasserreaktor Quad City 2 in den VereinigtenStaaten zu Vibrationen in der Frischdampfleitung, wodurch andereKomponenten beschädigt und der Reaktor mehrfach zu Reparaturenabgeschaltet werden musste (UCS 2004).

Die Erhöhung des Brennstoffabbrands (wodurch mehr Energiepro Tonne Brennstoff möglich wird) ist ein weiterer Weg, wie Reak-torbetreiber eine höhere Wirtschaftlichkeit ihrer Anlagen erreichen 106

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wollen. Allerdings erfordert das entsprechend stärker angereichertenfrischen Kernbrennstoff.

Die Bemühungen zur Erhöhung des Abbrands sind in den letztenJahren verstärkt worden. In früheren Jahrzehnten lag der durch-schnittliche Abbrand von Druckwasserreaktor-Brennelementen bei30.000 MWd/t, oder knapp darüber. Heute werden Abbrände von50.000 MWd/t erreicht und 60.000 MWd/t angestrebt. Bei Siede-wasserreaktoren verläuft der Trend, wenn auch auf einemniedrigeren Niveau, ähnlich.

Ein höherer Abbrand erhöht auch die Gefahr eines Brennstoff-hüllenbruchs und damit der radioaktiven Kontamination des Kühl-wassers. Darüber hinaus herrscht noch Unsicherheit darüber, wiesich hohe Abbrände auf das Verhalten der Brennstäbe unter Unfall-bedingungen auswirken.

Die Verwendung von Kernbrennstoffen mit hohem Abbrandkann auch die Betriebssicherheit vermindern, beispielsweise nimmtin Siedewasserreaktoren die Gefahr von Neutronenflusschwin-gungen zu.

Ein höherer Abbrand reduziert zwar die Menge des jährlich ineinem Leistungsreaktor anfallenden abgebrannten Brennstoffs.Andererseits sind aufgrund der höheren Strahlungsintensität, derstärkeren Wärmeentwicklung und des höheren Anteils an langlebi-gen Aktiniden Handhabung, Transport, Lagerung und Entsorgungdes abgebrannten Brennstoffs schwieriger und riskanter.

3.8 Die Sichtweise der AufsichtsbehördenObwohl der allgemeine Konsens lautet, dass die Hauptverantwort-ung für den sicheren Betrieb von Atomkraftwerken bei den Betrei-bern liegt, spielen auch die Atomaufsichtsbehörden eine entschei-dende Rolle hinsichtlich der in den einzelnen Ländern geltendenSicherheitsstandards und des als akzeptabel betrachteten Risiko-niveaus. Deswegen müssen hier auch die Perspektive der Aufsichts-behörden und die Probleme, mit denen sie im Hinblick auf dieAlterung und Laufzeitverlängerung konfrontiert sind, diskutiert wer-den. Wenn nicht anders angezeigt, basiert dieser Abschnitt aufeinem neueren Bericht des Nuclear Energy Agency Committee onNuclear Regulatory Activities der OECD, dem primär die oberenAtomaufsichtsbehörden vieler Länder angehören (CNRA 2001).

Die Atomaufsichtspraxis variiert je nach Land beträchtlich, wasbesonders für die Bereiche Alterung und Laufzeitverlängerung gilt.107

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Zunächst einmal vergeben einige Länder (darunter beispielsweisedie Vereinigten Staaten und Finnland) nur Betriebslizenzen füreinen begrenzten Zeitraum. In der Schweiz haben einige Atomkraft-werke zeitlich begrenzte, andere dagegen unbegrenzte Lizenzen. Diemeisten Länder jedoch vergeben grundsätzlich unbeschränkt Lizen-zen, einen dauerhaft sicheren Betrieb der Anlage vorausgesetzt.

Periodischen Sicherheitsprüfungen kommt insbesondere in Län-dern mit unbeschränkten Lizenzen eine zunehmend wichtige Rollefür die Rechtfertigung des weiteren Betriebs zu, wobei in dieserHinsicht beachtliche Variationen zwischen den einzelnen Ländernbestehen. Das betrifft zum einen den Umfang an Dokumentationenund anderen Informationen, die die Betreiber vorlegen müssen,aber auch das Ausmaß unabhängiger Sicherheitsüberprüfungendurch die Aufsichtsbehörden.

Die Verfahren variieren auch stark im Hinblick auf die Entwick-lung und Modernisierung von Regeln und Vorschriften. Obgleich inallen Ländern die Regulation größtenteils auf deterministischenMethoden und Kriterien basiert, nimmt doch die Bedeutung vonprobabilistischen Methoden immer mehr zu. In einigen Ländernsind solche Methoden bereits offiziell in den Lizenzierungsprozessintegriert worden, während die Aufsichtsbehörden in anderenLändern ihnen skeptischer gegenüber stehen.

Den meisten regulatorischen Ansätzen gemein ist, dass die Auf-sichtsbehörden die Gesamtkonstruktion einer Anlage überprüfen,um zu bestimmen, welche Sicherheitsverbesserungen von den Be-treibern gefordert und erwartet werden können. Doch selbst indiesem Zusammenhang gibt es eine wichtige Ausnahme: DerLizenzverlängerungsprozess in den Vereinigten Staaten konzentri-ert sich einseitig auf die schädlichen Auswirkungen der Alterung,ohne die aktuelle Genehmigungsgrundlage einer Anlage zu über-prüfen.

Ungeachtet dieses heterogenen Bildes lässt sich eine Reihe vonProblemen benennen, mit denen die Aufsichtsbehörden weltweitkonfrontiert sind. Der grundlegendste und schwerwiegendsteMangel der regulatorischen Praxis besteht in allen Ländern darin,dass sie kein umfassendes Set an technischen Kriterien dafür haben,ob der weitere Betrieb eines Atomkraftwerks erlaubt werden kann.

Ein allgemein anerkanntes Prinzip lautet, dass die Lizenzierungs-auflagen einer Anlage die gesamte Laufzeit hindurch erfüllt werdenmüssen. Darüber hinaus erheben einige wenige Länder (beispiels- 108

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weise die Schweiz) die explizite Forderung, dass Atomkraftwerkedem Stand der Technik und Wissenschaft entsprechen, während invielen anderen Ländern diese Anforderung dem regulativen Ansatzimplizit zugrunde liegt. Allerdings ist diese Auflage potenziell sehrschwer zu erfüllen und die Aufsichtbehörden können insbesonderebei älteren Reaktoren nur schwer beurteilen, inwieweit sie sich prak-tisch umsetzen lässt.

In der Praxis wird die Nachrüstung älterer Atomkraftwerke aufmoderne Standards von Aufsichtsbehörden nur in einem unterBerücksichtigung der Sicherheitsverbesserungen und Kosten„vernünftigerweise durchführbaren“ Maß verlangt, wie die Antwor-ten auf eine Umfrage der Nuclear Energy Agency der OECD zeigen.Eine Formulierung, die natürlich beträchtlichen Spielraum fürInterpretationen und Kompromisse lässt. Im Allgemeinen bewertendie Aufsichtsbehörden Abweichungen von modernen Standards aufeiner pragmatischen Einzelfallbasis.

Der Trend zur Verwendung probabilistischer Methoden stelltauch für die Aufsichtsbehörden ein Problem dar. Obwohl Wahr-scheinlichkeitsanalysen zunehmend als regulatorische InstrumenteEinsatz finden, sind die Aufsichtsbehörden größtenteils nicht bereit,probabilistische Aussagen allein als ausreichend zur Verlängerungvon Lizenzen zu akzeptieren, deren Erteilung auf deterministischenBewertungen beruhte. Das könnte in dem Maße umstrittener wer-den, in dem die Reaktorbetreiber versuchen, probabilistische Bewer-tungen als Grundlage dafür heranzuziehen, was im Hinblick auf dieNachrüstung älterer Anlagen „vernünftigerweise durchführbar“ ist.

Eine weitere schwierige Aufgabe der Aufsichtsbehörden bestehtdarin, einen kontinuierlichen Nachwuchs an kompetentem Personalzum Betrieb und zur Wartung älterer Anlagen sicherzustellen, derenKonstruktionsdetails, technische Grenzen etc. möglicherweiseweniger gut dokumentiert sind als bei neueren Anlagen. DiesesProblem könnte sich noch durch die schrittweise Pensionierung desEntwicklungs- und Betriebspersonals verschärfen, das von Anfangan in dem Reaktor gearbeitet hat.

4 Die TerrorgefahrObwohl bereits das 20. Jahrhundert von zahllosen Terroranschlägenerschüttert wurde, scheint die Terrorgefahr zu Beginn des 21. Jahr-hunderts und seit dem 11. September 2001 besonders groß gewor-den zu sein.109

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Es gibt zahllose potenzielle Ziele für Terroristen. Industrieanla-gen, Bürogebäude in Stadtzentren oder gefüllte Sportstadien stellenbesonders „attraktive“ Ziele für eine Terrorgruppe dar, die bei einemAnschlag möglichst viele Menschen töten möchte. Atomkraftwerkedagegen bieten sich aus einem oder mehreren der folgendenGründe als Terrorziele an:

– Symbolischer Gehalt: Atomstrom lässt sich als Verkörperung dertechnologischen Entwicklung sehen, als „Hightech“ in Reinkul-tur. Da die Atomenergie außerdem eine zivil wie militärisch nutz-bare Technologie ist, wird sie von vielen Menschen – und das mitgutem Grund – als potenziell sehr gefährlich betrachtet. Deswe-gen können Anschläge auf Atomkraftwerke eine besonders starkepsychologische Wirkung haben.

– Langfristige Auswirkungen: Ein Anschlag kann zu einer großflä-chigen radioaktiven Kontamination mit langlebigen Radionukli-den führen. Der angegriffene Staat wird auf lange Zeit hinaus vonden Zerstörungen gezeichnet bleiben. Darüber hinaus fallen aufJahrzehnte hinaus ökonomische Schäden an. Große Areale(Städte, Industriegebiete) müssen auf unabsehbare Zeit hinausevakuiert werden, was ganze Regionen destabilisieren kann.

– Unmittelbare Folgen für die Stromerzeugung in der betroffenenRegion: Atomkraftwerke sind in allen Ländern große und zentra-lisierte Komponenten im Stromversorgungssystem. Werdensolch große Anlagen unvermittelt abgeschaltet, kann das zueinem Zusammenbruch des lokalen Stromnetzes führen.

– Langfristige Folgen für die Stromerzeugung (und zwar nicht nurin der betroffenen Region, sondern auch in anderen und mögli-cherweise sogar allen Regionen, wo Atomkraftwerke in Betriebsind): Ein erfolgreicher Anschlag auf ein Atomkraftwerk in einemLand stellt zugleich auch einen Anschlag auf alle Atomkraftwerkeweltweit dar. Wurde durch einen Anschlag erst einmal die Ver-wundbarkeit eines Atomkraftwerks bewiesen, ist es wahrschein-lich, dass nicht nur im betroffenen Land, sondern auch in ande-ren Ländern weitere Atomkraftwerke abgeschaltet werden.

Andererseits gibt es – vom Standpunkt einer Terrorgruppe ausbetrachtet – auch eine Reihe von Gründen, die gegen Anschläge aufAtomkraftwerke sprechen: Atomkraftwerke sind weniger verwund-bar als andere Ziele, radiologische Schäden können über große Ent- 110

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fernungen hinweg auch verbündete Länder betreffen, und dasattackierte Land könnte mit extremer Gewalt reagieren (Thompson2005). Allerdings scheint es keine Möglichkeit zu geben, die Wahr-scheinlichkeit abzuschätzen, ob ein bestimmtes Ziel angegriffenwird oder nicht. Fest steht nur, dass Terroranschläge auf Atomkraft-werke möglich sind und dass es viele andere potenzielle Ziele fürderartige Anschläge gibt.

Terroranschläge auf Atomkraftwerke können mit einer Vielzahlvon Mitteln ausgeführt werden. Es ist unmöglich, eine Liste allerdenkbaren Szenarien aufzustellen, da es schlichtweg unmöglich ist,die Produkte der menschlichen Fantasie vorherzusehen. Auch wennsich die Behörden seit dem 11. September 2001 auf Selbstmord-anschläge mit Flugzeugen konzentriert haben, sind doch auch voll-kommen andere Szenarien plausibel.

Dass Terroranschläge auf Atomkraftwerke keine rein theoretischeSache sind, belegt der Umstand, dass Terroristen in der Vergangen-heit bereits mehrfach Atomkraftwerke angegriffen haben. Glück-licherweise ist es dabei bislang zu keiner katastrophalen radioaktiv-en Freisetzung gekommen. Nachfolgend ein paar Beispiele fürsolche Anschläge (Coeytaux 2001, Thompson 1996, Nissim 2004,TMI 2005, NUCWEEK 46_94):

– 12. November 1972: Drei Luftpiraten bringen eine DC-9 derSouthern Airlines in ihre Gewalt und drohen mit dem Absturzder Maschine auf den Oak-Ridge-Forschungsreaktor des US-Mili-tärs. Die Entführer flogen nach Kuba, nachdem sie zwei Millio-nen Dollar erhalten hatten.

– Dezember 1977: Bei einem Bombenanschlag baskischer Separa-tisten auf das im Bau befindliche Atomkraftwerk Lemoniz inSpanien werden das Reaktorgehäuse und ein Dampferzeugerbeschädigt und zwei Arbeiter getötet.

– Dezember 1982: ANC-Guerrillakämpfer zünden in Südafrikatrotz scharfer Sicherheitsvorkehrungen vier Bomben in dem imBau befindlichen Atomkraftwerk Koeberg.

– Mai 1986: Drei der vier Stromleitungen, die zum AtomkraftwerkPalo Verde in Arizona führen, werden durch Sabotage kurzge-schlossen.

– Februar 1993: Im Atomkraftwerk Three Mile Island (Pennsyl-vania) rast ein Mann mit einem Lieferwagen durch das Sicher-heitstor und rammt eine halboffene Tür im Turbinengebäude.111

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Erst vier Stunden später wird er von Wachmännern im Turbinen-gebäude aufgespürt.

– 1993: Die Terroristen, die hinter dem Autobombenanschlag aufdas World Trade Center standen und behaupteten, zum Ter-rornetzwerk des Islamistischen Dschihad zu gehören, drohen ineinem von den Behörden als echt bezeichneten Bekennerschrei-ben an die New York Times mit Anschlägen auf Atomanlagen.Darüber hinaus brachte die Untersuchung zu Tage, dass die Ter-rorgruppe im November 1992 in einem Camp nahe Harrisburg,Pennsylvania, nur 15 Kilometer entfernt vom AtomkraftwerkThree Mile Island, trainiert hatte.

– November 1994: Das litauische Atomkraftwerk Ignalina erhälteine Bombendrohung. Allerdings kommt es zu keiner Explosionund wird keine Bombe auf dem Gelände gefunden.

4.1 Kriegerische Handlungen Militärische Aktionen gegen kerntechnische Anlagen stellen eineweitere Gefahr dar, die in der gegenwärtigen globalen Situationbesondere Aufmerksamkeit verdient. Seit dem Fall des EisernenVorhangs nimmt die Tendenz zu „kleinen“, regional begrenzten,aber lang anhaltenden Kriegen zu. Diese Kriege können mit demZerfall eines großen Staates oder mit den Unabhängigkeitsbestre-bungen einzelner Bevölkerungsgruppen zusammenhängen (Münk-ler 2003). Die oben aufgeführten Gründe für einen Anschlag könn-ten in einem solchen Krieg eine der Konfliktparteien zu einemAnschlag auf ein Atomkraftwerk bewegen.

Interventionskriege, eine weitere Spielart des kriegerischen Kon-flikts, können infolge eines lange andauernden regionalen Konfliktsausbrechen. Bei solchen Kriegen greifen Länder andere Länder an,von denen eine reale oder eingebildete Gefahr ausgeht. Die politi-schen Ziele und Interessen des angreifenden Landes spielen in die-sen Fällen zumeist eine wichtige Rolle. Falls es im angegriffenenLand Atomkraftwerke gibt, besteht die Gefahr, dass sie bei denKampfhandlungen unabsichtlich beschädigt werden. Darüber hin-aus könnte die intervenierende Macht gezielt Kraftwerke angreifen,um die Stromversorgung im feindlichen Land zu paralysieren, wobeies allerdings wahrscheinlich versuchen würde, radioaktive Frei-setzungen zu vermeiden. Aufgrund der kompakten Konstruktionder einzelnen Komponenten eines Atomkraftwerks könnten den-noch sicherheitsrelevante Einrichtungen beschädigt werden. Außer- 112

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dem könnte in Kriegszeiten das Stromversorgungsnetz auch ohnedirekte Angriffe auf Kraftwerke zusammenbrechen. In Kombinationmit weiteren Zerstörungen der Infrastruktur könnte das zu Ereig-nissen oder Unfällen in Atomkraftwerken mit Konsequenzen für dieUmgebung führen.

Denkbar ist auch, dass kerntechnische Anlagen, die militärischenZwecken dienen oder von denen angenommen wird, dass sie dastun, gezielt zerstört werden. In diesen Fällen könnte der Aggressordie Freisetzung radioaktiver Stoffe bewusst hinnehmen.

Im Juni 1981 zerstörte die israelische Luftwaffe im irakischenTuwaitha-Forschungszentrum einen noch im Bau befindlichengroßen (40 MWth) Forschungsreaktor. Die Israelis hatten befürch-tet, dass der Irak den Reaktor (direkt oder indirekt) zum Aufbaueines nuklearen Arsenals benutzen würde. Im ersten Golfkrieg 1991wurden am selben Standort zwei kleinere Reaktoren bei einemNachtangriff der US-Luftwaffe zerstört (Thompson 1996).

Kriegerische Handlungen können für keine Region der Welt aus-geschlossen werden. In den Balkan-Kriegen zu Beginn der neun-ziger Jahre geriet das slowenische Atomkraftwerk Krsko mehrfach inGefahr. Im Juni 1991 überflogen drei Kampfbomber der jugoslawi-schen Luftwaffe die Anlage. Auch wenn sie den Reaktor nicht angrif-fen, stellte das doch eine klare Warnung dar. Im September 1991näherte sich der Krieg der slowenischen Grenze, und es kam in derUmgebung von Zagreb zu Kämpfen, die sich leicht auf slowenischesTerritorium hätten ausdehnen können (Hirsch 1997).

Bei kriegerischen Konflikten werden neben den eigentlichenKampfhandlungen häufig auch Kommandounternehmen ausge-führt (durch hinter den Feindlinien operierende Spezialeinheitenoder eine „fünfte Kolonne“). Diese Gefahr ist besonders groß beiasymmetrischen Kriegen, zum Beispiel bei einem Interventions-krieg, bei dem ein Land ein viel schwächeres Land angreift. Skrupelgegenüber Aktionen, die sich größtenteils gegen die zivile Feindbe-völkerung richten, können drastisch sinken, wenn das angegriffeneLand keine andere Möglichkeit hat, sich gegen einen übermächtigenGegner zu wehren und/oder bereits hohe zivile Verluste erlitten hat.

Der Einsatz von Atomwaffen gegen Atomkraftwerke (bei terroris-tischen oder militärischen Angriffen) wird hier nicht diskutiert.Allerdings sollte erwähnt werden, dass die Zerstörung eines Atom-kraftwerks das Ausmaß der durch die Atomwaffe erzeugten radioak-tiven Kontamination massiv verstärken könnte – das Spaltprodukt-113

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inventar eines kommerziellen Atomkraftwerks übertrifft das einerKernwaffe um das bis zu 1000fache.

4.2 Ziele und ihre VerwundbarkeitVon allen kerntechnischen Anlagen und anderen Einrichtungen mittoxischem Inventar wie beispielsweise Chemiefabriken stellenAtomkraftwerke wahrscheinlich die „attraktivsten“ Ziele für terroris-tische oder militärische Angriffe dar. Sie sind weit verbreitet (zumin-dest in zahlreichen Industrieländern), enthalten ein beträchtlichesradioaktives Inventar und sind, wie bereits erwähnt, wichtige Kom-ponenten des Stromversorgungssystems. Darüber hinaus handelt essich bei ihnen um große Bauwerke mit einer typischen Struktur, dieselbst aus großer Entfernung deutlich sichtbar sind.

Das Gelände eines Atomkraftwerks umfasst typischerweisemehrere Zehntausend Quadratmeter. Das Kernstück der Anlage istdas Reaktorgebäude, das, wie der Name andeutet, den Reaktor mithochradioaktivem Kernbrennstoff (in einer Größenordnung von 100Tonnen) sowie wichtige Kühl- und Sicherheitssysteme enthält.

Im Falle eines Anschlags dürfte das Reaktorgebäude das primäreZiel sein. Ist der Reaktor zum Zeitpunkt eines Anschlags in Betriebund fällt das Kühlsystem aus, kann es in sehr kurzer Zeit (ungefähreiner Stunde) zu einer Kernschmelze kommen. Selbst wenn derReaktor abgeschaltet wird, ist die Zerfallswärme immer noch sohoch, dass der Kernbrennstoff – wenn auch langsamer – schmelzenwird.

Bei einer Zerstörung des Reaktorgebäudes mit gleichzeitigemVersagen der Kühlsysteme droht ein Kernschmelzunfall der gefähr-lichsten Kategorie: eine rapide Kernschmelze bei offenem Contain-ment, was zu einer sehr hohen und frühzeitigen radioaktiven Frei-setzung führt.

Das Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente ist eine weitereanfällige Komponente mit beträchtlichem radioaktivem Inventar. Inmanchen Anlagen enthält es das Mehrfache an Kernbrennstoff (unddamit auch an langlebigen radioaktiven Substanzen) wie der Reak-torkern selbst. In einigen Atomkraftwerken befindet sich diesesBecken innerhalb des Containments und ist gegen äußere Einwir-kungen durch eine Betonhülle geschützt (zum Beispiel in deutschenDruckwasserreaktoren). In vielen Fällen allerdings befindet sich dasLagerbecken in einem schlechter geschützten separaten Gebäude(etwa bei vielen US-Atomkraftwerken). Auch bei deutschen Siede- 114

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wasserreaktoren befindet sich das Lagerbecken zwar innerhalb desReaktorgebäudes, aber außerhalb des Containments und ist deutlichweniger geschützt als der Reaktor selbst.

Abgesehen vom Reaktorgebäude und dem gegebenenfalls exter-nen Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente gibt es weitereGebäude und Einrichtungen unterschiedlicher Sicherheitsbedeu-tung. Bei modernen Druckwasserreaktoren (auf Druckwasserreakto-ren einschließlich WWERs entfallen rund 60 Prozent aller weltweitin Betrieb befindlichen Kernreaktoren) sind das insbesondere:

– Schaltanlagengebäude mit Kraftwerkswarte sowie den zentralenelektrischen und elektronischen Anlagen;

– Reaktorhilfsanlagengebäude mit Wasserreinigungs- und Lüf-tungsanlagen;

– Maschinenhaus mit Turbine und Generator; – Transformatorenstation mit Netzeinspeisung und Eigenbedarfs-

Transformator; – Notstromgebäude mit Notstromaggregat und Kaltwasserzentrale; – Notspeisegebäude mit Einrichtungen zur Notbespeisung der

Dampferzeuger (d.h. Kühlung des Reaktors über den sekundärenKühlkreislauf) einschließlich Notsteuerstelle;

– Abluftkamin; – Werkstatt- und Sozialgebäude; – Kühltürme (bei Rückkühlung); – Kühlwasserentnahme- und Rückgabebauwerke.

Die Gegebenheiten bei Siedewasserreaktoren sind ähnlich. Aller-dings verfügen diese über keine Notspeisegebäude, da sie nur einenKühlkreislauf und somit keine Dampferzeuger aufweisen. Stattdes-sen verfügen Siedewasserreaktoren über eine Notsteuerstelle, vonder aus die wichtigsten Sicherheitsfunktionen kontrolliert werden.

Bislang sind nicht alle Atomkraftwerke speziell für den Schutzgegen externe, von Menschen verursachte Ereignisse (beispielsweiseFlugzeugabstürze) ausgelegt. Bei den Anlagen, die darauf ausgelegtsind, wurde nur die Einwirkung auf einen Punkt berücksichtigt (bei-spielsweise der Aufprall eines kleinen Militärflugzeugs) und war dieräumliche Trennung sicherheitsrelevanter Einrichtungen die zen-trale Gegenmaßnahme. Dadurch sollte sichergestellt werden, dassbei einem solchen Ereignis nur eine zentrale Sicherheitseinrichtungzerstört wird und ein Ersatz möglich ist. Beispielsweise könnten bei115

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einem Ausfall der Hilfsstromquelle über den entsprechenden Um-spanner immer noch die Notstromdiesel aktiviert werden.

Selbst wenn bei einem Angriff das Reaktorgebäude intakt bleibt,kann die Situation immer noch außer Kontrolle geraten, wenn mehrals eine sicherheitsrelevante Einrichtung der Anlage zerstört wird.Das kann selbst im Falle der räumlichen Trennung wichtiger Kom-ponenten passieren, wenn die Folgen des Angriffs größere Bereichedes Standorts betreffen.

Zum Beispiel könnten im Falle eines simultanen Ausfalls derNetzstromversorgung (über den Eigenbedarfs-Transformator) undder Notstromversorgung die Kühlmittelpumpen nicht mehr betrie-ben werden. Bei der simultanen Zerstörung der Warte und des Not-speisegebäudes (des Notsteuergebäudes) könnte eine Situation ent-stehen, in der die erforderlichen Sicherheitssysteme zwar noch ein-satzfähig sind, aber nicht mehr gesteuert werden können. Weitrei-chende Zerstörungen des Anlagengeländes können darüber hinausden Zugang von Personal verhindern und damit auch Notmaßnah-men und -reparaturen unmöglich machen – zumindest nicht in dererforderlichen Zeitspanne von einigen wenigen Stunden.

Die Zerstörung des Kühlwasserentnahmegebäudes allein würdeschon ausreichen, sämtliche Kühlkreisläufe des Kraftwerks zu unter-brechen. Da auf dem Reaktorgelände mehrere Wasserreservoiresverfügbar sind, entwickelt sich daraus nur langsam eine kritischeSituation und bleibt Zeit für improvisierte Maßnahmen – vorausge-setzt, dass diese nicht durch weitere Zerstörungen am Standortbehindert werden.

4.3 Folgen eines Anschlags auf einen AtomreaktorEin Beispiel aus der langen Liste möglicher Szenarien soll hierdetaillierter erörtert werden – der Artilleriebeschuss eines Atom-kraftwerks. Ein solcher Angriff könnte zu einem Reaktorunfall derschwersten Kategorie führen – einer Kernschmelze mit frühzeiti-gem Containmentversagen – und wäre effektiver als ein Angriff mitpanzer- oder betonbrechenden Raketen.

Ein mögliches Szenario wäre der Beschuss mit einer mobilen155mm-Haubitze durch feindliches Militär oder Terroristen. Dapraktisch alle Streitkräfte auf der Welt über solche Waffen verfügen,ist es wahrscheinlich, dass auch Terroristen sie erwerben können.Eine mobile Haubitze mit Kaliber 155 kann getarnt auf Straßen in dieNähe eines Atomkraftwerks gebracht und binnen Minuten feuer- 116

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bereit gemacht werden. Bei einem Beschuss aus einer Entfernungvon 12 bis 15 Kilometern sind bei einem Zielbereich von 50 mal 50Metern mehrere Treffer zu erwarten. Bei geringerer Entfernung undgünstigen Wetterbedingungen ist die Zielgenauigkeit deutlich höherund sind mehrere Treffer auf das Reaktorgebäude möglich.

Bei einem Beschuss mit hochexplosiven Granaten ist mit einerteilweisen Zerstörung des Reaktorgebäudes, schwerwiegendenSchäden innerhalb des Gebäudes und dem Tod oder der Verletzungvon Betriebsangehörigen zu rechnen. Auf dem Betriebsgelände kön-nen Granaten, die das Ziel knapp verfehlen, für weitere Verheerun-gen sorgen, die durch die Verwendung von Brandgranaten und an-deren Munitionsarten noch weiter gesteigert werden können. Untersolchen Umständen wird es extrem schwierig sein, schnelle undwirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen

Binnen weniger Stunden wird es zu einer Kernschmelze miteiner massiven radioaktiven Freisetzung kommen, wobei der an dieAtmosphäre abgegebene Anteil 50 bis 90 Prozent des radioaktivenInventars von flüchtigen Nukliden wie Jod und Cäsium sowie einenkleinen Anteil weiterer Nuklide wie Strontium-90 betragen kann.Bei einem Atomkraftwerk mit einer elektrischen Leistung von 1000MW entspräche dies unter anderem mehreren 100.000 Terabecque-rel (TBq) Cäsium-137 (Hahn 1999), ein Vielfaches der schätzungs-weise 85.000 TBq Cäsium-137, die beim Reaktorunfall in Tscherno-byl freigesetzt wurden.

Die Folgen wären katastrophal und würden ein großes Gebietbetreffen: Eine Fläche von bis zu 10.000 km2 würde kurzfristigevakuiert werden müssen. Außerdem würde es bis zu 15.000 akuteStrahlentote, bis zu einer Million Krebstote sowie zahllose Fälle vongenetischen Spätschäden geben. Das kontaminierte Areal, aus demlangfristig die Bevölkerung umgesiedelt werden müsste, könnte biszu 100.000 km2 umfassen. Die wirtschaftlichen Schäden wurdenmit sechs Billionen Euro veranschlagt (Hahn 1999).

Bei einer Zerstörung oder massiven Beschädigung des Lager-beckens für abgebrannte Brennstoffelemente, bei vielen Reaktorenein Szenario mit hoher Wahrscheinlichkeit, würde die radioaktiveFreisetzung ein Vielfaches der oben genannten Werte betragen, undes würden die Folgen entsprechend verheerender ausfallen.

Innerhalb eines bestimmten Zeitfensters sind Notmaßnahmenzur Kühlung des Kernbrennstoffs möglich. Falls aufgrund des An-griffs das Beckenkühlsystem versagt und das Wasser nach und nach117

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verdampft, dauert es zwischen ein und zehn Tagen (je nach Mengeund Kühlzeit der abgebrannten Brennelemente im Lagerbecken), bisdie Spitzen der Brennstoffelemente nicht mehr mit Wasserabgedeckt sind. Falls das Becken beschädigt wird und das Wasserabfließt, wird dieser Punkt natürlich viel schneller erreicht. Sobaldder Brennstoff exponiert ist, geht die Strahlungsabschirmung voll-ständig verloren, danach sind Eingriffe von außen aufgrund derhohen Strahlenbelastung nicht mehr möglich.

In diesem Falle würden frisch eingelagerte abgebrannte Brenn-elemente unweigerlich den Punkt erreichen, an dem sie sich an derLuft entzünden (900° C), und es käme binnen weniger Stunden zumassiven radioaktiven Freisetzungen (Alvarez u.a. 2003).

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http://www.nirs.org/Public Citizens (Vereinigte Staaten): http://www.energyactivist.orgSortir du Nucleaire (Frankreich): http://www.sortirdunucleaire.org/WISE Amsterdam (International): http://www10.antenna.nl/wise/WISE Paris (International): http://www.wise-paris.org/

AtomenergiesektorWorld Nuclear Association: http://www.world-nuclear.orgInternational Atomic Energy Agency: http://www.iaea.orgNuclear Energy Agency: http://www.nea.frUnited States Department of Energy, Office of Nuclear Energy, Science and

Technology: http://gen-iv.ne.doe.gov/Generation IV International Forum: http://gif.inel.gov/

123

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KAPITEL 3

DER NUKLEARE BRENNSTOFFKREISLAUF

Von Jürgen Kreusch, Wolfgang Neumann, Detlef Appel und Peter Diehl

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126

Uranbergbau

Erz-Aufbereitung

ChemischeKonversion

ChemischeKonversion

Atom-reaktor

BE-Kondi-tionierung

Konditio-nierung

Zwischen-lagerung

Zwischen-lagerung

BE-Zwischen-lagerung

Wiederauf-bereitung

Wieder-verwertung

U-ore

U3O8

UF6

UF6

UO2

UO2/MOX

UO2/MOX

UO2

LAW

Abfallgestein

Uranerz-Aufbereitungsrückstände

LAW

LAW

LAW/MAW

LAW/MAW/HAW

LAW/MAW/HAW

UO2/MOX U

UO2+PuO2

Endlagerung

Abbildung 1

Der „Brennstoffkreislauf“

Zwischenlager& Konversion

BE-Kondi-tionierung

Deponierung

abgereichetes UF6Anreiche-rung

Brennelement-Herstellung

S. 124/125: Am Verladekran am Dannenberger Ostbahnhof trifft der Zug mit zwölf Castor-

Behältern aus der Wiederaufbereitungsanlage La Hague ein. © Andreas Schoelzel/ Greenpeace

UO2

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1 EinleitungBevor Atomenergie genutzt werden kann, braucht es etliche Arbeits-prozesse in sehr unterschiedlichen industriellen Anlagen. Jede ein-zelne dieser Anlagen hat ein spezifisches Gefahrenpotenzial. Esfängt mit dem Staub in den Uranminen an, geht weiter mit denmöglichen und tatsächlichen radioaktiven Belastungen bei norma-lem Betrieb sowie im Fall von Störungen für die Arbeiter in denAtomkraftanlagen bzw. die Menschen, die in der Nähe wohnen, –und endet mit der möglichen Kontamination von Grundwasser ineinem Endlager für radioaktiven Abfall. (In Abbildung 1 werden dieSchritte gezeigt, wie Uran zu einem Brennelement wird.)

Nach der Nutzung von Uranbrennstoff in einem Atomreaktorund einer unumgänglichen Lagerungszeit gibt es für abgebrannteBrennelemente zwei Möglichkeiten: Die erste ist eine Behandlungund „direkte“ Endlagerung, die zweite eine Wiederaufbereitung.Wiederaufbereitung bedeutet die Abtrennung des Urans und deserzeugten Plutoniums von den abgebrannten Brennelementen, dieHerstellung neuer Brennelemente mit diesem Material und dererneute Einsatz in einem Atomreaktor. Die meisten Länder, dieAtomenergie nutzen, bereiten ihre abgebrannten Brennelementenicht auf.

Die Anreicherung führt zu einer großen Menge verbrauchtenUrans. Jede Anreicherungsanlage produziert jährlich einige Tau-send Tonnen dieses Materials. Seine Nutzung ist ungeklärt. Mögli-cherweise kann nur ein kleiner Teil außerhalb des Brennstoffkreis-laufs genutzt werden, und der Rest muss endgelagert werden.

In jeder Nuklearanlage wird radioaktiver Abfall produziert. DieserAbfall kann eingeteilt werden in schwachradioaktiven Abfall („low-active waste“ – LAW), mittelradioaktiven Abfall („medium-activewaste“ – MAW) und hochradioaktiven Abfall („high-active waste“ –HAW). Verglichen mit den beiden anderen Kategorien fällt hoch-radioaktiver Abfall nur in geringem Umfang an, er enthält jedocherhebliche Mengen an Radioaktivität. Dieser Abfall setzt sich zusam-men aus abgebrannten Brennelementen für die „direkte“ Endlage-rung, die zu Glasverbindungen verarbeiteten Spaltprodukte aus derWiederaufbereitung und die im Reaktor aktivierten Stoffe. Schwach-und mittelradioaktive Abfälle entstehen in einem breiten Spektrumvon Prozessen. Die Menge des Abfalls und der Umgang mit ihm, dieEndlagerung eingeschlossen, hängen vom Reaktortyp ab. Das ist inden Atomenergie nutzenden Ländern unterschiedlich. Zum Beispiel127

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produziert ein 1.300 MW-Druckwasserreaktor in Deutschland etwa60 m3 schwach- und mittelradioaktive Abfälle und etwa 26 t abge-brannte Brennelemente jährlich. Bei Stillegung produziert dieserReaktor 5700 m3 schwachradioaktiven Abfall. Wenn man die gültigeLaufzeitbegrenzung von 35 Jahren pro Reaktor zur Voraussetzungnimmt, geht man in Deutschland von etwa 300.000 m3 Abfällen fürdie Endlagerung aus.

Ob mit oder ohne Wiederaufbereitung – eine Lagerstätte für dieEndlagerung von radioaktiven Abfällen ist unerlässlich. Das trifft aufdie großen Mengen schwach- und mittelradioaktive Abfälle ebensozu wie auf die abgebrannten Brennelemente, weil bis heute „mixedoxide fuel“ (MOX) nicht in industriellem Ausmaß wiederaufbereitetwird. Nur in Frankreich geschieht das zum Teil. Bis heute gibt es inder ganzen Welt kein Endlager für hochradioaktiven Abfall undabgebrannte Brennelemente. Endlager für schwach- und mittelra-dioaktive Abfälle sind in einigen Ländern in Betrieb, die meistensein größeres Nuklearprogramm haben. Es ist unabdingbar, dass inallen Ländern, die Atomenergie nutzen, so sicher und so schnell wiemöglich eine Endlagerung vorgenommen wird. Die Endlagerungbietet größere Sicherheit als andere Optionen, wenn der Endlage-rungsstandort sorgfältig ausgewählt und gebaut wird. Auch hier gilt:Man muss diese Lasten der Atomenergie in den Griff bekommen.

2 Uranabbau: Technologie und Auswirkungen*

2.1 Allgemeine Probleme und RisikenDer Uranabbau im großen Stil begann nach dem Zweiten Weltkrieg,als Uran als strategische Ressource gewonnen wurde. Große An-strengungen wurden unternommen, um unter allen Umständen andieses Rohmaterial für die Atombombe zu kommen, wobei anfäng-lich die Auswirkungen sowohl auf die Gesundheit der Beschäftigtenwie auch die Umwelt ignoriert wurden. Die Vereinigten Staatenbezogen ihr Uran hauptsächlich aus heimischen und kanadischenLagerstätten. Die Sowjetunion, in der zunächst keine bedeutendenVorkommen bekannt waren, etablierte eine umfangreiche Bergbau-industrie in ihren europäischen Satellitenstaaten, vor allem in derehemaligen DDR und der Tschechoslowakei, aber auch in Ungarn,Bulgarien und anderen Ländern. Bei der ostdeutschen Wismut AG

128* Dieser Teil 2 basiert auf dem Greenpeace-Report Reichweite der Uran-vorräte der Welt.

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förderten zeitweise mehr als 100.000 Menschen unter härtestenBedingungen dieselbe Menge Uran, die heute von einigen hundertArbeitern in einer ertragreichen kanadischen Mine produziert wird.

Da Uran im Verlauf der siebziger Jahre immer mehr zu einerkommerziellen Ressource zur Erzeugung von Atomkraft wurde, ver-änderte sich die Lage: Staaten waren nicht mehr die einzigen Abneh-mer, und so entwickelte sich ein Markt für Uran; zudem wurdenVorschriften zum Schutz der Umwelt in Kraft gesetzt. Mit dem Endedes Kalten Krieges endete die militärische Nachfrage nach Uran,und sekundäre Quellen wie Uran aus Lagerbeständen oder gestreck-tes Atomwaffenmaterial wurden verfügbar. Diese sekundären Quel-len decken derzeit fast die Hälfte des Bedarfs der Atomenergie-Industrie und lassen nur den ertragreichsten Minen eine Über-lebenschance. Doch mit dem absehbaren Ende der Verfügbarkeitvon sekundären Quellen und Vorhaben zur Ausweitung der Atom-energieerzeugung in mehreren Ländern ändert sich die Situationerneut: Uran könnte wieder zu einer knappen Ressource werden, diesich nur unter hohen Kosten für die Umwelt gewinnen lässt.

Mit einer durchschnittlichen Konzentration von 3 Gramm proTonne in der Erdkruste ist Uran kein besonders seltenes Metall.Allerdings wird der Abbau erst bei Lagerstätten mit einer Konzentra-tion von mindestens 1000 Gramm pro Tonne (0,1 Prozent) sinnvoll;minderwertigeres Erz wird derzeit nur unter sehr speziellen Um-ständen abgebaut. Abbauwürdige Konzentrationen finden sich inzahlreichen, über die ganze Welt verteilten Lagerstätten, die inBezug auf geologische Gegebenheiten, Größe, Urangehalt und Zu-gänglichkeit große Unterschiede aufweisen. Auf dem Colorado-Plateau der westlichen Vereinigten Staaten wurde Uran mit einemErzgehalt von etwa 0,1 bis 0,2 Prozent in Tausenden meist kleinenMinen abgebaut, bis Anfang der achtziger Jahre der Uranpreis kol-labierte. In Elliot Lake (Ontario, Kanada), Ostdeutschland und derTschechoslowakei hingegen wurde Uran jahrzehntelang meist nurin großen unterirdischen Bergwerken gewonnen, deren Erzgehaltoft sogar noch geringer war. Als der ostdeutsche Uranbergbau 1990eingestellt wurde, lagen die Abbaukosten etwa beim Zehnfachen desWeltmarktpreises.

Nach dem Ende des Kalten Krieges konnten nur die rentabelstenUranbergbaubetriebe überleben. Das mit Abstand hochwertigsteUranerz (17,96 Prozent) wird derzeit aus der unterirdischenMacArthur-River-Mine im kanadischen Saskatchewan gewonnen,129

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das minderwertigste (0,029 Prozent) in der im Tagebau betriebenenRössing-Mine in Namibia.

Das meiste Uran wird konventionell in Bergwerken im Tage- oderUntertagebau gewonnen. Abgesehen von wenigen ertragreichenLagerstätten in Saskatchewan liegen die Erzkonzentrationen unter0,5 Prozent, und es müssen große Mengen Erz gefördert werden,um an das Uran heranzukommen.

Die Grubenarbeiter sind Staub und radioaktivem Radongas aus-gesetzt und unterliegen damit einem erhöhten Lungenkrebsrisiko.In den ersten Jahren des Uranbergbaus nach dem ZweitenWeltkrieg wurden die Minen unzureichend belüftet, was zu außer-ordentlich hohen Konzentrationen von Staub und Radon in denStollen führte. 1955 betrugen die durchschnittlichen Radon-Konzen-trationen in den Wismut-Minen etwa 100.000 Bq/m3; Spitzenwertebetrugen bis zu 1,5 Millionen Bq/m3. Zwischen 1946 und 1990 star-ben 7163 Uran-Grubenarbeiter in der ehemaligen DDR an Lungen-krebs; bei 5237 Arbeitern wurde ein berufsbedingter Ausbruch derKrankheit anerkannt. In den Vereinigten Staaten erkannte der Kon-gress die Verantwortung der Regierung für die Gesundheit derersten Uran-Grubenarbeiter (meist Navajo-Indianer) erst 1990durch den Erlass des Radiation Exposure Compensation Act an. Dieadministrativen Hürden zum Erhalt von Entschädigungen warenjedoch so hoch und die dafür zur Verfügung gestellte Summe sogering, dass viele Bergarbeiter (oder überlebende Familienange-hörige) erst entschädigt wurden, als das Gesetz im Jahr 2000 novel-liert wurde.

Beim Betrieb einer Mine werden große Mengen kontaminiertesWasser aus dem Bergwerk herausgepumpt und in Gewässer abge-leitet, von wo aus sie sich in der Umwelt ausbreiten. Die Abwässerder Rabbit-Lake-Mine in Saskatchewan, Kanada, führen zum Bei-spiel zu einer starken Zunahme der Uranbelastung im Sediment derHidden Bay des Wollaston Lake. Während der natürliche Urangehaltim Sediment dieses Sees unter 3 �g/g liegt, betrug er in der HiddenBay im Jahr 2000 etwa 25 �g/g und hat sich seither jährlich mehrals verdoppelt: 2003 lag er bereits bei 250 �g/g. In Sedimenten imGebiet der Mine der Wismut AG im thüringischen Ronneburg wur-den Konzentrationen von Radium und Uran um 3000 Bq/kg festge-stellt, was eine z. T. hundertfache Erhöhung dort in der Natur vor-kommender Werte darstellt. 130

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Die Belüftung der Bergwerke senkt zwar die gesundheitlichenRisiken der dort Beschäftigten, setzt jedoch radioaktiven Staub undRadongas frei und erhöht so das Lungenkrebsrisiko der Anwohner.Im ehemaligen Bergwerk Schlema-Alberoda der Wismut AG wur-den 1993 insgesamt 7426 Millionen m3 (d.h. 235 m3/s) kontaminier-te Luft freigesetzt, die eine durchschnittliche Radon-Konzentrationvon 96.000 Bq/m3 aufwies.

Im Tagebau entsteht Abraum, wenn das Deckgebirge abgetragenwird, im Untertagebau, wenn Stollen durch Schichten ohne Erz ge-trieben werden. Häufig enthalten Abraumhalden erhöhte Konzen-trationen von Radionukliden. Andere Halden bestehen aus Erz, dasfür die Verarbeitung zu minderwertig ist. Beide jedoch bedrohenauch nach der Schließung einer Mine weiterhin Menschen und Um-welt durch die Freisetzung von Radongas sowie durch Sickerwasser,das radioaktive und giftige Stoffe enthält. Die Abraumhalden derWismut-Uranbergwerke im Gebiet Schlema/Aue umfassen 343Hektar und ein Volumen von 47 Millionen m3. Oft wurde der Ab-raum dort auch an Hängen in der unmittelbaren Umgebung vonWohngebieten abgelagert – mit der Folge, dass in der Region Schle-ma im Freien hohe Radonkonzentrationen um 100 Bq/m3 (stellen-weise sogar über 300 Bq/m3) in der Luft gemessen wurden, bis derAbraum abgedeckt wurde. Das Öko-Institut in Freiburg hatte fürdiese Konzentrationen ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko von 20 (bzw.60) Fällen pro 1000 Einwohner errechnet. Zudem wurde Abraumhäufig zu Schotter oder Zement weiterverarbeitet und zum Straßen-oder Gleisbau verwendet, wodurch sich erhöhte Konzentrationen anRadioaktivität über größere Gebiete verbreiteten.

Das Prinzip der HaufenlaugungIn einigen Fällen wird Uran durch Haufenlaugung aus minderwer-tigem Erz gewonnen und zwar dann, wenn der Urangehalt zu nie-drig ist, um das Erz rentabel in einer Aufbereitungsanlage verarbei-ten zu können. Die dazu verwendete Lösungsflüssigkeit, eine Laugeoder Säure, häufig Schwefelsäure, wird oben in die Halde eingeleitetund sickert bis zu einer Abdichtung unter der Halde, wo sie aufge-fangen und in eine Verarbeitungsanlage gepumpt wird. In Europawurde dieses Verfahren bis 1990 in der ehemaligen DDR und inUngarn angewandt.

Während des Laugungsprozesses stellen diese Halden aufgrundder Freisetzung von Staub, Radongas und Laugungsflüssigkeit eine131

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Gefahrenquelle dar. Danach kann durch natürliche Laugung einlangfristiges Problem entstehen, wenn das Erz das Mineral Pyrit(FeS2) enthält, wie es zum Beispiel in den Uranlagerstätten in Thü-ringen und Ontario, Kanada, der Fall ist. Dann kann es durch Eintrittvon Wasser und Luft in der Halde zu einer kontinuierlichen, bakte-riell verursachten Entstehung von Schwefelsäure kommen mit derFolge, dass über Jahrhunderte Uran und andere Schadstoffe ausge-schwemmt werden und das Grundwasser möglicherweise perma-nent kontaminiert wird.

Durch den Verfall des Uranpreises verlor die Haufenlaugung anBedeutung; das könnte sich jedoch ändern, wenn der Abbau min-derwertiger Erze wieder interessanter wird.

Das Prinzip des LösungsbergbausEine Alternative zum herkömmlichen Abbau ist der so genannteLösungsbergbau („In-situ-leaching“). Bei diesem Verfahren wirdeine Lösungsflüssigkeit wie zum Beispiel Ammoniumcarbonat(NH4)2CO3 oder Schwefelsäure durch Bohrlöcher in eine unterirdi-sche Uranlagerstätte eingeleitet und die uranhaltige Flüssigkeitdann wieder nach oben gepumpt. Das bedeutet, dass das Erz nichtwie beim konventionellen Bergbau aus der Lagerstätte herausgeholtwerden muss. Jedoch kann dieses Verfahren nur für Uranlager-stätten angewendet werden, die in durchlässigem Gestein in einemGrundwasserleiter liegen. Sie dürfen zudem nicht zu tief liegen (bisetwa 200 m) und müssen von undurchlässigem Gestein umgebensein.

Die Vorteile dieser Technologie sind ein reduziertes Unfall- undStrahlungsrisiko für die Arbeiter, geringere Kosten und der Wegfallgroßer Abraumhalden. Die wichtigsten Nachteile sind das Risikoaustretender Laugungsflüssigkeit und die dadurch bedingte Konta-minierung von Grundwasser sowie die Unmöglichkeit, nach Beendi-gung der Ausbeutung im Abbaugebiet wieder natürliche Bedingun-gen herzustellen. Die entstehenden kontaminierten Schlämme wer-den entweder in Absetzbecken eingelagert oder in großer Tiefe imUntergrund verpresst.

Früher wurde der Lösungsbergbau in großem Maße, das heißtunter Einleitung von Millionen Tonnen Schwefelsäure, in Stráz podRalskem (Tschechische Republik), in mehreren Lagerstätten in Bul-garien und in etwas anderer Form auch in Königstein (ehemaligeDDR) betrieben. Im letzteren Fall wurden mit der Lösungsflüssigkeit 132

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100.000 Tonnen Schwefelsäure in das Erzlager eingeleitet. Nach derSchließung der Mine waren noch 1,9 Millionen m3 Lösungsflüssig-keit in den Poren des Gesteins eingeschlossen; weitere 0,85 Millio-nen m3 zirkulierten zwischen der Lösungszone und der Anlage zurAbtrennung des Urans. Diese Flüssigkeit enthält hohe Konzentra-tionen an Schadstoffen, im Folgenden ausgedrückt als Vielfachesder Trinkwassergrenzwerte: Cadmium (400x), Arsen (280x), Nickel(130x), Uran (83x) u.a. Ferner stellt sie eine Gefahrenquelle für einenGrundwasserleiter dar, der für die Trinkwasserversorgung derRegion von Bedeutung ist. Diese Gefahr ist im tschechischen Strázpod Ralskem noch wesentlich größer, wo 3,7 Millionen TonnenSchwefelsäure eingeleitet wurden: die Lösungszone umfasst 5,74km2 und enthält 28,7 Millionen m3 kontaminierte Flüssigkeit. Zu-dem hat sich die kontaminierte Flüssigkeit horizontal und vertikalüber die Lösungszone hinaus ausgebreitet und dadurch weitere 28km2 Fläche sowie 235 Millionen m3 Grundwasser kontaminiert.

Mit dem Rückgang der Uranpreise in den vergangenen Jahrzehn-ten wurde der Lösungsbergbau in den Vereinigten Staaten zur ein-zigen Quelle für heimisches Uran. Inzwischen gewinnt dieses Ver-fahren weltweit an Bedeutung für die Ausbeutung minderwertigerLagerstätten, und neue Projekte werden in Australien, Russland,Kasachstan und China entwickelt.

Zwischenstation UranerzaufbereitungsanlageKonventionell in Tage- oder Untertagebau-Bergwerken gewonnenesErz wird in eine Uranerzaufbereitungsanlage gebracht, wo eszunächst zerkleinert wird. Zur Verringerung von Transportwegenund -kosten befindet sich diese meist in der Nähe der Mine. Dannwird das Uran in einem hydrometallurgischen Prozess extrahiert.Zur Lösung wird meist Schwefelsäure verwendet, aber auch alkali-sche Laugung kommt zum Einsatz. Da bei diesem Vorgang nichtnur das Uran aus dem Erz extrahiert wird, sondern auch andereBestandteile wie Molybdän, Vanadium, Selen, Eisen, Blei und Arsen,muss das Uran aus der Lösung abgetrennt werden. Das Endproduktder Uranerzaufbereitungsanlage, im allgemeinen als „Yellow Cake“(gelber Kuchen, U3O8 mit Verunreinigungen) bezeichnet, wird ver-packt und in Fässern verschickt. Staubemissionen stellen die größteGefahrenquelle bei diesem Verfahren dar. Bei der Schließung einerUranerzaufbereitungsanlage müssen große Mengen radioaktiv kon-taminierten Schrotts sicher entsorgt werden.133

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Rückstände und EntsorgungDie Rückstände aus dem Uranerz-Aufbereitungsprozess, die so ge-nannten „Tailings“, sind Schlämme, die für gewöhnlich in Absetz-teiche gepumpt werden und dort verbleiben. Die Menge der Rück-stände entspricht praktisch jener des geförderten Erzes, da das extra-hierte Uran nur einen Bruchteil der gesamten Masse ausmacht. DieTailings-Menge, die pro Tonne extrahierten Urans erzeugt wird, istalso umgekehrt proportional zum Urangehalt des Erzes (das heißtder Urankonzentration im Erz). Die weltweit größte Rückstands-deponie einer Uranerzaufbereitungsanlage ist mit einem Volumenvon über 350 Millionen Tonnen wahrscheinlich die der Rössing-Mine in Namibia. Die größten Rückstandsdeponien in den Vereinig-ten Staaten und Kanada haben bis zu 30 Millionen Tonnen Feststoff-gehalt; die größte Deponie in Ostdeutschland umfasst 86 MillionenTonnen.

In den frühen Jahren des Uranabbaus wurden diese Rückständebisweilen einfach unkontrolliert in die Umwelt „entsorgt“. Das be-unruhigendste Beispiel hierfür ist Mounana in Gabun, wo bis 1975so verfahren wurde: Eine Tochtergesellschaft des französischenUnternehmens Cogéma baute dort ab 1961 Uran ab. Während derersten fünfzehn Jahre wurden die Rückstände einfach in den näch-sten Fluss eingeleitet; dadurch gelangten zwei Millionen TonnenUranerz-Aufbereitungsrückstände in die Umwelt, kontaminiertendas Wasser und bildeten flussabwärts Ablagerungen. Als der Abbau1999 eingestellt wurde, wurden die verstreuten Rückstände lediglichmit einer dünnen, erosionsanfälligen Schicht neutralen Bodensabgedeckt, anstatt sie abzutragen und umweltgerecht zu deponieren.

Außer dem extrahierten Uran enthält der Abfallschlamm noch alleanderen Bestandteile des Erzes. Da langlebige Zerfallsprodukte desUrans wie Thorium-230 und Radium-226 nicht entfernt wurden,enthält der Schlamm noch 85 Prozent der anfänglichen Radioaktivi-tät des Erzes. Weil es technisch nicht möglich ist, das gesamte Uranaus dem Erz zu extrahieren, enthält der Schlamm auch Reste vonUran. Zusätzlich finden sich darin Schwermetalle und andereSchadstoffe wie etwa Arsen und im Verlauf der Uranextraktion zuge-setzte Chemikalien.

In den Rückstandsdeponien der Uranerzaufbereitung enthalteneRadionuklide emittieren im allgemeinen 20 bis 100 Mal so viel 134

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Gammastrahlung, wie der natürliche Wert an der Erdoberflächeüber Uranlagerstätten beträgt. Die dadurch gegebene Gefahr istjedoch örtlich begrenzt, da die Gamma-Strahlungsstärke mit derEntfernung von einer Deponie rapide abnimmt. Doch wenn dieOberfläche einer Deponie austrocknet, weht der Wind feine Sandeüber die umliegenden Gebiete. Über den Dörfern in der Nähe derostdeutschen Uran-Rückstandsdeponien verdunkelte sich häufig derHimmel, wenn Stürme radioaktiven Staub verwehten, bis dieDeponien abgedeckt wurden. In Staubproben aus diesen Dörfernwurden später erhöhte Radium-226- und Arsen-Werte festgestellt.

Das Radium-226 in den Aufbereitungsrückständen zerfällt konti-nuierlich zum radioaktiven Gas Radon-222, dessen ZerfallsprodukteLungenkrebs hervorrufen können, wenn sie eingeatmet werden. EinTeil dieses Radons entweicht aus dem Inneren der Deponie. Die frei-gesetzte Radonmenge ist vom Urangehalt im Erz weitgehend unab-hängig; sie hängt hauptsächlich von der Gesamtmenge des ur-sprünglich im Erz enthaltenen Urans ab. Freisetzungen von Radonstellen eine große Gefahr dar, die auch nach der Schließung einerUranmine fortbesteht. Die US-Umweltbehörde EPA (U.S. Environ-mental Protection Agency) hat das erhöhte Lungenkrebsrisiko fürMenschen, die in der Nähe einer ungeschützten, 80 Hektar großenTailings-Halde leben, auf 2 Fälle pro 100 geschätzt.

Da sich Radon schnell mit dem Wind verbreitet, erhalten vieleMenschen kleine zusätzliche Strahlungsdosen. Obwohl dieseserhöhte Risiko für das Individuum gering ist, kann es aufgrund dergroßen Anzahl betroffener Menschen nicht vernachlässigt werden.Die EPA schätzte, ausgehend von einer linearen Dosis-Wirkungsbe-ziehung ohne Schwellenwert, dass die 1983 in den USA bestehendenUran-Tailingsdeponien pro Jahrhundert 500 Tote durch Lungen-krebs zur Folge hätten, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffenwürden.

Die Kontaminierung von Grundwasser und Oberflächengewässerndurch Sickerwasser stellt eine weitere große Gefahrenquelle dar, dievon Tailings-Deponien ausgeht. Anwohner sind zudem durch Uranund andere gefährliche Substanzen, etwa Arsen, im Trinkwasserund in Fischen aus den betroffenen Gebieten gefährdet. Vor allembei säurehaltigen Rückständen ist das Sickerproblem bedeutsam,weil die involvierten Radionuklide unter sauren Bedingungen mobi-ler sind. In pyrithaltigen Rückständen kommt es zwangsläufig zu135

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solchen Bedingungen aufgrund der entstehenden Schwefelsäure,die zu einer vermehrten Verbreitung von Schadstoffen in die Um-welt beiträgt. Die gesamte Sickerwassermenge der RückstandshaldeHelmsdorf der Wismut AG vor der Sanierung wurde auf 600.000m3 pro Jahr geschätzt; nur etwa die Hälfte dieser Menge wurde auf-gefangen und vorübergehend wieder in die Deponie zurückge-pumpt, bis eine Wasseraufbereitungsanlage in Betrieb genommenwurde. Dieses Sickerwasser war stark kontaminiert. Es enthielt, aus-gedrückt als Vielfaches der Trinkwassergrenzwerte: Sulfat (24x),Arsen (253x), Uran (46x). Bei der ungarischen Uran-Rückstands-deponie von Pécs bewegt sich kontaminiertes Grundwasser miteiner Geschwindigkeit von 30 bis 50 Meter pro Jahr auf die Trink-wasserbrunnen der Stadt zu.

Aufgrund der langen Halbwertzeiten der involvierten radioakti-ven Substanzen muss die Sicherheit der Tailings-Deponien überlange Zeiträume gewährleistet sein, doch gleichzeitig sind sie viel-fältigen Erosionseinwirkungen unterworfen. So können sich nachRegenfällen Wasserrinnen bilden; Pflanzen sowie grabende Tierekönnen in eine Deponie eindringen, deren Material verteilen und sozu einer Erhöhung der Radonstrahlung beitragen und die Deponieanfälliger für klimatisch bedingte Erosion machen. Im Falle von Erd-beben, starken Regenfällen oder Überflutungen kann es sogar zurKatastrophe kommen, so geschehen 1977 in Grants, New Mexico, wo50.000 Tonnen Schlamm und mehrere Millionen Liter kontami-niertes Wasser austraten, und 1979 in Church Rock, New Mexico, woüber 1000 Tonnen Schlamm und etwa 400 Millionen Liter konta-miniertes Wasser austraten.

Gelegentlich werden ausgetrocknete Tailings wegen ihrer feinen,sandigen Beschaffenheit zum Bau von Häusern oder Aufschüttun-gen verwendet. In oder aus solchem Material gebauten Gebäudenwurden eine starke Gammastrahlung und große Mengen von Radonfestgestellt. Die US-Umweltschutzbehörde EPA schätzte das erhöhteLungenkrebsrisiko für Bewohner solcher Gebäude auf 4 Fälle pro100.

Die Sanierung alter UranminenIn den frühen Jahren des Uranabbaus nach dem Zweiten Weltkriegwurden Bergwerke mit dem Ende der Ausbeutung oft ohne jeglicheSanierungsmaßnahmen stillgelegt. In den Vereinigten Staaten ver-schloss man oft nicht einmal die Mineneingänge, von der Besei- 136

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tigung der produzierten Abfälle ganz zu schweigen; in Kanada wur-den die Rückstände von Uranerzaufbereitungsanlagen häufig ein-fach in nahe gelegene Seen gekippt.

In Kanada und den USA existieren noch heute Hunderte kleinereehemalige Uranbergwerke, bei denen keinerlei Sanierungsmaßnah-men getroffen wurden. In einigen Fällen versucht die Regierungnoch immer, Eigentümer festzustellen, die für eine Sanierung ver-antwortlich gemacht werden können, und von Zeit zu Zeit sanierteine Regierungsbehörde eine Deponie auf eigene Rechnung (oderkündigt zumindest entsprechende Schritte an). Ein Beispiel für eineerfolgreiche Bergwerkssanierung ist die große Jackpile-Paguate-Mine in New Mexico. Beträchtliche Aufwendungen sind auch für dieSanierung der großen Wismut-Bergwerke in Ostdeutschland getä-tigt worden, die kurz vor dem Abschluss steht.

Eine Sanierung ist nicht nur für stillgelegte konventionell betrie-bene Minen notwendig, sondern auch für die, in denen Lösungs-bergbau durchgeführt wurde: Die Abfallschlämme müssen sicherentsorgt, und auch das durch den Lösungsprozess kontaminierteGrundwasser muss saniert werden. Grundwassersanierung ist einäußerst langwieriger Prozess, und trotz komplizierter Abpump- undReinigungsverfahren ist es nicht möglich, die ursprüngliche Qualitätzu erreichen. In den Vereinigten Staaten wurden Sanierungsbemü-hungen vielfach eingestellt, nachdem jahrelange Pump- und Reini-gungsverfahren nur zu einem ungenügenden Rückgang von Schad-stoffbelastungen geführt hatten. Die Sanierungsstandards wurdenin solchen Fällen stattdessen standortspezifisch gelockert.

Während sich diese Minen zumeist in Regionen befinden, diesehr abgelegen sind und in denen das Grundwasser ohnehin kaumtrinkbar ist, blieben in dicht besiedelten Gebieten, in denen für dieehemalige Sowjetunion Uran gewonnen wurde, große Abbaustättenmit Lösungsbergbau unsaniert: In Deutschland und der Tschechi-schen Republik wurden zwar Sanierungsprogramme auf den Weggebracht, doch die Standorte in Bulgarien wurden einfach aufge-geben.

Meistens werden die Rückstände von Uranerzaufbereitungs-anlagen auf die eine oder andere Art und Weise entsorgt, um dasAustreten von Schadstoffen in die Umwelt einzudämmen. Der nahe-liegende Gedanke, sie wieder dorthin zu schaffen, wo das Erz ent-fernt wurde, führt jedoch nicht unbedingt zu einer akzeptablenLösung. Denn auch wenn der größte Teil des Urans extrahiert137

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wurde, sind die Rückstände deswegen nicht weniger gefährlich ge-worden, ganz im Gegenteil: Die meisten der kontaminierenden Sub-stanzen – 85 Prozent der gesamten Radioaktivität und alle chemi-schen Schadstoffe – sind noch vorhanden, und zudem wurden siedurch mechanische und chemische Prozesse so verändert, dassdiese Kontaminanten wesentlich mobiler sind und somit viel leich-ter in die Umwelt gelangen können. Deshalb ist es in den meistenFällen nicht möglich, die Tailings in eine unterirdische Mine zu ver-bringen; dort wären sie nach dem Abschalten der Pumpen in direk-tem Kontakt mit dem Grundwasser.

Ähnlich ist die Situation bei der Einlagerung von Tailings in ehe-maligen Tagebaugruben. Auch hier kommt es in vielen Fällen zueinem unmittelbaren Kontakt mit Grundwasser, oder aber es bestehtdie Gefahr, dass das Grundwasser durch Sickerwasser kontaminiertwird. Ein Vorteil der Grubenentsorgung ist allerdings der relativgute Schutz vor Erosion. In den meisten Fällen müssen die Tailingsjedoch aufgrund mangelnder anderer Optionen an der Erdoberflä-che gelagert werden. Dort sind Schutzmaßnahmen zwar leichter zuüberwachen, doch zum Schutz vor Erosion sind zusätzliche Maß-nahmen notwendig.

In den Vereinigten Staaten erließen die Umweltschutzbehörde(EPA) und die Atombehörde NRC (Nuclear Regulatory Commission)in den achtziger Jahren detaillierte Vorschriften zur Entsorgung vonUran-Tailings. Diese Vorschriften definieren nicht nur maximaleSchadstoffkonzentrationen für Böden und zulässige Mengen für denSchadstoffausstoß (insbesondere für Radon), sondern auch den Zeit-raum, in dem Sanierungsmaßnahmen wirksam sein müssen: 200bis 1000 Jahre, möglichst ohne aktive Instandhaltungsmaßnahmen.Diesen Vorschriften entsprechend wurden mehr als ein DutzendTailings-Deponien saniert. Entweder vor Ort, indem Böschungenabgeflacht und mehrere Abdeckschichten aus Erde und Gestein auf-gebracht wurden, oder dadurch, dass die Tailings an geeignetereLagerorte verbracht wurden, um Gefahren durch Überflutung oderGrundwasserkontaminierung zu vermeiden.

In Kanada hingegen sind die Maßnahmen zur Sanierung vonRückständen aus dem Uranabbau wesentlich laxer. So genügt für dieimmensen Tailings-Mengen aus dem Gebiet am Elliot Lake etwa,dass sie lediglich mit Wasser abgedeckt werden. Sehr unterschied-lich ist die Situation bezüglich der Rückstände aus dem Uranabbauder ehemaligen Sowjetunion. Während sie in Ostdeutschland, 138

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Ungarn und Estland derzeit vor Ort saniert werden, wurde in derTschechischen Republik, der Ukraine, Kasachstan, Kirgisien undanderen Staaten bislang noch nicht viel unternommen. Die 100Millionen Tonnen Tailings in Aktau, Kasachstan, wurden noch nichteinmal mit einer provisorischen Abdeckung versehen, weshalb nachwie vor große Mengen Staub vom Wind über die Region verteilt wer-den. Die kirgisischen Tailings lagern an steilen Hängen und sinddurch Erdrutsche stark gefährdet.

Die Kosten für die Sanierung von Tailings sind unterschiedlich.Am teuersten sind die staatlichen, groß angelegten Sanierungsmaß-nahmen in den Vereinigten Staaten und Deutschland. Rechnet mandiese Kosten auf das ursprünglich produzierte Uran um, so entspre-chen sie in beiden Fällen etwa 14 US-Dollar pro (US-)Pfund produ-ziertem U3O8. Das ist mehr als der Preis für frisches Uran mehrereJahre lang war, bis er sich kürzlich wieder zu erholen begann. Amunteren Ende der Kostenspanne (für Minen mit Uran als Hauptpro-dukt) steht Kanada mit 0,12 US-Dollar pro produziertem (US-)PfundU3O8; dies reflektiert die außerordentlich laxen Umweltschutzvor-schriften, die in Elliot Lake angewandt wurden.

Um zu verhindern, dass weiterhin stillgelegte Minen letztlich mitSteuergeldern saniert werden müssen, dürfen kommerzielle Uran-förderer derzeit erst dann mit dem Abbau beginnen, wenn sie zuvorGeld für die Stillegung bzw. Sanierung hinterlegt haben. Doch selbstdiese Maßnahme kann nicht verhindern, dass der Steuerzahler alsletzte Finanzquelle herangezogen wird: Die von der inzwischenbankrotten Atlas Corporation für Uran-Tailings in Moab, Utah, de-ponierte Summe etwa beläuft sich auf lediglich 3 Prozent der Sanie-rungskosten, die voraussichtlich 300 Millionen US-Dollar betragenwerden. In Australien wurde erst kürzlich bekannt, dass die Schlies-sung der Ranger-Mine 176 Millionen australische Dollar kosten soll,von denen aber nur 65 Millionen durch eine Garantie abgedeckt wer-den. Sollte ERA (Energy Resources of Australia Ltd.), der Betreiberder Mine, bankrott gehen, müsste der Steuerzahler den Großteil derSanierungskosten übernehmen.

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Uranvorräte

Primäre VorräteIn der Regel werden Uranvorkommen nach dem Grad der Zuver-lässigkeit bezüglich der zu erwartenden Größe der Lagerstätte undden voraussichtlichen Kosten für die Gewinnung kategorisiert. Demmaßgeblichen „Red Book“ der Nuclear Energy Agency (NEA 2004)zufolge belaufen sich die „bekannten Vorräte“, die mit Kosten bis zu130 US-Dollar pro Kilogramm Uran (das entspricht 50 US-Dollar proUS-Pfund U3O8) gewonnen werden können, weltweit auf etwa 4,6Millionen Tonnen Uran. Des weiteren werden zu denselben Kostenzu gewinnende so genannte „unentdeckte Vorräte“ auf 6,7 MillionenTonnen Uran geschätzt. Dazu kommen noch 3,1 Millionen Tonnen,bei denen bezüglich der Kosten keine Angaben gemacht werden. Dadie „unentdeckten Vorräte“, wie schon der Name sagt, eher auf spe-kulativen Angaben beruhen, beschränkt sich die weitere Diskussionauf die „bekannten Vorräte“, die sich aus den Kategorien RAR(Reasonably Assured Resources, hinreichend gesicherte Vorräte)und EAR I (Estimated Additional Resources I; geschätzte zusätzlicheVorräte I) zusammensetzen. Abb. 2 zeigt eine Weltkarte der hin-reichend gesicherten Vorräte, die mit Kosten bis zu 130 US-Dollarpro Kilogramm Uran (WUP 2005) gewonnen werden können.

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Abbildung 2

Weltweite Uranreserven [t U] Hinreichend gesicherte Vorräte zum 1.1.2003

Kosten US-$ 130/kg Uran oder geringer (OECD 2004)

Im Gegensatz zu vielen anderen Rohstoffen kommt Uran auf allenKontinenten vor. Der Großteil der bekannten Ressourcen verteiltsich jedoch auf wenige Länder, vor allem, wenn man sich auf jeneLagerstätten konzentriert, die hochwertiges Erz und/oder eine Ge-winnung zu geringen Kosten ermöglichen.

Nach einem Spitzenwert von etwa 43 US-Dollar pro (US-)PfundU3O8 Ende der siebziger Jahre sank der Uranpreis auf dem Spot-markt rasch auf etwa 10 US-Dollar pro (US-)Pfund U3O8. Ende2000 fiel er sogar bis auf 7 US-Dollar pro (US-)Pfund U3O8, dochdann stieg er wieder und erreichte am 10. Oktober 2005 33 US-Dol-lar pro (US-)Pfund U3O8. Zu den durchschnittlichen Preisen, dievon 1980 bis 2004 für Uranlieferungen an europäische Energiever-sorger unter Spotmarkt- und Mehrjahresverträgen gezahlt wurden,siehe Abbildung 3 (ESA 2005).

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t = metrische Tonne NA = keine Daten verfügbar

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Abbildung 3

Uranpreise der Euratom Supply Agency

Während der zwei Jahrzehnte sehr niedriger Uranpreise ließ dieSuche nach Uran stark nach. Inzwischen steigen die Preise wieder,vor allem seit der Spotmarktpreis für Uran im September 2004 20US-Dollar pro (US-)Pfund U3O8 erreichte. Viele Explorationsunter-nehmen haben sich seither neu formiert oder ihre Geschäftstätigkeitauf den Uranabbau verlagert. Womöglich wird sich die Menge derbekannten Vorräte deshalb durch neue Funde vergrößern. Die Ent-deckung neuer großer Lagerstätten mit hochwertigem Uran ist zwarnicht ausgeschlossen, wahrscheinlicher dürfte jedoch sein, dassdurch die derzeitige Suche weitere kleine Lagerstätten mit minder-wertigem Erz gefunden werden. Nur in einem Fall, Shea Creek inSaskatechewan/Kanada, wurde möglicherweise eine neue ertragrei-che Lagerstätte entdeckt – die erste seit etwa 20 Jahren.

Mehrere Uranlagerstätten können derzeit aufgrund politischerWiderstände nicht ausgebeutet werden. Das bekannteste Beispiel istdie Fundstätte Jabiluka in Australiens Northern Territory. Sie liegtinnerhalb des Gebiets des von der UNO zum Weltkulturerbe erklär-ten Kakadu National Park, ist jedoch von diesem ausgenommen.Wegen des fortgesetzten Widerstands der traditionellen (indigenen)Eigentümer des Landes musste der Betreiber ERA die Erschließungder Lagerstätte aufgeben und sogar einen bereits angelegten Zu-fahrtsstollen rückverfüllen. Ein weiteres Beispiel ist das Lösungs-bergbau-Projekt in Crownpoint, New Mexico (USA). Die Genehmi- 142

1980 1985 1990 1995 2000

100908070605040302010

0

EU

R/k

gU

Langfristverträge Spotmarkthandel

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gung für dieses auf dem Gebiet der Navajo befindliche Projektwurde im Mai 2000 auf Antrag lokaler Vermittler auf Eis gelegt.Inzwischen hat der Stammesrat per Gesetz jeglichen Uranabbau aufNavajo-Gebiet verboten. Dieses Gesetz trat am 29. April 2005 inKraft; es könnte jedoch durch ein Bundesgesetz wieder aufgehobenwerden.

Die Lizenz von Cogéma für die in Saskatchewan/Kanada gelege-ne McClean-Lake-Mine wurde im September 2002 auf Antrag einerortsansässigen Umweltschutzorganisation durch eine gerichtlicheEntscheidung widerrufen, doch bald darauf wurde dem Unterneh-men ein Vollstreckungsaufschub zugebilligt, und im März 2005gewann es den Rechtsstreit endgültig.

Die geplanten neuen Uranbergwerke in den indischen Bundes-staaten Jharkand, Andhra Pradesh und Meghalaya stoßen gegenwär-tig auf heftigen Widerstand lokaler Stammes- und Umweltschutz-gruppen.

Nicht nur Umweltschützer oder indigene Völker wenden sichgegen den Uranabbau: In Australien haben drei Staatsregierungen –Queensland, Victoria und Western Australia – den Uranabbau ver-boten. Aber einige wagemutige Explorationsfirmen lassen sich auchdadurch nicht abhalten, ihre Arbeit in diesen Staaten fortzusetzen.Offenbar hoffen sie darauf, dass diese Bundesstaaten ihre Politikrevidieren – nicht zuletzt wohl deshalb, weil die gegenwärtige austra-lische Bundesregierung den Uranabbau unterstützt.

Neben den Lagerstätten, in denen Uran als Hauptprodukt abge-baut wird, gibt es auch solche, in denen es als Nebenprodukt bei derGewinnung anderer Mineralien wie etwa Gold, Kupfer oder Phos-phat gewonnen wird.

In Südafrika wird Uran ausschließlich als Nebenprodukt derGoldbergwerke gewonnen. Wegen des ungünstigen Wechselkursesder lokalen Währung und des zuletzt niedrigen Uranpreises wirdaugenblicklich jedoch nur in der Goldmine Vaal River Uran gewon-nen. Außerdem könnten die geringen Profite vieler südafrikanischerGoldminen die Schließung zahlreicher kaum noch rentabler Berg-werke zur Folge haben, wodurch auch die mögliche Gewinnung vonUran als Nebenprodukt weiter verringert würde.

In der Olympic-Dam-Mine in Australien wird ein sehr großesKupfervorkommen ausgebeutet, wobei ebenfalls Uran als Nebenpro-dukt anfällt. Trotz des geringen Gehalts von nur 0,053 Prozent Uranbeläuft sich die gesamte Menge auf 302.000 Tonnen; damit ist dies143

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das größte einzelne Uranvorkommen der Erde. Neuere Planungengehen von einer Kapazitätssteigerung aus, mit der die Jahresleistungder Mine mehr als verdoppelt werden soll.

Phosphatgestein hat einen durchschnittlichen Urangehalt von0,005 bis 0,02 Prozent. Der potenzielle Urangehalt der weltweit be-kannten Phosphatgesteinvorkommen beläuft sich auf 5 bis 15 Millio-nen Tonnen Uran (diese Zahl ist nicht in den o.g. geschätzten Vor-kommen enthalten). Die wichtigsten Vorkommen befinden sich inMarokko, den Vereinigten Staaten, Mexiko und Jordanien. Der vielgenutzte Phosphorsäureprozess konzentriert das meiste Uran imProduktstrom (Dünger etc.). Mit Hilfe mehrerer Verfahren lässt sichdas Uran aus dem Produktstrom zurückgewinnen, dieser uner-wünschte Bestandteil damit aus den Produkten entfernen und soeine weitere Quelle für Uran erschließen. Weltweit existieren etwa400 mit dem Nassverfahren arbeitende Phosphorsäurebetriebe, diejährlich etwa 11.000 Tonnen Uran gewinnen könnten. Zwar gibt esin Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Spanien, Belgien,Israel und Taiwan eine Reihe von solchen Urangewinnungsanlagen,doch die meisten wurden in der Phase niedriger Uranpreise stillge-legt. Mit steigenden Preisen könnte eine neuerliche Inbetriebnahmejedoch wieder rentabel werden.

Bei den Schätzungen der weltweiten Uranressourcen werdenmehrere große marginale Lagerstätten nicht berücksichtigt, vondenen die bedeutendsten solche in Schwarzschiefer darstellen. DieseVorkommen enthalten nur 0,005 bis 0,04 Prozent Uran, dochwegen ihrer beträchtlichen Flächenausdehnung enthalten sie um-fangreiche Uranvorräte: zum Beispiel 169.230 Tonnen in Ronne-burg (Thüringen), 254.000 Tonnen in Ranstad (Schweden) und 4 bis5 Millionen Tonnen im Chattanooga Shale (Vereinigte Staaten). Aberselbst die Befürworter der Atomenergie scheinen unsicher, ob dieseRessourcen je ausgebeutet werden können: „Das in Schwarzschieferenthaltene Uran stellt zwar einen umfangreichen Vorrat dar, dochdiese Lagerstätten erfordern sehr hohe Produktionskosten, und ihreErschließung würde riesige Minen, Aufbereitungsanlagen undRückstandsdeponien bedingen, was mit Sicherheit Widerstand vonSeiten der Umweltschutzverbände hervorrufen würde. Zudem läuftim Gebiet um Ronneburg derzeit das milliardenteure Wismut-Sanierungsprojekt. Deshalb können die Lagerstätten in Schwarz-schiefer lediglich als langfristige Ressource betrachtet werden, diezudem nur bei Marktpreisen über 130 US-Dollar pro Kilogramm 144

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Uran ökonomisch attraktiv ist – und vorausgesetzt, der Widerstandvon Seiten der Umweltschutzverbände kann überwunden werden,was jedoch für die drei oben genannten Lagerstätten alles andere alssicher ist“ (IAEA 2001).

Eine weitere von Zeit zu Zeit diskutierte potenzielle Uranquelleist Meerwasser. Es enthält nur 3 Milligramm Uran pro Tonne, dochder Gesamtinhalt wird auf 4 Milliarden Tonnen geschätzt. Die For-schung an einem verbesserten Ausbeutungsverfahren ist im Gang,doch bislang ist es in Relation zu den derzeitigen oder vorhersehba-ren Uranpreisen nicht wettbewerbsfähig, und seine Energie- undUmweltbilanz wurden noch nicht ermittelt.

Sekundäre QuellenSekundäre Quellen sind alle Quellen außer Uranerz-Lagerstätten.Dazu gehört Uran, das aus unterschiedlichen Quellen recyceltwurde, wie zum Beispiel aus abgebrannten Brennelementen, über-schüssigem Waffenuran und abgereichertem Uran sowie Uran ausLagerbeständen.

Recyceltes Uran aus abgebrannten Brennelementen (RepU): Die Gewin-nung von Uran aus abgebrannten Brennelementen findet derzeithauptsächlich in den Wiederaufbereitungsanlagen La Hague (Frank-reich) und Sellafield (Großbritannien) statt. Allerdings wird bisheute nur ein kleiner Teil des abgetrennten Urans tatsächlich zuneuen Brennelementen umgewandelt und offenbar wird nichterwartet, dass sich dies in naher Zukunft ändern wird.

Einem Bericht des französischen Rechnungshofs zufolge hat derfranzösische Versorgungsbetrieb Electricité de France (EdF) statt-dessen Vorkehrungen für eine langfristige Lagerung (250 Jahre) deswiederaufbereiteten Urans getroffen. Von den 1050 Tonnen abge-brannten Uranoxid-Kernbrennstoffs, der jährlich in Frankreich an-fällt, werden derzeit 850 Tonnen in La Hague wiederaufbereitet. Zu-sätzlich fallen 100 Tonnen abgebrannten MOX-Brennstoffs („mixedoxide fuel“) an, der nicht aufbereitet wird. Aus der Wiederaufberei-tung von Uranoxid-Brennelementen werden ungefähr 816 TonnenUran und 8,5 Tonnen Plutonium gewonnen. Von dem gewonnenUran werden etwa 650 Tonnen zur langfristigen Lagerung in die sta-bilere Oxidform umgewandelt. Das in der ehemaligen Wiederaufbe-reitungsanlage Marcoule gewonnene Uran wurde nie zu Kernbrenn-stoff recycelt. Es lagert noch immer in Form von flüssigem Uranyl-145

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nitrat in Marcoule: 3800 Tonnen davon gehören EdF, 4800 TonnenCEA und Cogéma.

Die Nutzung wiederaufbereiteten Urans ist aus mehreren Grün-den problematisch. Da es mit den künstlichen Uranisotopen U-232und U-236 verunreinigt ist, sind während der Verarbeitung beson-dere Vorkehrungen notwendig: U-232 und seine Zerfallsproduktesetzen das Personal erhöhten Strahlungsdosen aus, und U-236erfordert als Neutronenabsorber zur Erreichung derselben Reaktivi-tät ein höheres Anreicherungsniveau. Folglich ist die Nutzung vonwiederaufbereitetem Uran bei den derzeitigen Marktkonditionennicht sehr attraktiv: Die Konversion zu UF6 (Uran-Hexafluorid) istdreimal so teuer wie die Umwandlung natürlichen Urans, und dieAnreicherung kann in der einzigen französischen Anreicherungs-anlage, der Gasdiffusions-Anlage Eurodif, nicht geleistet werden, dadas wiederaufbereitete Uran die Anlage kontaminieren würde. Fürdie Produktion von zwei Chargen Test-Brennstoff für das Atom-kraftwerk Cruas wurde das wiederaufbereitete Uran in einer auslän-dischen (vermutlich russischen) Zentrifugen-Anlage angereichert.

Gestrecktes HEU : Hoch angereichertes Uran („higly enriched ura-nium“, HEU) aus überschüssigen Kernwaffen kann zu schwachangereichertem Uran („low enriched uranium“, LEU) gestreckt undals Kernbrennstoff genutzt werden.

1993 beschlossen die Vereinigten Staaten und Russland das US-Russia HEU Agreement, dem zufolge Russland aus 500 TonnenHEU gewonnenes gestrecktes Uran über den Zeitraum von etwa 20Jahren an die Vereinigten Staaten liefert. Diese Menge an HEU ent-spricht 153.000 Tonnen natürlichen Urans und einer Anreiche-rungsarbeit von 92 Millionen SWU (Separative Work Units; Einheitfür Urantrennarbeit).

Die Lieferungen in Bezug auf dieses Abkommen, jährlich ausetwa 30 Tonnen HEU gewonnenes LEU, das etwa 9000 Tonnennatürliches Uran ersetzt, sind im Gange und sollen bis 2013 fortge-setzt werden. Inzwischen haben die Vereinigten Staaten begonnen,einen Teil ihres eigenen überschüssigen HEU zu strecken. Insge-samt sind 153 Tonnen HEU zur Streckung vorgesehen; etwa 39 Ton-nen wurden bereits verarbeitet, und dieser Prozess soll bis 2016beendet sein (NEA 2004). Leider ist das HEU nicht nur reich an U-235, sondern auch an dem unerwünschten Nuklid U-234. Wenn dasHEU mit natürlichem Uran gestreckt wird, können zurückbleibende 146

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U-234-Konzentrationen in dem LEU-Produkt die Industrie-Vorgabenfür nukleare Brennelemente überschreiten. Deshalb ist es ratsam,das HEU mit Material zu mischen, das wenig U-234 enthält.

In Russland wird dieses Problem gelöst, indem man eine Zu-mischkomponente mit einem Gehalt von 1,5 Prozent U-235 durchWiederanreicherung von abgereichertem Uran herstellt, das heißt,freie Kapazitäten einer Zentrifugen-Anreicherungsanlage werdendazu genutzt, abgereicherte Uranabfälle auf einen U-235-Gehalt von1,5 Prozent anzureichern. Diese Vorgehensweise ermöglicht es Russ-land außerdem, seine Verpflichtungen aus dem US-Russia HEUAgreement zu erfüllen, ohne für die Zumischkomponente die gerin-gen Ressourcen an natürlichem Uran antasten zu müssen. Äußerstbemerkenswert ist, dass die Trennarbeit zur Anreicherung der Zu-mischkomponente in diesem Fall größer ist als die, die beim HEU-Mischprozess nutzbar gemacht wird (Diehl 2004). Die enormeMenge an Trennarbeit, die ursprünglich für die HEU-Produktiongeleistet wurde, ist dadurch vollständig verloren; nur der im HEUenthaltene Uraninhalt wird zurückgewonnen.

Uran aus der Anreicherung von abgereichertem Uran („Tails“) : Der Ab-fall, der bei der Anreicherung von Uran entsteht, heißt abgereicher-tes Uran („depleted uranium“, DU) oder Tails. Chemisch be-trachtethandelt es sich um Uran-Hexafluorid (UF6), das noch Rest-mengendes spaltbaren Uranisotops U-235 enthält, welches durch weitereAnreicherung extrahiert werden kann. Seit 1996 werden abgerei-cherte Uranabfälle der westeuropäischen Anreicherungsunterneh-men Urenco und Eurodif zur Wiederanreicherung nach Russlandgeschickt. Dort werden die importierten Tails anstelle von natür-lichem Uran in überschüssige Anreicherungskaskaden von Rosatom(Russische Atomenergiebehörde, vormals Minatom) eingespeist. Beider Wiederanreicherung wird überwiegend natur-äquivalentes Uransowie einiges reaktorfähiges schwach angereichertes Uran erzeugt.Diese Produkte werden an Urenco und Eurodif zurückgeschickt,während die entstandenen Sekundärabfälle in Russland bleiben unddort weiter angereichert werden zu Material, das noch mehr natür-lichem Uran entspricht, und/oder leicht angereichertem Uran. Letz-teres wird dann als Zumischkomponente zur Streckung von über-schüssigem waffenfähigem, hoch angereichertem Uran zu reaktor-fähigem, schwach angereichertem Uran verwendet. Die zuletzt zu-rückbleibenden Rückstände an abgereichertem Uran, die noch147

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immer mindestens zwei Drittel der importierten Menge ausmachen,verbleiben – mit bislang unbekanntem Schicksal – in Russland. ImMai 2005 gab Cogéma/Areva bekannt, man habe mit dem russi-schen Unternehmen Tenex ein Technologietransfer-Übereinkom-men zur Defluorination von abgereichertem Uran-Hexafluorid(UF6) zu U3O8 unterzeichnet – eine Form, die besser zur langfristi-gen Lagerung geeignet ist. Und im August 2005 erklärte Rosatom,die letzten Rückstände könnten in Schnellen Brütern verwendetwerden.

Gegenwärtig senden Urenco und Eurodif jährlich je 7000 Ton-nen Uran in Form von Tails zur Anreicherung nach Russland undbekommen je 1100 Tonnen natur-äquivalentes Uran in Form vonUF6 zurück. Eurodif erhält zusätzlich 130 Tonnen Uran in Form vonUF6 zurück, das auf 3,5 Prozent angereichert wurde. Für Urencound Eurodif ist das Wiederanreicherungsgeschäft in erster Liniewegen der vermiedenen Tails-Entsorgungskosten interessant;Rosatom erhält dadurch eine Gelegenheit, freie Kapazitäten seinerZentrifugen-Anreicherungsanlagen zu nutzen. Urenco geht davonaus, dass der Wiederanreicherungsvertrag mit Russland nach 2010auslaufen soll. Details zum Geschäft mit der Wiederanreicherungfinden sich bei Diehl (2004).

Wenn der Uranpreis weiter steigt, könnten die Anreicherungs-unternehmen ohnehin daran denken, ihre „Tails-Assays“ zu redu-zieren, das heißt, die verbleibende Konzentration von U-235 in denabgereicherten Uranrückständen, die bei der Anreicherung übrigbleiben. Damit könnten sie den Uranbedarf auf Kosten zusätzlicherAnreicherungsarbeit reduzieren. Dieselbe Menge angereichertenUrans könnte dann mit einem geringeren Verbrauch an natürli-chem Uran produziert werden.

Uran aus Lagerbeständen an natürlichem und schwach angereichertemUran: Über die weltweiten Lagerbestände an schwach angereicher-tem und natürlichem Uran ist nur wenig Information erhältlich.Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb bezüglich der Zukunftsaus-sichten des Uranmarktes so viel Unsicherheit besteht. Die Beständean natürlichem Uran belaufen sich auf 41.633 Tonnen, und jene anangereichertem Uran könnten 23.440 Tonnen natürliches Uranersetzen (NEA 2004); diese Zahlen sind jedoch sehr vage, da die mei-sten Länder keine Angaben veröffentlichen.

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Substitution von UranDie Lebensdauer der Uranvorräte kann durch den Einsatz andererspaltbarer Materialien wie Plutonium oder das künstliche Uraniso-top U-233, das man durch die Bestrahlung von Thorium erhält, ver-längert werden.

Plutonium (MOX-Brennstoff): Für den Brennstoff von Leichtwasser-reaktoren kann ein Teil des spaltbaren Uranisotops U-235 durch dasPlutoniumisotop Pu-239 ersetzt werden. Dazu wird Plutonium mitnatürlichem oder gering angereichertem Uran vermischt, was einenso genannten MOX-Brennstoff ergibt. Plutonium wird aus über-schüssigem Waffenplutonium und als recyceltes Plutonium aus wie-deraufbereitetem abgebranntem Brennstoff gewonnen. Das Centerfor International Security and Cooperation an der Universität Stan-ford schätzt die Gesamtmenge des überschüssigen Plutoniums ausMilitärbeständen auf 92 Tonnen, die 11.040 Tonnen natürlichesUran ersetzen könnten, und die Menge des sonstigen Plutoniumsauf 252 Tonnen, die 30.240 Tonnen natürlichem Uran entsprechen.Mehrere Aspekte des MOX-Brennstoffs sorgen jedoch für politi-schen Widerstand, vor allem die Gefahren und Umweltauswirkun-gen der Wiederaufbereitung abgebrannten Brennstoffs sowie dieNotwendigkeit, Plutonium über weite Strecken zu transportieren.

Im September 2000 trafen die Vereinigten Staaten und Russlandeine Vereinbarung über die Verwendung überschüssigen Pluto-niums, der zufolge beide Länder innerhalb der nächsten 25 Jahre je34 Tonnen überschüssiges waffenfähiges Plutonium durch die Pro-duktion von MOX-Brennstoff vernichten werden. Dazu planen dieVereinigten Staaten den Bau einer MOX-Brennstoffanlage in SouthCarolina, die russische Anlage soll bei Seversk entstehen. Einigeerste Test-Brennelemente mit US-amerikanischem Plutonium wur-den in Cadarache und Marcoule in Frankreich hergestellt und imApril 2005 zu Testzwecken an die Atomanlage Catawba in SouthCarolina geliefert.

Das bei der Neutronenaktivierung von U-238 erzeugte Plutoniumim Brennstoff kommerzieller Reaktoren kann durch Aufbereitungder abgebrannten Brennelemente wiedergewonnen werden. Bislangfindet eine derartige Wiederaufbereitung nur in Europa statt, undzwar in La Hague (Frankreich) und in Sellafield (Großbritannien).Nur ein Teil der abgebrannten Brennelemente wird wiederaufberei-tet. Abgesehen von den damit verbundenen Umweltproblemen ist149

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die Wiederaufbereitung auch einigen Beschränkungen unterworfen:Nur die zum größten Teil aus natürlichem Uran hergestellten abge-brannten Brennelemente sind dafür geeignet; anderenfalls würdenunerwünschte Isotope und Elemente das aufbereitete Plutoniumkontaminieren. 2003 verbrauchten die Energie-Versorgungsunter-nehmen der EU, die bislang die Haupt-Konsumenten von MOX-Brennstoff sind, MOX-Brennstoff mit einem Gehalt von 12,12 Ton-nen Pu; damit wurden 1450 Tonnen natürliches Uran und eine An-reicherungsarbeit von 0,97 Millionen SWU ersetzt.

Thorium-Brennstoffzyklus: Indien, ein Land mit wenig Uran, aber gro-ßen Thorium-Sandlagerstätten und womöglich auch andere Ländererwägen die Etablierung eines Brennstoffzyklus auf der Basis vonThorium. Thorium (Th-232) selbst ist nicht spaltbar und kann somitkeine nukleare Kettenreaktion in Gang halten. Wenn es jedoch mitNeutronen bestrahlt wird, verwandelt es sich – durch Neutronen-aktivierung zu Th-233 und darauf folgenden Zerfall über Pa-233 – indas spaltbare Uranisotop U-233, das als Reaktorbrennstoff verwendetwerden kann. Dieser Prozess erfordert allerdings eine starke Neutro-nenquelle, das heißt einen mit Uran oder Plutonium betriebenenAtomreaktor, zur Bestrahlung des Thoriums. Thorium kann alsoden Bedarf an Uran nicht eliminieren, sondern lediglich reduzieren.Das produzierte U-233 könnte entweder durch Wiederaufbereitungabgetrennt und dann zu Brennstoff verarbeitet werden, oder eskönnte an Ort und Stelle verbrannt werden, wenn es entsteht. Aller-dings ist der Thorium-Brennstoffzyklus mit erheblichen techni-schen Herausforderungen verbunden, da bestrahltes Thorium kaumin HNO3 löslich ist (zur Wiederaufbereitung erforderlich). Zudemstellt U-233 wegen des Vorhandenseins von U-232 und seiner Gam-mastrahlung emittierenden Zerfallsprodukte eine große Gefahr dar.

Die auf Thorium basierenden Reaktor-Prototypen (AVR, Atom-versuchsreaktor in Jülich, und THTR, Thorium-Hochtemperatur-reaktor in Hamm-Uentrop) mussten nach wiederholt auftretendentechnischen Problemen abgeschaltet werden. Ihr Brennstoff wurdeaus Thorium und hoch angereichertem Uran hergestellt, das in eineGraphitmatrix eingebettet war. Aber selbst wenn die technischenSchwierigkeiten des Thorium-Brennstoffzyklus überwunden wer-den könnten, bestünde nach wie vor das Problem, dass auch die Tho-rium-Lagerstätten begrenzt sind, und ihre Ausbeutung die Umweltebenso schädigen würde. 150

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Südafrika plant einen Brennstoffzyklus für den Pebble Bed Mo-dular Reactor (PBMR). Obwohl dieser Reaktortyp eine Weiterent-wicklung des THTR ist, scheint er ohne Verwendung von Thoriumnur mit Uran betrieben zu werden.

Die Uran-Vorräte der Welt können wie folgt zusammengefasst wer-den: die bekannten primären Vorräte – mit Kosten bis 130 US-$/kgUran, um es zu gewinnen –, belaufen sich auf 4,6 Millionen TonnenUran; sekundäre Quellen aus diversen Beständen summieren sichzu einem Äquivalent von weiteren 0,21 Millionen Tonnen natürli-chem Uran, was nur 5 Prozent entspricht. Für das Recycling vonUran aus abgebranntem Brennstoff und der Wiederanreicherungvon Tails lässt sich nicht ohne weiteres ein Vorrat identifizieren; eskönnen lediglich Produktionsziffern angegeben werden, die auf ver-fügbaren Verarbeitungskapazitäten beruhen. Zudem könnte Pluto-nium 0,04 Millionen Tonnen natürliches Uran ersetzen.

2.4 Uran – Angebot und NachfrageIm Jahr 2003 lag die weltweite Produktionskapazität für Uran ausMinen bei 47.260 Tonnen; tatsächlich erreichte die Produktion aller-dings nur 35.772 Tonnen, das entspricht 76 Prozent der Kapazität.Andererseits betrug der Verbrauch an Uran zur Erzeugung vonAtomenergie im selben Jahr 68.435 Tonnen. Die Produktion derMinen lieferte also nur 52 Prozent der Nachfrage, der große Restkam aus sekundären Quellen. Wenn man davon ausgeht, dass diesein weniger als zehn Jahren erschöpft sind, dann wird sich dieUranproduktion aus Minen fast verdoppeln müssen, um den der-zeitigen Bedarf decken zu können. Das bedeutet, dass viele neueBergwerke gebaut werden müssen, denn eine derartige Produktions-steigerung kann nicht durch die derzeitigen Minenkapazitäten abge-deckt werden. Allerdings sind größere Produktionssteigerungenkurzfristig nicht möglich, denn Planung und Bau neuer Bergwerkeerfordern Zeitspannen von mindestens zehn Jahren. Zudem stehenmomentan nur wenige neue Lagerstätten zur Ausbeutung bereit, dadie Explorations-Anstrengungen in den letzten beiden Jahrzehntenaufgrund niedriger Uranpreise auf ein Minimum abgesunkenwaren. Und da die bekannten hochwertigen Uranlager sehr begrenztsind, würde sich jede größere Zunahme der Uranproduktion auf denAbbau minderwertiger Lagerstätten stützen müssen, was riesigeBergbaubetriebe erfordern und enorme Umweltschäden nach sich151

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ziehen würde. Dieser Engpass in der Produktionskapazität kannsogar noch gravierender werden, wenn bestimmte Vorstellungen imHinblick auf eine Expansion der Atomenergie realisiert werden.

Tabelle 1

Jährliche Uranproduktion nach Ländern 2003 (WNA 2005)

Rang Land t U % der Welt Anmerkungen

1 Kanada 10.457 29,2

2 Australien 7.572 21,2

3 Kasachstan 3.300 9,2

4 Russland 3.150 8,8 c)

5 Niger 3.143 8,8

6 Namibia 2.036 5,7

7 Usbekistan 1.770 4,9

8 USA 846 2,4

9 Ukraine 800 2,2 c)

10 Südafrika 758 2,1 a)

11 VR China 750 2,1 c)

12 Tschechien 345 1,0

13 Brasilien 310 0,9

14 Indien 230 0,6 c)

15 Deutschland 150 0,4 b)

16 Rumänien 90 0,3 c)

17 Pakistan 45 0,1 c)

18 Argentinien 20 0,1

Welt gesamt 35.772 100

a) Uran als Nebenprodukt der Goldgewinnung

b) Uran als Nebenprodukt von Sanierungsarbeiten

c) Schätzung der World Nuclear Association (WNA)

Ein weiterer Aspekt ist die regionale Unausgewogenheit von Ange-bot und Nachfrage. Kein Verbraucherland, ausgenommen Kanadaund Südafrika, kann seinen Uranbedarf vollständig aus heimischerProduktion decken. Und die meisten derzeitigen Großverbraucheraußer den Vereinigten Staaten und Russland verfügen, wenn über-haupt, nur über geringe Uranvorräte. Nur sieben Länder produzie-ren mehr Uran, als sie für den heimischen Bedarf benötigen (sofernein solcher besteht), siehe hierzu Abbildung 4 (NEA 2004).

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Abbildung 4:

Uran – Bedarf und Produktion 2003 [t U]

153

AustralienKasachstan

NigerNamibia

UsbekistanPakistan

ArmenienNiederlande

RumänienArgentinien

SlowenienMexiko

Süd-AfrikaLitauenUngarn

SchweizBrasilien

IndienFinnlandSlowakei

TschechienTaiwan

BulgarienChina, VR

BelgienSpanien

SchwedenKanada

GroßbritannienUkraine

Korea, Rep.Deutschland

RusslandJapan

FrankreichUSA

-25000 -20000 -15000 -10000 -5000 0 5000 10000

Verbrauch 2003 Produktion 2003

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Die Situation in Russland ist bezüglich der Versorgung mit Uranbesonders ernst: Seit der Auflösung der Sowjetunion ist das Landvon umfangreichen Uranvorräten, vor allem in Kasachstan, abge-schnitten. Bei der derzeitigen Produktion von 3150 Tonnen pro Jahr(2003) werden Russlands zu derzeitigen Uranpreisen abbaubareReserven in nur fünfzehn Jahren erschöpft sein. Zudem übersteigtder jährliche reaktorbezogene Uranbedarf von 5100 Tonnen (2003)die heimische Produktion um 1950 Tonnen oder 62 Prozent. Außer-dem plant Russland den Bau mehrerer neuer Reaktoren. Falls dasLand also nicht über größere Lagerbestände an Uran verfügt, wird esin kurzer Zeit mit einer ernsten Versorgungskrise konfrontiert sein.Man plant nun sogar, große, unökonomische und minderwertigeLagerstätten in Jakutien auszubeuten, nur um überhaupt an Uranheranzukommen. Russlands dringendes Bedürfnis, sich mit Uranzu versorgen, mag auch die überraschende Tatsache erklären, dassdas Land für die Herstellung der Zumischkomponente für die Strek-kung von HEU mehr Anreicherungsarbeit in die Wiederanreiche-rung von importiertem abgereichertem Uran aufwendet, als sich ausdem gestreckten schwach angereicherten Uran gewinnen lässt(siehe oben). Mit seinen überschüssigen Anreicherungskapazitätenerschließt Russland auf diese Weise mit importierten Tails dringendbenötigte Uran-Sekundärquellen, vergibt damit aber die Chance, dieAnreicherungsarbeit zurückzugewinnen, die ursprünglich für dasHEU geleistet wurde. Diese drohende Versorgungslücke Russlandsist vor allem für die Energieversorgungsunternehmen der Euro-päischen Union von besonderer Bedeutung, da russisches Materialaus natürlichem Uran (3400 Tonnen), wiederangereicherten Tails(1000 Tonnen) und gestrecktem HEU (1300 Tonnen) im Jahre 2003zusammen 35 Prozent der gesamten Lieferungen an die EU-Energie-versorger ausmachten.

Indien und China beabsichtigen, umfangreiche Atomenergiepro-gramme aufzulegen und sind somit potenzielle Uran-Großverbrau-cher. Allerdings verfügen beide Länder nur über sehr begrenzteLagerstätten.

Als Nichtunterzeichner des Atomwaffensperrvertrags hat Indienkeinen Zugang zu ausländischen Uranressourcen, nachdem dasLand 1974 einen Atomwaffentest durchgeführt hat. Seine eigenenUranreserven sind jedoch gering und minderwertig. Da das Landaber keine andere Wahl hat, plant es derzeit, in mehreren Regionenminderwertiges Uranerz zu fördern – gegen den erbitterten Wider- 154

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stand von ansässigen indigenen Völkern und Umweltschützern. Indiesem Kontext müssen auch Indiens Bemühungen gesehen wer-den, einen Brennstoffzyklus auf der Basis von Thorium aufzubauen.Inzwischen zeichnet sich jedoch ab, dass das Land erwägt, eine poli-tische Lösung für dieses Dilemma zu finden: Als ersten Schritt rati-fizierte Indien am 31. März 2005 das Übereinkommen über nuklea-re Sicherheit und öffnete damit die Atomkraftwerke des Landes fürInspektionen von außen.

China möchte Uran aus Australien importieren, doch bislangwird dies durch die australischen Anforderungen zur Sicherstellungeiner zivilen Nutzung verhindert. China ist zudem nicht bereit,Inspektionen der IAEA zu akzeptieren, die verifizieren sollen, dassdas chinesische Atomenergieprogramm ausschließlich friedlichenZwecken dient. Trotzdem begannen China und Australien im Fe-bruar 2005 Gespräche mit dem Ziel, solche Exporte zu ermöglichen.

Aber selbst wenn die Probleme wie der Produktionsengpass undregionale Unausgewogenheiten überwunden werden könnten, darfein weiterer Aspekt nicht vernachlässigt werden: die Lebensdauerder bekannten Uranvorräte. Die bekannten primären und sekundä-ren Vorräte könnten den derzeitigen Bedarf noch siebzig Jahre langdecken. Neue Reaktoren, die momentan in Auftrag gegeben werden,werden den Bedarf jedoch erhöhen. Abb. 5 zeigt den weltweitenEinsatz der Uranreserven, ausgehend von der Annahme, dass dieAtomenergie ihren derzeitigen Marktanteil bei steigender Gesamt-produktion der Elektrizität beibehalten würde (Nuclear Energy Re-search Committee, NERAC 2002). Bei diesem Szenario und demEinsatz von Uran in einem Einmalzyklus (ohne Wiederaufberei-tung) in Leichtwasserreaktoren wären die bekannten Uranvorräteetwa 2030 und die spekulativen Vorräte etwa 2060 erschöpft. DieAtomenergie könnte also nur fortbestehen, wenn immer mehr min-derwertige Uranlagerstätten ausgebeutet würden – mit hohenKosten und immensen Umweltbelastungen.

Die Begrenztheit der bekannten Uranvorräte könnte nur durchden massiven Einsatz von Schnellen Brütern überwunden werden.Diese Technologie versprach einmal eine bis zu 60fach erhöhteLebensspanne der Uranvorräte. Technische Probleme haben jedochzur Schließung sämtlicher Reaktor-Prototypen geführt, mit Ausnah-me eines einzigen in Russland. Russland und China halten dieseTechnologie jedoch nach wie vor für eine gangbare Option zurDeckung ihres Energiebedarfs.155

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Abbildung 5

Weltweite Verwertung der Uranressourcen

2.5 SchlussfolgerungenErstens: Der Uranabbau expandiert, alte Hinterlassenschaften blei-ben jedoch unbewältigt. Das derzeitige Wiederaufleben des Uran-abbaus führt zu neuen Gefahren und Belastungen für die Umwelt,während die Hinterlassenschaften der Ära des Kalten Krieges in vie-len Ländern noch nicht aufgearbeitet wurden.

Zweitens: Die bekannten Vorräte reichen nicht aus, um den stei-genden Bedarf zu decken. Denn die bekannten Vorräte in Erzlagernkönnen den voraussichtlichen Bedarf ohne Wiederaufbereitung nurbis etwa 2030 decken, die spekulativen Ressourcen wären etwa 2060erschöpft. Deshalb wird in zunehmendem Maße minderwertigesErz gewonnen werden müssen, was zu massiven Umweltschädigun-gen führen würde. Sekundäre Quellen decken derzeit zwar fast dieHälfte des Bedarfs, machen aber nur etwa fünf Prozent der gesam-ten Vorräte aus.

Drittens: Fehlende Abbaukapazitäten: Da die sekundären Quellenin absehbarer Zeit erschöpft sind, muss die Fördermenge der Minenetwa innerhalb der nächsten zehn Jahre verdoppelt werden, nur umdie derzeitige Bedarfsmenge abdecken zu können. Doch die beste- 156

50

45

40

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5

0

2000 2010 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 2090 2100

LWR direkte Endlagerung

Einführung Schnelle Brüter 2050

Einführung Schnelle Brüter 2030

Spekulative Ressourcen

Bekannte Ressourcen

Mio

-t.N

atur

-Ura

n (k

umul

ativ

)

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henden Abbaukapazitäten können dies nicht leisten, und gegenwär-tig stehen sehr wenige neue Lagerstätten zur Ausbeutung bereit.Gleichzeitig sind die Anlaufzeiten für neue Bergwerke lang. JedeZunahme des Bedarfs würde eine weitere erhebliche Zunahme derAbbaukapazitäten erfordern.

Viertens: Regionale Unausgewogenheiten bei Versorgung undBedarf: Die meisten derzeitigen und potenziellen Großverbraucher-staaten verfügen nur über sehr geringe Uranreserven und sind des-halb von Importen abhängig, während nur sieben Länder genügendUran produzieren, um exportieren zu können. Besonders prekär istdie Lage in Russland, das sich innerhalb der nächsten zehn Jahremit einer massiven Versorgungskrise konfrontiert sieht. Diese Krisewird sich auch auf die Uranversorgung der EU auswirken, die der-zeit stark von Lieferungen aus Russland abhängig ist. Die Versor-gungsprobleme werden noch drastisch zunehmen, falls Indien undChina, die nur über geringe Uranressourcen verfügen, sich tatsäch-lich dafür entscheiden, Atomenergie in großem Maßstab zu ent-wickeln. Ferner entstehen bei potenziellen Uranexporten nach Russ-land, Indien und China Probleme bei der Sicherstellung einer zivi-len Nutzung des Urans.

3 Behandlung von Nuklearabfällen

3.1 TransportOhne Transporte radioaktiven Materials gibt es keine Atomindus-trie, weil Transporte das Verbindungsstück zwischen den einzelnenStationen des nuklearen „Brennstoffkreislaufs“ sind. Beispiele fürtransportierte Materialien sind Uran, Uranhexafluorid, neue undbestrahlte Brennelemente sowie diverse Arten von radioaktivem Ab-fall. Auf der ganzen Welt werden jährlich einige 100.000 Transportedurchgeführt, um das Funktionieren der Atomenergie zu gewähr-leisten. Dazu gehören beispielsweise der Transport von Uranhexa-fluorid von Deutschland nach Russland (einige tausend Kilometerauf dem Landweg) oder von plutoniumhaltigem Material aus derWiederaufbereitungsanlage in Frankreich nach Japan (mehr als15.000 Seemeilen). Es gibt einige Orte auf der Landkarte der Atom-industrie, an denen eine Häufung von Transporten stattfindet, zumBeispiel Wiederaufbereitungsanlagen, Endlager und Häfen. Im Inte-resse von Bevölkerung und Transportarbeitern ist sicherzustellen,dass diese Konzentration der Transporte an einem Ort bei den157

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Das Abflussrohr der Cogema-Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brenn-

elemente, La Hague, Frankreich. Flüssiger Atomabfall wird ins Meer geleitet. Als

Folge übersteigt die Radioaktivität im Wasser den Grenzwert um das 3000fache.

© Pierre Gleizes/Greenpeace

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Sicherheitsbetrachtungen und -maßnahmen im Hinblick auf mög-liche Strahlenbelastungen beim bestimmungsgemäßen Transportsowie durch Unfälle berücksichtigt wird. In den meisten Ländern istdies nicht der Fall. Eine große Zahl von Transporten findet auch ausrein wirtschaftlichen Gründen statt. Beispielsweise beziehen deut-sche Atomkraftwerke Brennelemente aus Schweden, währendschwedische Anlagen mit Brennelementen aus Deutschland ver-sorgt werden.

Für den Transport radioaktiver Materialien hat die InternationaleAtomenergieorganisation Empfehlungen ausgesprochen (IAEA1996), die jeweils in die nationalen Bestimmungen der Mitglieds-staaten übernommen werden. Das Ziel der Empfehlungen ist die Be-schränkung der Gefahren auf ein „akzeptables“ Maß. Diese Sicher-heitsphilosophie basiert auf einer widerstandsfähigen Verpackungdes radioaktiven Materials. Die Anforderungen an die Robustheitder Verpackung hängen von ihrem radioaktiven Inhalt ab. Bei Trans-porten mit hochradioaktivem Material sollen die Behälter schwereUnfälle überstehen. Unter anderem ist „Robustheit“ deshalb so defi-niert, dass ein Sturz aus einer Höhe von neun Metern auf ein ebe-nes, unnachgiebiges Ziel, ein Sturz aus einer Höhe von einem Meterauf einen Stahldorn, ein 800 Grad Celsius heißes Feuer über 30 Mi-nuten und die Versenkung in 15 Meter tiefes Wasser für acht Stun-den überstanden werden müssen. Diese Festlegungen wurden viel-fach kritisiert, da eine Verpackung nach diesen Standards zwar einegewisse Sicherheit für viele mögliche Unglücksfälle bieten kann,aber nicht alle Belastungen durch schwere – jedoch nicht ausschließ-bare – Unfälle abgedeckt sind. Zum Beispiel können ein Aufpralleiner solchen Verpackung auf einen steinigen Untergrund mit 80km/h oder ein Tunnelbrand von mehr als 30 Minuten Dauer einehöhere Belastbarkeit erfordern. In diesen Fällen würde die Freiset-zung von Radionukliden erfolgen, und eine starke Strahlenbelas-tung für Menschen wäre möglich.

In den vergangenen Jahren gab es nur wenige Unfälle bei Trans-porten im Rahmen der Atomenergienutzung. Es wurde nichts übergrößere Freisetzungen von Radionukliden bekannt. Es muss jedochfestgestellt werden, dass die notwendige Zahl von Transporten an-steigen wird, wenn in einigen Ländern Endlager oder sonstige Ein-richtungen des nuklearen „Brennstoffkreislaufs“ in Betrieb genom-men werden. Einen sehr starken Anstieg würde die zusätzlicheInbetriebnahme neuer Atomkraftwerke bedeuten. Es ist ein glück-159

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licher Umstand, dass bisher kein schwerwiegender Unfall passiertist. Möglich ist dies jedoch bei jedem neuen Transport.

Absolute Sicherheit für den Transport radioaktiven Materialskann und wird es nicht geben. Das gilt für einen Transport ohneZwischenfälle ebenso wie für Unfälle. Gegen terroristische Angriffegibt es keinen wirklich effektiven Schutz von Transporten. SchwereUnfälle oder terroristische Angriffe während des Transports hoch-radioaktiver Abfälle, bestrahlter Brennelemente oder von Plutoni-umdioxid kann sofort zu tödlichen Dosen in der unmittelbaren Um-gebung und zu langfristig tödlichen Dosen in etlichen KilometernEntfernung vom Transportfahrzeug führen. Die Umsiedlung oderEvakuierung von Menschen in mehreren Kilometern Entfernungkönnen erforderlich werden (LARGE & ASSOCIATES 2004; Hirsch/Neumann 2001).

3.2 Wiederaufbereitung nuklearer BrennelementeIn den sechziger und frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhun-derts gab es den Traum vom nie endenden Betrieb von Atomkraft-werken, um den gesamten Energiebedarf billig zu decken. Wie einPerpetuum mobile sollte der „Brennstoffkreislauf“ geschaffen sein.Nach dem Einsatz von frischem Uran in Atomreaktoren plante manals Hauptschritt im „Brennstoffkreislauf“ die Wiederaufbereitungder bestrahlten Brennelemente mit der Abtrennung von Uran undPlutonium. Der so abgetrennte Kernbrennstoff sollte zur Vermeh-rung des Plutoniums in Schnellen Brütern eingesetzt werden, dieseBrennelemente erneut wiederaufgearbeitet und das abgetrennteMaterial wieder in Brutreaktoren sowie zu einem kleinen Teil inSpaltreaktoren verwendet werden. Das in den Reaktoren jeweilsangefallene Material sollte kontinuierlich wieder aufgearbeitet undnachgeladen werden.

Dieser Traum ist jedoch geplatzt. Aufgrund von Sicherheitspro-blemen, schlechter Ergebnisse in Versuchsreaktoren und hoherKosten wurde die Entwicklung von Brüterprogrammen in den mei-sten Ländern ad acta gelegt. Dies geschah zuerst in den USA 1977,einige Jahre danach in Deutschland und noch später in Großbritan-nien und Frankreich. Heute haben nur noch Japan, Russland undIndien Ambitionen auf dem Gebiet der Brüter. Die Entwicklung indiesen Ländern kommt jedoch nur im Schneckentempo voran undbleibt weit hinter dem Terminplan zurück. Mit der Aufgabe derBrütertechnik ist der Hauptgrund für die Wiederaufbereitung nicht 160

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mehr vorhanden. Ohne Brüter ist das „kontinuierliche“ Recyclingvon Brennelementen nicht möglich. Dennoch waren Teile der Atom-industrie und einige Regierungen der Meinung, man solle mit derWiederaufbereitung fortfahren. Das abgespaltene Uran undPlutonium wird nunmehr in Leichtwasserreaktoren als Mischoxid(MOX) verwendet. Nicht in jedem dieser Länder sind Wiederauf-bereitungsanlagen in Betrieb. In Deutschland wurde der Plan füreine kommerzielle Anlage aufgrund von Sicherheitsdiskussionenund aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben. Deutsche bestrahlteBrennelemente werden in Frankreich und in Großbritannienwiederaufbereitet.1 Ähnlich handhaben dies Belgien, die Schweizund in geringerem Umfang einige andere Länder. Folgende Wieder-aufbereitungsanlagen für den zivilen Sektor sind gegenwärtig inBetrieb:

Tabelle 2

Zivile Wiederaufbereitungsanlagen in der Welt

Land Standort Kapazität (MgSM)

Frankreich La Hague (UP2-800) 1000

Frankreich La Hague (UP3) 1000

Großbritannien Sellafield (B205) 1500

Großbritannien Sellafield (THORP) 1200

Russland Chelyabinsk (RT1) 600

Japan Tokai Mura (Tokai) 100

Indien Tarapur (PREFRE) 400

Indien Kalpakkam (KARP) 100

Quelle: WISE-Paris

Alle Kapazitätsangaben in dieser Tabelle sind rein nominell, in derRegel erreichen die Anlagen dieses Ergebnis nicht. Besonders überTHORP in Sellafield ist bekannt, dass die geplante jährliche Kapazi-tät bis heute nie erreicht wurde. Zusätzlich findet in Frankreich,Großbritannien, Russland und Indien eine militärische Wiederauf-bereitung statt, und in den USA und Nordkorea erfolgt ausschließ-lich militärische Wiederaufbereitung.

Wiederaufbereitung ist ein technisch komplizierter und chemischkomplexer Vorgang. Die bestrahlten Brennelemente werden zerlegt,

1 Zur aktuellen deutschen Situation siehe Gruppe Ökologie (2005).

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in Stücke zerschnitten und in Salpetersäure aufgelöst. Danach wer-den Uran und Plutonium abgetrennt und alle Materialien weiterbehandelt. Bei der Wiederaufbereitung entstehen hauptsächlich vierStoffströme: Plutonium; Uran; schwach-, mittel und hochaktiver Ab-fall; radioaktive Abgaben mit Wasser und Luft.

Bei der Wiederaufbereitung gewinnt man aus acht bestrahltenUran-Brennelementen ein MOX-Brennelement und produziert dar-über hinaus eine Menge radioaktiven Abfall.

Plutonium/MOXDas Schlüsselelement ziviler Wiederaufbereitung ist das Plutonium.Die bestrahlten Brennelemente von Leichtwasserreaktoren enthaltenetwa 1 Prozent Plutonium. Theoretisch könnten jährlich etwa 5 bis6 Mg (Megagramm; frühere Maßeinheit: Tonnen) im zivilen Sektorabgetrennt werden, wenn die in Tabelle 2 genannten Wiederaufbe-reitungskapazitäten ausgeschöpft würden.

Das Plutonium soll komplett zu MOX-Brennelementen verarbei-tet werden. In der Realität ist die Umsetzung dieses Plans sehrschwierig. Es gibt weltweit nur wenig Kapazität zur Herstellung vonMOX-Brennelementen. Nur in Frankreich und Belgien geschiehtdas auf industriellem Niveau. Die MOX-Fabrikationsanlage in Sella-field ist seit 2001 in Betrieb, erreicht aber bei weitem nicht ihrenominelle Kapazität. Die Technik der Anlage funktioniert schlecht,und es hat einige skandalöse Fehlleistungen seitens des Personalsgegeben. Russland hat keine Anlage zur Herstellung von MOX, undin Japan und Indien arbeiten nur kleine Versuchsanlagen. So bleibtes eine offene Frage, ob das komplette Recycling von Plutoniumüberhaupt möglich ist. Über die Konditionierung des dann „übri-gen“ Plutoniums für die Endlagerung gibt es keine festen Pläne. Eswäre beispielsweise möglich, Plutonium für die Endlagerung in Glasoder Keramik einzuschließen. MOX-Brennelemente müssen unterSicherheits- und Strahlenschutzaspekten noch kritischer bewertetwerden als Uranelemente:

– Plutonium hat eine sehr hohe Radiotoxizität. Das Einatmen vonsehr viel weniger als 0,1 mg Plutonium kann tödlich sein.

– Das Kritikalitätsrisiko während der Behandlung und Verarbei-tung von Plutonium ist wesentlich größer als bei Uran.

– Es gibt viele Möglichkeiten der Freisetzung von Plutonium imNormalbetrieb während der Wiederaufbereitung und der Hand- 162

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habung des Plutoniumoxids sowie bei möglichen Störfällen/Un-fällen während der Wiederaufbereitung, Lagerung und der Verar-beitung von Plutonium, während der Herstellung des Mischoxidsund während der Fertigung und dem Transport der MOX-Brennelemente.

– Leichtwasserreaktoren sind ursprünglich nicht für den Betriebmit Plutonium als frischen Brennstoff entwickelt worden. DerEinsatz von MOX-Brennelementen ist nur mit eingeschränktenSicherheitsbedingungen für den Reaktorbetrieb möglich (kompli-ziertere Steuerung und schwierigeres Abschalten des Reaktors imNotfall).

– Bei Einsatz von MOX-Brennelementen enthält der Reaktorkernmehr langlebige Radionuklide. Deshalb sind die radiologischenFolgen nach Störfällen größer.

– Eine größere Wärmeerzeugung und ein größerer Anteil an Neu-tronenstrahlung führen zu größeren Problemen beim Transport,bei der Lagerung und Konditionierung der bestrahlten Brennele-mente.

– Beim derzeitigen Stand der Technik können MOX-Brennele-mente nicht im industriellen Umfang wiederaufbreitet werden.Für die Endlagerung werden wegen der höheren Wärmeentwick-lung, der stärkeren Neutronenstrahlung und eines höheren Kriti-kalitätsrisikos mit MOX-Brennelementen jedoch größere Schwie-rigkeiten verursacht. Im Vergleich mit der direkten Endlagerungbestrahlter Uran-Brennelemente ist der MOX-Einsatz deutlichkomplizierter, gefährlicher und teurer, und es wird ein insgesamtgrößeres Endlagervolumen benötigt.

UranEtwa 99 Prozent der Schwermetallmasse bestrahlter Brennelementesind Uran. In den meisten Ländern wird nur wenig oder gar nichtsvom wiederaufbereiteten Uran in zivilen Reaktoren recycelt. DasUran aus der Wiederaufbereitung enthält einen geringeren Anteilspaltbarer Urannuklide und mehr Urannuklide mit unangenehmerStrahlungseigenschaft als natürliches Uran. Ein Großteil des abge-trennten Urans wird gelagert. In letzter Zeit haben einige LänderUran nach Russland geschickt, damit es mit hochangereichertemUran aus abgerüsteten Atombomben vermischt wird. Anwendungs-gebiete für einen kleineren Teil des wiederaufbereiteten Urans sindStrahlenabschirmungen, Trimmgewichte für Flugzeuge oder hoch-163

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wirksame (durchschlagsstärkere) Munition. Insgesamt gibt es kei-nen wirklichen Bedarf für wiederaufbereitetes Uran, weil kein effek-tiver Einsatz im Reaktor möglich ist, und bei den anderen Anwen-dungen entweder Materialien ohne Radioaktivität genutzt oder dieVerwendungen selbst verboten werden sollten (Waffenmunition).Für die Konditionierung zur Endlagerung dieser Brennelementegibt es keine konkreten Pläne.

AbfälleLanglebige Radionuklide, die ursprünglich in bestrahlten Brennele-menten konzentriert waren (z. B. Aktinide), werden durch die Wie-deraufbereitung in verschiedene Abfallarten mit einer großen Band-breite radioaktiven Gehalts aufgeteilt. Einige dieser Abfälle sindhochradioaktiv und wärmeerzeugend. Früher wurde das Volumenfür die Endlagerung radioaktiven Materials durch Wiederaufberei-tung um den Faktor 10 und mehr erhöht. Dies gilt auch heute nochfür alle Anlagen mit Ausnahme von La Hague, wo seit kurzem fürbestimmte Abfälle eine neue Konditionierungsmethode eingesetztwird. Alle Abfälle müssen behandelt und zwischengelagert werden.Das schafft zusätzliche Strahlenbelastung bei störungsfreiem Be-trieb und zusätzliche Unfallrisiken. Besonders der hochradioaktiveAbfall wird in sehr gefährlicher flüssiger Form für lange Zeiträumegelagert. In Sellafield ist seit Beginn der Wiederaufbereitung 1994bis heute nur ein sehr kleiner Teil dieses von THORP erzeugtenAbfalls verglast worden. Die Versuchswiederaufbereitungsanlage inDeutschland (WAK) wurde 1990 geschlossen; etwa 80 m3 hoch-aktiven flüssigen Abfalls wird bis heute in einem Becken gelagert.Die geplante Einschließung in Glas wird das Unfallrisiko währendder Lagerung und des Transports drastisch senken. Aber Strahlungund Wärmeerzeugung sind weiterhin ein Problem.

Abgabe von RadionuklidenEs ist unvermeidlich, dass während der Zerlegung und Auflösungder Brennelemente, der nachfolgenden Abtrennung von Uran undPlutonium sowie während der Behandlung und Lagerung der Ab-fälle Radionuklide freigesetzt werden. Trotz Filterung und andererMaßnahmen wird ein Teil dieser Radionuklide als gasförmige oderflüssige Abgaben in die Umwelt der Wiederaufbereitungsanlagenabgegeben. Die Mengen verschiedener Radionuklide, die jährlichdurch die Wiederaufbereitungsanlagen Sellafield und La Hague frei 164

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werden, sind zehn bis tausend Mal höher als die Abgaben eines ein-zigen Leichtwasserreaktors (WISE 2003). Die Menschen dort sindder Bestrahlung durch kontaminierten Boden sowie Fauna undFlora ausgesetzt. Nach deutschen Vorschriften wären beide Anlagennicht genehmigungsfähig, weil sie die zulässigen Grenzwerte über-schreiten (Öko-Institut 2000). Diverse Wissenschaftler stellten inUntersuchungen höhere Prozentsätze von Leukämie bei Kindernfest (Faktor 3 in La Hague und Faktor 10 in Sellafield), verglichen mitdem Durchschnitt des jeweiligen Landes. Ein definitiver Beweis fürden Zusammenhang zwischen Wiederaufbereitung und Leukämie-rate ist bis heute nicht erbracht worden, der Gegenbeweis jedochauch nicht. In der Umgebung wurden auch hohe radioaktiveBelastung bei verschiedenen Vögeln und Meerestieren gemessen.Die Messwerte überschreiten die Grenzwerte der EuropäischenUnion für die Einfuhr von Nahrungsmitteln.

Die Abgaben aus Wiederaufbereitungsanlagen haben nicht nureine lokale Auswirkung auf die Umwelt. Die flüssigen Bestandteilewerden durch die Meeresströmung weit verbreitet. An der irischenKüste werden beispielsweise Radionuklide aus Sellafield gemessen.Traditionelle Fischereinationen wie Norwegen fürchten um ihreFischgründe in der Arktis.

Keine Vorteile der WiederaufbereitungDie insgesamt schlechte Bilanz für die Wiederaufbereitung mußnoch um folgende Angaben ergänzt werden:

– Die Ziele der Wiederaufbereitung in Verbindung mit Leichtwas-serreaktoren sind nicht erreicht worden. Die Wiederaufbereitungbestrahlter MOX-Brennelemente in industriellem Umfang ist bisheute nicht Stand der Technik. Deshalb ist keine ökonomisch insGewicht fallende Einsparung an natürlichem Uran möglich, unddeshalb kann auch der Anteil von Plutonium in den Abfällen fürdie Endlagerung nicht gesenkt werden. In einem Bericht für diefranzösische Regierung aus dem Jahr 2000 wird der Schluss ge-zogen, dass die Wiederaufbereitung und MOX-Einsatz im bestenFalle etwa 10 Prozent des natürlichen Uranbedarfs einsparen unddas Plutonium in Abfällen für die Endlagerung um 15 Prozentreduzieren könnte (WISE 2003).

– Schwere Unfälle in Wiederaufbereitungsanlagen sind keine reintheoretische Angelegenheit. Ein aktuelles Beispiel ist das Versa-165

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gen einer Rohrleitung in Sellafield, was das Auslaufen von 83 m3

bestrahlten Brennstoffs zur Folge hatte. Nach offiziellen Verlaut-barungen hat es keine Schädigung der Umwelt gegeben, weil dieFlüssigkeit in einem versiegelten und abgeschlossenen Bereichaustrat. Der Fehler wurde monatelang nicht entdeckt, möglicher-weise haben nur glückliche Umstände schwere Schädigungenverhindert.

– In Verbindung mit der Wiederaufbereitung bestrahlter Brennele-mente in La Hague erfolgen jährlich etwa 450 Transporte vonPlutonium oder von plutoniumhaltigem Material. Das ergibtmehr als 250.000 Transportkilometer durch Frankreich. Darinsind noch keine Transporte von Uran und Abfällen enthalten. Esliegt auf der Hand, dass ein „Brennstoffkreislauf“ ohne Wieder-aufbereitung generell wesentlich weniger Transportkilometer ver-ursacht.

– Die Wiederaufbereitung hat die Zahl der Ziele für Terroristenerheblich vergrößert. Neben den Transporten sind bestimmteTeile der Anlagen Ziele mit hohem Gefahrenpotenzial. Ein Flug-zeugabsturz über einem Lagerbecken für bestrahlte Brennele-mente oder für flüssigen hochradioaktiven Abfall wie auch überden Lagergebäuden für separiertes Plutonium hätte sofort kata-strophale Konsequenzen, die die Folgen des Unfalls von Tscher-nobyl in den Schatten stellen würden.

– Wiederaufbereitung ist keine ökonomische Verfahrensweise: EinÜberblick über verschiedene Studien zur Situation in Deutsch-land und von der OECD/NEA, die einen „Brennstoffkreislauf“ mitWiederaufbereitung und einen anderen mit „direkter“ Endlage-rung verglichen haben, kam auf zusätzliche Kosten für die Wie-deraufbereitung zwischen 14 Prozent und 50 Prozent (GruppeÖkologie 1998). Neue Schätzungen für die Vereinigten Staatenzeigten einen Anstieg der Kosten für einen „Brennstoffkreislauf“mit Wiederaufbereitung um 80 Prozent (Bunn u.a. 2003). Es soll-te nicht unerwähnt bleiben, dass die Grundeinstellung zur Wie-deraufbereitung in allen Studien positiv war. In Wahrheit könn-ten die wirtschaftlichen Nachteile eher noch größer sein.

Alles in allem bietet die Wiederaufbereitung bestrahlter Brennele-mente im Hinblick auf Sicherheit, Proliferation, Rohstoffersparnisund wirtschaftliche Gesichtspunkte keinerlei Vorteile.

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3.3 ZwischenlagerungUnabhängig davon, ob mit oder ohne Wiederaufbereitung gearbeitetwird, ist die Zwischenlagerung bestrahlter Brennelemente undradioaktiver Abfälle in jedem Fall erforderlich. Für bestrahlte Brenn-elemente und hochradioaktiven Abfall ist eine längere Zwischen-lagerzeit erforderlich, weil die weitere Behandlung und insbeson-dere die Endlagerung eine Vorlaufzeit zur Reduktion der Wärmeent-wicklung durch den Zerfall kurzlebiger Radionuklide brauchen.Schwach- und mittelaktive Abfälle müssen zumindest aus logisti-schen Gründen zwischen den einzelnen Schritten im „Brennstoff-kreislauf“ zwischengelagert werden. Drei Verfahren sind für dieZwischenlagerung bestrahlter Brennelemente gebräuchlich (IAEA1995):

– nasse Lagerung in wassergefüllten Becken;– trockene Lagerung in aufrecht stehenden dickwandigen Behäl-

tern;– trockene Lagerung in Behältern, die in vertikaler oder horizonta-

ler Lagerung in Betongewölben gelagert werden.

Nur in wenigen Fällen wird die nasse Zwischenlagerung (in Schwe-den) oder die trockene Zwischenlagerung (in einer von 14 Lager-stätten in Deutschland) unterirdisch vorgenommen. Trockene Zwi-schenlagerungskonzepte bringen eine geringere Unfallgefahr mitsich, weil es keine aktiven Kühlungssysteme gibt, und die Korro-sionsrate der Brennelementhülsen vermutlich geringer ist. Aus die-sen Gründen, und weil es billiger ist, wird in den letzten Jahren vorallem die trockene Zwischenlagerung in Behältern bevorzugt.Andererseits sind bei der trockenen Zwischenlagerung die mechani-schen Belastungen für die Brennelementhülsen größer, und esmuss sichergestellt sein, dass die Behälter für einige Jahrzehntedicht sind. Das langfristige Verhalten ist schwer vorhersagbar. Eshängt vom Typus der Brennelemente, der Art der Behälter und denUmständen während der Beladung ab. Die Zeitspanne, in der manfür jeden spezifischen Fall Erfahrungen sammeln konnte, ist relativkurz. Die bis heute geschaffenen Zwischenlager haben oft keinenausreichenden Schutz gegen die Abgabe von Radionukliden wäh-rend des normalen Betriebs (bei nasser Lagerung), oder es gibt keinehinreichende Überwachung für den Fall der Freisetzung von Radio-nukliden (bei trockener Lagerung). Zudem gibt es in der Regel kein167

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Mehrbarrierensystem für den Fall schwerer Belastungen wie etwaeinen Flugzeugabsturz. In den meisten Fällen gibt es nur eine ein-zige Barriere (Behälter bei trockener Lagerung), in manchen Fällengibt es gegen solche Einwirkungen von außen überhaupt keinenwirksamen Schutz (nasse Lagerung in Becken, im französischen LaHague). Ein Sicherheitsvergleich führt zu dem Ergebnis, dass dietrockene Zwischenlagerung in Behältern zwar sicherer ist als dienasse Lagerung, das Risiko der Freisetzung von Radionuklidenjedoch fortbesteht. Es ist möglich, die bestehenden Sicherheitsmaß-nahmen zu verstärken und auszubauen, dies wird aber aus betriebs-wirtschaftlichen Gründen nicht umgesetzt.

Alle Zwischenlagerkonzepte können dezentral vor Ort bei denAtomkraftwerken umgesetzt werden oder aber abseits der Reaktorenin zentralen Zwischenlagern. Um die Transporte und die Behand-lung der Brennelemente zu reduzieren, sollte man sich für eineLagerung vor Ort entscheiden. In Deutschland zum Beispiel ist dasin den letzten Jahren so gehandhabt worden (BFS 2005).

Etwa 95 Prozent aller radioaktiven Abfälle besitzen niedrige odermittlere Radioaktivität. Diese Abfälle werden oberirdisch in Contai-nern zwischengelagert, meist in einer Art Fabrikhalle. Im Fall län-gerer Lagerungszeiten ist die Behandlung bzw. Konditionierung desAbfalls aus Sicherheitsgründen (d. h. für gasförmige und flüssigeAbfälle) erforderlich. Das soll die mögliche Abgabe von Radionukli-den während der Lagerung sowie bei Zwischenfällen und Unfälleneinschränken. Auch das Volumen des Abfalls wird durch moderneBehandlungsmethoden reduziert; was sich in einer erhöhten Lager-kapazität auswirkt. Dennoch sind die langfristige Stabilität und dieGaserzeugung durch Reaktionen zwischen Abfällen, Fixierungs-mitteln und Behältern für einen Teil der Abfälle ein Problem, wennetwa wasserhaltiger Beton als Mittel der Fixierung benutzt wird.

Eine recht hohe Freisetzung von Radionukliden wäre bei schwe-ren Unfällen trotz der relativ geringeren Radioaktivität der schwach-und mittelaktiven Abfälle möglich. Das trifft besonders für einendurch einen Unfall verursachten oder absichtlich herbeigeführtenFlugzeugabsturz zu. Wegen der geringeren Radioaktivität sind diedurchgeführten Sicherheitsmaßnahmen im Vergleich zur Zwi-schenlagerung hochradioaktiver Brennelemente weniger umfang-reich.

Die Lagerung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen kannebenfalls entweder vor Ort am Reaktor oder in zentralen Anlagen 168

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erfolgen. Die erste Variante ist wegen des geringeren Umfangs derBehandlung und der Transporte zu bevorzugen.

Die Gefahr terroristischer Attacken muss bei der Zwischenlage-rung bestrahlter Brennelemente ebenso berücksichtigt werden wiefür die Atomkraftwerke selbst. Reaktoren mögen das größere Zielsein, aber das gefährliche Potenzial großer Lagerbecken (in Europazum Beispiel in Wiederaufbereitungsanlagen) ist vergleichbar.Außerdem gibt es zu Zwischenlagern oft einen leichteren Zugangund möglicherweise weniger Sicherheitsmaßnahmen. Aus diesemGrund könnten Zwischenlager durchaus ein Ziel für Terroristensein.

3.4 Endlagerung

Was muss entsorgt werden?Die Energieerzeugung in Atomkraftwerken wie auch bestimmte An-wendungen in einigen Forschungsgebieten, in Medizin und Indus-trie sind mit der Erzeugung von radioaktivem Abfall verbunden. Dieionisierende Strahlung aus diesen Abfällen kann genetische Verän-derungen und Krebserkrankungen hervorrufen und stellt so eineGefahr für Mensch und Umwelt dar. Deshalb muss radioaktiver Ab-fall von der lebendigen Natur isoliert, d.h. langfristig sicher endgela-gert werden. Die Art der Handhabung des Abfalls und deren kon-krete Erfordernisse werden durch das Risikopotenzial der verschie-denen Abfallarten bestimmt. Dieses Potenzial wird hauptsächlichdurch die Art und Intensität der ionisierenden Strahlung im Abfallhervorgerufen sowie durch die Länge der Zeitspanne, in der derradioaktive Abfall eine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellt. Einzusätzliche Faktor für die Endlagerung ist die Wärmeentwicklung,die durch den Zerfall bestimmter Radionuklide hervorgerufen wird.

Im einzelnen hängen das Spektrum radioaktiver Abfälle in ver-schiedenen Ländern und ihre Unterscheidung in Bezug auf ihreBehandlung nicht zuletzt von der Frage ab, ob das Atomprogrammdie Wiederaufbereitung bestrahlter Brennelemente beinhaltet (siehe3.2), wie etwa in Frankreich, oder ob sie direkt entsorgt werden. Län-der ohne Wiederaufbereitung behandeln bestrahlte Brennelementefaktisch wie juristisch als Abfall.

Die Zeitspanne, in der der Abfall eine Bedrohung für Menschund Umwelt darstellt, hängt von der Halbwertzeit der Radionuklideim Abfall ab. Radionuklide mit einer Halbwertzeit von < 30 Jahren169

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werden normalerweise als kurzlebig angesehen. Radionuklide mitlängeren Halbwertzeiten finden sich besonders in mittel- und hoch-radioaktivem Abfall und in abgebrannten Brennelementen. DerHauptanteil dieser Abfälle kommt aus den Atomkraftwerken. Einesder Radionuklide mit besonders hoher Halbwertzeit ist Uran 235(Halbwertzeit 704 Millionen Jahre). Durch die Prozesse im Reaktorentsteht ein breites Spektrum von Radioisotopen mit sehr unter-schiedlichen Halbwertzeiten, z. B. Plutonium 239 (Halbwertzeit24.110 Jahre), Caesium (Halbwertzeit 30,2 Jahre), Kobalt 60 (Halb-wertzeit 5,3 Tage), die alle in verschiedenen Kategorien nuklearenAbfalls zu finden sind.

Die Wärmeerzeugung durch den Zerfall von Radionukliden istvor allem auf hochradioaktive Abfälle aus der Atomkraftnutzungbeschränkt. Bei der Mehrzahl der quantitativ dominierenden Radio-isotopen nimmt sie relativ schnell ab und erleichtert das Abfallmana-gement bereits nach einigen Jahrzehnten. Für die Endlagerung desAbfalls kann die fortdauernde Wärmeerzeugung jedoch langfristigeProbleme hervorrufen, die mit dem möglichen Einfluss auf dieEigenschaften des Wirtsgesteins zusammenhängen und die deshalbsorgfältig bewertet werden müssen.

Ungeachtet der Tatsache, dass die Schutzziele und Sicherheits-prinzipien für radioaktiven Abfall in den meisten Ländern, dieAtomenergie erzeugen, ähnlich sind, gibt es deutliche Unterschiedein Bezug auf die Wege, die für die verschiedenen Abfalltypengewählt werden. Die Gründe dafür beruhen u. a. auf ökonomischenErwägungen oder auf organisatorischen Erfordernissen, die sich ausdem Ausmaß des nationalen Atomenergieprogramms und der Ant-wort auf die Frage „Wiederaufbereitung – ja oder nein?“ ergeben.

International sind die wichtigsten Kriterien für die Zuordnungradioaktiver Abfälle zu bestimmten Abfallkategorien die Intensitätder Strahlung und die Halbwertzeit der dominierenden Radio-nuklide. Danach wird der Abfall unterschieden in a) schwachradio-aktiven Abfall, b) mittelradioaktiven Abfall, c) hochradioaktivenAbfall.

Hinsichtlich der Abfallbehandlung und Endlagerung werdenschwach- und mittelradioaktive Abfälle, die vor allem kurzlebigeRadionuklide (Halbwertzeit < 30 Jahre) enthalten bzw. Abfälle, diegrößere Mengen langlebiger Radionuklide (mit Halbwertzeiten > 30Jahren) enthalten, jeweils spezifischen Abfallkategorien zugeordnet.Hochradioaktive Radionuklide mit überwiegend kurzen Halbwert- 170

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zeiten sind vor allem das Resultat der Atomwaffenproduktion. DieseAbfälle spielen in den Ländern mit entsprechenden Programmeneine Rolle. In den USA wurde 1999 bei Carlsbad, New Mexico, fürdiese überwiegend militärischen Abfälle ein Endlager in einer tiefliegenden Steinsalzformation in Betrieb genommen. Abfälle aus dernuklearen Energieerzeugung enthalten normalerweise größereMengen langlebiger Radionuklide, die gewöhnlich zusammen mitlanglebigem mittelradioaktivem Abfall entsorgt werden.

Abhängig von den besonderen Eigenschaften der Abfälle und dendaraus resultierenden Sicherheitsanforderungen, werden die ver-schiedenen Abfallkategorien unterschiedlich gehandhabt. In derPraxis wird kurzlebiger schwach- und mittelradioaktiver Abfall bei-spielsweise in Frankreich und den USA bevorzugt oberirdisch inSchweden und Finnland knapp unter der Erdoberfläche in Kavernenendgelagert. Die langlebigen und hochradioaktiven Abfälle sollenjedoch in allen Ländern in tiefen geologischen Formationen entsorgtwerden.

Im Gegensatz zu dieser internationalen Praxis werden inDeutschland die radioaktiven Abfälle nach ihrer Wärmeerzeugungdifferenziert, während die Halbwertzeit der darin enthaltenen Radio-nuklide von geringer Relevanz ist. Anders als in einigen anderenLändern (etwa Frankreich), ist es in Deutschland erlaubt, Abfälle vonsehr geringer Strahlung auf konventionellen Deponien zu lagernoder sie gar ökonomisch zu verwerten, wenn die gemessene Strah-lung unterhalb des in der Strahlenschutzverordnung (STRLSCHVO2001) festgelegten Freigabekriteriums liegt. In anderen Ländernwerden radioaktive Abfälle von ähnlich niedriger Strahlungsinten-sität in oberflächennahen Endlagern, die speziell für diesen Abfall-typ entworfen wurden, deponiert.

Aktuelle SituationDie technisch-wissenschaftliche Diskussion über die Behandlungradioaktiven Abfalls ist so alt wie die Erzeugung dieses Abfalls durchmilitärischen und zivilen Gebrauch von Nuklearenergie. Schon wäh-rend der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhun-derts wurde eine breite Skala von Abfallbehandlungsoptionen erör-tert. Neben der Endlagerung, wie sie noch heute praktiziert oderwenigstens angestrebt wird, gab es dabei auch ziemlich exotischeOptionen, wie die Endlagerung im Weltall oder im antarktischen Eis.Im Vordergrund dieser Diskussion über mögliche Optionen standen171

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die hochradioaktiven und wärmeerzeugenden Abfälle (inklusivebestrahlter Brennelemente). Während der sechziger Jahre wurde fürdiese Abfälle die Endlagerung in tiefen geologischen Formationender kontinentalen Erdkruste allgemein als die beste Lösung erkanntund akzeptiert. Welche geologische Formation in den einzelnenLändern bevorzugt wurde oder wird, hängt jedoch wesentlich vonden geologischen Gegebenheiten in diesen Ländern ab.

Im Gegensatz dazu wurde die Endlagerung von schwach- undmittelradioaktiven Abfällen als weniger problematisch angesehen.Relativ früh wurde die Entsorgung solcher Abfälle im Meerund/oder – in einigen Ländern – ihre oberflächennahe Endlagerungpraktiziert. Auf Grundlage der Londoner Vereinbarung zum Schutzder Meere und ihrer späteren Änderungen wurde die Abfallentsor-gung ins Meer im Jahr 1993 verboten. Heute sind in vielen LändernEndlager für kurzlebige schwach- und mittelradioaktive Abfälle imBetrieb oder in Planung. In Deutschland hingegen sieht man auchfür diese Abfälle die Endlagerung in tiefen geologischen Formatio-nen vor. Eine entsprechende Genehmigung wurde für das frühereEisenerzbergwerk Konrad in Salzgitter im Jahr 2002 erteilt.

Endlagerung bedeutet die Konzentration des radioaktiven Abfallsin einer Anlage, die für diesen Zweck mit dem Ziel entworfen underrichtet wurde, die Abfälle langfristig von Mensch und Umwelt zuisolieren. Abhängig vom Abfalltyp und den daraus resultierendenGefährdungszeiten können die Endlager oberirdisch oder – im Nor-malfall als Bergwerk – in mehr oder weniger tiefen geologischenFormationen der Erdkruste angelegt werden.

Oberirdische Endlagerung ist allein auf kurzlebige schwach- undmittelradioaktive Abfälle beschränkt. Diese Endlager sind Konstruk-tionen, die die Isolation der Abfälle von Mensch und Natur durchtechnische Barrieren garantieren. Diese Barrieren erfordern einepermanente Überwachung und Wartung. Bei Endlagern in tiefengeologischen Formationen hingegen ist der langfristige Schutz vonMensch und Umwelt vorwiegend durch die passiven und deshalbwartungsfreien geologischen Barrieren garantiert.

Bis heute gibt es kein Endlager für langlebigen hochradioaktivenAbfall, obwohl einige Länder bereits während der sechziger undsiebziger Jahre konkrete Schritte in Richtung Endlagerung gemachthaben. Aber alle Länder haben bis heute mit erheblichen Verzöge-rungen ihrer Endlagerprogramme zu tun. Der Hauptgrund liegt inder Unterschätzung der technisch-wissenschaftlichen und der 172

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gesellschaftlichen Probleme, die mit der Verwirklichung solcherPläne zusammenhängen. Insbesondere der Widerstand innerhalbder Gesellschaft führte zu einem Aufleben der Diskussion über dieEndlagerung radioaktiver Abfälle und über neue Lagerungsverfah-ren, auch unter gesellschaftlichen Aspekten. Relativ weit fortge-schritten sind die Endlagerplanungen und auch die Verwirklichungz. B. in den USA (Yucca Mountain) und in Finnland (Olkiluoto).

Sicherheitsprinzipien und SicherheitsanforderungenInternational gelten folgende Hauptziele bei der Endlagerung vonradioaktiven Abfällen:

– Die Endlagerung muss sicherstellen, dass Mensch und Umweltangemessen gegen radioaktive und andere Gefahren geschütztsind.

– Die möglichen Auswirkungen der Endlagerung auf Mensch undUmwelt sollten das Ausmaß der heute akzeptierten Auswirkun-gen nicht überschreiten.

– Künftigen Generationen sollten keine unangemessenen Belas-tungen zugemutet werden.

– Die möglichen Auswirkungen der Endlagerung auf Mensch undUmwelt jenseits der Grenzen eines Landes dürfen diejenigennicht überschreiten, die innerhalb des Landes zugelassen werden.

In vielen Ländern, darunter allen Ländern der Europäischen Union,sind diese Anforderungen allgemein anerkannt und bilden einewichtige Basis für die Formulierung (oder die Bekräftigung schonbestehender) konkreter nationaler Anforderungen an die Endlage-rung. Das schließt radiologische Standards ein, die bei der Endlage-rung radioaktiven Abfalls erfüllt sein müssen. Auch darüber hinaus-gehende Anforderungen, zum Beispiel das Prinzip der Minimierungder Strahlenbelastung, ist in einigen Ländern Teil der Gesetzgebung(z.B. auch der deutschen Strahlenschutzgesetzgebung).

Die Standards zur Einschätzung der langfristigen Sicherheit ge-schlossener Endlager beziehen sich auf die höchste noch akzeptierteStrahlendosis für Menschen oder das damit verbundene Risiko einerKrebserkrankung. Geltende Standards verschiedener Länder fürdiese maximal zulässige Dosis liegen zwischen 0,1 und 0,3 mSv proJahr. Normalerweise wird der Sicherheitsstandard bei 10-4 bis 10-6

angesetzt, was bedeutet, dass von 10.000 bzw. einer Million Men-173

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schen nur eine Person, die ihr Leben lang dieser maximal zulässigenDosis ausgesetzt ist, an Krebs erkranken würde.

Standards können auf Endlager erst angewendet werden, wenndas in Frage kommende Lager gründlich untersucht worden ist. Diekonsequente Anwendung der Forderung, die Wirkungen der Strah-lenbelastung zu minimieren, ist erst für den endgültigen Entwurfund den Bau des Endlagers möglich. Das Prinzip der Minimierungverlangt jedoch

– jede unnötige Strahlenbelastung oder Kontamination von Men-schen und der Umwelt zu vermeiden und

– diese so niedrig wie nach dem Stand von Wissenschaft undTechnik möglich zu halten und den individuellen Fall gründlichzu prüfen – auch wenn die Dosis oder Kontamination unterhalbdes zulässigen Standards liegt.

Zusätzlich zu den radiologischen Voraussetzungen müssen für dieEndlagerung spezifische Anforderungen für den Schutz der Umge-bung in Betracht gezogen oder erfüllt werden. In Deutschland mussinsbesondere der sogenannte Besorgnisgrundsatz nach dem Was-serhaushaltsgesetz beachtet werden. Dieser Grundsatz fordert einenumfassenden Schutz des Wassers, im Fall der Endlagerung radioak-tiven Abfalls besonders des Grundwassers, gegen schädliche Konta-mination oder andere nachteilige Veränderungen seiner Eigenschaf-ten. Der Grundsatz gilt nicht nur für die radioaktiven Stoffe, sondernebenso für die begleitenden nichtradioaktiven Substanzen.

Um die konsequente Umsetzung der erwähnten radiologischenZiele zu gewährleisten, schlägt die Internationale Strahlenschutz-kommission die Optimierung des Strahlenschutzes während sämt-licher Phasen der Endlagerplanung vor (ICRP 1998). Dies schließtausdrücklich die Auswahl des Endlagers ein und verlangt die An-wendung qualifizierter Auswahlkriterien, die schrittweise angewen-det werden müssen. Außerdem wird ein funktionierendes „Mehr-barrierensystem“ gefordert. Vor diesem Hintergrund und unterBerücksichtigung auch der Erfordernisse des Grundwasserschutzeshat das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) seine (nochnicht veröffentlichten) „Grundsätze für die sichere Endlagerung“entwickelt (BfS 2004).

Der Vorschlag des deutschen Arbeitskreises AuswahlverfahrenEndlagerstandorte (AKEND) für ein neues Auswahlverfahren bei der 174

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Identifizierung von Endlagerstandorten hat diese radiologischen wienichtradiologischen Erfordernisse mitberücksichtigt. Insbesonderewird der besondere Stellenwert der geologischen Barrieren für dielangfristige Sicherheit betont, und es werden Bedingungen für dieAuswahl eines Endlagers formuliert:

– Im Fall der normalen Entwicklung des in Frage kommendenStandorts: keine Abgabe von schädlichen Substanzen durch dieisolierende Gesteinsschicht während der Isolationsperiode vonca. einer Million Jahren. Zusätzlich müssen Sicherheitsreservenaufgezeigt werden für die Isolierung schädlicher Substanzen.

– Im Fall außergewöhnlicher Entwicklungen müssen die fürMensch und Umwelt gültigen Standards erfüllt werden.

Alles in allem laufen diese Erfordernisse auf die Suche nach demrelativ „besten“ Standort hinaus – womit der Standort gemeint ist,der sich gemäß den Regeln des Standortfindungsprozesses und desStands der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse als derbeste herausgestellt hat und aller Wahrscheinlichkeit nach dieGrundanforderungen und andere sicherheitsrelevante Anforderun-gen erfüllen wird. Eine Voraussetzung zur Identifizierung des rela-tiv besten Standortes ist die vergleichende Bewertung von Stand-orten im Auswahlverfahren. Denn nur so kann man die relativbesseren von den relativ weniger guten unterscheiden.

Warum Endlager in tiefen geologischen Formationen?Zusätzlich zu den allgemeinen Erfordernissen für die Endlagerungist das besondere Ziel der Endlagerung radioaktiver Abfälle in tiefengeologischen Formationen die Isolierung dieser Abfälle von Menschund Umwelt für eine sehr lange („geologische“) Zeitspanne. Auf derganzen Welt strebt man dieses Ziel besonders für langlebige mittel-und hochradioaktive Abfälle an. Heute plant man Endlagerung inBergwerken, die ganz speziell für diesen Zweck gebaut werden.

Im Gegensatz dazu sollen kurzlebige schwach- und mittelradio-aktive Abfälle in geringer Tiefe oder sogar oberirdisch endgelagertwerden (oder werden bereits so entsorgt). Abweichend von diesemAnsatz wurde in Deutschland schon sehr früh entschieden (2. Atom-programm 1963-1967), alle Arten radioaktiven Abfalls in tiefen geo-logischen Formationen endzulagern. Hauptgründe dafür waren dieBevölkerungsdichte Deutschlands und die intensive Nutzung der175

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Umgebungsmedien Boden und Wasser (Schwibach 1967). Diese Artder Endlagerung ist in Deutschland schon in der sogenanntenVersuchseinlagerung in einem stillgelegten Salzbergwerk (Asse II)bei Wolfenbüttel (1967-1978) und beim Betrieb des Endlagers füreher kurzlebige schwach- und mittelradioaktive Abfälle in Mors-leben (1978-1998) praktiziert worden.

Es kann festgehalten werden, dass die Endlagerung in tiefen geo-logischen Formationen nach angemessener Standortsuche entschei-dende Vorteile im Vergleich mit allen anderen Lagerungsmöglich-keiten hat. Diese Vorteile sind vor allem:

– große Entfernung zwischen Abfällen und Biosphäre;– hohes und langfristiges Rückhaltevermögen der geologischen

Barrieren gegen die Radionuklidausbreitung (und anderer schäd-liche Substanzen);

– langsames Tempo der geologischer Prozesse, vor allem der Trans-port von Substanzen in die Geosphäre und daraus resultierendeVerlässlichkeit zeitbezogener Aussagen über das Funktionierendes Barrierensystems des Endlagers;

– passive Funktionsweise der Hauptbarrieren des Lagerungssys-tems (geologische Barrieren) ohne Notwendigkeit von Überwa-chungs- und Wartungsmaßnahmen.

Außerdem können die Eigenschaften der Geosphäre, die diese Vor-teile garantiert, nicht oder nur in einem geringen Ausmaß durchmenschliche Einwirkung beeinflusst werden. Deshalb hängt dielangfristige Sicherheit eines geschlossenen Endlagers nicht von derWachsamkeit und den technischen oder ökonomischen Möglichkei-ten zukünftiger Generationen ab. Diese können auf jeden Fallschwieriger eingeschätzt werden als die Entwicklung der geologi-schen Barrieren eines Endlagers (Buser 1997, Gruppe Ökologie2001, AKEND 2002). Es kommt hinzu, dass menschliches Eindrin-gen in ein versiegeltes Endlager in tiefen geologischen Formationenim Kriegsfall oder von terroristischer Seite aus höchst unwahr-scheinlich ist.

Es liegt auf der Hand, dass diese Vorteile für alle Arten von radio-aktivem Abfall gelten, dass sie aber nicht unbedingt für kurzlebigeAbfälle von allen Ländern und Institutionen in Betracht gezogenund folglich auch nicht genutzt werden. Diese Vorteile sind jedochnur wirksam, wenn der Standort des Endlagers mit dem Haupt- 176

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augenmerk auf das Thema Sicherheitsaspekte ausgesucht wurdeund die Eignung glaubwürdig durch den Nachweis von langfristigerSicherheit demonstriert wird.

Endlagerung – notwendig mit und ohne Fortsetzung der Atom-energie?Radioaktive Abfälle verschiedenen Ursprungs gibt es in allen Ländenmit Atomenergieprogrammen oder anderen Anwendungen derAtomtechnik. Diese Abfälle werden nicht verschwinden, selbst wennman die Atomenergie auslaufen lässt. Ihre sichere Handhabungbleibt unabdingbar.

Die weltweite Verzögerung in der Beseitigung besonders lang-lebiger mittel- und hochradioaktive Abfälle ist ein Indikator dafür,dass das Abfallmanagement ein technisch-wissenschaftliches undgesellschaftliches Problem zugleich ist. Dieses Problem wird beijedem Anwachsen der Abfallmenge mitwachsen. Umgekehrt wirddie langsame Beendigung der Atomenergie die nationale Aufgabeder sicheren Beseitigung der radioaktiven Abfälle erleichtern: Zumeinen sind die Abfallmengen, die entsorgt werden müssen, langfri-stig begrenzt, was die Auswahl von Standorten und die Planung vonEndlagern erleichtert. Anderseits wird die Bereitschaft der betroffe-nen Menschen, ein Endlager für diejenigen Abfälle zu akzeptieren,die unumgänglich beseitigt werden müssen, möglicherweise wach-sen. Im Gegensatz dazu wird der zeitlich unbegrenzte Betrieb vonAtomkraftwerken den Bedarf nach weiteren Endlagern und dieAkzepanzprobleme erhöhen.

Welche Probleme gibt es bei der Endlagerung?Bei der Endlagerung radioaktiven Abfalls an der Oberfläche odernahe der Oberfläche sind die Vorteile einer Endlagerung in tiefengeologischen Formationen, wie sie oben erwähnt wurden, nichtmehr wirksam (Gruppe Ökologie 2001): Die Abfälle werden direkt inder Biosphäre gelagert, und das Risiko eines solchen Endlagers,wenn man es als passives Schutzsystem betrachtet und sich selbstüberlässt, ist entschieden zu hoch. Der passive Beitrag geologischerBarrieren zum Schutz von Mensch und Umwelt ist hier signifikantgeringer als in größeren Tiefen. Deshalb sind technische Barrierenund Überwachungsmaßnahmen sowie – falls nötig – Reparaturenunerlässlich. Zusätzliche Nachteile sind, dass der Zugang zu denAbfällen möglich und die Anfälligkeit gegenüber terroristischen177

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Gefahren erhöht ist. Obwohl Endlager an oder nahe der Oberflächefür kurzlebigen schwach- und mittelradioaktiven Abfall reserviertsind, brauchen sie eine institutionalisierte Überwachung, um denSchutz von Mensch und Umwelt sicherzustellen. Verlässliche Prog-nosen über die Existenz bzw. Stabilität solcher für diesen Zweckwichtigen Institutionen und entsprechend der sie tragenden Gesell-schaften sind nur bedingt möglich. Die Endlagerung an oder naheder Oberfläche stellt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt als ökono-misch bequeme Abfallbeseitigungsmaßnahme dar, gleichzeitig ent-hält sie aber auch Risiken und eine ökonomische Bürde für künftigeGenerationen.

Obwohl die Endlagerung radioaktiver Abfälle in tiefen geologi-schen Formationen der Erdkruste von den nationalen wie interna-tionalen Institutionen, die für den radioaktiven Müll verantwortlichsind, als die sicherste langfristige Behandlung angesehen und betrie-ben wird, gibt es auch Nachteile. Außerhalb der verantwortlichen In-stitutionen werden Vorbehalte gegen diese Variante der Endlage-rung geäußert. Sie ergeben sich vor allem aus

– der Diskrepanz zwischen der langen Zeitspanne, in der die radio-aktiven Abfälle eine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellen,und der – gemessen an der Dauer des Problems – abnehmendenAussagekraft der erforderlichen Vorhersagen über das Funktio-nieren der Barrieren des Endlagers;

– der fehlenden Möglichkeit, das langfristige Verhalten des End-lagersystems nach seiner Schließung beobachten zu können;

– der fehlenden Möglichkeit, bei einer falschen Einschätzung ein-zelner Barrieren bzw. ihrem Versagen eingreifen zu können;

– der fehlenden Umkehrbarkeit der Entscheidung (Rückholbarkeitvon Abfällen) nach der Schließung des Endlagers.

Diese Probleme gibt es in der Tat; und man kann und muss ihnendurch sorgfältige Auswahl des Standorts und den gewissenhaftenNachweis der langfristigen Sicherheit unter Einbeziehung aller As-pekte begegnen. Man sollte außerdem nicht verkennen, dass Entsor-gungsoptionen, die die Möglichkeit des Eingriffs in das Endlagersys-tem und die Rückholbarkeit der Abfälle eröffnen, bezüglich lang-fristiger Sicherheit erhebliche Nachteile mit sich bringen könnten.

Bei der Endlagerung bestimmter radioaktiver Abfälle in Wirts-gesteinen mit sehr geringer Durchlässigkeit sieht man sich dem 178

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speziellen Problem gegenüber, dass durch die Erzeugung von Gas inden Abfällen die Funktionsweise der geologischen Barriere beein-trächtigt werden kann. Einerseits könnte erhöhter Gasdruck imgeschlossenen Endlager im Wirtsgestein Risse hervorrufen, ande-rerseits könnte ein Wechsel im chemischen Milieu im und um dasEndlager den Transport von Radionukliden erleichtern oder be-schleunigen. Gasproduktion in größerem Umfang ist hauptsächlichauf schwach- und mittelradioaktive Abfälle beschränkt. Nach gegen-wärtigen Schätzungen stellen die möglichen Einwirkungen kein ent-scheidendes Argument gegen die Endlagerung in tiefen geologi-schen Formationen dar, müssen aber gegebenenfalls sorgfältigbedacht werden, wenn es um den Nachweis langfristiger Sicherheitund die Planung des Endlagers geht.

Nachweis langfristiger Sicherheit; Isolationszeitraum und Dauer derGültigkeit des NachweisesAlle Wirtsgesteine und alle Standorte, die für die Endlagerung vonradioaktivem Abfall in Betracht gezogen werden, haben unterSicherheitsgesichtspunkten Vor- und Nachteile. Das erfordert aus-gedehnte methodologische Anforderungen an den Nachweis der An-gemessenheit des letztlich ausgewählten Standorts. Das trifft auchauf die Endlagerung in tiefen geologischen Formationen zu, obwohldiese sicherheitsrelevante Vorteile gegenüber allen anderen Maß-nahmen der Abfallbeseitigung aufweist, die gegenwärtig in der Dis-kussion sind. Der Nachweis der langfristigen Sicherheit für einenbestimmten Endlagerstandort wird durch die oben erwähnten Nach-teile beeinträchtigt. Sie ergeben sich besonders aus dem langen Zeit-raum, der betrachtet werden muss, und aus der Unzugänglichkeitder Abfälle in einem geschlossenen Endlager.

Aus den Halbwertzeiten der Radionuklide in den Abfällen folgt,dass im Fall der Freisetzung von Radionukliden aus dem Endlagerviele Radionuklide für lange Zeit eine Gefahr für Mensch undUmwelt darstellen. Deshalb ist die sichere Isolation des Abfalls füreine sehr lange Zeitdauer unabdingbar. Nach wissenschaftlichemMaßstab sind verlässliche Vorhersagen über das Lagerungssystem,insbesondere über seine geologischen Barrieren, nicht für diegesamte Zeitdauer möglich, in der bestimmte Abfallkategorien einerhebliches Gefahrenpotenzial haben und infolgedessen von derBiosphäre isoliert werden müssen. Das langfristige Funktionierender geologischen Barrieren hängt nicht zuletzt von künftigen geolo-179

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gischen und klimatischen Prozessen ab. Einige dieser Prozesseerschweren langfristige Vorhersagen, bilden dennoch eine wichtigeBasis für Aussagen über die langfristige Sicherheit des Endlagers.

Deshalb scheint es unangemessen, den wissenschaftlichen Nach-weis für die Isolierung der Abfälle für die gesamte Dauer der Zeit zuverlangen, in der von den Abfällen eine Gefahr für Mensch undUmwelt ausgehen kann. AKEND (2002) stellt fest, dass verlässlicheVorhersagen über das Funktionieren der wichtigen geologischenBarrieren eines Lagersystems für eine Zeitspanne in der Größenord-nung von einer Million Jahren gemacht werden können und dassder Nachweis der langfristigen Sicherheit für diese Zeitspanneerbracht werden kann. In anderen Ländern sind die Anforderungenan die Länge des Zeitraums für den Nachweis der langfristigenSicherheit zum Teil ähnlich, zum Teil entschieden geringer (10.000Jahre). Man sollte aber trotz abnehmender Vorhersagegenauigkeitim Laufe der Zeit auf die Einschätzung der geologischen Entwick-lung der über den obligatorischen Nachweiszeitraum hinausgehen-den Zeitspanne nicht verzichten.

Die erwähnten Unsicherheiten bei der Vorhersage können nochverstärkt werden durch einen Mangel an Informationen sowohl überden jeweiligen Endlagerstandort als auch über die Wechselwirkun-gen zwischen Abfällen, technischen und geotechnischen sowie geo-logischen Barrieren. Solange die Abfälle und die Barrieren der Beob-achtung zugänglich sind, können wichtige Prozesse für das Lang-zeitverhalten nicht beobachtet werden, weil das Endlagersystem sei-nen endgültigen Zustand noch nicht erreicht hat. Hat es jedoch die-sen Zustand lange nach Schließung des Endlagers erreicht, ist esnicht länger zugänglich, und mögliche Wechselwirkungen könnennicht beobachtet werden.

Unter diesem Gesichtspunkt kann man nach AKEND (2002) denSchluss ziehen, dass die wichtigsten Grundlagen für den Nachweisder langfristigen Sicherheit schon während der Auswahl des End-lagerstandorts geschaffen werden. Deshalb muss die Einschätzungdes Endlagersystems schon während des Prozesses der Standort-suche erfolgen. Andererseits muss sichergestellt werden, dass dieInformationen, die für einen verlässlichen Nachweis der langfris-tigen Sicherheit nötig sind, wirklich während dieser Standortunter-suchungen gewonnen werden und dass Vorsorge getroffen wird, umdie verbleibenden Ungewissheiten bewerten zu können.

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RückholbarkeitRückholbarkeit bedeutet die Möglichkeit, Abfall – besonders be-strahlte Brennelemente und hochradioaktiven Abfall – im Bedarfs-fall aus einem Endlager wieder zurückzuholen, und zwar ohne grö-ßeren technischen Aufwand. Die Rückholbarkeit des Abfalls ineinem Endlager und die Umkehrbarkeit von Entscheidungen bei derEndlagerung wird gegenwärtig weltweit in vielen Abfallprogrammenfür radioaktiven Abfall in Betracht gezogen, etwa in den USA, inSchweden und in Finnland. Die Argumente für die Rückholbarkeitsind hauptsächlich sicherheitsbezogener, ethischer und ökonomi-scher Natur (NEA 2001), z. B.:

– technische Sicherheitsbedenken, die nach der Einlagerung desAbfalls auftreten oder aber auch Veränderungen bei den akzep-tierten Sicherheitsstandards;

– um Ressourcen aus dem Depot wiederzugewinnen, z. B. Bestand-teile des Abfalls selbst;

– um alternative Behandlungsarten des Abfalls anzuwenden oderauch andere Lagertechniken, die sich erst in der Zukunft entwik-keln könnten;

– um auf einen Wandel in der gesellschaftlichen Akzeptanz oder inder Risikowahrnehmung reagieren zu können;

– um die Handlungsfreiheit künftiger Generationen zu gewähr-leisten.

In der internationalen Diskussionen über Rückholbarkeit ist dieEndlagerung immer noch das letztendliche Ziel. Bevor die Endlage-rung mit Rückholbarkeit erfolgen kann, müssen einige Phasen ab-solviert werden, so z.B. die schrittweisen Verfüllung von Teilen desEndlagers oder von Zugangsstollen und -schächten. Der Zugangzum Abfall wird mit jeder Phase zunehmend schwieriger, und dertechnische Aufwand für eine Rückholung erhöht sich dementspre-chend. Nach der Versiegelung ist Rückholung nur noch unter An-wendung von Bergbautechniken möglich. Es gibt für die einzelnenVorgehensweisen und Zeitstrecken innerhalb der verschiedenenPhasen keine einheitlichen Konzepte. Was den Zeitraum angeht, indem eine relativ einfache Rückholtechnik ausreichend wäre, werdenin der internationalen Diskussion einige Jahrzehnte bis wenige Jahr-hunderte genannt. Um die langfristige Sicherheit eines Endlagers zugarantieren, ist ein sorgfältig ausgesuchtes passives und deshalb181

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wartungsfreies Sicherheitssystem erforderlich. Ohne die Phase derRückholbarkeit mit erleichtertem Zugang zum Abfall wird die ange-strebte passive Sicherheit des Endlagers so schnell wie möglicherreicht. Wenn aber die Rückholbarkeit des Abfalls in Betracht gezo-gen wird, wird diese passive Sicherheitsbedingung wesentlich spätererfüllt (abhängig von den Phasen der Rückholbarkeit). Bis dahinsind aktive Sicherheitsmaßnahmen in Form von Überwachung undKontrolle notwendig, deren Durchführung schwerlich mit der nöti-gen Zuverlässigkeit garantiert werden kann. Außerdem brauchenaktive Sicherheitsmaßnahmen stabile gesellschaftliche und wirt-schaftliche Bedingungen, was für einen langen Zeitraum nicht ver-lässlich garantiert werden kann.

Die ethischen Gründe, die für die Rückholbarkeit ins Feld geführtwerden, insbesondere die Handlungsfreiheit künftiger Generatio-nen, sind nicht überzeugend. Es ist nicht akzeptabel, für die Erfül-lung eines ethischen Prinzips einzutreten, wenn das unvermeidlichzu einem Verlust an Sicherheit führt. Der Schutz gegenwärtiger undkünftiger Generationen stellt in sich selbst ein grundsätzliches ethi-sches Erfordernis dar. Dieser Schutz hat höchste Priorität, dennohne Sicherheit werden alle anderen Gesichtspunkte weitgehendbedeutungslos. Selbst wenn man künftigen Generationen die Wahlzwischen verschiedenen Optionen offen lässt, verbleibt die vorrangi-ge Verantwortlichkeit für die Lösung des Problems radioaktiven Ab-falls bei der heutigen Generation. Rückholbarkeit sollte kein Argu-ment für das endlose Hinauszögern von Entscheidungen über End-lager sein und ist auch kein Ersatz für ein gut geplantes Endlager.

Andererseits können für ein Endlager Maßnahmen getroffenwerden, die die Rückholbarkeit für einen bestimmten Zeitraum zu-lassen. Ein kürzlich vorgelegtes Konzept aus der Schweiz, das einegewisse Zeit für die Überwachung und die leichtere Rückholbarkeiteinplant, schlägt ein „geologisches Tiefenlager“ vor, das aus Test-und Pilotlager sowie Hauptlager besteht. Zudem schließt es organi-satorische und institutionelle Maßnahmen ein (EKRA 2000). DasProjekt Entsorgungsnachweis hat die Umsetzbarkeit eines solchenKonzepts (NAGRA 2002) untersucht, und der gesellschaftlicheEntscheidungsprozess in der Schweiz wird künftig auf der Basis derAnwendung dieses Konzepts erfolgen.

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Internationale Ansätze bei der Auswahl von Standorten für die End-lagerungDas Ziel der Standortsuche für Endlager ist, Standorte für die lang-fristig sichere Lagerung von Abfällen zu finden, die in den entspre-chenden Ländern produziert wurden. Um dieses Ziel zu erreichen,werden im Detail verschiedene Ansätze verfolgt. Das schlägt sichmehr oder weniger deutlich im unterschiedlichen Vorgehen bei derStandortauswahl nieder. Die Hauptgründe sind:

– unterschiedliche technische, politische und juristische Anforde-rungen;

– unterschiedliche geologische Voraussetzungen im untersuchtenGebiet (nationales Territorium);

– unterschiedliche Anforderungen an den Standort (angemessenerStandort oder der relativ beste).

In vielen Ländern wurden die Aktivitäten für die Suche nach End-lagerstandorten in den siebziger Jahren begonnen. Damals wurdedie Standortauswahl ausschließlich als technisch-wissenschaftlicheAufgabe begriffen. Die Transparenz und Nachvollziehbarkeit desEntscheidungsprozesses spielten keine oder nur eine geringe Rolle.Einige Prozesse wurden so sehr durch äußere Faktoren beeinflusst,dass nicht das festgelegte Verfahren, sondern andere Argumente fürdie Standortauswahl ausschlaggebend waren (z. B. Gorleben inDeutschland und Yucca Mountain in den USA). Bis heute hat keinesder in den siebziger Jahren begonnenen Auswahlverfahren zur Inbe-triebnahme eines Endlagers für hochradioaktiven Abfall und be-strahlte Brennelemente geführt.

Die negativen Erfahrungen mit den Verfahren bei der Standort-auswahl wie auch gesellschaftliche Entwicklungen während der ver-gangenen Jahrzehnte haben in vielen Ländern zu gestiegener öffent-licher Anteilnahme geführt. Die Auswahl des Standorts wird nichtlänger als eine rein technisch-wissenschaftliche Angelegenheit be-trachtet, sondern verlangt auch die Berücksichtigung bestimmter ge-sellschaftlicher Bedingungen und der demokratischen Legitimation.

International werden heute Transparenz und Nachvollziehbarkeitdes Verfahrens sowie Akzeptanz der Auswahlergebnisse als wichtigeVorbedingungen für eine erfolgreiche Vorgehensweise bei derStandortauswahl angesehen. Diese muss die folgenden gesellschaft-lichen und methodischen Minimalvoraussetzungen erfüllen:183

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– Offenlegung des Vorgehens und der Kriterien, bevor der entspre-chende Schritt des Verfahrens durchgeführt wird;

– schrittweises Vorgehen, klare Strukturen der Vorgehensweise mitklar definierten Arbeits- und Entscheidungsschritten sowie eineGenehmigungspraxis in mehreren Schritten;

– Anteilnahme der Öffentlichkeit und interessierter oder betroffe-ner Personen und Gruppen in einem frühen Stadium des Ge-samtprozesses (mit bindendem Charakter);

– fundierte Kriterien.

Dennoch sind die nationalen Ansätze in den einzelnen Ländern zurErfüllung dieser Anforderungen noch immer unterschiedlich, weildie Gründe für unterschiedliches Vorgehen, wie sie oben dargelegtsind, fortbestehen.

Der Mangel an öffentlicher Unterstützung bei der Standortaus-wahl, der in vielen Ländern beobachtet werden kann, und der gerin-ge Akzeptanzgrad in der Öffentlichkeit, was die Legitimität des Ver-fahrens angeht, sind möglicherweise auf die Tatsache zurückzufüh-ren, dass die Bedeutung und die Voraussetzungen einer wirklichenöffentlichen Beteiligung oft unterschätzt werden, obwohl ihre Not-wendigkeit generell nicht länger in Frage steht. Ausnahmen sind dieSchweiz und Schweden und bis zu einem gewissen Grad Finnland.

Bei der Entscheidungsfindung ist klar, dass alle bedeutendenEntscheidungen bezüglich der Standortauswahl und der langfristi-gen Handhabung radioaktiven Abfalls von einer gründlichen öffent-lichen Diskussion unter Einbeziehung eines breiten SpektrumsBeteiligter begleitet werden müssen. Die Öffentlichkeit ist nicht wil-lens, unwiderruflich technischen Entscheidungen zuzustimmen, diesie weder ausreichend versteht noch kontrollieren kann. Das Kern-stück eines schrittweisen Entscheidungsfindungskonzepts ist einPlan, in dem die Standortauswahl in Schritten oder Stadien festge-legt ist, die innerhalb der Grenzen der Praktikabilität umkehrbarsind (NEA 2004).

Als Beispiel eines modernen Standortauswahlverfahrens werdenin Tabelle 3 die Empfehlungen des deutschen Arbeitskreises Aus-wahlverfahren Endlagerstandorte wiedergegeben. Die Ecksteine desVerfahrens umfassen sowohl technisch-wissenschaftliche als auchsoziowissenschaftliche Kriterien, ein klares Auswahlverfahren infünf Schritten, die Bewertung der Fläche Deutschlands nach densel-ben Kriterien, keine Vorauswahl von Wirtsgesteinsformationen, 184

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umfassende öffentliche Teilhabe am gesamten Auswahlverfahrensowie die Förderung der regionalen Entwicklung der Standortregion,die das Dilemma zwischen nationaler Aufgabe und regionalenInteressen entschärft, so dass die Endlagerung nicht nur als Last,sondern auch als Chance angesehen wird.

Tabelle 3

Verfahrensschritte: Kriterien, Einschätzung, Vorgehen und Instru-mente Bürgerbeteiligung

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Verfahrensschritte

Schritt 1:Erkundung von Gebieten,die Minimalanforderungenerfüllen

Schritt 2:Auswahl einzelner Gebietemit besonders günstigengeologischen Bedingungen

Schritt 3:Ermittlung und Auswahlvon Standortregionen fürdie Erforschung derOberfläche (wenigstens dreiStandorte)wenn nötig, Schritt zurück

Schritt 4:Bestimmung von Stand-orten für die unteriridischeUntersuchung (wenigstenszwei Standorte)wenn nötig, Schritt zurück

Schritt 5:Entscheidung über einenStandortSchritt zurück, falls nötig

ErgebnisEndlagerstandort für dasGenehmigungsverfahren

Instrumente derBürgerbeteiligung

Für alle Schritte 1-5:– Schaffung einer Informa-tionsplattform – Ein Kontrollkomitee über-wacht die Einhaltung derVerfahrensregeln

Ab Schritt 3:– Bürgerforum als zentralesElement der Teilhabe– Eine Gruppe kompetenterExperten unterstützt dasBürgerforum– Runder Tisch mit allenBeteiligten– Beschluss und Bereit-schaft, an den Schritten 3und 4 per Abstimmungteilzunehmen – Vorbereitung regionalerEntwicklungskonzepte– Örtliche Bürgerversamm-lung(en) fassen endgültigenBeschluss– Begleitende Abstimmungin der Öffentlichkeit und inden lokalen Versammlungenam Ende von Schritt 5

Vorgehen, Kriterien,Einschätzung

– Geowissenschaftliche Aus-schlusskriterien und Mini-malanforderungen

– Geowissenschaftliche Abwägung

– Planerisch-wissenschaft-liche Ausschlusskriterien– Analyse des sozioökono-mischen Potenzials– Planerisch-wissenschaftli-che Gewichtungskriterien– Spezifikation von Pro-grammen für die Erfor-schung der Oberfläche undentsprechende Bewertungs-kriterien – Geowissenschaftliche undBergbauaspekte

– Erforschung der Ober-fläche und Bewertung– Begleitende Sicherheits-einschätzung– Bereitschaft zur Teilnah-me am unterirdischenUntersuchungsprogramm– Entwicklung von Ver-suchskriterien

– unterirdischen Untersu-chung und ihre Bewertung– Sicherheitsargumente– Vergleich der verschiede-nen erforschten Standorte

Quelle: AKEND 2002

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EntsorgungsalternativenAußer dem Konzept der Isolierung radioaktiven Abfalls in tiefengeologischen Formationen gibt es einige andere Entsorgungsalter-nativen, die in der Vergangenheit diskutiert und teilweise praktiziertwurden. Es sind dies:

– Transport ins All: Dies ist ein Vorschlag, der hauptsächlich in denUSA in den frühen Phasen der Konzeptbildung für die Beseiti-gung langlebigen radioaktiven Mülls diskutiert wurde. Diese Artder Lagerung hätte den Vorteil, dass der radioaktive Abfall fürimmer aus dem menschlichen Lebensraum entfernt wäre. Wegender damit verbundenen Kosten ist diese Alternative nur für kleineMengen Abfall praktikabel (hochradioaktiver Abfall). Außerdemgibt es ein beträchtliches Risiko bezüglich nicht kalkulierbarerKonsequenzen, v.a. wenn ein Transport ins All fehlschlagenwürde. Wenn dieser Weg der Entsorgung überhaupt Akzeptanzfinden könnte, würde er wegen seiner ausgefeilten Technologieauf wenige Länder begrenzt bleiben.

– Entsorgung im antarktischen Eis : Ein anderes Konzept der Abfall-isolation ist die Entsorgung im antarktischen Eis. In großen Tei-len der Antarktis ist der Eisschild 15 Millionen Jahre alt und bis zu4 km dick. Ohne Zweifel wird sich diese Situation in absehbarerZeit nicht ändern. Es gibt jedoch wichtige Probleme zu lösen, diedie geophysischen und geochemischen Eigenschaften derEismassen und ihren Einfluss auf das globale Klima betreffen.Ebenso wären Veränderungen im internationalen Recht undzusätzliche politische Vereinbarungen erforderlich. Kein Land aufder Welt verfolgt zur Zeit ein solches Konzept.

– Deponierung des Abfalls im Meer : Die Deponierung von schwach-und mittelradioaktivem Abfall im Meer findet seit 1983 aufGrundlage eines freiwilligen Moratoriums nicht mehr statt undwurde 1993 von den Vertragsparteien der Londoner Übereinkunftverboten. Das Konzept zielte auf die Lagerung kurzlebigen Abfallsin der Tiefsee, wo ein Austausch zwischen den Wasserschichten– mit den entsprechenden Konsequenzen für eine möglicheRadionuklidausbreitung – nur begrenzt stattfindet. Die Versen-kung von hochradioaktivem Abfall im Meer bei langfristiger An-wendung des Verdünnungsprinzips ist bis heute von keinemLand ernsthaft in Erwägung gezogen worden.

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– Lagerung unter dem Meeresboden: Anfang der achtziger Jahreuntersuchten einige Mitgliedstaaten der OECD/NEA die Lagerunghochradioaktiven Abfalls auf dem Meeresboden. Die Tiefsee-gründe der Ozeane weisen auf großen Flächen hervorragendeEigenschaften auf, und dicke Lagen von Sedimenten haben einhohes Rückhaltepotenzial. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfallsist relativ gering. Es gibt jedoch keine erprobten Technologien fürdie Eröffnung eines solchen Endlagers zur Verfügung. Eine sol-che Option würde einen Zusatz zur internationalen LondonerKonvention erfordern. Auf der ganzen Welt wird diese Optionnicht nachdrücklich erwogen.

– Lagerung nahe der Erdoberfläche: Die oberflächennahe Lagerungvon schwach- und mittelradioaktivem Abfall ist dem heutigenStand von Wissenschaft und Technik entsprechend. Viele Ländersind entweder dabei, Anlagen für diese Lagerung zu planen undzu bauen oder besitzen Anlagen, die schon in Betrieb sind, z. B.Europa, USA, Japan, Südafrika. Hier wird die Isolation des Abfallsfür die erforderliche, relativ kurze Zeitspanne (meist weniger als1000 Jahre) durch Auswahl eines geeigneten Untergrundes unddie Konstruktion technischer und geotechnischer Barrieren gesi-chert. Außerdem werden die Anlagen überwacht. Nach dem weit-gehenden Zerfall der Radionuklide sollen solche Endlager in denStatus einer konventionellen Deponie überführt werden. Wegender langen Halbwertszeiten ist dieses Konzept für hochradioakti-ven Abfall und bestrahlte Brennelemente nicht anwendbar.

Alternativen zur LagerungDie Frage, ob es Alternativen zur Lagerung in tiefen geologischenFormationen gibt, wird vielfach diskutiert. Ethisch fundierte Prinzi-pien, wie etwa der Schutz der natürlichen Ressourcen, aber auch derWunsch, künftigen Generationen verschiedene Handlungsmöglich-keiten offenzulassen, spielen unter diesem Gesichtspunkt eine wich-tige Rolle. Vor diesem Hintergrund sollen die international disku-tierten Alternativen eingeschätzt werden. Diese Alternativen sind:Abtrennung und Transmutation (Partitioning and Transmutation –P&T) sowie Langzeitzwischenlagerung.

Abtrennung und Transmutation (P&T)Abtrennung und Transmutation bedeutet die Umwandlung lang-lebiger und hochgradig radiotoxischer Nuklide in weniger giftige187

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Radionuklide, die so kurzlebig wie möglich sind. Die mit der Stand-ortsuche für Endlager verbundenen Schwierigkeiten, vor allem dieerforderlichen extrem langen Isolationszeiten bei der Endlagerung,haben einige Leute dazu gebracht, die Transmutation langlebigerRadionuklide in kurzlebige als mögliche Lösung für das Problem derEntsorgung radioaktiven Mülls anzusehen. Der Theorie entspre-chend müßte P&T das Problem der langfristigen Isolierung vonAbfällen bei der Endlagerung in das weit weniger schwierige einerLagerung für einige Jahrzehnte oder wenige hundert Jahre verwan-deln.

Für ein P&T-System braucht man zunächst eine Wiederaufbe-reitungsanlage, um die für die Umwandlung vorgesehenen Radio-nuklide anzutrennen; dazu werden bestimmte langlebige Radio-nuklide von den anderen abgetrennt. Das ermöglicht im Anschlussdaran die Umwandlung langlebiger Radionuklide in kurzlebige,indem sie in einem Reaktor bestrahlt werden, und zwar in einem„kritischen Reaktor“, der die Umwandlung eigenständig vornimmtoder in einem „unterkritischen Reaktor“, der eine Neutronenquellevon außen benötigt, um die Kettenreaktion aufrechtzuerhalten.

Selbst die ausgefeiltesten P&T-Techniken, die zu großen Teilen inder Theorie bestehen, lassen beträchtliche Mengen langlebiger Ra-dionuklide übrig, die entsorgt werden müssen; zudem erzeugen sieneue Mengen Abfall, der behandelt und entsorgt werden muss. P&Tschafft also die Notwendigkeit eines Endlagers für radioaktivenAbfall nicht aus der Welt. Kein P&T-System ist in der Lage, alle inFrage kommenden Radionuklide tatsächlich umzuwandeln. Alleinaus praktischen Gründen ist das nicht möglich. Die Umwandlungvon Tc-99 und I-129 ist zum Beispiel nicht hundertprozentig mach-bar, selbst bei mehrfachem Durchlauf durch den Reaktor nicht.Schließlich entstehen bei der Abtrennung der Aktiniden neue lang-lebige Spaltprodukte, und außerdem arbeitet die Aktinidenabtren-nung nicht hundertprozentig effektiv. Das bedeutet, dass es grund-sätzliche Grenzen für die erreichbare Reduktion langlebiger Radio-aktivität gibt, selbst bei einem ausgefeilten, sehr teuren und funktio-nierenden P&T-System. Insgesamt ist es nötig, chemische und nu-kleare Anlagen zu betreiben, deren interne Risiken auf jeden Fallhöher sind als das Risiko, das ein Endlager langfristig darstellt.

Der wirtschaftlich einzige Weg, um eine solche Form der Abfall-behandlung zu praktizieren, wäre der Aufbau einer neuen Brancheder Atomindustrie, die sich allein mit der Abtrennung und Trans- 188

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mutation von Radionukliden befassen würde. Die Kosten des Um-wandlungssystems wären unerschwinglich hoch – selbst im Ver-gleich zu den Milliarden, die ein Endlager einschließlich vorgeschal-teter Behandlungsschritte kostet.

Schließlich würde die Abspaltung von Radionukliden, die für dieTransmutation notwendig ist, das Risiko des Zugangs zu spaltbaremMaterial erhöhen. Alle Abtrennungsprozesse, auch die, die als „pro-liferationsresistent“ gelten, bringen ein erhöhtes Proliferationsrisikomit sich (Zerriffi/Makhijani 2000).

Aber Umwandlung wird nicht nur im Kontext des Abfallmanage-ments für die gegenwärtige Generation von Atomreaktoren erwo-gen. Besonders in Frankreich und Japan gehen die teuren Pläne fürP&T von einer unbegrenzten Fortsetzung der Nutzung von Atom-kraft aus, wobei die Umwandlung Teil eines neuen nuklearenZyklus werden soll.

Die Schlussfolgerung der französischen „Commission Nationaled’Evaluation“ in Bezug auf die Transmutation ist, dass es sich dabeium die Hoffnung auf Maschinen handelt, die es heute noch garnicht gibt, ob sie nun zu den Generation-IV-Reaktor-Systemen gehö-ren oder dem durch Beschleuniger unterkritisch betriebenen Systemangehören (CNE 2005). Auf jeden Fall müsste die verbleibendeMenge an Radionukliden als langlebiger radioaktiver Müll ebenfallsentsorgt werden. Aus diesen Gründen stellen Abtrennung undTransmutation keine wirkliche Alternative zur geologischenEndlagerung dar.

Langfristige ZwischenlagerungWas die langfristige Zwischenlagerung radioaktiven Abfalls angeht(z. B. in den Niederlanden), muß die Sicherheit durch eine sehrlangfristige soziale Kontrolle garantiert werden. Das setzt den Fort-bestand der heutigen wissenschaftlichen und ökonomischen Mög-lichkeiten voraus sowie die Fähigkeit und Bereitschaft aller Mitglie-der der Gesellschaft, die Kontrolle und die notwendigen Maßnah-men durchzuführen. Für die Strategie der langfristigen Zwischen-lagerung gibt es in der Tat einige technische und ethische Argu-mente. Das Konzept stellt einen Ansatz dar, in der eine Generationder nächsten eine Welt mit „gleichen Möglichkeiten“ übergibt, wasauch für die jeweils kommenden Generationen gelten würde. Aufdiese Weise würden die Optionen offengehalten. Nach diesem Ge-danken der „fortlaufenden Gegenwart“ („rolling present“) würde die189

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jetzige Generation gegenüber der nächsten die Verantwortung tra-gen, dieser die Fähigkeiten, Ressourcen und Möglichkeiten weiter-zugeben, mit dem Problem umzugehen, das auch die gegenwärtigeGeneration beschäftigt. Wenn jedoch die gegenwärtige Generationden Bau eines Endlagers hinauszögert, weil sie Fort-schritte in derTechnologie erwartet oder weil die Zwischenlagerung billiger ist,sollte sie nicht erwarten, dass spätere Generationen eine andere Ent-scheidung treffen. Ein solcher Ansatz würde die Verantwortung fürdas reale Handeln immer den nächsten Generationen zuschiebenund könnte aus diesem Grund auch als unmoralisch angesehenwerden.

Ein bedeutsames Defizit der Strategie der langfristigen Zwischen-lagerung hängt mit der Annahme der Stabilität künftiger Gesell-schaften und ihrer fortdauernden Fähigkeit zusammen, die nötigeninstitutionellen Sicherheitsmaßnahmen durchzuführen. Außerdemgibt es eine natürliche Tendenz der Gesellschaft, sich an die Existenzund Nähe von Zwischenlagern zu gewöhnen und die damit verbun-denen Risiken zunehmend zu ignorieren. Solche Risiken würdensogar mit der Zeit bei fehlender angemessener Überwachung undWartung der Zwischenlager steigen und in Zukunft zu möglichenGesundheits- und Umweltschäden führen. Es gibt viele Beispielebedrohlicher Umweltsituationen, die sich als Erbe der Vergangen-heit darstellen und uns zeigen, dass die Folgen einer Strategie desAbwartens nicht unterschätzt werden sollten (NEA 1995).

Der Wunsch, künftigen Generationen verschiedene Handlungs-möglichkeiten offenzulassen, setzt auch die Fortdauer gegenwärti-ger wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Möglichkeiten undFähigkeiten voraus. Sollten gesellschaftliche Unruhen auftreten,Kriege oder andere Ereignisse, die negative Folgen für die wirtschaft-lichen und wissenschaftlichen Kapazitäten mit sich bringen, wirddie Tatsache, dass bestimmte Optionen offengehalten wurden,genau den gegenteiligen Effekt haben. Als Ergebnis davon wärenkünftige Generationen nicht länger in der Lage, den Abfall zu war-ten, so dass die Sicherheit gefährdet und die Handlungsfreiheit ein-geschränkt wäre. Zudem würde durch das Verschieben der endgül-tigen Entscheidung auf künftige Generationen das Verursacher-prinzip verletzt werden.

Das entscheidende Argument aber ist, dass Prognosen für dielangfristige gesellschaftliche Entwicklung entschieden größere Un-sicherheiten in sich tragen als Prognosen für die funktionale Wirk- 190

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samkeit geologischer Barrieren, die als passive Systeme in versiegel-ten Endlagern wirken. Aus diesen Gründen bietet sich für die lang-fristige sichere Lagerung radioaktiver Abfälle keine andere realis-tische Lösung an als die Endlagerung in tiefen geologischen Forma-tionen. Ganz grundsätzlich besteht der Vorteil darin, dass bestimm-te Gesteinsformationen nur eine sehr niedrige Durchlässigkeit fürFlüssigkeiten aufweisen oder sogar aufgrund ihrer physikalischenund chemischen Eigenschaften im technischen Sinn dicht sind.Zum Teil haben sich ihre Eigenschaften über geologische Zeiträumenicht verändert, so dass sie gefährliche Substanzen für Zeiträume inder Größenordnung von mehr als einer Million Jahren von der Bio-sphäre isolieren können. Die Voraussetzung ist jedoch die Ermitt-lung geeigneter Gesteinszonen, etwa mittels eines kriterienfundier-ten Verfahrens zur Standortfindung.

Abfallentsorgung für die neue Reaktorgeneration (Generation IV)Was die Reaktorgeneration IV angeht, verspricht die Atomkraftlobbyerneut einen geschlossenen „Brennstoffkreislauf“, jedoch nicht nurfür Uran und Plutonium, sondern für alle Transurane. Auf dieseWeise soll die Isolationsnotwendigkeit für die Endlagerung auf etwa1000 Jahre reduziert werden. Für diesen neuen Traum sind zweiElemente unerlässlich:

– sehr effektive Abtrennung der Nuklide aus bestrahlten Brenn-elementen;

– die Umwandlung der abgetrennten Transurane und andererNuklide in Reaktoren.

Deshalb soll ein sogenannter symbiotischer Brennstoffkreislauf mitSchnelle-Neutronen-Reaktoren und neuen Typen von thermischenReaktoren geschaffen werden.

Es hat den Anschein, als sollte das ein ebensolcher Traum bleibenwie der „Brennstoffkreislauf“, der in den sechziger Jahren des ver-gangenen Jahrhunderts geplant wurde. Ein gigantischer Park vonWiederaufbereitungsanlagen für die Abtrennung müsste entwickeltund gebaut werden. Alle Probleme mit gasförmigen und flüssigenAbgaben von Radionukliden, mit der Behandlung radioaktivenund/oder chemotoxischen Abfalls, mit Betriebssicherheit und mög-licherweise schweren Unglücksfällen und auch mit äußerer Sicher-heit und Proliferation sind unermesslich größer als bei der gegen-191

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wärtigen Wiederaufbereitung. Die Entwicklung schneller Reaktorenist bis heute an technischen Problemen gescheitert. Es ist keinGrund sichtbar, warum das in Zukunft besser sein sollte. Für die Er-forschung und Entwicklung der Abtrennungs- und Umwandlungs-projekte wären viele Milliarden Euro erforderlich. Weil nicht beweis-bar ist, dass alle langlebigen Nuklide abgetrennt und umgewandeltwerden können, bleibt ein großes Fragezeichen, ob die Anforderun-gen an den Isolationszeitraum für die Endlagerung auf die ange-strebte Zeit verkürzt werden könnten.

Das führt zu dem Schluss, dass es aus Gründen der Technik, derSicherheit, der Weiterverbreitung von Kernbrennstoffen und derfinanziellen Mittel nicht wahrscheinlich ist, dass der „symbiotischeBrennstoffkreislauf“ jemals Wirklichkeit werden wird.

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Literatur

Quellen

AKEND (Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte) (2002): SiteSelection Procedure for Repository Sites – Recommendations of theAkEnd, Final Report, Dezember 2002.

BFS (Bundesamt für Strahlenschutz) (2004): Grundsätze für die sichereEndlagerung. Bundesamt für Strahlenschutz, Entwurf Nov. 2004.

BFS (Bundesamt für Strahlenschutz) (2005): Dezentrale Zwischenlagerung –Bausteine zur Entsorgung radioaktiver Abfälle. Bundesamt für Strahlen-schutz, Salzgitter.

Bunn, M. u.a. (2003): The Economics of Reprocessing vs. Direct Disposal ofSpent Nuclear Fuel. DE-FG26-99FT4028, Cambridge, Massachusetts,Dezember 2003.

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KAPITEL 4

ATOMENERGIE UND PROLIFERATION

Von Otfried Nassauer

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Atomkraftwerk Rovno (ukrainisch Rivne) in der Ukraine. Hier wird mit europäischenFördermitteln ein 2. Reaktorblock gebaut (K2R4). Links der neue Kühlturm.© Thomas Einberger/argum/Greenpeace

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1 EinleitungJeder zivile Atomenergiekreislauf und einige seiner Elemente ganzbesonders konfrontieren die Welt mit bestimmten Sicherheitsrisi-ken. Atomtechnologie, das entsprechende Wissen und nuklearesMaterial können weitergegeben werden. Nuklearexperten könnenreisen oder auswandern. Das ist seit Jahrzehnten bekannt, und dieGeschichte liefert genug Beispiele. Allein die Existenz einer Vielzahlbesonderer Vorsichtsmaßnahmen wie Non-Proliferationspolitik,besondere Exportkontrollen, Durchleuchtung von Personen undVerlässlichkeitstests für Mitarbeiter sind ein zusätzlicher Beweisdafür, dass die Gefahren der Proliferation real sind.

Während des Kalten Krieges richtete sich die Sorge wegen Pro-liferation vor allem auf Staaten, die an Material, Technologie oderWissen für Nuklearwaffen herankommen wollten. In den sechzigerund den frühen siebziger Jahren gehörten Deutschland, Indien,Israel, Japan und Schweden zu den Ländern, die unter Beobachtungstanden. Mitte der siebziger und Anfang der achtziger Jahre zähltenArgentinien, Brasilien, Ägypten, Indien, Iran, Irak, Pakistan, Süd-korea, Taiwan und Südafrika zu den Ländern, die Grund zur Besorg-nis gaben. Seit den neunziger Jahren stehen der Irak, Iran, Pakistanund Nordkorea ganz oben auf der Liste. Beinahe alle Nichtatom-mächte, die nukleare Forschung für kurz- oder langfristige Energie-programme betreiben oder damit anfangen, sind in Bezug auf ihrenuklearen Absichten durchleuchtet worden.

Dennoch blieb bis zum Ende des Kalten Krieges die Zahl der Län-der, die tatsächlich über Atomwaffen verfügten, bemerkenswertklein: Neben den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrateshaben nur Israel, Indien und Südafrika die Bombe gebaut. Non-Pro-liferationsmaßnahmen wie etwa der nukleare Non-ProliferationTreaty (NPT), nukleare Schutzmaßnahmen durch die InternationaleAtomenergiebehörde (IAEA) und multilaterale wie nationale Tech-nologie- und Exportkontrollen in Kombination mit der Selbst-beschränkung der Nichtnuklearländer sowie Sicherheitsgarantiendurch Atommächte und/oder diplomatische Zwangsmaßnahmenhaben dazu beigetragen, die Zahl überschaubar zu halten.

Darüber hinaus hat Südafrika nach dem Ende der Apartheid seinnukleares Arsenal vernichtet. Weißrussland, Kasachstan und dieUkraine haben eingewilligt, ihre von der sich auflösenden Sowjet-union geerbten Atomwaffen aufzugeben. Für einen kurzen histo-rischen Moment, Anfang und Mitte der neunziger Jahre, gab es199

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sogar eine gewisse Hoffnung, dass nukleare Abrüstung und nukle-are Non-Proliferation insgesamt die Welt von der Bedrohung durchatomare Vernichtung befreien würde.

Heute sieht die Situation anders aus. Proliferation steht erneut ander Spitze der Gefahrenliste für die internationale Sicherheit. EinigeFaktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Die Atomstaatenhaben ihre nuklearen Lager nicht so schnell reduziert, wie es vieleatomwaffenfreie Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges erwartethatten. Einige Atommächte sprachen wiederholt von der Notwendig-keit atomarer Modernisierung. Die Auflösung der Sowjetunion undRusslands Schwäche im Anschluss daran riefen ernsthafte Besorg-nis über die Fähigkeit der Nachfolgestaaten hervor, ihre Atomwaf-fen, das nukleare Material, die Technologie und das Wissen zusichern. Nach dem Golfkrieg 1991 deckten internationale Inspekto-ren ein geheimes irakisches Nuklearwaffenprogramm auf, das bisdahin nicht bekannt war und das trotz aller Non-Proliferationsmaß-nahmen existierte. 1998 überraschten sowohl Indien als auch Pakis-tan die Welt mit Atomwaffentests. Pakistan musste mit auf die Listeder Staaten gesetzt werden, die über Atomwaffen verfügen. Schließ-lich wurde Nordkorea, nach einer mehr als zehn Jahre schwelendenKrise, der erste nichtatomare Staat, der den NPT verließ und erklärte,er verfüge über Atomwaffen.

Seit dem 11. September 2001 ist die öffentliche Aufmerksamkeitfür die Risiken der Proliferation schnell gewachsen. Eine ganz neueGruppe von Akteuren und Nutznießern der Proliferation musstedem Gesamtbild hinzugefügt werden: transnationale nichtstaatlicheAkteure wie Terroristen, Angehörige des organisierten Verbrechens,religiöse Extremisten und transnationale Gesellschaften. Währendmanche Fachleute diese Akteure schon seit vielen Jahren im Visierhatten, machten sich Politiker und die breitere Öffentlichkeit erst imNachklang der Terrorattacken von New York und Washington Ge-danken über das Thema. Was wäre, wenn Terroristen bei künftigenTerrorattakken eine Atombombe oder eine schmutzige Bombe ausradioaktivem Material und herkömmlichen Sprengstoffen einsetzenwürden?

Tatsächlich war ein Teil dieser neuen Aufmerksamkeit auf Poli-tiker, Think Tanks und Industrien in den Vereinigten Staaten undanderswo zurückzuführen, die schnell versuchten, die Bedrohungdurch den Terrorismus – speziell den Terrorismus durch Massen-vernichtungswaffen – zu nutzen, um die eigenen Produkte, Dienst- 200

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leistungen und Interessen besser verkaufen und durchsetzen zukönnen. Sie hofften auf einen erheblichen Zufluss von Steuergel-dern in ihre jeweiligen Budgets oder ihre politischen Einflussbe-reiche. Aber ein übertriebener und interessengesteuerter Hype kannnicht als Beleg dafür dienen, dass das Problem an sich nur eine„Seifenblase“ ist. Transnationale nichtstaatliche Akteure wie Terro-risten könnten in der Tat versuchen, Zugang zu nuklearem Material,zu Technologie und Wissen zu erlangen. Falls diese Gruppen tat-sächlich planten, schmutzige, primitive oder sogar hochwertigeNuklearsprengstoffkörper zu bauen, schafft allein die Möglichkeit,dass sie Erfolg haben könnten, ein Problem, das ernst genug ist, umpräventive Maßnahmen zu ergreifen. Heute lautet die „Eine-Mil-liarde-Dollar-Frage“, bis zu welchem Ausmaß dieses allgemeineRisiko bereits eine konkrete oder gar akute Bedrohung geworden ist.Darauf kann jedoch niemand eine wirklich verlässliche Antwortgeben.

Da die Proliferation an die Spitze der Agenda zur internationalenSicherheit zurückgekehrt ist, gewinnen auch die Proliferationsrisi-ken, die aus allen möglichen Arten von Nuklearprogrammen er-wachsen, wieder zusätzliche Aufmerksamkeit. Die gegenwärtigeDiskussion über das iranische Nuklearprogramm ist ein gutes Bei-spiel. Man misstraut dem iranischen Programm nicht nur, weil IranNukleartechnologie geheim eingeführt und einige seiner Verpflich-tungen als nicht-nukleares Mitglied des NPT bezüglich der Sicher-heitsregeln der IAEA verletzt hat, sondern auch aufgrund der Erfah-rungen, die mit dem Irak und Nordkorea gemacht wurden. Das ira-kische Beispiel hatte deutlich gemacht, dass ein Land ein militäri-sches Atomprogramm vorantreiben und vor den Kontrollen durchdie IAEA verbergen kann. Auch Nordkorea könnte Nuklearwaffenauf dem Weg eines „zivilen“ Nuklearprogramms erhalten haben,trotz der Maßnahmen zur Non-Proliferation. Obwohl Nordkoreasich massivem internationalen Verdacht wie auch Sanktionen aus-gesetzt sah, war das Land so erfolgreich, dass es an die Entwicklungvon Atomwaffen nah genug herankam und den Rückzug aus demNPT riskieren konnte. Heute sind viele Länder darauf bedacht, Irandaran zu hindern, eine Art zweites Nordkorea zu werden. Selbstwenn das iranische Nuklearprogramm und die Absichten des Lan-des rein ziviler Natur wären, wie Teheran behauptet, würde manIran misstrauen. „Nach Nordkorea“ werden alle zivilen Nuklearpro-gramme, die aus mehr bestehen als Leichtwasser- und Leichtwasser-201

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forschungsreaktoren, vermutlich mit sehr viel größerer Skepsisbetrachtet als vorher. Iran ist nur das erste Land, das mit diesem sichneu entwickelnden Non-Proliferationsklima konfrontiert wird.Andere werden wohl folgen.

Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die Prolifera-tionsrisiken, die mit der zivilen Nutzung der Atomenergie verbun-den sind. Es untersucht die wichtigsten Elemente des Energiezirkelsund ihres Potentials, eine Rolle in der Proliferation zu spielen. Eswirft einen Blick auf die staatlichen wie nichtstaatlichen Akteure undihre Fähigkeit, die Proliferationsrisiken ziviler nuklearer Einrichtun-gen zu nutzen, um Zugang zu nuklearem Material, nuklearer Tech-nologie und nuklearem Wissen zu bekommen. Die wichtigsten exi-stierenden und geplanten Non-Proliferationsmaßnahmen werdenkurz vorgestellt. Schließlich soll ein Ausblick in die Zukunft gewagtwerden. Was sind die Aussichten für die zivile Nutzung der Atom-energie und welche Implikationen für künftige Proliferationsrisikenlassen sich vorhersagen?

2 Zivile Atomanlagen – ein kurzer ÜberblickNach Angaben der IAEA betreiben Ende 2005 30 Länder 443 kom-merzielle Atomkraftanlagen.1 Sie stellen weniger als 5 Prozent desgesamten Weltenergieverbrauchs zur Verfügung, aber etwa 16 Pro-zent der genutzten Elektrizität in der Welt. Die große Mehrheit allerkommerziellen Atomreaktoren wird von Ländern in der industriali-sierten Welt betrieben. Die Vereinigten Staaten betreiben 104 Reak-toren, Frankreich 59, Japan 55, Russland 31 und Großbritannien 23.Deutschland betreibt 18 Reaktoren, Kanada 17 und die Ukraine 15.Eine wachsende Zahl von Atomkraftanlagen wird durch sich ent-wickelnde und sich industrialisierende Länder betrieben. Südkoreahat 20 Atomkraftanlagen, Indien 15, China 9, Argentinien, Mexiko,Pakistan und Südafrika betreiben je 2 Anlagen. Iran hat angekün-digt, 2 Reaktoren bauen zu wollen. Die Mehrzahl der Reaktoren sindDruckwasserreaktoren (214), Schwerwasserreaktoren (40), Siedewas-serreaktoren (89) und russische WWERs (53). Die Mehrheit derAtomkraftanlagen nutzt niedrig angereichertes Uran (Low Enriched

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1 In diesem Kapitel werden Zahlen der IAEA benutzt. Sie sind in verschie-denen Publikationen der IAEA enthalten und in Online-Datenbanken, dienicht vollständig konsistent sind. Diese Datenbanken können unter denLinks eingesehen werden, die man unter http://www.iaea.org/programmes/a2/index.html erreicht.

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Uranium/LEU), das 2 bis 5 Prozent U-235 als Antriebskraft enthält.Einige Anlagen, wie die graphitwassermoderierten oder die Schwer-wasserreaktoren, nutzen natürliches Uran. Bis heute sind nur sehrwenige davon Schnelle Brüter.

Die meisten Länder, die Nuklearanlagen betreiben, arbeiten nichtmit einem geschlossenen oder einem gänzlich offenen Brennstoff-kreislauf.2 Einige jedoch arbeiten so, insbesondere Länder, die einAtomwaffenprogramm haben (oder hatten) oder aber die Fähigkeitoder die Absicht, ein solches zu entwickeln.

Das Uran, das in diesen Reaktoren als Brennstoff genutzt wird,kommt hauptsächlich aus zwei Quellen. Etwas mehr als 50 Prozentstammt aus Uranminen, die es gegenwärtig in 19 Ländern gibt unddie zwischen 40.000 und 50.000 Tonnen natürliches Uran pro Jahrfördern. Die größten Lieferländer sind Kanada und Australien, diezusammen mehr als 50 Prozent des neu geförderten Urans liefern.Weitere große Lieferanten sind Kasachstan, Niger, Russland,Namibia und Usbekistan. Iran ist seit kurzem das jüngste Land, dasUran fördert. 2003 kamen 46 Prozent der weltweiten Uranversor-gung für zivile Nuklearreaktoren aus sekundären Quellen wie derWiederanreicherung genutzten Urans, der Wiederaufbereitung vonBrennstoff und der Herabstufung („downgrading“) hoch angerei-cherten Urans (Highly Enriched Uranium/HEU). Man weiß nicht,ob ein so hoher Anteil sekundärer Bezugsquellen lange aufrechter-halten werden kann. Die IAEA erwartet, dass der Bedarf an neuemUran oder alternativen Brennstoffkreisläufen nach 2015 ansteigenwird. Die OECD, die einen Anstieg des Bedarfs für neu gefördertesUran ab 2020 erwartet, listet insgesamt 43 Länder auf, die über ver-wertbare Uranressourcen verfügen. In einer ganzen Reihe zusätz-licher Länder werden Untersuchungen über die Möglichkeiten desUranabbaus durchgeführt.

Die Anreicherung von Uran gelingt durch verschiedene Techno-logien, darunter gasförmige Diffusion, Gaszentrifugen, elektromag-netische Separation von Isotopen und Düsenstutzen oder aerodyna-

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2 Nach den Kriterien dieses Papiers ist ein geschlossener Brennstoffkreis-lauf ein Zyklus, in dem nuklearer Treibstoff aus natürlichem Uran hergestelltwerden kann, der in einen Reaktor eingespeist, wiederaufbereitet und wiederin Brennstoff verwandelt wird. Ein offener Brennstoffkreislauf wird hier alsKreislauf verstanden, der einmal durchläuft. Der gebrauchte nukleare Brenn-stoff wird nicht wiederaufbereitet, sondern gelagert.

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mische Separation.3 Die fünf traditionellen Atommächte betreibenAnreicherungsanlagen für kommerzielle Zwecke und haben solcheAnlagen auch für militärische Zwecke betrieben.4 Das letztere trifftauch auf Pakistan zu.5 Argentinien, Deutschland, die Niederlande,Japan und Südafrika betreiben kommerzielle Anreicherungsanla-gen. Laborforschung sowie Versuchs- oder kleinere Anlagen für denBedarfsfall gibt es in einer Reihe anderer Staaten wie Australien,Brasilien, Südkorea, und – erst seit kurzem und offiziell bestritten –in Iran. Nordkorea steht im Verdacht, ein militärisches Programmder Anreicherung zu haben.6

Wenn Brennstoff einmal in Reaktoren verarbeitet wurde, kann erin kommerziell betriebenen Anlagen in Großbritannien, Frankreich,Russland und bald in einer großen Anlage in Japan wiederaufberei-tet werden.7 Japan wird bald der erste atomwaffenfreie Staat sein, dereine kommerzielle Wiederaufbereitungsanlage betreiben wird.Militärische Wiederaufbereitungsanlagen, die für NuklearwaffenPlutonium abspalten, gibt es in anderen Ländern, wie etwa in denAtomwaffenstaaten Israel, Pakistan und Nordkorea. Einige Länder,die zivile Atomkraftanlagen betreiben, Deutschland etwa und dieNiederlande, schicken ihre verbrauchten Brennstäbe zur Wiederauf-bereitung in kommerzielle Anlagen außerhalb ihrer Landesgrenzen.Das Reaktorplutonium, das dort abgesondert wird, wird entwederzurückgeschickt oder (anderswo) umgewandelt in „mixed oxide fuel“(MOX). Dieser Brennstoff kann ebenfalls gelagert werden.

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3 Es sind noch einige andere Technologien entwickelt worden, wie Isoto-penseparation durch Laser, die jedoch nicht kommerziell eingesetzt wurden.4 China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die Vereinigten Staatenbehaupten öffentlich, nicht länger Uran für militärische Zwecke anzurei-chern.5 Indien und Israel haben Versuchsprogramme zur Anreicherung aufge-legt; ihre Nuklearwaffen sind jedoch auf Plutoniumbasis gebaut.6 Angaben zu Urananreicherungsanlagen und zu ihrem Status sind schwerzu finden und zu harmonisieren. Für den Autor ist die beste zugänglicheDatensammlung: Makhijani und Smith 2004. Da Anreicherungsanlagen fürAtomwaffenprogramme eine gewisse Bedeutung haben, könnten zusätzlichgeheime Anlagen existieren.7 Japans neue Wiederaufbereitungsanlage in Rokasho-mura soll im Juli2006 in Betrieb gehen. Sie wird Kapazitäten für die Wiederaufbereitung von800 Tonnen Brennstoff jährlich haben. Um dem Risiko der Proliferation ent-gegenzuwirken, wird das separierte Plutonium in derselben Anlage zu MOXumgewandelt.

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Abgetrenntes Reaktorplutonium wird von einer Reihe entwickel-ter Länder entweder auf eigenem Staatsgebiet und/oder auf demanderer Länder gelagert, die für sie Brennstoff wiederaufbereiten.Die Lager in nicht-nuklearen Ländern unterliegen Sicherheitsmaß-nahmen, wie auch die Anlagen für die Produktion von MOX. DieLagerung in Wiederaufbereitungsanlagen in Nuklearstaaten fällt nurdann unter Sicherheitsmaßnahmen, wenn das Land diesen Maß-nahmen ausdrücklich zustimmt. Die meisten Entwicklungsländer,die Atomkraftanlagen betreiben, nehmen keine Wiederaufbereitungvon Brennstoff vor. Stattdessen werden die Brennstäbe in Langzeit-lagern gelagert oder in die Lieferländer zurückgeschickt. Verbrauch-te Brennstäbe sind für einen Großteil des Reaktorplutoniums ver-antwortlich, das es derzeit gibt. Ohne Entscheidung darüber, wasmit hoch radioaktivem Müll endgültig geschehen soll, ist es schwerzu beurteilen, ob daraus längerfristig Proliferationsrisiken resultie-ren werden.

Belgien, Frankreich und Großbritannien zählen zu den Ländern,die MOX-Brennstoff produzieren können. Einerseits erlaubt dieProduktion von MOX die Reduzierung von Lagern für separiertesReaktor- oder militärisches Plutonium, andererseits wird sie kriti-siert, weil so zusätzliches Plutonium in den Brennstoffkreislauf ein-gespeist wird. Einige Länder nutzen MOX, um ihre Reaktorpluto-niumlager abzubauen oder planen dieses Vorgehen. Dazu zählenBelgien, Frankreich, Deutschland, Schweden und die Schweiz.Indien und vielleicht auch China denken in diese Richtung. Japanhat vor, MOX-getriebene Schnelle Brüter zu betreiben. Deutschlandhatte einst eine MOX-Produktion im großen Ausmaß geplant, hataber seitdem sowohl die Pilotanlagen als auch die kommerziellenzur MOX-Produktion stillgelegt.8

HEU-Brennstoff wird gegenwärtig in mehr als 130 Forschungs-reaktoren von weltweit insgesamt 270 genutzt. Forschungsreaktorengibt es in 69 Ländern. HEU-Brennstoff steht im Zentrum der Be-fürchtungen bezüglich Proliferation, weil er relativ leicht bei niedri-gem Risiko zu handhaben ist. Vom verbrauchten Brennstoff ausForschungsreaktoren ist etwa ein Drittel HEU. Erhebliche Mengenlagern noch immer in stillgelegten Reaktoren. Weniger als die Hälfteder 382 stillgelegten Reaktoren ist vollständig zerstört worden.

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8 Versuche, die MOX-Produktions-Technologie zunächst nach Russland,später nach China zu exportieren, trafen auf heftigen öffentlichen Widerstandund wurden schließlich aufgegeben.

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Die gefahrenträchtigsten Elemente ziviler Nuklearbrennstoff-zyklen im Hinblick auf die Proliferation sind folgende:

– Technologien und Anlagen zur Anreicherung von Uran;– HEU-Brennstoff für Forschungsreaktoren;– Forschungsreaktoren und Atomkraftwerke, die Plutonium her-

stellen können;– Wiederaufbereitungsanlagen, die die Separation von Plutonium

möglich machen, sowie die Technologie, die in solchen Anlageneingesetzt wird;

– Lager für separiertes Plutonium;– Forschungs- und Produktionsanlagen für die Herstellung be-

stimmter anderer für Nuklearwaffen geeigneter Materialien, wieetwa Tritium oder Polonium-210.

3 ProliferationsrisikenEs können zwei unterschiedliche Gruppen allgemeiner Prolifera-tionsrisiken unterschieden werden, die den zivilen nuklearen Brenn-stoffkreisläufen inhärent sind. Die erste Gruppe beinhaltet Risiken,die aus einem Kontrollverlust innerhalb eines legitimen zivilenAtomprogramms resultieren. Nuklearmaterialien, Nukleartechnolo-gie oder Wissen kann gestohlen und ins Ausland transferiert wer-den, um ein Atomwaffenprogramm in einem anderen Land zuunterstützen. Abdul Q. Kahns Diebstahl der Urananreicherungs-technologie durch Zentrifugen im Jahr 1974 bei URENCO (UraniumEnrichment Company) in den Niederlanden ist ein Beispiel. SeineNetzwerkaktivitäten, um Iran, Libyen und Nordkorea mit nuklearemWissen, mit Technologie und Ausrüstung zu versorgen, zeigen, dassein Empfängerland von Proliferation selbst zum Proliferator werdenkann.9 Nicht nur nukleares Material, Technologie und technologi-

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9 Aus einer anderen Perspektive wirft Khans Fall jedoch mehr neue Fragenauf, als alte zu beantworten. Nach seinem „Geständnis“ begnadigte die paki-stanische Regierung Khan umgehend und hat seitdem ausländische Experten(z. B. aus den USA oder von der IAEA) daran gehindert, ihn zu befragen.Auch vorher scheint Khan einflussreiche Protektion gehabt zu haben. Einführender Geheimdienstmitarbeiter der USA, der sich mit Khan befasste,wurde von seiner Aufgabe entbunden, nachdem er zwingende Aktionengegen Khan verlangt hatte. Als die Niederlande Khan während seiner Reisenin den siebziger und achtziger Jahren festnehmen wollten, forderte der CIAdie niederländische Regierung auf, das nicht zu tun. Im Jahr 2005 zeigt dieKhan-Affäre einige spezielle Zwischenresultate: Libyen wurde über Nacht

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sches Wissen kann „wandern“, sondern auch ausgebildetes Personal(„brain drain“). Diese Risiken können unabhängig voneinanderwirksam werden oder auch gleichzeitig auftreten.

Die zweite Kategorie der Proliferationsrisiken enthält dieselbenGrundelemente: nukleares Material, Nukleartechnologie, Wissenund Nuklearspezialisten. In dieser Kategorie wird jedoch ein zivilesNuklearprogramm dazu benutzt, ein Nuklearwaffenprogramm zuunterstützen oder es wird in ein solches verwandelt. Ein Staat ent-scheidet sich, von der militärischen Nuklearoption Gebrauch zumachen und nutzt sowohl seine eigenen wie auch seine ausländi-schen Versorgungsquellen dafür, um erfolgreich zu sein.

Um Nuklearwaffenkapazitäten zu entwickeln, können sowohlstaatliche wie nichtstaatliche Akteure zwei verschiedene Wegegehen. Sie können versuchen, eine auf Uran und Plutonium basie-rende Waffe zu bauen. In beiden Fällen brauchen sie erheblicheMengen spaltbaren Materials. Die IAEA sieht 25 kg hochangerei-cherten Urans (HEU, das 90 Prozent und mehr U-235 enthält) oder8 kg Plutonium-239 als das Minimum an, mit dem eine einfache,aber funktionierende Atomwaffe gebaut werden kann.10

HEU kann in verschiedenen Typen von Anreicherungsanlagenhergestellt werden. Inzwischen ist die Zentrifugenanreicherung dieam meisten verbreitete Methode, um eine Urananreicherung durch-zuführen. Plutonium ist ein Nebenprodukt der Bestrahlung nuklea-ren Brennstoffs in verschiedenen Reaktortypen. Abhängig vomReaktortyp und der Zeit, in der der Brennstoff bestrahlt wird, kön-nen unterschiedliche Mengen waffenfähigen Plutoniums 239 und/oder Reaktorplutoniums 240 produziert werden. Das Plutoniummuss vom bestrahlten Reaktorbrennstoff in chemischen Wiederauf-bereitungsanlagen getrennt werden, bevor es für den Bau einerAtomwaffe verwendet werden kann.

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wieder respektiertes Mitglied der internationalen Gemeinschaft, weil es seineMassenvernichtungsprogramme aufgegeben hat. Jedoch waren LibyensNuklearprogramme, die hauptsächlich oder sogar ganz auf den Lieferungendurch Khan beruhten, eine große Überraschung selbst für Experten, diescharfe Kritiker von Ghaddafi waren. Gleichzeitig rief Khans Geständnis,dass er Iran und Nordkorea mit Anreicherungstechnologie beliefert habe,massiven Verdacht gegen beide Länder hervor.10 Alle Experten sind sich jedoch einig, dass diese Menge viel zu hoch gegrif-fen ist, wenn ein Akteur Zugang hat zur Technologie für den Bau eines ent-wickelten nuklearen Sprengkörpers.

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Programme zum Bau von Atomwaffen oder zur Erschließung vonOptionen dafür können in zwei Kategorien eingeteilt werden. Zumeinen gibt es die Nuklearprogramme, die von Beginn an militärischeZwecke verfolgten. Das trifft auf die Vereinigten Staaten, Groß-britannien, die Sowjetunion und China zu. Zweitens gibt es Pro-gramme, die offiziell als zivile Programme begonnen wurden undbei denen der militärische Aspekt entweder von Beginn an oder spä-ter eine geheime Ergänzung war. Bei vielen dieser Programme ist esschwer zu entscheiden, ob die militärische Option dem zivilen Pro-gramm von Anfang an eingeschrieben war. Zu den Ländern, die ihreNuklearprogramme offiziell als zivile begonnen haben, gehörenFrankreich, Indien, Israel, Nordkorea und Südafrika.

Eine zweite Unterscheidung kann zwischen den Ländern ge-macht werden, die Nuklearwaffen auf dem Weg des Urans und/oderdem Plutoniumweg anstreben. Länder, die Nuklearwaffen auf bei-den Wegen gebaut haben, sind die Vereinigten Staaten, die Sowjet-union, Großbritannien, China und Pakistan. Länder, die nur denWeg des Plutoniums beschritten haben, um erfolgreich ihre erstenAtomwaffen zu bauen, sind zum Beispiel Israel, Indien und mögli-cherweise Nordkorea. Das einzige Land, das erfolgreich Uran nutz-te, um seine erste Atomwaffe zu bauen, war Südafrika.

Abhängig davon, auf welche Art und Weise Länder die Fähigkeitzum Bau von Nuklearwaffen anstreben, werden sie ihren Bedarf aneinem einheimischen Brennstoffkreislauf einschätzen. Ein Land,das eine auf Uran basierende Waffe bauen will, wird eine Anreiche-rungsanlage brauchen, jedoch nicht notwendigerweise eine Wieder-aufbereitungsanlage und eine Anlage, um Plutonium separieren zukönnen. Es wird auch nicht unbedingt nach bestimmten Reaktor-typen Ausschau halten, wie etwa Schwerwasserreaktoren, die für dieProduktion waffenfähigen Plutoniums besser geeignet sind. ImGegensatz dazu werden Länder, die eine Plutoniumwaffe bauen wol-len, eher nach solchen Reaktoren und einer Wiederaufbereitungs-möglichkeit suchen, während sie gleichzeitig nicht unbedingt eineUranumwandlungs- oder Urananreicherungsanlage haben wollen.Auf diese Art und Weise können Länder, die nur auf einem der bei-den Wege die Nuklearwaffenfähigkeit herstellen wollen, sich theore-tisch auf einen offenen Brennstoffkreislauf beschränken, währendLänder, die beide Optionen offen halten möchten, mit allen Elemen-ten eines geschlossenen Brennstoffkreislaufs arbeiten werden.11 Inder Vergangenheit haben viele Länder versucht, sich beide Wege 208

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offenzuhalten und deshalb einen Anspruch angemeldet, mit einemgeschlossenen Brennstoffkreislauf zu arbeiten.

3.1 Risiken durch staatliche AkteureNicht lange, nachdem die Vereinigten Staaten das „Atomkraft-für-den-Frieden“-Programm zur nuklearen Zusammenarbeit auf zivi-lem Gebiet gestartet hatten, wurden Befürchtungen über die „Ver-breitung“ von Nukleartechnologie und das daraus resultierendeRisiko laut, dass zu viele Länder Nuklearwaffen haben würden. 1963schätzte der damalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara,dass elf zusätzliche Staaten innerhalb eines Jahrzehnts an Atom-waffen gelangen würden und viele weitere später. Als später in densechziger Jahren der Non-Proliferation Treaty verhandelt wurde, warein Argument für diesen Vertrag die Notwendigkeit, eine Welt mitzwanzig oder dreißig Atommächten zu verhindern. Um die Risikennuklearer Proliferation einzuschätzen, ist es sinnvoll, sich einenÜberblick in Bezug auf in der Vergangenheit erfolgreiche Atomwaf-fenprogramme zu verschaffen.12

Israels erfolgreiches Waffenprogamm beruhte auf einem Plutoni-um-Produktionsreaktor und einer Wiederaufbereitungsanlage, dievorgeblich zu friedlichen Zwecken von Frankreich ohne Sicherheits-bedingungen und unter hoher Geheimhaltung geliefert wurde. Nor-wegen hatte für friedliche Zwecke schweres Wasser geliefert. DasUran kam den Berichten zufolge aus Argentinien, Niger, Südafrikaund anderen Ländern. Ungefähr 200 Tonnen sollten von einem bel-gischen Schiff kommen, von dem es 1968 verschwand, als das Schiffsich auf See befand. Bemerkenswerterweise ist Israel das einzigeLand, von dem bekannt ist, dass die Versorgung mit Uran ein größe-res Problem war.

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11 Diese Anlagen für den Brennstoffkreislauf müssen nicht unbedingt „kom-merzielles Format“ haben. Wenn die Zeit da ist, kann ein Forschungsreaktorgenug Plutonium für Nuklearwaffen produzieren, wie der Fall von Indienserstem Atomsprengstoff beweist. Ähnlich kann die Anreicherung durch Ver-suchsanlagen oder Wiederaufbereitungsanlagen ausreichend sein.12 Von diesem Rückblick sind die fünf Atomwaffenmächte ausgeschlossen.Um genauere Informationen über nationale Nuklearprogramme zu bekom-men, siehe http://www.globalsecurity.org/wmd/world/index.html und http://www.nti.org/e_research/profiles/index.html

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Indien produzierte das Plutonium für seine „friedliche Atomexplo-sion“ von 1974 in einem in Kanada entworfenen Forschungsreaktor,der 1956 ohne weitere Sicherheitseinschränkungen zur Verfügunggestellt wurde. Indiens Wiederaufbereitungstechnologie basiert aufder PUREX-Technologie aus den USA, freigegeben im Rahmen des„Atomkraft-für-den-Frieden“-Programms und durchgeführt in einerAnlage, die teilweise von einer US-Firma entworfen wurde. Indiensschweres Wasser kam anfangs ebenfalls aus den USA, während zu-sätzliche Mengen geheim aus Norwegen und anderen Ländern bezo-gen wurden. Indiens Nuklearenergie- und Nuklearwaffenprogrammsind nicht immer synchronisiert gewesen.

Südafrika hatte ursprünglich ein ziviles Nuklearprogramm, demspäter ein militärisches hinzugefügt wurde. Von der Technologiewar vieles einheimischer Herkunft, mit essentieller geheimer Hilfeaus dem Ausland, besonders aus der Bundesrepublik Deutschland.HEU-Anreicherung in Südafrika beruhte auf einer deutschen Tech-nologie („Becker nozzle“), die offiziell für das zivile Nuklearenergie-programm zur Verfügung gestellt wurde. Das südafrikanischeAtomprogramm führte zu einer Atomwaffe auf Uranbasis.

Pakistan arbeitete mit Erfolg an Uranwaffen, nachdem es vergeblichversucht hatte, eine Wiederaufbereitungsanlage aus Frankreich zubeziehen. Die Zentrifugentechnologie zur Anreicherung war ausden Niederlanden gestohlen worden, wo Abdul Q. Khan, der Vaterder pakistanischen Bombe, für die URENCO-Anreicherungsanlagein Almelo gearbeitet hatte. Außerdem bezog Pakistan heimlichNukleartechnologie aus China, die vermutlich Pläne für den Bau vonAtomwaffen einschloss. Man glaubt, dass Pakistan auch Plutoniumin einem nicht den Sicherheitsklauseln unterliegenden, aus Chinagelieferten Reaktor gewonnen und dass es möglicherweise im Jahr1998 eine Waffe auf Plutoniumgrundlage getestet hat.

Nordkorea hat seit Anfang 2005 behauptet, Nuklearwaffen gebaut zuhaben. Zwei Jahre zuvor, im Jahr 2003, wurde es das erste und vor-

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13 Der wahre nukleare Status von Nordkorea ist unbekannt. In der zweitenHälfte der neunziger Jahre schätzten einige westliche Geheimdienste, dassNordkorea über ein oder zwei Atomwaffen verfügen könnte. Diese Einschät-zung beruhte auf der Menge waffenfähigen nuklearen Materials, dassNordkorea rein theoretisch produziert haben könnte. Inzwischen wird auf

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erst einzige Land, dass sich aus dem NPT zurückzog.13 Das Nuklear-programm des Landes datiert zurück bis in die fünfziger Jahre, alsNordkorea mit der Sowjetunion zusammenarbeitete und von dortden ersten kleinen Forschungsreaktor und in den sechziger Jahrenzusätzliche Nukleartechnologie bezog. Später wurde der Reaktor mitdem Einsatz nordkoreanischer Technologie ausgebaut. Nach einemfehlgeschlagenen Versuch, chinesische Nuklearhilfe zu bekommen,begann Nordkorea mit dem Bezug von Wiederaufbereitungstech-nologie aus der Sowjetunion in den siebziger Jahren und entwickel-te einheimische Nukleartechnologie für die Aufbereitung von Uran.In den frühen achtziger Jahren kamen Uranmühlen, eine Anlagezur Produktion von Brennstäben, Forschungs- und Entwicklungsan-lagen und ein 5 MW-Forschungsreaktor dazu. In diesen Jahren er-wog Nordkorea den Erwerb von gas-graphitbetriebenen oder Leicht-wasserreaktoren für die Elektrizitätserzeugung. Während Nordkorea1977 ein dreiseitiges Sicherheitsabkommen mit der IAEA und Russ-land für den von Russland gelieferten Reaktor einging, trat es nichtvor 1985 dem NPT bei. Eine Sicherheitsvereinbarung wurde nichtvor 1992 beschlossen. Während der Inspektionen durch die IAEAkamen undichte Stellen in Nordkoreas Wiederaufbereitungsaktivitä-ten ans Tageslicht. Als die IAEA den UN-Sicherheitsrat um dieErlaubnis für eine spezifische Sofortinspektion ersuchte, verkünde-te Nordkorea die Absicht, den NPT 1993 zu verlassen, nur um dieseEntscheidung nach intensiven Verhandlungen mit den VereinigtenStaaten einen Tag vor dem Ende der neunzigtägigen Frist „zususpendieren“. Anschließend wurden Sicherheitsinspektionen fürdas aktuelle Nuklearprogramm zugelassen, nicht jedoch für das bisdahin abgewickelte Programm. Als der Reaktorkern des 5 MW-Reak-tors ausgebrannt war, begann Nordkorea die Brennstäbe ohne Über-wachung durch die IAEA in einer Art und Weise zu entfernen, die es

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derselben Grundlage geschätzt, dass Nordkorea bis zu acht Bomben gebauthaben könnte. Heute jedoch bezweifeln westliche Geheimdienstquellen dieBehauptungen Nordkoreas, dass das Land bereits Atomwaffen besitzt. Sienehmen an, dass Nordkorea diese Behauptung dazu benutzt, seine Positionin den Sechsparteiengesprächen über sein Nuklearprogramm zu stärken.Nordkoreas Status in Bezug auf den NPT ist ebenso unklar. Einige Ländersagen, dass Nordkorea den Vertrag nicht verlassen hat, weil es seineAustrittserklärung an die Vereinten Nationen gerichtet hat, nicht aber an dieVerwahrer des Vertrages. Schließlich haben die Sechsländergespräche inzwi-schen zu einer Interimsvereinbarung geführt, unter der, wenn sie in Kraftträte, Nordkorea erneut ein nicht-nukleares Mitglied des NPT würde.

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der IAEA unmöglich machte, die Geschichte des Reaktors zu rekon-struieren. Die daraus resultierende neue Krise wurde durch eineRahmenvereinbarung entschärft, die vom früheren US-PräsidentenJimmy Carter ausgehandelt wurde, der im Oktober 1994 Nordkoreadavon überzeugte, ein von der IAEA überwachtes Einfrieren derReaktortätigkeit und die fortgesetzte NPT-Mitgliedschaft zu akzep-tieren, im Austausch gegen die Lieferung von zwei Leichtwasser-reaktoren und von schwerem Öl für die Elektrizitätsproduktion.Durch diese Vereinbarung kam das nordkoreanische Programm mitErfolg für beinahe ein Jahrzehnt zum Stillstand. Als jedoch dieVereinigten Staaten unter Präsident George W. Bush behaupteten,Nordkorea habe ein geheimes Urananreicherungsprogramm, unddie Lieferungen von schwerem Öl einstellten, reagierte Nordkorea,indem es das Einfrieren seiner nuklearen Anlagen und die Überwa-chung durch die IAEA beendete sowie seinen Rückzug aus dem NPTerneut ankündigte. Ein begründbares Urteil darüber, wann Nord-koreas militärische nukleare Ambitionen angefangen haben, istnicht möglich.

Nach dem Überblick über die Länder, die tatsächlich Atomwaffengebaut haben, soll jetzt ein Blick auf die Länder folgen, von denenbekannt ist oder von denen man annimmt, dass sie militärischenukleare Ambitionen besessen haben.14

Argentinien betreibt seit vielen Jahren ein ziviles Nuklearprogramm.Der erste Forschungsreaktor wurde in den fünfziger Jahren von denVereinigten Staaten zur Verfügung gestellt. Später wurden weiteregebaut, und Deutschland und Kanada lieferten zwei Schwerwasser-reaktoren. Demnach besteht die Möglichkeit, Plutonium zu produ-zieren. In den siebziger Jahren fügte Argentinien ein Atomwaffen-programm hinzu und baute eine Wiederaufbereitungsanlage fürPlutonium, die nicht der Überwachung unterlag, nach Berichten mitUnterstützung Deutschlands und Italiens. 1983 gab Argentinienbekannt, dass es erfolgreich Uran in einer geheimen, nicht der Über-

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14 Japan und einige europäische Länder (z.B. Deutschland) sind mit Absichtnicht in diesem Überblick enthalten, weil ihre technologische Basis ausrei-chend entwickelt ist, um Atomwaffen zu bauen, wenn sie das wollten. Libyenwird nicht berücksichtigt, weil es nicht mehr versucht – oder nie ernsthaftversucht hat – einen nuklearen Brennstoffkreislauf aufzubauen. 15 Keiner der argentinischen Reaktoren braucht angereichertes Uran.

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wachung unterliegenden Anlage in Pilcaniye angereichert habe, vor-geblich für zivile Zwecke.15 Heute stehen jedoch alle Nuklearanlagenin Argentinien unter Überwachung der IAEA, seitdem das Waffen-programm in den späten achtziger Jahren beendet wurde, nachdemeine zivile Regierung der Militärjunta folgte, eine Vereinbarung mitBrasilien getroffen wurde und Argentinien dem Druck der USAnachgab.

Brasilien versuchte schon 1953, von Deutschland die Zentrifugen-technologie zu bekommen, wurde aber anfangs durch die Vereinig-ten Staaten daran gehindert. Washington belieferte das Land spätermit einem Forschungsreaktor, während Brasilien die Anreiche-rungsforschung fortsetzte, basierend auf der deutschen Becker-nozzle-Technologie. 1975 gab es eine sehr umstrittene Vereinba-rung, nach der Deutschland Brasilien mit einem völlig geschlosse-nen Brennstoffkreis versorgt hätte, bestehend aus mehreren Atom-kraftwerken, einer Anreicherungsanlage und einer Wiederaufberei-tungsanlage für zivile Zwecke. Während dieser Handel später unterDruck der US-Regierung heruntergefahren wurde, engagierte sichBrasilien parallel dazu in einem nicht überwachten militärischenProgramm, bei dem die Armee für den Plutoniumweg und dieMarine für den Uranweg zuständig waren. Beide arbeiteten mit Per-sonal, das im zivilen Programm ausgebildet worden war, und mannimmt an, dass für zivile Zwecke gelieferte Technologie in nichtüberwachten Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsanlagen ein-gesetzt wurde. Brasiliens militärisches Nuklearprogramm endeteparallel zu dem Argentiniens. Brasilien trat in den neunziger Jahrendem NPT bei. Es betreibt weiterhin Atomkraftwerke.

Taiwan hat für zivile und für Forschungszwecke von Kanada einenSchwerwasserreaktor und schweres Wasser und von den Vereinig-ten Staaten separiertes Plutonium erhalten. Wiederaufbereitungs-technologie wurde aus Frankreich bezogen; nachgefragt hat manauch in den Vereinigten Staaten, Deutschland und anderen Ländern.Als IAEA und US-Inspektionen in den siebziger Jahren darauf hin-deuteten, dass Taiwan Material aus seinen überwachten Anlagen ingeheime militärische Anlagen abzweigen wollte, übten die Vereinig-ten Staaten erfolgreich Druck auf Taiwan aus, das militärische Pro-gramm zu beenden, seine Wiederaufbereitungsanlage zu vernichtenund das separierte Plutonium in die Vereinigten Staaten zu schik-213

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ken. Dennoch baute Taiwan 1987 neue heiße Zellen und beendetedas Programm erst wieder nach heftigem Druck seitens der USA.

Südkorea begann mit einem geheimen Atomwaffenprogramm, alses seine ersten Atomkraftwerke in den frühen siebziger Jahrenbaute. Als die Vereinigten Staaten damit drohten, ihre militärischeUnterstützung für Südkorea zurückzuziehen, willigte Seoul ein, dasProgramm zu beenden und 1975 dem NPT beizutreten. Seit denachtziger Jahren hat Südkorea mehrere Versuche unternommen,ein Wiederaufbereitungsprogramm zu starten, hat dann aber aufDruck der Vereinigten Staaten zurückgezogen. Die Denuklearisie-rungsvereinbarung mit Nordkorea aus dem Jahr 1991 verpflichtetSeoul, keine Urananreicherung und Wiederaufbereitung vorzuneh-men. Dennoch hat Südkorea 2004 die IAEA über einige vorherunbekannte Versuche bezüglich Plutonium informiert und stehtgegenwärtig unter besonderer Beobachtung.

Irans Nuklearprogramm reicht ebenfalls in die fünfziger Jahrezurück. 1974 entwickelte der Schah einen Plan, bis 1995 über 23.000MW nuklear erzeugter Elektrizität zu verfügen. Sein Plan sah auchden Bau von Urananreicherungsanlagen vor 16 wie auch den einerWiederaufbereitungsanlage. Er verhandelte über den Bau verschie-dener Atomkraftwerke getrennt mit Westdeutschland, Frankreichund den Vereinigten Staaten. Am Ende wurde lediglich ein Vertragüber zwei Reaktoren aus Deutschland geschlossen. Die iranischeRevolution und der Krieg zwischen Iran und Irak von 1980 bis 1988brachten das iranische Nuklearprogramm zum Stillstand. NukleareForschung wurde nur mit technologischer Hilfe von chinesischerSeite fortgesetzt. Schließlich gelang es Iran im Jahr 1994, Russlandals nuklearen Unterstützer und Lieferer zu gewinnen. Russland warbereit, die deutschen Reaktoren in Busher zu Ende zu bauen, nukle-aren Brennstoff zu liefern und möglicherweise auch bei der Anrei-cherung von Uran zu helfen. Auf Druck der Vereinigten Staaten wil-ligte Russland schließlich ein, seine Unterstützung auf den Reaktor-bau, die Ausbildung von Nuklearexperten und die Lieferung vonnuklearem Brennstoff zu beschränken, der nach der Nutzung zu-rückgeschickt werden muss. In den Jahren 2002 und 2003 tauchten

21416 Zwei Urananreicherungsanlagen wurden Persien 1975 durch HelmutSchmidt angeboten, dem damaligen Kanzler der Bundesrepublik.

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seitens mancher Exiliraner Behauptungen auf, dass Iran heimlicheine beachtliche nukleare Infrastruktur aufbauen würde, die nichtder Kontrolle der IAEA unterliege. Als die IAEA mit den Überprü-fungen begann, konnte sie einiges davon bestätigen.17 Sie entdeckteauch, dass Iran den Import einer geringen Menge nuklearenMaterials vor 15 Jahren nicht gemeldet hatte. Zudem mussten Un-stimmigkeiten und Lücken in Bezug auf Irans Erklärungen über ver-gangene nukleare Aktivitäten geklärt werden. Zu den neu entdeck-ten Komponenten des iranischen Nuklearprogramms gehörenUranumwandlung und Anreicherungsanlagen, für die geheimeTechnologietransporte aufgedeckt wurden. Außerdem baut Iraneinen Schwerwasserreaktor und plant, einen mit Schwerwasserbetriebenen Forschungsreaktor und eine Fabrik zur Herstellung vonBrennstäben zu bauen.

Seit Ende 2003 haben Iran und Frankreich, Deutschland undGroßbritannien versucht, eine Lösung des Problems auszuhandeln.Die Europäer favorisieren zuerst ein Einfrieren und später eineBeendigung aller iranischen Aktivitäten, die zu einem Atomwaffen-programm beitragen könnten, d. h. aller Aktivitäten bezüglich Anrei-cherung und Schwerwasser, sowie eine bindende Verpflichtung,dass Iran keine Wiederaufbereitungstechnologien verfolgt und denNPT nicht verlassen wird. Iran besteht darauf, dass es sehr wohl dasRecht hat, einen offenen Brennstoffkreislauf für zivile Zwecke zubetreiben. In der Tat ist keine der Komponenten des iranischenNuklearprogramms nach den Kriterien des NPT illegal. Also könnendie Verhandlungen nur darauf zielen, den Iran von einem Rückzugaus freien Stücken von seinen Rechten zu überzeugen, als freiwilli-ge und vertrauensbildende Maßnahme. Mittlerweile haben sich dieVerhandlungen zu einer Art Machtspiel entwickelt, ähnlich denGesprächen zwischen den USA und Nordkorea (und später den ins-gesamt sechs Nationen).

Auf der Grundlage dieser Erfahrungen mit erfolgreichen Nukle-arwaffenprogrammen wie auch mit Versuchen, zivile Nuklearpro-gramme für militärische Zwecke zu nutzen, können folgendeSchlüsse gezogen werden:

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17 Rein technisch gesehen stellten die neu entdeckten Anlagen und Einrich-tungen keine Verletzung der Verpflichtungen Irans gegenüber der IAEA dar.Iran hätte seinen legalen Verpflichtungen nachkommen und die IAEA zueinem späteren Zeitpunkt darüber informieren können.

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– Erstens: Die heutigen Risiken der Proliferation konzentrierensich tatsächlich auf die Technologien wie Urananreicherung, Wie-deraufbereitung bzw. Plutoniumgewinnung, die Produktion vonPlutonium und (Forschungs-) Reaktoren, die durch HEU betrie-ben werden.

– Zweitens: Zivile Nuklearprogramme spielten bei der Proliferationeine Rolle sowohl als Deckmantel wie auch als Unterstützung fürmilitärische Programme. Sie machen es schwer, die Absichteneines Landes zu beurteilen.

– Drittens: Internationale Sicherheitsbestimmungen und Export-kontrollen, die in den sechziger und siebziger Jahren entwickeltwurden, erweisen sich heute als unzureichend, den Wechseleines Landes zu einem militärischen Nuklearprogramm zu ver-hindern. Gleichzeitig muss man sehen, dass eine erhebliche An-zahl Anlagen, die nicht diesen Bestimmungen entsprechen undbei nuklearen Militärprogrammen eine Rolle spielten, zu einerZeit gebaut wurden, als es keine bindenden Sicherheitsvorschrif-ten gab, und dass die Lieferländer oft nicht darauf bestanden, umihre Geschäftsaussichten nicht zu beeinträchtigen.

– Viertens: Alle Länder, die in nuklearen Aktivitäten engagiert sind,bilden Personal aus und verfügen über technologische Fähigkei-ten, was es ihnen erlaubt, sich immer mehr auf einheimischeFertigkeiten und weniger auf Hilfe von außen zu verlassen. Derallgemeine technische Fortschritt trägt zu dieser Entwicklungebenso bei, weil immer mehr Länder nukleare Ausrüstungen her-stellen können, wozu früher nur industrialisierte Nationen in derLage waren.

– Fünftens: Das Konzept, die Proliferation von Nukleartechnologiefür militärische Zwecke zu begrenzen und gleichzeitig die Nut-zung ziviler Atomenergie zu fördern, steckt in einer tiefen Krise.

3.2 Risiken durch nichtstaatliche AkteureFür Experten galten nichtstaatliche Akteure schon in den spätensechziger Jahren als Proliferations- und Sicherheitsrisiko. Nachdemdie Vereinigten Staaten das Nth Country Experiment durchgeführthatten, wussten Fachleute, dass es möglich war, eine einfache Atom-waffe auf der Basis nicht geheimer und öffentlich zugänglicher In-formationen zu bauen.18 1975 stellte eine CIA-Studie fest: „Die Mög-

21618 University of California, Lawrence Radiation Laboratory, Summary Reportof the Nth Country Experiment, UCLR 50249, Livermore, CA, März 1967

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lichkeit für Terroristen, in den Besitz von nuklearen Waffen zukommen, stellt die schwerwiegendste Grenze für die politischenBemühungen dar, die Proliferation in den Griff zu bekommen. Diesist der irritierendste und extremste Aspekt der Diversifikation nukle-arer Akteure. Dieselbe wachsende Verfügbarkeit nuklearer Materia-lien und Technologie, die nukleare Sprengstoffe für Entwicklungs-länder zugänglich machte, wird sie früher oder später in die Reich-weite terroristischer Gruppen bringen. (...) Weil Nuklearterroristenschon per definitionem außerhalb offizieller Regierungskanälearbeiten, sind sie gegen internationale politische Kontrollen weitge-hend abgeschirmt. Die Sicherheitsbestimmungen der IAEA zumBeispiel beinhalten keinerlei Vorkehrungen gegen den terroristi-schen Diebstahl von Materialien aus einem Reaktorkomplex.“ 19

Seit Mitte der achtziger Jahre und vor allem seit der Auflösungder Sowjetunion wurde diese Sorge der Experten auch öffentlichlaut. Während die riesige nukleare Infrastruktur der Sowjetunionzerfiel, wuchs bei Experten für Waffenkontrolle und Non-Prolifera-tion die Befürchtung, dass daraus massive Proliferationsrisiken ent-stünden. Während die frühere, autoritär regierte Sowjetunion ihrenuklearen Materialien, Geheimnisse und Techniker unter strengerKontrolle hatte, war es unwahrscheinlich, dass ihre Sicherheitsmaß-nahmen gegen Proliferation – geschlossene Städte, rigide Reisebe-schränkungen und Kontrolle sowie Überwachung durch Militär undKGB – im weiteren Verlauf der Ereignisse noch wirksam sein könn-ten. Seit 1991 richtete sich erhebliche Aufmerksamkeit auf die Ge-fahren, die aus der Möglichkeit erwuchsen, dass nukleares Material,Technologien oder sogar Sprengköpfe in die Hände entweder vonTerroristen oder von Angehörigen des organisierten Verbrechensfallen könnten.

Nuklearwaffen in terroristischen HändenTheoretisch könnten Terroristen oder Angehörige des organisiertenVerbrechens an eine Nuklearwaffe entweder durch Bau derselbenoder durch Kauf gelangen. Wenn sie eine Waffe bauen wollten,könnten sie versuchen, die dazu erforderlichen nuklearen Materia-lien selbst herzustellen, zu kaufen oder zu stehlen. Wenn sie dieMaterialien selbst herstellen wollten, würden sie sich denselben

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(ursprüngliche Klassifikation: SECRET, partially released under the FOIA,4. Januar 1995).19 Central Intelligence Agency, Managing Nuclear Proliferation, S. 29.

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Schwierigkeiten gegenübersehen wie ein Staat, der versucht, zurAtommacht zu werden. Da nichtstaatliche Akteure keine Staatensind, würden sie einen Staat brauchen, der sie und die erforderlicheInfrastruktur beherbergt, entweder bewusst, oder weil der Staatnicht in der Lage ist, einen Teil seines Territoriums zu kontrollieren.Auf diesem Weg gibt es viele Hindernisse. Deshalb ist für terroristi-sche Gruppen die Option, eine Atombombe aus selbst verfertigtemMaterial zu bauen, momentan eher abwegig. Selbst wenn eine ter-roristische Gruppe an das nötige spaltbare Material durch Kauf oderDiebstahl gelangen würde, würde sie noch immer einen Bauplan derWaffe, funktionierende Präzisionszünder und andere Komponentenbrauchen, an die schwer heranzukommen ist. Trotz der Ergebnissedes Nth-Country-Experiments erscheint es unwahrscheinlich, dasseine Terroristengruppe diese Probleme schnell und leicht in denGriff bekommen könnte. Terroristen wären wohl am ehesten erfolg-reich, wenn sie mit einem Staat zusammenarbeiten würden, der ent-weder über Nuklearwaffen oder über nuklearwaffenfähiges Materialverfügt. Zugang zu nuklearem Wissen und die Zusammenarbeit mitgut ausgebildetem Personal könnte die Aufgabe für Terroristengrup-pen ebenfalls erleichtern. Wenn eine Atommacht bereit wäre, miteiner terroristischen Organisation zusammenzuarbeiten, wäre dieFrage, die sich am ehesten aufdrängt: Warum sollte der Staat nichtgleich eine fertige Waffe übergeben? Der wahrscheinlichste Liefe-rant könnte Pakistan sein. Aus allem, was wir jedoch über offiziellewie inoffizielle Kontakte Pakistans – und auch des Netzwerks vonKhan – mit Al Qaida oder den Taliban wissen, scheint die Kluft zwi-schen den gefundenen Beweisen und einer wirklich funktionieren-den nuklearen Waffe noch immer sehr groß zu sein.

Schmutzige Bomben in terroristischer HandWahrscheinlicher ist ein Szenario, bei dem Terroristen oder Ange-hörige des organisierten Verbrechens eine schmutzige Atombombebauen und einsetzen. Eine schmutzige Bombe besteht aus einemAnteil radioaktiven Materials, das durch konventionellen Spreng-stoff gestreut wird. Es folgt keine Kettenreaktion. Man kann sicheine konventionelle Autobombe mit hundert Gramm radioaktivenSubstanzen vorstellen. Der Haupteffekt einer schmutzigen Bombewäre der psychologische. Ein „Kriegsspiel“ der USA, das dieschlimmsten Auswirkungen einer ziemlich großen schmutzigenZweitonnenbombe analysiert, die im Zentrum von Washington, DC, 218

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explodieren würde, kommt zu dem Schluss, dass eine Fläche von derGröße eines Häuserblocks schweren und vielleicht dauerhaftenSchaden erleiden würde.

Das Haupthindernis beim Bau einer solchen Waffe besteht je-doch in den Schwierigkeiten, mit dem radioaktiven Material umzu-gehen. Da die Wirkung einer solchen Waffe von der Radioaktivitätund/oder dem toxischen Gehalt des verwendeten Materials abhängtund nicht von einer nuklearen Explosion, stellt das verwendete radio-aktive Material für die, die die Waffe bauen, mit ihr umgehen undsie einsetzen, ein enormes Risiko dar. Das ist vermutlich einer derHauptgründe, warum bisher noch keine schmutzige Waffe verwen-det wurde.

Ob radioaktives Material aus einem der Elemente des zivilennuklearen Brennstoffkreises das wäre, welches man für den Baueiner schmutzigen Bombe bräuchte, steht zu bezweifeln. Es gibtdiverse andere nukleare Materialien, die leichter zugänglich sindund den Anforderungen einer schmutzigen Bombe so gut entspre-chen würden wie LEU, HEU oder sogar Reaktorplutonium. Bei-spielsweise ist aus einem Forschungsreaktor gestohlenes HEU –heute eines der größten Sicherheitsrisiken – gewiss nicht das idealeMaterial für eine solche Waffe. Radioaktive Materialien aus anderenZusammenhängen – aus Forschungsinstituten, Krankenhäusernoder industriellen Produktionsprozessen – sind leichter zugänglichund oft besser geeignet für solche Zwecke wie zum Beispiel Kobalt-60, Strontium-90, Americium-241 oder sogar das seltene Califor-nium-252. Radioaktiver Abfall aus manchen Elementen des Brenn-stoffkreises könnte also den Weg in eine schmutzige Bombe finden.

Radioaktives Material in der Hand von nichtstaatlichen AkteurenSeit dem Zerfall der Sowjetunion gibt es Beobachtungen, Berichteoder Abhöraktionen bezüglich einer großen Anzahl von Schmuggel-fällen mit nuklearem Material. Gewöhnliche Kriminelle, Mitgliederdes organisierten Verbrechens, Terroristen wie auch Geheimdiensteund politische Autoritäten zeigten alle starkes Interesse. So auch dieMedien. Dadurch wurde es schwierig, zwischen wirklichen Versu-chen illegalen Handels, Lockvogelangeboten und schlichtweg fal-schen Berichten zu unterscheiden. Analysiert man die Medien-berichte über diese Fälle, lässt sich nicht viel über die wirkliche Rele-vanz von Schmuggel für die nukleare Proliferation sagen. Eine ver-lässlichere Quelle für eine richtige Beurteilung ist die Datenbank219

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zum illegalen Handel, die die IAEA 1995 eingerichtet hat.20 DieseDatenbank enthält sowohl Fälle von Schmuggel wie auch Fälle, indenen „verwaiste Quellen“, d.h. unkontrollierte nukleare Materialiengefunden wurden. Mehr als 650 Fälle wurden der Behörde von 1993bis 2004 angezeigt. Die größte Anzahl der Fälle, mehr als 60 Pro-zent, betraf nicht spaltbares radioaktives Material, wie etwa Cae-sium-137, Strontium-90, Kobalt-60 oder Americium-241. Die meis-ten dieser Materialien rufen Besorgnis wegen ihres möglichen Ein-satzes bei terroristischen oder kriminellen Aktionen hervor, weil siein Geräten zur Verbreitung von Radioaktivität oder in schmutzigenBomben eingesetzt werden könnten. Weitere 30 Prozent aller Fälleenthielten nukleares Material, wie etwa natürliches Uran, verbrauch-tes Uran, Thorium und LEU. Achtzehn Fälle zwischen 1993 und2004 schlossen waffenfähiges nukleares Material ein. Unter demGesichtspunkt der Proliferation sind das die wichtigsten Fälle.Sieben Fälle betrafen Plutonium, sechs davon in Mengen von weni-ger als einem bis zu zehn Gramm. Der siebte Fall, der mehr als 360Gramm Plutonium enthielt, ereignete sich im August 1994 auf demMünchner Flughafen, in diesen Fall waren sowohl russischeOffizielle wie deutsche Geheimdienste verwickelt. Elf Fälle betrafenHEU in Mengen von weniger als einem Gramm bis zu mehr als 2,5Kilogramm. In den meisten dieser Fälle scheint es sich um Probengehandelt zu haben, um danach größere Geschäfte abschließen zukönnen. Insgesamt scheinen die Zahlen der IAEA die Analyse unddie Trends bei Aktivitäten von nichtstaatlichen Akteuren zu bestäti-gen, die oben wiedergegeben wurden.

Nichtstaatliche Akteure und Sicherheit im BrennstoffkreislaufTerroristen könnten eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheitziviler Nuklearanlagen darstellen. Über diese Gefahren ist keinesystematische Untersuchung bekannt, einige Aspekte des Problemssind schlaglichtartig beleuchtet worden. Die Vereinigten Staatenhaben während der neunziger Jahre 75 „red team“-Angriffe auf eini-ge ihrer Reaktoren simuliert. Dabei hat sich oft herausgestellt, dassdie Sicherheit nicht ausreichend gewährleistet war. Von diesen 75vorgeblichen Angriffen – bei denen auch Bombenattrappen einge-

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20 Die Daten in diesem Absatz findet man unter: http://www.iaea.org/NewsCenter/Features/RadSources/Fact_Figures.htmlund unter anderen Links, die auf der Seite genannt werden.

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setzt wurden – zeigten 27 schwerwiegende Anfälligkeiten, die in dieBeschädigung des Reaktorkerns oder in den Austritt von Radioakti-vität hätten münden können.21 Greenpeace gelang es 2003, in dieUS-Atomkraftanlage Sizewell einzudringen, ohne auf Widerstandzu stoßen.22 Forschungsreaktoren an Universitäten sind Berichtenzufolge ein weiteres großes Problem. Wenn es schon ernsthafteSicherheitsprobleme in industrialisierten Ländern gibt, die die Mit-tel hätten, in die Sicherheit sensibler Infrastruktur zu investieren,könnten in Ländern ohne vergleichbare Mittel noch sehr viel größe-re Risiken bestehen. Nach dem Kenntnisstand des Autors gibt eskeine weiteren öffentlich zugänglichen Berichte über Scheinangriffeund Analysen der Sicherheit in Nuklearlaboratorien, Anreicherungs-anlagen, Wiederaufbereitungsanlagen oder (Zwischen-) Lagern fürverbrauchte Brennstäbe. Es könnten erhebliche Gefahren bestehen,dass nukleares Material weitergegeben wird oder verschwindet.

3.3 Andere mögliche Proliferationsrisiken

Atomwaffen aus zivilem nuklearen MaterialSchon 1962 hat das US-Energieministerium einen unterirdischenTest mit einer aus Reaktorplutonium hergestellten Atomwaffedurchgeführt. Der Test war erfolgreich. Dieser Vorfall wurde erst1977 öffentlich gemacht. Seitdem ist bekannt, dass es prinzipiellmöglich ist, Atomwaffen aus „zivilem“ oder „Reaktor“-Plutonium zubauen. Eine Untersuchung, die in den Los Alamos National Labora-tories durchgeführt wurde, kam 1990 zu dem Schluss, dass Staatenoder eine terroristische Gruppe, die versuchen würden, eineNuklearwaffe aus Reaktorplutonium zu bauen, nur graduell, abernicht prinzipiell andere Schwierigkeiten hätten als beim Zugang zuWaffenplutonium.23

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21 Union of Concerned Scientists, Backgrounder on Nuclear Reactor Secu-rity, Cambridge, MA: 2002.22 Greenpeace UK, Greenpeace Volunteers Get into ‚Top Security’ NuclearControl Centre, Presseerklärung, London, 13. Januar 2003; auch in: DailyMirror vom 14. Januar 2003.23 U.S.Department of Energy, Nonproliferation and Arms Control Assess-ment of Weapons-Usable Fissile Material Storage and Excess Plutonium Dis-position Alternatives, Washington, DC: 1097, S. 37-39; National Academy ofSciences; Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium,Washington, DC: 1994, S.32-33; auch: Harmon W. Hubbard, Plutonium fromLight Water Reactors as Nuclear Weapons Material, April 2003 (Manuskript).

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Verlust der Kontrolle über Nuklearmaterial in KriegszeitenDer Krieg gegen den Irak 2003 hat ein weiteres wichtiges Prolifera-tionsrisiko enthüllt: Während US-Truppen den Irak besetzt hatten,haben sie die wichtigste Nuklearforschungsanlage des Landes nichtausreichend vor Plünderungen geschützt. Siegel der IAEA an derAnlage waren beschädigt, nukleare Materialien waren verschwun-den und Dokumente gestohlen. Inzwischen hat die IAEA alleMaterialien gesichert, an die sie gelangen konnte.

Failing states, Nuklearanlagen und NuklearmaterialienGeht man von Erfahrungen aus, die im Zusammenhang mit demZerfall der ehemaligen Sowjetunion gemacht wurden, können„failing states“ die internationale Gemeinschaft mit Proliferations-risiken konfrontieren. Es gibt keine Garantie dafür, dass Länder, dieForschungsreaktoren oder noch weiter entwickelte zivile Nuklear-programme betreiben, nie schwächeln oder gar zerfallen und so dieKontrolle über ihre nuklearen Anlagen und Materialien verlieren.Während weithin anerkannt ist, dass failing states ein Sicherheits-problem darstellen, ist es weit weniger bekannt, dass sie die Weltauch mit neuen Proliferationsrisiken konfrontieren könnten.

Neue Quellen nuklearbezogener TechnologienNeueste Ergebnisse zu den Proliferationsaktivitäten von Abdul Q.Khans Netzwerk 24 brachten ein weiteres Proliferationsproblem ansTageslicht, das in Zukunft an Bedeutung gewinnen könnte. Entwick-lungsländer werden eine zusätzliche Quelle nuklearbezogener Tech-nologien und Ausrüstungen. Die wachsenden technologischen Ka-pazitäten sich industrialisierender Nationen wird einige von ihnenin die Lage versetzen, wichtige Komponenten solcher Nuklearein-richtungen wie Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsanlagen zuproduzieren und zu liefern. Einige der hochentwickelten Zentrifu-genteile in Khans Angeboten waren in Malaysia hergestellt worden –einem Land, das nicht einmal ein bedeutendes eigenes Nuklearpro-gramm hat.25 Allein diese Tatsache lässt zur rechten Zeit die Alarm-

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24 Diese Befürchtungen sind angebracht, unabhängig davon, ob Khans Akti-vitäten aus eigenem Interesse durchgeführt wurden oder als Teil einer kon-trollierten oder Lockvogelaktion.25 Malaysia betreibt einen einzigen 1 MW-Forschungsreaktor am MalaysianInstitute for Nuclear Technology Research und hat gegenwärtig keine Pläne,Atomenergie zu nutzen.

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glocken läuten. Es gibt nicht länger eine Gewähr dafür, dass diewichtigen Produkte immer aus einem der Länder kommen, dieheute unter Exportkontrollregelungen arbeiten wie der NuclearSuppliers Group oder dem Zangger Comittee. Außerdem zeigtKhans Fall, dass Länder, die ein Atomwaffenprogramm haben, eineQuelle der Proliferation werden können.

4 Instrumente der Kontrolle und Begrenzung von Proliferation

4.1 Non-Proliferation per VertragDer nukleare Non-Proliferation Treaty (NPT) ist weltweit zumGrundstein als multilaterales Instrument der Non-Proliferation ge-worden. Initiiert durch die ersten Signatarstaaten am 1. Juli 1968und in Kraft getreten 1970, erfreut sich das Abkommen heute fastweltumspannender Mitgliedschaft. Nur Israel, Indien und Pakistansind niemals Mitglieder geworden. Nordkorea hat sich 2003 aus demAbkommen zurückgezogen.

In Artikel 2 verpflichtet der NPT seine nicht-nuklearen Mitglieder,„Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungs-gewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzu-nehmen; Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzu-stellen noch sonst irgendwie zu erwerben und keine Unterstützungzur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpernzu suchen oder anzunehmen“. Umgekehrt verpflichten sich dieAtomwaffenstaaten in Artikel 1, niemals Nichtnuklearstaaten dabeizu helfen, die obige Verpflichtung direkt oder indirekt zu umgehen.Allerdings sichert Artikel 4 den nicht-nuklearen Staaten zu, dass sievoll und ganz berechtigt sind, die Atomenergie friedlich zu nutzenund dass sie den Transfer der dafür relevanten Technologien vonLändern, die bereits darüber verfügen, erwarten dürfen. Artikel 4lautet:

„Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch dasunveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unterWahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimung mit denArtikeln 1 und 2 dieses Vertrages, die Erforschung, Erzeugung undVerwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln.

Alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichenAustausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen undtechnologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Atom-223

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energie zu erleichtern und sind berechtigt, daran teilzunehmen.Vertragsparteien, die hierzu in der Lage sind, arbeiten ferner zusam-men, um allein oder gemeinsam mit anderen Staaten oder interna-tionalen Organisationen zur Weiterentwicklung der Anwendung derAtomenergie für friedliche Zwecke, besonders im Hoheitsgebiet vonNichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, unter gebührenderBerücksichtigung der Bedürfnisse der Entwicklungsgebiete der Weltbeizutragen.“

Während der Vertrag einerseits eine ungewöhnliche Unterschei-dung zwischen Staaten trifft, die zum gegebenen Zeitpunkt berech-tigt sind, über Atomwaffen zu verfügen („Haves“), und Staaten, diedas nicht sind („Have Nots“), enthält er andererseits zwei Regelun-gen, die signalisieren, dass diese Unterscheidung nicht für alle Ewig-keit Bestand haben sollte. Die erste Regelung ist in Artikel 6 enthal-ten und verpflichtet die Atomwaffenstaaten, „in redlicher AbsichtVerhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendi-gung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklea-ren Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und voll-ständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationalerKontrolle“.

Die zweite Regelung findet sich in Artikel 10 und lautet: „Fünf-undzwanzig Jahre nach Inkrafttreten dieses Vertrages wird eineKonferenz einberufen, die beschließen soll, ob der Vertrag auf unbe-grenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmteFrist oder Fristen verlängert wird.“

1995, fünfundzwanzig Jahre nach Inkrafttreten des NPT, wurdeeine Resümee- und Verlängerungskonferenz abgehalten, die ohneAbstimmung vereinbarte, dass der Vertrag weiterhin bedingungslosund unbegrenzt gelten sollte. Diese Entscheidung wurde möglich,weil ein Dokument mit dem Titel „Prinzipien und Ziele“ auf dersel-ben Konferenz beschlossen wurde und während der nächsten Resü-meekonferenz 2000 zu dreizehn praktischen Schritten weiter aus-gearbeitet wurde, die zum ersten Mal konkrete Ziele sowie einenArbeitsplan formulierten, um sowohl die Non-Proliferation wie auchdie Abrüstung seitens der atomaren Staaten voranzutreiben und zustärken. Die 1995 und 2000 getroffenen Entscheidungen spiegeltenso die gleiche Einstellung wider, die dem Vertrag selbst zugrundelag: Die Non-Proliferation kann gestärkt werden, wenn auch dieAbrüstung mit dem Ziel der endgültigen Vernichtung aller atoma-ren Waffen Fortschritte macht. Die Fortschritte beim Erreichen der 224

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Verpflichtungen von 1995 und 2000 waren mühsamer, als es diemeisten NPT-Mitglieder erwartet hatten. Zum Zeitpunkt der näch-sten Resümee-Konferenz im Mai 2005 wurde der Grundkonsens fürden Vertrag und seine Ausdehnung nicht mehr von allen Mitglie-dern akzeptiert. Unter der Regierung von George W. Bush fühlensich die Vereinigten Staaten nicht länger den „Prinzipien und Zie-len“ und dem Dreizehnschritte-Prozess verpflichtet. Die neue US-Regierung konzentrierte sich eher auf unilaterale statt auf multilate-rale Initiativen, um die Non-Proliferation zu stärken und akzeptiertekeinerlei Abrüstungsverpflichtungen für Atomwaffenstaaten. DerVertrag selbst beinhaltet jedoch einige Schwächen in Bezug auf dieProliferation:

– Der Vertrag unterscheidet zwischen „Haves“ und „Have Nots“.Diese Unterscheidung ist einmalig im internationalen Recht, dasnormalerweise alle souveränen Staaten als gleich ansieht. Seit-dem die US-Regierung ihre Unterstützung des „Prinzipien-und-Ziele-Prozesses“ zurückgezogen hat, sind viele nicht-nukleareMitgliedsstaaten zunehmend kritisch geworden gegenüber dermangelnden Bereitschaft der Atommächte zur Abrüstung. DieserKonflikt trägt das Potenzial in sich, dass der NPT in Zukunft aus-gehöhlt werden könnte.

– Im Artikel 4 spricht der Vertrag allen nicht-nuklearen Mitgliederndas volle Recht zu, sich im zivilen Gebrauch der Nukleartechno-logien zu engagieren. Er verpflichtet Länder, die im Besitz solcherTechnologien sind, Ländern, die nicht in deren Besitz sind, denZugang zu diesen Technologien zu ermöglichen, wenn sie diesefür zivile Zwecke, etwa die Elektrizitätserzeugung, nutzen wollen.Nach dem NPT ist es für einen nicht-nuklearen Staat durchauslegal, einen geschlossenen Brennstoffkreislauf zu betreiben. Dasbeinhaltet das Recht, eine Reihe von Einrichtungen zu betreiben,die ein hohes Potenzial für die Proliferation in sich tragen. Vor-schläge für zusätzliche Sicherheitsvorschriften und Exportbe-schränkungen für diese Elemente des Brennstoffkreislaufs – dieoft von Atomwaffenstaaten gemacht oder unterstützt werden –,vertiefen die oben erwähnte Teilung.

– Israel, Indien und Pakistan haben den NPT niemals unterschrie-ben, jedoch Atomwaffen erhalten. Da der Vertrag den Beitrittneuer Atomwaffenstaaten nicht erlaubt, wäre der Verzicht aufAtomwaffen für diese Staaten eine Vorbedingung, um dem Ver-225

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trag beitreten zu können. Das wird wohl kaum geschehen.Diverse nicht-nukleare Mitglieder des NPT äußern sich deshalbzunehmend kritisch über die Tatsache, dass diese zusätzlichenAtomwaffenstaaten als Atomwaffenstaaten außerhalb des Vertra-ges de facto toleriert werden.

– Israel stellt einen eigenen, schwierigen Fall dar. Israel verfolgt inBezug auf sein nukleares Waffenpotenzial eine Politik bewussterAmbivalenz. Während die offizielle Linie lautet, dass Israel nichtals erstes Nuklearwaffen in der Region einsetzen würde, habenalle israelischen Regierungen seit 1970 zu verstehen gegeben,dass sie über einen einsatzfähigen nuklearen Waffenbestand ver-fügen, den sie sehr kurzfristig einsetzen könnten, wenn dieserforderlich sein sollte. Seit dem präemptiven israelischen Angriff1981 auf die im Bau befindliche irakische Atomkraftanlage inOsirak hat die Begin-Doktrin zusätzliche Probleme im MittlerenOsten geschaffen. Vor 1981 war der Hauptkritikpunkt der arabi-schen und islamischen Welt, dass die westlichen Länder insge-heim das israelische Nuklearprogramm akzeptierten oder sogarunterstützten. Heute, unter Bezugnahme auf die Begin-Doktrin,behält sich Israel das Recht vor, jedes nuklear relevante Ziel injedem arabischen oder islamischen Land der Region anzugreifen,das verdächtigt wird, Atomwaffen zu bauen. Der Angriff aufOsirak kann jedoch auch so interpretiert werden, dass Israel sei-nen arabischen und islamischen Nachbarn auch das Recht strei-tig macht, Atomenergie für die Elektrizitätserzeugung zu nutzen.Da alle muslimischen Länder, die potenziell durch diese Interpre-tation betroffen sind, nicht-nukleare Mitglieder des NPT sind,sehen sie Israel – als Nichtmitglied des NPT – als Land, das sie anihrem „unveräußerlichen Recht“ hindert, wie es in Artikel 4 desNPT garantiert ist.

Der Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT) ist ein weiterer multi-lateraler Vertrag, der Auswirkungen auf die Proliferation habenkann. Schon im Februar 1963 schrieb der frühere US-Verteidigungs-minister Robert McNamara in einem Memorandum für PräsidentJohn F. Kennedy: „Ein umfassendes Verbot von Atomwaffentests,dem die USA, die UdSSR und Großbritannien zustimmen würden,würde in der Form wirken, dass er die Ausbreitung (von Atom-waffen) verlangsamen würde. Es ist vermutlich keine Übertreibungzu sagen, dass er eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende 226

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Bedingung dafür ist, die Zahl der nuklearen Länder gering zu hal-ten.“ 26 Erst nach dem Ende des Kalten Krieges wurde ein solcherVertrag beschlossen. Der Comprehensive Test Ban Treaty wurde1996 zur Unterschrift vorgelegt. Seitdem haben mehr als 100 Länderunterschrieben. Es bleibt dennoch unklar, ob der CTBT jemals inKraft treten wird. Alle 44 Länder mit einem zivilen oder militäri-schen Nuklearprogramm müssten den Vertrag ratifizieren, bevor erin Kraft treten kann und so „die Ausbreitung verlangsamt“ wird. ElfLänder haben noch nicht ratifiziert; manche haben noch nicht ein-mal den Vertrag unterschrieben. Während einige Länder das auch inabsehbarer Zukunft nicht tun werden, erwägen die VereinigtenStaaten – unter der gegenwärtigen Regierung – sogar, ihre Unter-schrift zurückzuziehen.

Ein CTBT, der in Kraft wäre, würde einen wichtigen Beitrag zurNon-Proliferation leisten. Länder, die eine neue Atomwaffe bauen,würden nicht mit Sicherheit wissen, ob ihre Konstruktion auchfunktionieren würde. Während dieses Hindernis bei Waffen, die aufHEU oder Plutonium beruhen, keine große Rolle für die Verlässlich-keit spielen würde,27 könnte sie für Konstruktionen, die auf zivilemNuklearmaterial wie etwa Reaktorplutonium beruhen, wesentlichwichtiger sein.

Der Fissile Material Cut-Off Treaty (FMCT) beinhaltet den Vor-schlag, die Non-Proliferation durch Abschluss eines multilateralenVertrags zu unterstützen. Die Verhandlungen darüber auf der UN-Konferenz zur Abrüstung haben noch nicht begonnen, obwohl dieIdee schon seit vielen Jahren virulent ist. Der Vertrag würde die Pro-duktion neuen spaltbaren Materials für Atomwaffen ächten. Erwürde sowohl von Atomstaaten wie von nichtatomaren Staaten abge-schlossen werden. In Atomstaaten würde er die Menge des für Waf-fen verfügbaren spaltbaren Materials begrenzen. In nichtatomarenStaaten würde er als zusätzliches Sicherheitsinstrument für Non-Proliferation funktionieren. Zusammen mit dem existierenden Pro-gramm, um überschüssiges spaltbares Material zu vernichten – wieetwa die russischen Bemühungen, 500 Tonnen überschüssigen

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26 Secretary of Defense, Memorandum for the President, Subject: The Diffu-sion of Nuclear Weapons with and without a Test Ban Agreement, Washing-ton, DC: 12. Februar 1963, S. 3 (ursprüngl. Klassifikation: SECRET).27 Länder, die solche Waffen testeten, waren meist schon beim erstenVersuch erfolgreich.

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spaltbaren Materials vom waffenfähigen HEU-Status auf den Reak-torstatus LEU herunterzufahren –, würde er dazu beitragen, dieMenge des waffenfähigen spaltbaren Materials auf der Welt zu redu-zieren.

Für eine Reihe von Regionen sind Nuclear Weapons Free ZoneTreaties (NWFZ) im Einklang mit Artikel 7 des NPT abgeschlossenworden. Sie stellen sowohl eine vertrauensbildende Maßnahmegegen die mögliche Proliferation nuklearer Waffen als auch eine zu-sätzliche, gesetzlich verbindliche Hürde gegen nukleare Prolifera-tion dar. In einer wechselseitig verbindlichen Art und Weise ver-sichern die Mitglieder eines NWFZ einander, dass sie keine Atom-waffen bauen oder kaufen werden. Außerdem werden die existie-renden NWFZs durch politisch verbindliche Negative Security Assu-rances* durch die Atomstaaten gestützt. Zu den etablierten NWFZsgehören:

– die Pazifische Atomwaffenfreie Zone, eingerichtet durch denVertrag von Roratonga;

– die Lateinamerikanische und Karibische Atomwaffenfreie Zone,eingerichtet durch den Vertrag von Tlatleloco;

– die Afrikanische Atomwaffenfreie Zone, eingerichtet durch denVertrag von Pelindaba.

Zusätzliche regionale NWFZs werden verhandelt oder in Erwägunggezogen, zum Beispiel:

– der Mittlere Osten, beruhend auf einem Vorschlag, den der Schahvon Persien 1974 gemacht hat; es handelt sich immer noch umeine Idee. Jedoch hat der IAEA-Generalsekretär ElBaradei vonallen wichtigen Staaten der Region, einschließlich Israel, dieZustimmung erhalten, eine regionale Tagung darüber im Jahr2005 abzuhalten;

– Zentralasien;– Nordostasien.

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* Negative Sicherheitsgarantie. Sie beinhaltet, dass die Atomwaffenstaatenerklären, in diesen Zonen Atomwaffen weder einzusetzen noch ihren Einsatzanzudrohen. (Anm. d. Ü.)

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Der Non-Proliferationseffekt von NWFZs ist begrenzt. Sie stellenjedoch eine vertrauensbildende Maßnahme dar, indem die Ländersich gegenseitig zusichern, sich nicht um Atomwaffen zu bemühen.

4.2 Non-Proliferation durch SicherheitsmaßnahmenDie Existenz internationaler Sicherheitsmaßnahmen gegen Prolife-ration beruht auf Artikel 3, Absatz 1 des NPT. Der Grundgedanke ist,dass nicht-nukleare Staaten nur dann nukleares Material und Tech-nologie erhalten dürfen, wenn sie der IAEA gestatten, sich davon zuüberzeugen, dass ihre Nuklearprogramme allein friedlichen Zwek-ken dienen. Deshalb konzentrieren sich die Sicherheitsmaßnahmenvor allem darauf, die Umleitung von nuklearem Material aus einemzivilen Brennstoffkreis in militärische Kanäle zu verhindern.

Das heute existierende System der Sicherheitsmaßnahmenwurde in zwei Hauptschritten installiert. In der ersten Phase wurdeein Rahmen für die Durchsetzung von Sicherheitsmaßnahmen ge-schaffen, und es wurden detaillierte Richtlinien für die Durchfüh-rung von IAEA-Inspektionen ausgehandelt. Eine Übereinkunft überdieses Dokument, Information Circular 153 (INCIRC 153), wurde1972 erreicht. Auf der Grundlage dieses Dokuments wurden Verein-barungen über Sicherheitsmaßnahmen zwischen der IAEA und ein-zelnen Staaten geschlossen und veröffentlicht. Zum Beispiel enthältINFCIRC 214 die Vereinbarung über Sicherheitsmaßnahmen zwi-schen Iran und der IAEA. Die Vereinbarungen beinhalten Regelun-gen darüber, wann nicht-nukleare Staaten verpflichtet sind, die IAEAmit bestimmten Informationen über ihre Nuklearanlagen, Materia-lien und Programme zu versorgen. Sie ermächtigen die IAEA, dieKorrektheit dieser Angaben durch Inspektionen im Land zu verifi-zieren. Für den Fall, dass die IAEA zur Einschätzung gelangt, dassein Land ohne Vorbehalte mit der IAEA zusammengearbeitet hatund nur an zivilen nuklearen Projekten arbeitet, kann dieses Landweiterhin nukleares Material und Technologie beziehen. Urteilt dieIAEA dagegen, dass Zweifel und/oder offene Fragen bezüglich desNuklearprogramms eines Landes bestehen, ist sie berechtigt, zusätz-liche spezielle Untersuchungen durchzuführen mit dem Ziel, ent-weder das Land vom bestehenden Verdacht freizusprechen oder,falls Verpflichtungen verletzt wurden, dies dem UN-Sicherheitsratzu melden, der über weitere Maßnahmen beraten würde. Anfang2005 waren umfassende Vereinbarungen über Sicherheitsmaßnah-men zwischen der IAEA und 166 Ländern in Kraft.229

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Im Nachklang des Golfkrieges von 1991 enthüllten Inspektorender IAEA, dass der nicht-nukleare Irak jahrelang ein geheimes Atom-waffenprogramm vorangetrieben hatte. Man garantierte diesen In-spektoren durch einen besonderen Beschluss des UN-Sicherheits-rats das Recht zu zusätzlichen Inspektionen nach dem Ende desKrieges. Die Entdeckungen führten zu dem Schluss, dass die exi-stierenden Vereinbarungen über Sicherheitsmaßnahmen nicht aus-reichten, um ein Land davon abzuhalten, ein geheimes Atomwaffen-programm durchzuführen und dass eine zusätzliche, umfassendereSicherheitsvereinbarung notwendig wäre, um mit solchen Heraus-forderungen fertig zu werden. 1997 hatten die IAEA-Mitgliedsstaa-ten ein freiwilliges Model Additional Protocol (INFCiRC 540) überausgeweitete Sicherheitsmaßnahmen ausgehandelt. Länder, die dasProtokoll akzeptieren, ermöglichen es der IAEA, bisher nicht be-kannte Anlagen zu inspizieren, zusätzliche kurzfristige Inspektio-nen und zudem umweltbezogene Stichproben durchzuführen. DasProtokoll verpflichtet die Länder außerdem, der IAEA zusätzlicheInformationen zur Verfügung zu stellen, wie etwa die Deklarationaller Im- und Exporte, die auf der Nuclear Suppliers Group triggerlist aufgeführt sind (siehe unten). Im Jahr 2005 ist das Zusatzproto-koll für 65 Länder in Kraft, weitere 25 haben es unterschrieben.

Das Zusatzprotokoll ist von besonderem Wert, wenn ein Landunter dem Verdacht steht, seine NPT-Verpflichtungen und diejeni-gen gegenüber den Sicherheitsvereinbarungen zu verletzen. Als derIran 2003 in einen solchen Verdacht geriet, wiesen die IAEA undviele Mitgliedsstaaten nachdrücklich darauf hin, dass Iran dasZusatzprotokoll unterzeichnet hätte und damit auch die zusätz-lichen IAEA-Rechte anerkenne, die darin enthalten sind. Iran unter-zeichnete das Protokoll im November 2003. Während jedoch die ira-nische Regierung sich so verhielt, als sei das Protokoll in Kraft, hatdas iranische Parlament es bis heute nicht ratifiziert.

Die bestehenden Sicherheitsmaßnahmen zielen darauf ab, innicht-nuklearen Staaten die Umleitung ziviler Nuklearkapazitäten inmilitärische zu verhindern. Sie befassen sich weder mit militäri-schen Einrichtungen in Atomwaffenstaaten noch mit den zivilennuklearen Einrichtungen in diesen Ländern, es sei denn, die Atom-waffenstaaten stimmen von sich aus zu, bestimmte Einrichtungenoder Materialien unter die Sicherheitskontrolle der IAEA zu stellen.Sicherheitskontrollen werden auch nicht in Staaten durchgeführt,die keine Mitglieder des NPT sind, es sei denn, diese Staaten würden 230

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einige ihrer Einrichtungen freiwillig der Sicherheitskontrolle unter-werfen.

Obwohl die Inspektionen der IAEA immer wieder kritisiert wur-den, weil sie kostspielig, zeitraubend und entweder wirkungslosoder unzureichend seien, sind sie offensichtlich wesentlich besser,als Kritiker behaupten. Im Irak deckten die Inspektoren der IAEA(und der UNMOVIC – United Nations Monitoring, Verification andInspection) das irakische Nuklearprogramm auf und kamen 2003ganz korrekt zu dem Schluss, dass es nicht reaktiviert worden war.

Die gegenwärtigen Vorschläge zur Stärkung der Sicherheitsmaß-nahmen der IAEA schließen die Forderung ein, das Zusatzprotokolluniversell gültig und mandatorisch zu machen für nicht-nukleareStaaten, die nukleare Importe vornehmen wollen. Einige westlicheLänder schlagen vor, dass Güter, die auf der Liste der NuclearSuppliers Group stehen, nur in Länder ausgeführt werden dürfen, indenen das Zusatzprotokoll in Kraft ist.

Die Inspektionen erreichen jedoch ihre natürlichen Grenzen,wenn man Inspektoren nicht erlaubt, ihre Arbeit zu tun, oder wennsie aufgefordert werden, Details außerhalb ihrer Zuständigkeit zuverifizieren. Dasselbe trifft zu, wenn man ihnen nicht genug Zeitgibt, um zu einem ausgewogenen und fairen Urteil zu kommen.Inspektoren wie jede multilaterale Institution können nur tun, wasdie Mitgliedsstaaten sie tun lassen. Sie können keinen Beweiserbringen, dass ein Atomwaffenprogramm oder Teile eines solchenProgramms definitiv nicht existieren. Sie brauchen die politischeKooperation sowohl seitens des Staates, der inspiziert wird, als auchseitens der Staaten, die diese Inspektionen verlangt haben. Einegewisse Skepsis ist eine der Voraussetzungen, um diese Arbeit aus-zuüben und nicht Zeichen mangelnder Unvoreingenommenheit.Wichtig ist, dass die (Zwischen-) Ergebnisse nicht politisiert oderveröffentlicht werden, bevor das untersuchte Land eine Chance hat,die Ergebnisse zu kommentieren oder Irrtümer zu korrigieren.28

Die Sicherheitsmaßnahmen der IAEA sind im Zusammenhangzu sehen mit nationalen wie multilateralen Exportkontrollmaßnah-men, die zur Verhinderung der Proliferation geschaffen wurden.

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28 Iran stellt einen solchen Fall dar. (Zwischen-) Ergebnisse und Berichte derIAEA über die Untersuchungen zu Irans Erfüllung seiner Sicherheitsver-pflichtungen sind wiederholt in den Medien in politisch einseitiger Formwiedergegeben worden, bevor der Iran selbst faktische Irrtümer korrigierenkonnte.

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4.3 Non-Proliferation durch ExportkontrollenMultilaterale Maßnahmen zur Exportkontrolle als Ergänzung vonSicherheitsmaßnahmen und Verhinderung der Proliferation gibt esseit den frühen siebziger Jahren. Grundlage ist Artikel 3, Absatz 2des NPT, der alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, nukleares Materialoder Technologien nur dann zu liefern, wenn sie in den Empfänger-ländern den Sicherheitskontrollen unterworfen werden.

Die Staaten, die in der Lage waren, nukleare Technologie zu lie-fern, begannen im Jahr 1971 mit informellen Treffen. Später wurdedieses Forum als das Zangger Committee bekannt. Sie entwickelteneine „trigger list“* nuklearer Gegenstände, die Kontrolle erforderten,sowie drei Bedingungen für Länder, die solche Gegenstände erhal-ten wollten: Der Empfänger musste einer Sicherheitskontrollverein-barung zugestimmt haben, alle Importe ausschließlich zu fried-lichen Zwecken nutzen und diese beiden Bedingungen auch mög-lichen Empfängern von Wiederausfuhren stellen.

Ergänzend zum NPT und zum Zangger Committee bilden vier-undvierzig Länder, die in der Lage sind, nukleares Material oderTechnologie auszuführen, die London Nuclear Suppliers Group(NSG), die seit 1975 existiert. Die Gruppe einigte sich auf eine aus-gedehnte trigger list von Nuklearmaterial, Technologien und Aus-rüstungen, die der nationalen Exportkontrolle unterliegen, wie auchauf eine Liste wichtiger Technologien, die doppelt genutzt werdenkönnen. Diese Liste wird von Zeit zu Zeit aktualisiert, um mit derEntwicklung der Technologie Schritt zu halten. Beide Listen sindBestandteile der Richtlinien der NSG, die politisch, jedoch nichtrechtlich verbindlich sind. Wenn Mitgliedsstaaten sich aber dazuverpflichten, diese Gegenstände und Güter in ihre nationalen Ex-portkontrollsysteme zu übernehmen, werden sie rechtlich bindend.

In den vergangenen Jahren hat es neue Initiativen gegeben, umdie Kontrolle über die Lieferung nuklearer Technologie zu festigen.Einem US-Vorschlag folgend, beschloss der G-8-Gipfel im Juni 2004ein einjähriges, verlängerbares Moratorium für neue Transfers vonUrananreicherungs- und Wiederaufbereitungstechnologien inStaaten, die noch nicht im Besitz solcher Technologien sind.

Viele nicht-nukleare Mitgliedsstaaten, vor allem sich entwickeln-de Länder, sind entweder skeptisch oder offen kritisch gegenüber

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* „Trigger“ ist hier im Sinne von Zünder, Auslöser zu verstehen; also eineListe, die gefährliche Materialien auf dem Weg zur Waffenfähigkeit aufzählt.(Anm. d. Ü.)

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dem Verhältnis von Sicherheitsmaßnahmen und Exportkontrollenim allgemeinen und insbesondere gegenüber Versuchen, nuklear-relevante Exporte davon abhängig zu machen, ob das Empfänger-land zusätzliche Bedingungen erfüllt. Sie befürchten, dass dieseRegelungen in diskriminierender Art und Weise angewendet wer-den können und den legitimen Zugang zu moderner Nukleartech-nologie, wie er unter Artikel 4 des NPT zugesichert ist, behindern. Inden letzten Jahren ist diese Kritik sowohl vernehmlicher als auchartikulierter geworden.

Weniger diskriminierende Ansätze für Sicherheitsmaßnahmenund Exportkontrollen beinhalten Optionen, bestimmte Brennstoff-kreisvorgänge wie die Anreicherung von Uran oder Wiederaufberei-tungsanlagen zu einer multilateralen Angelegenheit zu machen:Multilaterale Brennstoffkreisanlagen sind eine alte Idee, um dieNon-Proliferation zu unterstützen. Würden verschiedene Länderdieselben Einrichtungen nutzen, wäre es weniger wahrscheinlich,dass eine Umleitung von Nuklearmaterial oder Ausscherungsver-suche unentdeckt blieben. Die teilnehmenden Länder kontrollierensich gegenseitig. Eine internationale Expertengruppe für multilate-rale Maßnahmen in Bezug auf den Brennstoffkreislauf hat demGeneraldirektor der IAEA Anfang 2005 einen Bericht vorgelegt.

4.4 Non-Proliferation durch ZusammenarbeitDie Auflösung der früheren Sowjetunion und die daraus erwach-sende Sorge, ob ein Russland in der Krise in der Lage sein würde, dienotwendige strenge Kontrolle über seinen riesigen Nuklearkomplexzu behalten, zeitigte eine Vielzahl kooperativer Non-Proliferations-maßnahmen. Ursprünglich überwiegend durch die VereinigtenStaaten geführt, inzwischen aber mitgetragen und mitfinanziertdurch eine ganze Reihe von Ländern, ist ein ganzes Bündel koope-rativer Aktivitäten entwickelt worden. Viele fallen unter das oder ent-springen dem „Cooperative Threat Reduction“-Programm, das 1991durch die US-Senatoren Nunn und Lugar angestoßen wurde. Im fol-genden einige wichtige Beispiele:

– Verschiedene Projekte zielen auf eine zentralisiertere und poli-tisch wie technisch sicherere Lagerung des nuklearen Materialsund der nuklearen Waffen in Russland. Andere sollen den nukle-aren Brennstoff aus den vernichteten nukleargetriebenen U-Booten sichern.233

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– Eine Anzahl von Projekten wie das International Science andTechnology Center Program, die Nuclear Cities Initiative, dieRussian Transition Initiative und die Proliferation Prevention Ini-tiative konzentrieren sich darauf, Beschäftigungsmöglichkeitenfür Atomwissenschaftler zu finden, um einen „brain drain“ zuvermeiden, mithin Proliferation zu verhindern, die aus derArbeitssuche von Wissenschaftlern im Ausland resultierenwürde.

– Einige Programme bemühen sich um die Verstärkung der Grenz-kontrollen und der Exportkontrollbehörden in den sowjetischenNachfolgestaaten.

– Wieder andere versuchen, auf kooperative Art und Weise die Pro-duktion von spaltbarem Material in Russland zu beenden und dieLager mit spaltbarem Material im Land zu reduzieren. In der Tri-lateralen Initiative im Jahr 1996 kamen die Vereinigten Staaten,Russland und die IAEA überein, einiges an überschüssigem spalt-barem Material (sowohl Plutonium wie Uran) unter die Kontrolleder IAEA zu stellen. 1993 willigten die Vereinigten Staaten ein,Russland 500 Tonnen HEU abzukaufen, das heruntergemischt(„downblended“) und als Brennstoff in US-amerikanischenAtomkraftwerken verwendet wird. Das Plutonium DispositionAgreement war bisher weniger erfolgreich, bei dem die Vereinig-ten Staaten und Russland übereinkamen, 34 Tonnen waffenfähi-ges Plutonium entweder in MOX-Brennstoff umzuwandeln oderunschädlich zu machen, indem es mit nuklearem Abfall gemischtwird.

Seit 2002 ist das Programm zur „Weltweiten Partnerschaft gegen dieVerbreitung von Waffen und Material zur Massenvernichtung“ aus-geweitet worden. Die G-8-Mitgliedsstaaten haben sich verpflichtet,für diese Initiative über einen Zeitraum von zehn Jahren 20 Milliar-den Dollar auszugeben.

Im Mai 2004 starteten Russland, die Vereinigten Staaten und dieIAEA die Global Threat Reduction Initiative. Diese Initiative zieltdarauf, spaltbares Material, das ursprünglich aus Russland oder denVereinigten Staaten stammt, dorthin zurückzuführen, und zwar ausüber vierzig Ländern der Erde. Ein Ziel des Programms ist es, HEUals Reaktorbrennstoff aus zivilen Nuklearprogrammen zu verban-nen. Forschungsreaktoren, die durch HEU betrieben werden, stellenein großes Problem bezüglich der Proliferation dar. Schon vor dieser 234

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Initiative sind spaltbare Materialien aus einigen Ländern wie Ser-bien, Bulgarien und Kasachstan entweder in die Vereinigten Staatenoder nach Russland verlagert worden.

Einige Initiativen, die ursprünglich der amerikanisch-russischenZusammenarbeit zur Reduktion der Bedrohung entsprangen, sindmultilateral geworden und werden in hinzugekommenen Ländernebenfalls durchgeführt. Einige Beispiele:

– Hilfe für die einzelnen Länder, wirklich effektive, die Prolifera-tion verhindernde Exportkontrollen durchzuführen;

– Projekte, die alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für Nukle-arspezialisten und -wissenschaftler schaffen (ein Teil der EU-Vor-schläge für Iran).

Diskussionen über die Sicherheitsmängel in der früheren Sowjet-union haben auch zu Initiativen im Zusammenhang der IAEA bei-getragen, die auf verstärkte Sicherheitsmaßnahmen bei zivilenNuklearvorgängen zielen. Zu den Beispielen gehören:

– die Verbesserung der Convention on the Physical Protection ofNuclear Materials von 1980, der im Juli 2005 zugestimmt wurde;

– die Entwicklung der Joint Convention on the Safety of Spent FuelManagement and on the Safety of Radioactive Waste Manage-ment aus dem Jahr 1997.

4.5 Zwangsmaßnahmen und militärische Maßnahmen gegen ProliferationSeit dem Amtsantritt der Regierung von George W. Bush in denVereinigten Staaten im Jahr 2001 sind unilaterale Maßnahmen zurVerhinderung von Proliferation gestärkt worden. Zwei Formendavon müssen hier erwähnt werden. Im Mai 2003 wurde die Prolife-ration Security Initiative begonnen. Es ist eine von den USA inspi-rierte und geführte Initiative, deren Ziel es ist, das Abfangen von Lie-ferungen nuklearer, biologischer oder chemischer Waffen und ver-wandter Materialien während des internationalen Transports aufdem Luft- oder Seeweg zu legitimieren. Viele Länder begegneten die-sem Vorschlag mit Skepsis, weil er höchstwahrscheinlich eine Reihevon internationalen Verträgen verletzen würde, die die ungehinder-te Passage von Flugzeugen und Schiffen bei internationalen Trans-fers garantierten. Als die Bush-Regierung jedoch den ursprüng-235

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lichen Anwendungsbereich der Initiative einschränkte und dieSchwelle für die Teilnahme anderer Länder an dieser Initiative her-absetzte, um den rechtlichen Bedenken dieser Länder entgegenzu-kommen, haben weitere Nationen Interesse gezeigt. 2005 beteiligtensich mehr als 50 Länder.

Durch den Einsatz von Gewalt versuchen militärische Antiprolife-rationsoperationen, Proliferation rückgängig zu machen oder abzu-brechen, die bereits stattgefunden hat. Dazu gehört Sabotage durchspezielle Einsatzkräfte, Militärschläge aus der Luft oder zur See undsogar militärische Interventionen in das Gebiet, wo die Proliferationstattgefunden hat. Im Fall eines nichtstaatlichen Akteurs, der nukle-are Sprengköpfe bauen will, würden militärische Antiproliferations-einsätze das Gebiet des Gaststaates treffen, unabhängig davon, obdieser Staat den nichtstaatlichen Akteur bewusst beherbergt, odernur deshalb, weil er über Teile seines Territoriums nur mangelhafteKontrolle hat. Militärische Antiproliferationseinsätze können in prä-ventiver oder präemptiver Art und Weise durchgeführt werden oderals Vergeltungsmaßnahmen. In vielen Fällen stellen sie eine Verlet-zung internationalen Rechts dar, weil sie als Akte der Aggressiongelten. Die Vereinigten Staaten haben solche Einsätze zu einem inte-gralen Bestandteil ihrer offiziellen nationalen Sicherheitsstrategiegemacht. Andere große Mächte haben eine gewisse Bereitschaftgezeigt, solche Optionen ebenfalls in Betracht zu ziehen.

Nicht weit entfernt von einer klassischen und umfassenden mili-tärischen Intervention, müssen militärische Proliferationseinsätzegeheim vorbereitet werden, um sowohl das Überraschungsmomentals auch die Erfolgsaussichten zu vergrößern. Wenn möglich, wer-den sie sogar im Geheimen ausgeführt. Unter Umständen werdensie nicht einmal hinterher bekannt gemacht. Die Öffentlichkeit weißnicht, wie viele solcher Einsätze im Lauf der Jahre stattgefundenhaben. Die meisten der bekannten Einsätze waren Bestandteil vonKriegshandlungen, etwa die Angriffe der Alliierten im Zweiten Welt-krieg auf von Deutschland kontrollierte nukleare Anlagen in Europa.Öffentlich bekannt wurde auch der israelische Angriff auf den iraki-schen Reaktor in Osirak 1981. Schließlich wurde der Krieg gegen denIrak 2003 mit Antiproliferation als einem der Hauptargumente legi-timiert. Wie sich jedoch später herausstellte, gab es dort keinen Fallvon Proliferation, der rückgängig zu machen gewesen wäre.

Wegen der Geheimhaltung ist es schwierig, die realen Auswir-kungen solcher Einsätze für den Abbruch oder die Verzögerung von 236

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Atomprogrammen zu beurteilen. Aus dem, was man weiß, ist dieWirkung zumindest geringfügig und zweifelhaft. Zusätzlich musssie gegen das Risiko des Fehlschlags, gegen die Verletzung interna-tionalen Rechts und die Möglichkeit einer falschen Anschuldigungwegen Proliferation abgewogen werden, die solchen Einsätzenzugrunde liegen kann. Jüngste öffentliche Diskussionen über einenmöglichen Militärschlag der USA und/oder Israels zum Zweck derAntiproliferation gegen das iranische Nuklearprogamm haben mehrLicht auf die Komplexität, die zweifelhaften Erfolgsaussichten unddie Unwägbarkeiten einer solchen Operation geworfen.

5 Eine Welt auf der Suche nach EnergieDie Sorge wächst, ob die heutigen Hauptquellen der Primärenergie– Öl und Erdgas – auch weiterhin den wachsenden Bedarf ausrei-chend befriedigen können. Die weltweite Nachfrage nach Energiewächst rapide, vor allem wegen der schnellen Entwicklung asiati-scher Länder zu Industriegesellschaften. Indem Asien infolge derdurch die Globalisierung freigesetzten Kräfte arbeits- und energiein-tensive Produktionsprozesse übernimmt, die früher in der sichheute deindustrialisierenden westlichen Welt beheimatet waren, istder Energiebedarf dort sprunghaft gestiegen. Eine ausreichendeEnergieversorgung ist zu einer der Grundvoraussetzungen für dieasiatische Entwicklung geworden. Jedoch sind weder Öl noch Gasunerschöpflich oder können zu erschwinglichen Preisen in unbe-grenzten Mengen überall und jederzeit geliefert werden. Früheroder später muss man mit Knappheit rechnen, die entweder aus derKluft zwischen Nachfrage und Angebot oder aus regionalenKonflikten erwächst. Deshalb ist die Suche nach alternativen undzusätzlichen Energiequellen zu einem maßgeblichen Trend sowohlin der westlichen Welt wie auch in den sich entwickelnden Länderngeworden. Atomenergie ist eine der Alternativen, die immer mehr inBetracht gezogen wird.

In der westlichen Welt existieren diverse Studien, die behaupten,dass es möglich sei, die Proliferation zu begrenzen, während mangleichzeitig zivile Nukleartechnologie exportiert.29 Die Non-Prolife-rationslösungen, die für die Zukunft angeboten werden, sind etwaso vielversprechend wie die Non-Proliferationsinitiativen, die in den

23729 Nur ein Beispiel: The Atlantic Council: Proliferation and the Future ofNuclear Power, Washington 2004.

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sechziger und siebziger Jahren proklamiert wurden. Sie wären ver-mutlich auch von ähnlicher Wirksamkeit. Diese Vorschläge würdenes ermöglichen, erst einmal zu kaufen, bis erste Beispiele Schlupf-löcher und Lücken demonstrieren. Seitdem nichtstaatliche Akteuresich auf diesem Feld tummeln, bieten Non-Proliferationsmaßnah-men, die für die Verhinderung oder Regelung der Weitergabe zwi-schen Staaten geschaffen wurden, vermutlich mehr Schlupflöcherals früher. Ein Problem wird von allen übersehen, die nukleare Tech-nologieexporte trotz der Proliferations- und Sicherheitsbedenkenbefürworten. Man kann nicht zur gleichen Zeit ein Maximum anSchutz vor Proliferation und ein Maximum an wirtschaftlichen Vor-teilen beim Export ziviler nuklearer Energie haben.

Trotz der verschiedensten Vorbeugemaßnahmen, die ergriffenworden sind, wird die nukleare Proliferation auch in Zukunft einProblem für die internationale Sicherheit darstellen. Es ist allerWahrscheinlichkeit nach nicht übertrieben, zu behaupten, dass esunmöglich ist, die zivile Nutzung der Atomenergie hundertprozen-tig resistent gegen Proliferation zu machen. Die Hürden für dienukleare Proliferation könnten erhöht werden, d.h. das Problemwürde eingegrenzt werden. Jedoch werden wohl alle vorgeschlage-nen und auch umgesetzten Maßnahmen zur Eingrenzung des Pro-blems mit der Zeit an Wirksamkeit einbüßen. Technologischer Fort-schritt und wachsender Zugang zu Technologien wird irgendwannin Zukunft die Versuche, die alten und neuen Non-Proliferations-maßnahmen zu umgehen, erleichtern oder es der Proliferationsogar erlauben, völlig neue technologische Wege zu gehen.

Bei solchen Aussichten muss man selbst unter günstigstenBedingungen annehmen, dass die Proliferationsrisiken langsamwachsen, weil die Zahl der Länder, die Atomenergie zur Elektrizi-tätserzeugung nutzen, wächst. Mit jedem Land, das sich dem Kreisder zivilen Atomenergienutzer anschließt, gibt es zusätzliche Orte,an denen nukleares Material überwacht werden muss, zusätzlicheExperten und Wissenschaftler mit spezieller Ausbildung und spe-ziellem Wissen, die beschäftigt werden wollen, und zusätzliche Ortemit Einrichtungen, die möglicherweise ein Ziel terroristischerAngriffe sein könnten.

Zukünftig könnten die Proliferationsrisiken aus verschiedenenGründen steigen: Erstens ist Uran selbst eine begrenzte Energie-quelle. Die Weltreserven an Uran werden definitiv zu Ende gehen.Um Uran zu einer nachhaltigeren Energiequelle zu machen, muss 238

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man geschlossene Brennstoffkreisläufe nutzen und damit Technolo-gien, die höhere Proliferationsrisiken mit sich bringen, wie etwaWiederaufbereitung und die Separation von Plutonium. Zweitens isteiner der Effekte der Globalisierung, die registriert werden können,die Schwächung des staatlichen Gewaltmonopols. Dieses Phänomenwird oft unter der Rubrik „failing“ oder „failed states“ abgehandelt,und deren Anzahl wächst kontinuierlich. In solchen Staaten habenRegierungen Teile ihres Territoriums, das sie angeblich regieren,nicht mehr länger unter Kontrolle. Sie können nicht länger Sicher-heit garantieren. Wenn failed states nukleare Einrichtungen beher-bergen, egal ob zivil oder militärisch, werden sie unverzüglich zueinem großen Proliferationsproblem. Der Zerfall der früherenSowjetunion hat der Welt viele Aspekte, die eine solche Situationkennzeichnen, bewusst gemacht. Können wir sicher sein, dassPakistan niemals zu einem failed state wird oder zerfällt? Drittenswird es immer mehr Länder geben, die „Lieferer von nuklearerTechnologie“ werden, weil die Zahl der Länder zunimmt, die zivilenukleare Einrichtungen betreiben und damit auch der Technologie-transfer in diese Länder steigt. Die Deindustrialisierung des Westensund die Industrialisierung des Südens werden ein ernsthafter Testfür die heutigen Mechanismen der Kontrolle, der Begrenzung oderdes Verbots nuklearer Technologieexporte. Einige der potenziellenkünftigen Lieferstaaten nuklearer Technologie könnten ein anderesVerständnis von ziviler Nutzung haben als die traditionellen Nukle-armächte und ihre engsten Verbündeten. Die Herausforderung fürdas Exportkontrollsystem bezüglich nuklearer Ausfuhren wirdbedeutend sein. Wenn solche neuen Lieferländer erst einmal umMarktanteile kämpfen, könnte es durchaus sein, dass die Industrienin den westlichen Ländern ein altes und gefährliches Argumentbringen, das in früheren Jahrzehnten die nukleare Proliferationgefördert hat: „Wenn wir es nicht verkaufen, werden sie es tun. Alsoist es besser, wir verkaufen es.“

Vor etwa fünfundzwanzig Jahren kam eine SIPRI-Studie 30 überProliferationsrisiken bei Nuklearenergie zu dem Schluss, dass eingeschlossener Brennstoffkreislauf, der auf multilateralen Anreiche-rungs- und Brennstoffeinrichtungen beruht, der vermutlich gegenProliferation resistenteste Weg für die zukünftige Nutzung derAtomenergie sei. Die Studie drang darauf, entschlossen die zwei

239 30 Frank u.a.: Nuclear Energy and Nuclear Weapons Proliferation, 1979.

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oder drei Jahrzehnte zu nutzen, die durch den NPT und andere Non-Proliferationsmaßnahmen gewonnen wurden und die den Prozessder Proliferation hinauszögern und die Möglichkeit eröffnen, einensolchen resistenten Brennstoffkreislauf zu entwickeln. Seitdem sindwenige praktische Fortschritte gemacht worden. Warum sollte es inZukunft größere Fortschritte geben?

Atomenergie wird von vielen Ländern noch immer als hochwer-tige und moderne Technologie angesehen. Deshalb wird sie als einnormaler Weg der Modernisierung betrachtet. Nicht alle Länder wer-den über die wirtschaftlichen Mittel verfügen, diesen Weg zu gehen,aber die, die es können, könnten die nukleare Option wählen. Solange westliche Länder, die am profitablen Export von nuklearenEinrichtungen interessiert sind, Atomenergie als moderne, umwelt-freundliche und billige Energiequelle darstellen, werden sie neueLänder ermutigen, nukleare Technologie zu nutzen. Indem sie dastun, werden sie zwangsläufig die Risiken der Proliferation erhö-hen.31

Zum Schluss eine Erinnerung: Der NPT und das Non-Proliferations-system, die zwischen den späten sechziger Jahren und dem Beginndes einundzwanzigsten Jahrhunderts geschaffen wurden, basiertenauf einer unausgesprochenen Voraussetzung, die schon erwähntwurde. Es ist möglich, die Non-Proliferation zu stärken und dieMechanismen der Non-Proliferation effektiver zu machen. Aber umdas zu erreichen, muss der politische Wille da sein. Ob dieser Willeexistiert, hängt von sichtbaren Fortschritten bei der Atomwaffenkon-trolle und der Abrüstung ab. Der gegenwärtige Mangel an politi-schem Willen, Fortschritte bei der Abrüstung zu erzielen, könntesich negativ auf den politischen Willen zur Unterstützung einesstrengeren Non-Proliferationsregimes auswirken. In diesem Fallwürde das Non-Proliferationsregime eher geschwächt als gestärkt.

240

31 Es wäre eine Überlegung wert, die Atomenergie als veraltete Technologiezu betrachten. Heute arbeiten in immer mehr Ländern die besten Techniker,Ingenieure und Wissenschaftler eher an Technologien zur Erhöhung derEnergieeffizienz oder an erneuerbaren Energien statt an nuklearen Techno-logien.

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Pferdewagen vor den Blöcken 5 und 6 des Atomkraftwerks Kosloduj (Atomna Elek-

tro Zentrala AEZ) in Bulgarien. © Peter Dammann/Greenpeace

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KAPITEL 5

DIE WIRTSCHAFTLICHKEIT DER ATOMENERGIE

Von Steve Thomas

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Wohnhäuser vor dem Kühlturm des stillgelegten Atomkraftwerkes Mühlheim-Kärlich. Das

umstrittene Atomkraftwerk, das an einer gefährlichen Stelle errichtet wurde, war nur ein Jahr

lang in Betrieb. © Paul Langrock/Zenit/Greenpeace

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1 EinleitungDie ernste Herausforderung, die die Notwendigkeit zur Verminde-rung der Treibhausgasemissionen insbesondere im Sektor derStromerzeugung darstellt, hat zu einem wiedererwachten Interesseam Bau neuer Atomkraftwerke geführt. Diese sollen zu Beginn denalternden Bestand bestehender Reaktoren ersetzen, dann die wach-sende Nachfrage nach Strom befriedigen und schließlich gegeneinen Teil der mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerke aus-getauscht werden. Auf lange Sicht lautet das Versprechen, dass eineneue Generation von Atomkraftwerken zur Wasserstoffproduktioneingesetzt und damit die Verbrennung von Kohlenwasserstoffen inKraftfahrzeugen überflüssig gemacht werden kann.

Wenn die Öffentlichkeit hinsichtlich der Frage, ob die Atomener-gie eine günstige Stromquelle darstellt, verwirrt ist, ist das nur zuverständlich. In den letzten Jahren wurde die Atomenergie in einergroßen Anzahl offenkundig autoritativer Studien in einem gutenLicht präsentiert, und die meisten Energieversorger scheinen ent-schlossen, ihre bestehenden Anlagen so lange wie möglich weiter zubetreiben. Gleichzeitig scheuen die Energieversorger angesichtsmangelnder Preis- und Marktgarantien und Subventionen vor demBau neuer Atomkraftwerke zurück. Ein Teil dieses scheinbarenWiderspruchs erklärt sich durch die Differenz zwischen den laufen-den Kosten der Stromerzeugung aus Atomenergie, die generellrelativ gering veranschlagt werden, und den Gesamtkosten derAtomstromerzeugung – einschließlich der Rückzahlung der Bau-kosten –, die beträchtlich höher liegen. Mit anderen Worten: Ist einAtomkraftwerk erst einmal gebaut, könnte es wirtschaftlich durch-aus sinnvoll sein, die Anlage weiter zu betreiben, und zwar selbstdann, wenn die gesamten Erzeugungskosten einschließlich der Bau-kosten höher sind als die Kosten alternativer Techniken. Die Bau-kosten einer Anlage sind nämlich „Sunk Costs“, versunkene Kosten,die nicht rückgängig gemacht werden können, die Grenzkosten derErzeugung einer zusätzlichen Kilowattstunde (kWh) dagegen kön-nen vergleichsweise gering sein.

Allerdings rührt ein Großteil des Unterschieds zwischen derWirtschaftlichkeit bestehender Anlagen und der Wirtschaftlichkeits-prognosen für zukünftige Anlagen von unterschiedlichen Annah-men beispielsweise zu den Betriebsleistungen und laufendenKosten her, die sich nicht so ohne weiteres auf die Gesamtzahlenumlegen lassen.249

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In diesem Kapitel sollen die zentralen ökonomischen Parameteridentifiziert, ihre bestimmenden Faktoren kommentiert und dieAnnahmen der wichtigsten Prognosen aus den letzten fünf Jahrenüberprüft werden, um zu ermitteln, inwiefern und warum diesePrognosen voneinander abweichen. Gleichzeitig werden auch dieGarantien und Subventionen identifiziert, die Regierung möglicher-weise bieten müssen, damit neue Kernkraftwerke gebaut werden.

2 Der Weltmarkt für Atomkraftwerke:Bestellungen und weitere AussichtenIn den letzten Jahren hat die angebliche internationale Renaissanceder Atomenergie insbesondere in den pazifischen Anrainerstaatenviel Publicity bekommen. Allerdings deutet ein Überblick über denaktuellen Stand der Bestellungen (siehe Tabelle 2) darauf hin, dasses mit dieser Renaissance nicht ganz so weit her ist. Im Oktober2005 befanden sich weltweit 22 Anlagen mit einer Gesamtkapazitätvon ca. 19 Gigawatt (GW) im Bau, verglichen mit 441 Anlagen imDienst mit einer Gesamtkapazität von 368 GW (siehe Tabelle 1). Vonden derzeit im Bau befindlichen Anlagen basieren 16 auf indischer,russischer oder chinesischer Technologie – Reaktortypen, die imWesten aller Wahrscheinlichkeit nach nie zum Einsatz kommenwürden. Bei sechs dieser Anlagen, mit deren Bau vor 1990 begon-nen wurde, sind Zweifel angebracht, ob sie jemals fertiggestellt wer-den. Darüber hinaus liegen die Anlagen, die sich auf Taiwan im Baubefinden und mit deren Fertigstellung bei der Bestellung 1996 fürdas 2004 gerechnet wurde, um sechs Jahren hinter dem Zeitplanzurück. Die beiden in Europa aktiven westlichen Hersteller –Westinghouse und Areva – derweil haben nur ein einzige Bestellungvorliegen: das Areva-Atomkraftwerk Olkiluoto in Finnland.

Angesichts der offiziellen Prognose Pekings, bis zum Jahr 2020rund 30 neue Atomkraftwerke zu errichten, wird China häufig alskünftiger Großbesteller angeführt. Allerdings spricht China seitüber 25 Jahren immer wieder von umfangreichen Bestellungen, hatin dieser Zeit aber nur elf Blöcke bestellt und davon waren drei klei-ne Reaktoren aus lokaler Fertigung. Höchstwahrscheinlich wirdChina wegen der begrenzten Kapitalressourcen nur eine kleinereAnzahl von Neubestellungen auf dem internationalen Markt tätigen– und zwar weniger als von der chinesischen Regierung prognos-tiziert oder von der internationalen Atomindustrie erhofft – undparallel dazu den Ausbau einer eigenen Atomindustrie forcieren. 250

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Indien bestellte in den sechziger Jahren Atomkraftwerke vonwestlichen Lieferanten, aber ein Atomwaffentest im Jahr 1975, beidem in einem kanadischen Forschungsreaktor produziertes Spalt-material eingesetzt wurde, führte zum Abbruch aller Kontakte mitwestlichen Lieferanten. Seitdem baut Indien weitere Anlagen auf derGrundlage eines kanadischen Designs aus den sechziger Jahren.Allerdings leiden diese Reaktoren unter einer geringen Zuverlässig-keit, und da ihr Bau meist viel länger als vorhergesagt dauert, solltendie Angaben zur Fertigstellung in Tabelle 2 mit Skepsis betrachtetwerden. Die Vereinigten Staaten, die 1998 nach weiteren Waffen-tests ebenfalls die Kooperation mit Indien eingestellt hatten, nah-men 2005 Verhandlungen mit Neu Delhi über einen Vertrag zurtechnologischen Zusammenarbeit im Bereich der zivilen Atom-stromnutzung auf. Auch Kanada beliefert Indien seit 2005 wiedermit nuklearem Material. Ob und wann sich daraus neue Bestellun-gen für westliche Kernkraftwerkhersteller ergeben, bleibt abzu-warten.

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Tabelle 1

Atomare Kapazität vorhandener und im Bau befindlicher Anlagen

Argentinien 935 (2) - 9 HWR Siemens, AECL

Armenien 376 (1) - 35 WWER Russland

Belgien 5728 (7) - 55 DWR Framatome

Brasilien 1901 (2) - 4 DWR Westinghouse,Siemens

Bulgarien 2722 (4) - 38 WWER Russland

China 6587 (9) 2000 (2) ? DWR, Framatome,HWR, AECL, China,WWER Russland

Taiwan 4884 (6) 2600 (2) ? DWR, SWR GE, Framatome

Deutschland 20303 (17) - 28 DWR, SWR Siemens

Finnland 2656 (4) 1600 (1) 27 WWER, Russland, Asea,SWR, DWR Westinghouse

Frankreich 63473 (59) - 78 DWR Framatome

Großbritannien 11852 (23) - 24 GGR, DWR UK, Westinghouse

Indien 2983 (15) 3638 (8) 3 HWR, SFR, AECL, Indien,WWER Russland

Iran - 915 (1) - WWER Russland

Japan 47646 (55) 1933 (2) 25 SWR, Hitachi,Toshiba,DWR Mitsubishi

Kanada3 12599 (18) - 12 HWR AECL

Litauen 1185 (1) - 80 RBMK Russland

Mexiko 1310 (2) - 5 SWR GE

Niederlande 452 (1) - 4 DWR Siemens

Pakistan 425 (2) 300 (1) 2 HWR, DWR Kanada, China

Rumänien 655 (1) 655 (1) 9 HWR AECL

Russland 21743 (31) 3775 (4) 17 WWER,RBMK Russland

Schweden 8844 (10) - 50 DWR, Westinghouse,SWR Asea

Schweiz 3220 (5) - 40 DWR, Westinghouse,SWR GE, Siemens

Slowakei 2472 (6) - 57 WWER Russland

Slowenien 676 (1) - 40 DWR Westinghouse

Spanien 7584 (9) - 24 DWR, Westinghouse, GE,SWR Siemens

Land Anlagen in Betrieb:Leistung/MW (AnzahlBlöcke)

Anlagen im Bau:1Leistung/ MW (AnzahlBlöcke)

Atom-strom-anteil im Jahr2004 (in %)

Reaktor-typ(en)2

Lieferanten

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Südafrika 1842 (2) - 6 DWR Framatome

Südkorea 16840 (20) - 40 DWR, Westinghouse,HWR AECL, Korea

Tschechien 3472 (6) - 31 WWER Russland

Ukraine 13168 (15) - 46 WWER Russland

Ungarn 1755 (4) - 33 WWER Russland

USA 97587 (103) - 20 DWR, Westinghouse,SWR B&W, CE, GE

WELTWEIT 367875 (441) 19210 (22) 16

1 Anlagen im Bau ohne Anlagen, die sich im Baustopp befinden.

2 Reaktortypen:

DWR: Druckwasserreaktor

SWR: Siedewasserreaktor

HWR: Schwerwassermoderierter Reaktor (einschließlich CANDU)

(Heavy Water Reactor)

WWER: Russischer DWR (Wasser-Wasser-Energiereaktor)

RBMK: Russischer graphitmoderierter Siedewasser-Druckröhrenreaktor

(reaktor bolshoi moschtschnosti kipjaschtschij )

SFR: Schneller Brüter

GGR: Gasgekühlter Reaktor

3 Nicht berücksichtigt in den Angaben für Kanada sind zwei Blöcke mit einer Gesamtkapazität

von 1561 MW, die in den neunziger Jahren stillgelegt wurden, aber laut einem Beschluss

vom Oktober 2005 modernisiert und wieder in Betrieb genommen werden sollen.

Quelle: World Nuclear Association (http://www.world-nuclear.org/info/reactor.htm); Stand 10/2005

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Tabelle 2

Atomkraftwerke weltweit im Bau

China Tianwan 1 WWER Russland 1000 1999 70 2006

China Tianwan 2 WWER Russland 1000 2000 100 2006

Taiwan Lungmen 1 ABWR GE 1300 1999 57 2009

Taiwan Lungmen 2 ABWR GE 1300 1999 57 2010

Finnland Olkiluoto 3 EPR Areva 1600 2005 - 2009

Indien Kaiga 3 CANDU Indien 202 2002 45 2007

Indien Kaiga 4 CANDU Indien 202 2002 28 2007

Indien Kudankulam 1 WWER Russland 917 2002 40 2008

Indien Kudankulam 2 WWER Russland 917 2002 40 2008

Indien Tarapur 3 CANDU Indien 490 2000 73 2007

Indien PFBR SFR Indien 470 2005 0 ?

Indien Rajasthan 5 CANDU Indien 202 2002 34 2007

Indien Rajasthan 6 CANDU Indien 202 2003 19 2007

Iran Busher WWER Russland 915 1975 75 2006

Japan Tomari 3 DWR Mitsubishi 866 2004 28 2009

Japan Higashi Dori 1 SWR Toshiba 1067 2000 95 2005

Pakistan Chasnupp 2 DWR China 300 2005 - 2011

Rumänien Cernavoda 2 CANDU AECL 655 1983 71 2007

Russland Balakowo 5 WWER Russland 950 1987 ? 2010

Russland Kursk 5 RBMK Russland 925 1985 70 ?

Russland Kalinin 4 WWER Russland 950 1986 ? 2010

Russland Wolgodonsk 2 WWER Russland 950 1983 ? 2008

GESAMT 17480

Reaktortyp EPR: Europäischer Druckwasserreaktor (European Pressurized Reactor)ABWR: Fortgeschrittener Siedewasserreaktor (Advanced Boiling Water Reactor)

Quellen: PRIS Data Base (http://www.iaea.org/programmes/a2/index.html), NuclearNews, „World List of Nuclear Plants“.

Land Standort Reaktor-typ

Hersteller Leistung/MW

Bau-fort-schritt(in %)

Bau-beginn

Inbe-trieb-nahme geplant

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Tabelle 3

Atomkraftwerke im Baustopp

Land Standort Reaktor- Hersteller Netto- Bau- Baufort-typ leistung/ beginn schritt

MW in %

Argentinien Atucha 2 CANDU AECL 692 1981 80

Brasilien Angra 3 DWR Siemens 1275 1976 30

Nordkorea Kedo 1 DWR Südkorea 1000 1997 33

Nordkorea Kedo 2 DWR Südkorea 1000 1997 33

Rumänien Cernavoda 3 CANDU AECL 655 1983 10

Rumänien Cernavoda 4 CANDU AECL 655 1983 8

Rumänien Cernavoda 5 CANDU AECL 655 1983 8

Slowakei Mochovce 3 WWER Russland 405 1983 50

Slowakei Mochovce 4 WWER Russland 405 1983 40

Ukraine Khmelnitsky 3 WWER Russland 950 1986 15

Ukraine Khmelnitsky 4 WWER Russland 950 1987 15

GESAMT 8642

Quellen: PRIS Data Base (http://www.iaea.org/programmes/a2/index.html), Nuclear News, „World List of Nuclear Plants“.

Tabelle 4

Mögliche Bestellungen in den nächsten zwei bis drei Jahren

Käufer Standort

China Sanmen Areva (EPR), 2x1000 MW 2005/06 ?Westinghouse (AP1000),Russland (WWER-1000)

China Yangjiang Areva (EPR), 2x1000 MW 2005/06 ?Westinghouse (AP1000),Russland (WWER-1000)

Frankreich Flamanville 3 Areva (EPR) 1x1600 MW 2006 2012

Südkorea Shin-Kori 1&2 Korea (KSNP) 2x1000 MW 2005 2010 2012

Südkorea Shin-Kori 3&4 Korea (APR-1400) 2x1400 MW 2006 2012 2013

Japan Tsuruga 3&4 Mitsubishi (APWR) 2x1500 MW 2006 2014

Quelle: Verschiedene Pressemeldungen

Bieter,Reaktortyp

Leistung MöglichesBestell-datum

GeplanteFertig-stellung

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Japan ist ein weiteres Land, das regelmäßig weitaus mehr Reaktor-neubauten vorhergesagt hat, als dann später tatsächlich geordertwurden. Die für diese Anlagen notwendigen Teile werden von japa-nischen Unternehmen geliefert, die von Westinghouse und GElizenzierte Technologien verwenden. Obwohl sich in Japan der Ge-nehmigungsprozess für neue Anlagen bis zu 20 Jahre hinziehenkann, vergeht von Baubeginn bis Fertigstellung nur wenig Zeit (nor-malerweise vier Jahre), und der Zeitplan wird üblicherweise einge-halten. Nach einer Serie von Unfällen in den häufig schlecht gema-nagten japanischen Atomanlagen ist das Misstrauen in der Öffent-lichkeit gegenüber Atomstrom kräftig gewachsen und dürfte sich dieSuche nach neuen Standorten für Atomkraftwerke wohl sehrschwierig gestalten.

Da zuverlässige Informationen über den Baufortschritt von russi-schen Atomkraftwerken nur schwierig zu beschaffen sind, ist nichtauszuschließen, dass an den hier als im Bau befindlich aufgeführtenAnlagen derzeit nicht weitergebaut wird, was insbesondere für dasAtomkraftwerk Kursk 5 gilt, das auf derselben Technologie wie derTschernobyl-Reaktor basiert.

Der für die in Tabelle 3 aufgeführten elf Blöcke angegebene Fer-tigstellungsgrad, mit deren Bau bereits begonnen, die aber nochnicht fertiggestellt sind, ist mit Vorsicht zu genießen. Bei Anlagen,die zu weniger als 33 Prozent fertiggestellt sind, wurden bislang wohlnur vorbereitende Arbeiten am Standort ausgeführt, der Bau amReaktor selbst aber noch nicht aufgenommen.

Was die erwarteten Bestellungen in den kommenden Jahren an-geht (siehe Tabelle 4), hat China zwar angekündigt, diese Bestellun-gen noch 2005 zu tätigen, wobei es allerdings niemanden überra-schen würde, wenn Peking diesen Fahrplan nicht einhält. Nachdemder Baubeginn der in Südkorea mit koreanischer Technologie (lizen-ziert von BNFL/Westinghouse) geplanten Kraftwerke mehrmals ver-schoben wurde, geht man derzeit davon aus, dass mit dem Bau derBlöcke 1 und 2 nicht vor 2006 und der Blöcke 3 und 4 nicht vor 2007begonnen wird.

Auch die japanischen Tsuruga-Blöcke – die ersten Bestellungendes APWR-Bautyps – liegen um über sechs Jahre hinter dem ur-sprünglichen Zeitplan zurück.

Ob der Auftrag für den Flamanville-3-Block, den Frankreicherrichten möchte, erteilt werden kann, hängt von Ergebnis eineröffentlichen Anhörung ab, die durch einen von der Regierung er- 256

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nannten unabhängigen Ausschuss durchgeführt und aller Wahr-scheinlichkeit nach nicht vor Mitte 2006 abgeschlossen sein wird.

Im Rahmen des 2002 aufgelegten Programms Nuclear Power2010 setzt sich die Bush-Regierung massiv für die Wiederbelegungdes amerikanischen Atomenergiemarktes ein. Unter dem Pro-gramm, das sich auf Generation-III+-Baureihen konzentriert (sieheunten), soll das US-Energieministerium kooperative Projekte mitder Industrie mit dem Ziel in Gang setzen, „ … von der NRC [NuclearRegulatory Commission] im Rahmen des Early Site Permit-Prozes-ses (ESP) eine frühzeitige Standortbewilligung für drei Standortezum Bau neuer Atomkraftwerke zu erhalten, Richtlinien zur An-tragsvorbereitung für eine kombinierte Bau- und Betriebsgenehmi-gung (Construction and Operating License, COL) zu entwickeln undallgemeine regulatorische Fragen im Zusammenhang mit dem COL-Prozess zu klären. Der COL-Prozess ist ein ›One-Step‹-Lizenzie-rungsverfahren, in dem die mit dem Bau von Kernkraftwerken ein-hergehenden öffentlichen Gesundheits- und Sicherheitsbedenkenvor Baubeginn gelöst werden und die NRC den Bau genehmigt undeine Lizenz zum Bau und Betrieb eines neuen Atomkraftwerkserteilt“.1

Dazu sollen insgesamt Zuschüsse in Höhe von bis zu 450 Millio-nen US-Dollar verfügbar gemacht werden. Zwei große Organisatio-nen wurden gebildet, die um diese Subventionen konkurrieren.Dabei handelt es sich zum einen um Nustart, ein 2004 gegründetesKonsortium von acht amerikanischen Energieversorgern (Constel-lation Energy, Entergy, Duke Power, Exelon, Florida Power & Light,Progress Energy, Southern Company und die Tennessee ValleyAuthority (TVA), die Mitarbeiter abstellt, aber kein Kapital beisteu-ert), dem auch die französische Energieversorger EdF und die Her-steller Westinghouse und GE als Mitglieder ohne Stimmrecht ange-hören. Nustart plant, zwei Anträge zu stellen – für den Bau einesESBWR von GE auf dem Entergy-Standort Grand Gulf (Texas) sowiefür den Bau eines Westinghouse AP-1000 auf dem TVA-StandortBellefonte (mehr zu diesen Reaktortypen weiter unten).

Die zweite große Gruppe wird angeführt von dem Energiever-sorger Dominion. Dominion hat eine Bau- und Betriebslizenz füreine weiterentwickelte Version des CANDU-Bautyps der AtomicEnergy of Canada Limited (AECL) – ACR-700 – für den Standtort

257 1 http://www.ne.doe.gov/NucPwr2010/NucPwr2010.html

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North Anna (Virginia) beantragt, an dem Dominion bereits zweiLeistungsreaktoren betreibt. Allerdings hat Dominion im Januar2005 vor allem aufgrund der erwarteten Dauer des Genehmigungs-verfahrens für eine CANDU-Anlage in den USA angekündigt, denACR-700 durch einen ESBWR von GE zu ersetzen. Bislang wurde inden USA noch kein CANDU-Bautyp genehmigt, und laut NRC könn-te der Genehmigungsprozess mehr als 60 Monate erfordern – unddamit viel länger sein als für einen Generation-III+-DWR oder einenSWR.

Darüber hinaus haben auch mehrere individuelle Energieversor-ger angekündigt zu untersuchen, ob sie selbst Bau- und Betriebs-lizenzen beantragen, um in den Genuss der Bundessubventionen zukommen. Dazu gehören auch etliche unabhängig agierende Mit-glieder von Nustart, darunter TVA, Constellation, Entergy, DukePower, Progress Energy und Southern Company sowie South Caro-lina Electric & Gas. Die TVA hat beim DOE die Übernahme von 50Prozent der Kosten einer Machbarkeitsstudie (bei geschätzten Ge-samtkosten von vier Millionen US-Dollar) zum Bau eines fortge-schrittenen Siedewasserreaktors (ABWR) auf dem TVA-StandortBellefonte in Alabama beantragt. Die weiteren Mitglieder der TVA-Gruppe sind Toshiba, GE, Bechtel, USEC und Global Nuclear FuelAmericas. Die im September 2005 veröffentlichte TVA-Machbar-keitsstudie basiert auf dem Bau von zwei GE-ABWRs am StandortBellefonte und kommt zu dem Ergebnis, dass die Anlagen innerhalbvon 40 Monaten gebaut und Strom zu einem Preis von 1610 $/kWerzeugen könnte. Dass diesem Vorschlag derzeit offenkundig weni-ger Priorität zugewiesen wird als der Nustart-Initiative, liegt mitdaran, dass die beiden ABWRs die einzigen Reaktoren dieses Bau-typs in den Vereinigten Staaten wären und zudem vieles darauf hin-deutet, dass die ABWR-Technologie durch die ESBWR-Baureihe ver-drängt wird. Unterdessen hat Constellation Energy im September2005 angekündigt, dass man ein Jointventure mit Areva Inc. undBechtel Power gegründet habe, um EPR-Blöcke von Areva in die Ver-einigten Staaten zu verkaufen. Im selben Monat hat auch Entergyangekündigt, eine kombinierte Bau- und Betriebsgenehmigung fürseinen Standort River Bend zu beantragen.

Obwohl sowohl Nustart als auch die Dominion-Gruppe beabsich-tigen, den Prozess bis zur Erteilung einer Lizenz durchzuziehen, hatsich bislang keines der beiden Konsortien auf den Bau einer neuenAnlage festgelegt oder gar neue Reaktoren bestellt. Somit bleibt un- 258

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klar, ob die Mitglieder der verschiedenen Initiativen tatsächlich denBau neuer Atomkraftwerke anstreben oder ob sie lediglich die staat-lichen Subventionen mitnehmen möchten und ansonsten daraufhoffen, dass weitere Subventionen für die Bauphase bereitgestelltund Marktgarantien gegeben werden, die neue Atomkraftwerke vorden Risiken der Großhandelsstrommärkte abschirmen.

Was wirklich von den Initiativen von Nustart und Dominion zuhalten ist, deutet eine Äußerung des Dominion-CEO Thomas Cappsaus dem Jahr 2005 an: „Wir werden in nächster Zeit sicherlich keinneues Kernkraftwerk bauen. [Die Kreditratingagenturen] Standard &Poor’s und Moody’s würden einen Herzschlag kriegen. Und meinFinanzchef ebenfalls.“ 2

Darin kommt zum Ausdruck, dass Bestellungen für neue Atom-kraftwerke nur mit der stillschweigenden Unterstützung der Finanz-industrie getätigt werden können. Kein Unternehmen wird einneues Atomkraftwerk ordern, wenn es befürchten muss, dass des-wegen seine Kreditkosten signifikant steigen oder sein Aktienkurssignifikant fällt.

3 Gängige ReaktortypenDie insbesondere im Westen für Neubestellungen in den kommen-den zehn Jahren wichtigsten Reaktortypen dürften die so genanntenGeneration-III- und Generation-III+-Reaktoren sein, die häufig auchals Advanced Reactors – fortgeschrittene Reaktoren – bezeichnetwerden. Der Hauptunterschied zwischen Generation-II- und Gene-ration-III-Anlagen ist darin zu sehen, dass letztere vermehrt „passi-ve“ statt aktive Sicherheitselemente verwenden. Zum Beispiel setzenReaktoren der Generation III weniger auf aktive Notkühlsystemeund verstärkt auf natürliche Prozesse wie Konvektion. Von den zahl-reichen angekündigten neuen Reaktortypen sind viele noch nichtausreichend weit entwickelt oder haben keine Freigabe von denRegulierungsbehörden erhalten und verfügen über entsprechendbegrenzte Aussichten am Markt. Bislang ist zwar noch nicht klardefiniert, was ein Reaktor der Generation III ist – abgesehen davon,dass er in den letzten 15 Jahren entwickelt wurde –, zumindest aberlassen sich die von der Atomindustrie zitierten wichtigsten gemein-samen Eigenschaften benennen:

2592 M. Wald: „Interest in Reactors Builds, But Industrie Is Still Cautious“, NewYork Times, 30. April 2005, S. 19.

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– ein standardisiertes Design für jeden Reaktortyp, um den Geneh-migungsprozess zu beschleunigen und Kapitalkosten sowie Bau-zeit zu reduzieren;

– ein einfacheres und robusteres Design, das den Reaktorbetriebvereinfacht und die Anfälligkeit der Anlage für Betriebsstörungenreduziert;

– höhere Verfügbarkeit und längere Laufzeiten – normalerweise 60Jahre;

– vermindertes Risiko einer Kernschmelze; – minimale Auswirkungen auf die Umwelt;– höherer Abbrand und dadurch Verminderung des Brennstoffein-

satzes und der Abfallmenge; – Absorber zur Verlängerung der Brennstofflebensdauer.3

Diese Charakteristika sind eindeutig sehr vage und wenig geeignet,Anlagen der dritten Generation zu definieren, abgesehen davon,dass sie Weiterentwicklungen der bestehenden DWR-, SWR- undCANDU-Reaktortypen sind (ein Überblick über die Technologienfindet sich in Anhang 2 und eine Liste der wichtigsten Hersteller inAnhang 3). Noch unklarer ist der Unterschied zwischen Reaktor-typen der Generation III und III+; selbst das US Department ofEnergy sagt nur, dass Reaktoren des Typs III+ gegenüber jenen desTyps III eine höhere Sicherheit und Wirtschaftlichkeit aufweisen. Solange nicht viel mehr Erfahrungen zu Generation-III- und III+-Reaktoren vorliegen, müssen Angaben zu den Stromerzeugungs-kosten dieser Reaktortypen mit der größtmöglichen Zurückhaltungbehandelt werden.

3.1 Druckwasserreaktoren

EPRDer einzige Druckwasserreaktor der Generation III oder III+, fürden bislang eine Bestellung vorliegt, ist der Europäische Druckwas-serreaktor (EPR) von Areva für den Standort Olkiluoto in Finnland.Nachdem die finnische Regierung im Februar 2005 eine Bauge-nehmigung erteilt hatte, wurde im Sommer 2005 mit dem Bau andem Reaktor begonnen. Der EPR wurde auch bei Ausschreibungenaus China angeboten, doch bis Oktober 2005 waren diese Ausschrei-

2603 http://www.uic.com.au/nip16.htm

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bungen noch nicht entschieden worden. Frankreich will zwar zu-mindest einen EPR und vielleicht fünf weitere Blöcke bauen, dochdie Verwirklichung dieser Pläne ist noch lange nicht sichergestellt.Der EPR erhielt im September 2004 die Sicherheitsfreigabe durchdie französischen und im Januar 2005 durch die finnischen Behör-den. Areva hat – zusammen mit Constellation Energy – bei der ame-rikanischen Nuclear Regulatory Commission (NRC) im Rahmen desProgramms Nuclear Power 2010 die Lizenzierung des EPR in denVereinigten Staaten beantragt, wobei die Abkürzung EPR auf demUS-Markt für „Evolutionary Power Reactor“ stehen wird.

Der EPR hat eine Leistung von 1600 Megawatt (MW), die fürBestellungen nach Olkiluoto auf 1700 MW erhöht werden könnte.Die Bauzeit von der Grundsteinlegung bis zur Inbetriebnahme wirdmit 57 Monaten veranschlagt. Das Design basiert auf dem Frama-tome-Reaktortyp N4 sowie in Teilen auf dem „Konvoi“-Reaktortypvon Siemens. Durch eine schnellere Brennstoffbeladung erhofftman sich eine Leistungsausnutzung von über 90 Prozent.4

Der finnische Käufer TVO hat keine detaillierte Aufschlüsselungder Baukosten veröffentlicht, sondern lediglich bekanntgegeben,dass die Gesamtkosten der „schlüsselfertigen“ Anlage rund drei Mil-liarden Euro betragen. Legt man eine Leistung von 1600 Megawattzugrunde, entspricht dies Kosten von über 1875 €/kW.5 Allerdingssind darin Zinszahlungen und Stillegungskosten enthalten, die übli-cherweise bei Gegenüberstellungen der Reaktorbaukosten nichtberücksichtigt werden. Die Olkiluoto-Order gilt weithin als Sonder-fall. Zum einen wird vermutet, dass Areva die Anlage zu einemDiscountpreis angeboten hat, um seine neue Technologie im Praxis-betrieb demonstrieren zu können. Zum anderen ist der Käufer TVOalles andere als ein normaler Energieversorger. TVO befindet sich imBesitz mehrerer großer finnischer Industrieunternehmen und belie-fert seine Anteilseigner mit Strom zum Selbstkostenpreis. DasKernkraftwerk wird also über einen garantierten Absatzmarkt ver-fügen, ohne mit anderen Anbietern im nordischen Strommarkt

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4 Die Leistungsausnutzung pro Jahr (beziehungsweise für die Gesamt-lebensdauer) wird ausgedrückt als Anteil der tatsächlichen Jahresleistung(beziehungsweise die Laufzeitleistung) des Kraftwerks an der Leistung, diedie Anlage bei kontinuierlichem Volllastbetrieb erzielt hätte, und bietet eingutes Indiz für die Zuverlässigkeit der Anlage.5 Die Umrechnungen von Euro und britischem Pfund (£) zu US-Dollarbasieren auf einem Wechselkurs von 1 Euro zu 1,2 US-Dollar beziehungs-weise von 1 £ zu 1,8 US-Dollar.

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konkurrieren zu müssen. Sollten die Erzeugungskosten aber überdem Marktpreis liegen, würden die Eigentümer Geld verlieren. Dierealen Kapitalkosten für die Anlage liegen bei nur fünf Prozent proJahr.6

Der französische Energieversorger EdF hat sich bislang nochnicht groß zu den erwarteten Anschaffungskosten für seinen geplan-ten Flamanville-Reaktor geäußert. Allerdings hat der HerstellerAreva die Baukosten pro Kilowatt eines in den USA gebauten EPRauf 1600 bis 2000 $/kW geschätzt (ausschließlich der Bauzeitzinsenund der Stillegungskosten). Areva bezeichnete diese Zahlen zwar alsnicht „endgültig“, doch liegt der Betrag mit 2000 $/kW knapp unterdem für Olkiluoto genannten Preis.7

In dem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass„Konvoi“-Reaktoren eine hervorragende Arbeitsverfügbarkeit erzielthaben, die weitaus höher ist als die von N4-Reaktoren. Der ersteBlock, Chooz B1, ging 1996 in Betrieb, litt aber zunächst unterschwerwiegenden Kinderkrankheiten und kam in den ersten vierJahren auf eine durchschnittliche Leistungsausnutzung von nichteinmal 40 Prozent. Seitdem ist die Verfügbarkeit deutlich besser ge-worden und die durchschnittliche Leistungsausnutzung auf 75 Pro-zent gestiegen. Die anderen drei Blöcke dieses Bautyps folgteneinem ähnlichen Muster – nach drei bis vier Jahren sehr geringerVerfügbarkeit mit einer durchschnittlichen Leistungsausnutzungvon rund 40 Prozent erreichten sie später mit einer durchschnitt-lichen Leistungsausnutzung von rund 75 Prozent eine annehmbareZuverlässigkeit. Wie das Beispiel des N4-Reaktors zeigt, in dessenEntwicklung die Erfahrung aus den insgesamt 60 in Frankreichgebauten Druckwasserreaktoren eingeflossen sein sollen, kann mannicht davon ausgehen, dass neue Reaktortypen wie der EPR nur des-halb zuverlässiger sind, weil sie auf den Erfahrungen der Vergan-genheit aufbauen.

AP-1000Der AP-1000-Reaktor (Advanced Passive Reactor) von Westinghouseist eine Weiterentwicklung des AP-600-Reaktors. Mit dem AP-600

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6 Im Dezember 2004 reichte die European Renewable Energies Federationeine Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein, in der es hieß, dassder Olkiluoto-Reaktor illegale staatliche Beihilfen erhalten würde. Im Oktober2005 war über diese Beschwerde noch nicht beschlossen worden.7 Nucleonics Week, 22. September 2005, S. 12.

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wollte der Hersteller verstärkt auf die passive Sicherheit setzen undseiner Überzeugung Rechnung tragen, dass die Größeneffekte – ausdem Bau größerer Blöcke im Gegensatz zu dem Bau von mehrerenEinheiten – überbewertet worden waren. So rechtfertigte ein Wes-tinghouse-Manager die Entscheidung für eine Blockgröße von 600MW damit, dass derartige „Größeneffekte nicht anfallen“.8 Der AP-600 durchlief den US-Genehmigungsprozess und erhielt 1999 dieSicherheitsfreigabe. Da zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits klar war,dass der Bautyp unwirtschaftlich war, wurde der AP-600 niemals beiAusschreibungen angeboten. In der Folgezeit erhöhte Westing-house in der Hoffnung, den Bautyp durch die Ausnutzung desGrößeneffekts konkurrenzfähig zu machen, die Reaktorleistung aufrund 1150 MW. Im September 2004 schließlich erteilte die amerika-nische Nuclear Regulatory Commission (NRC) Westinghouse eineauf fünf Jahre befristete Konstruktionsgenehmigung (Final DesignApproval, FDA) für den AP-1000, der, so die NRC, noch vor Dezem-ber 2005 eine normale, für 15 Jahre gültige allgemeine Bauartgeneh-migung folgen wird. Westinghouse hat den AP-1000 bislang nur ineiner Ausschreibung angeboten, und zwar für den Bau von vierBlöcken der Generation III in China, die Sommer 2005 aber nochnicht vergeben war.

Aufgrund des modularen Bauprinzips des AP-1000 geht Westing-house davon aus, den Reaktor in 36 Monaten und zu Baukosten von1200 $/kW errichten zu können. Bis Details zum tatsächlichenGebot vorliegen und die Blöcke gebaut sind, sollte man diese Anga-ben allerdings mit Skepsis betrachten.

System 80+/APR-1400Der System-80+-Reaktor von Combustion Engineering wurde 1997von den US-Behörden genehmigt, also zu einem Zeitpunkt, als derHersteller noch zu Asea Brown Boveri (ABB) gehörte. In der Folge-zeit wurde ABB (einschließlich der Nuklearsparte von CombustionEngineering) von British Nuclear Fuels Limited (BNFL) übernom-men und in die Westinghouse-Abteilung integriert. Obwohl Wes-tinghouse den Reaktortyp System 80+ bislang noch nicht zum Ver-kauf angeboten hat, hat der südkoreanische Hersteller Doosan denBautyp unter einer Lizenz von Westinghouse zur Entwicklung des

2638 Nucleonics Week Special Report, „Outlook on advanced Reactors“, 30. März1989, S. 3.

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APR-1400 benutzt, für den in den nächsten ein oder zwei JahrenBestellungen in Südkorea erwartet werden. Südkorea hat den Bautypauch für die derzeitige Ausschreibung für Generation-III-Anlagen inChina angeboten, allerdings ohne Erfolg, und es erscheint auch we-nig wahrscheinlich, dass der APR-1400 im Westen angeboten wird.

APWRObwohl die Entwicklungsarbeit am Advanced Pressurized WaterReactor (fortgeschrittener Druckwasserreaktor) durch Mitsubishiund Westinghouse, den Lizenzgeber der Technologie, vor rund 15Jahren ungefähr gleichzeitig mit dem Siedewasserreaktor ABWRbegann, ist der APWR hinsichtlich der Bestellzahlen weit hinter demABWR zurückgefallen, und es werden die ersten Bestellungen nichtvor 2007 erwartet. Ob der APWR im Westen auf den Markt kommenwird, steht noch nicht fest. Mitsubishi hat den Reaktor bislang nochnicht im Westen angeboten, und Westinghouse konzentriert seineBemühungen auf den AP-1000.

AES-91/WWER-1000Dieser von Atomstroyexport angebotene modernste russischeBautyp war in der engeren Auswahl für Olkiluoto. In Finnland sindzwei WWERs der früheren Generation in Betrieb (auf Loviisa), undaufgrund der geopolitischen Lage und der bisherigen Erfahrungenmit der WWER-Technologie zog Helsinki auch den neuesten russi-schen Reaktor in Betracht. Der Bautyp wurde auch für die vierBlöcke angeboten, die China im Zeitraum 2005/06 zu bestellen be-absichtigt. Ob der Bautyp als Reaktor der Generation III eingestuftwerden kann, ist unklar, und es erscheint unwahrscheinlich, dass ermit Ausnahme von Finnland Chancen auf dem westlichen Markthaben wird.

3.2 Siedewasserreaktoren

ABWRDer Advanced Boiling Water Reactor (ABWR) wurde in Japan vonHitachi und Toshiba und ihrem US-Lizenzgeber General Electric(GE) entwickelt. Die ersten beiden Reaktoren wurden 1992 bestelltund 1996/1997 fertiggestellt. Stand Mitte 2005 befanden sich dreiABWRs im Betrieb und drei im Bau – einer in Japan und zwei inTaiwan. Die gesamten Baukosten für die ersten beiden japanischen 264

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Blöcke werden mit 3236 US-Dollar pro Kilowatt (in US-Dollar von1997) für die erste und mit rund 2800 $/KW für die zweite Einheitveranschlagt und liegen damit deutlich oberhalb der prognosti-zierten Kostenspanne.9 Auch wenn der ABWR 1997 in den USA dieSicherheitsfreigabe erhielt, könnte er inzwischen als nicht mehr fort-schrittlich genug für den westlichen Markt gelten.

ESBWRDer Economic & Simplified BWR (ESBWR) ist ein von GE entwik-kelter Reaktor mit einer Leistung von 1500 MW, für den das Unter-nehmen im Oktober 2005 bei der amerikanischen NRC die Zertifi-zierung beantragte. Der ESBWR ist eine Weiterentwicklung desSimplified Boiling Water Reactor (SBWR) und des ABWR. GE starte-te den Genehmigungsprozess für den SBWR in den neunziger Jah-ren, zog den Antrag aber vor Abschluss des Prozesses und noch vorEingang irgendwelcher Bestellungen für diesen Bautyp wiederzurück. GE hofft, bis Ende 2006 eine Baugenehmigung und 2007die Bauartgenehmigung für den ESBWR zu erhalten, obwohl sichdie NRC bis Oktober 2005 noch nicht dazu geäußert hatte, bis wannsie mit dem Abschluss des Genehmigungsverfahrens rechnet.

Andere SiedewasserreaktorenDarüber hinaus wurden etliche andere Reaktortypen entwickelt, vondenen aber bislang keiner eine Genehmigung durch die Aufsichts-behörden erhalten hat und lediglich der Siedewasserreaktor vonAreva bei einer Ausschreibung angeboten worden ist. Die wichtig-sten Reaktortypen umfassen:

– BWR, dieser von Areva entwickelte Reaktor mit einer Leistungvon 1000 bis 1290 MW war einer der drei Reaktortypen, die fürOlkiluoto angeboten wurden.

– BWR-90+, ein von Westinghouse auf der Grundlage des BWR-Bautyps von Asea entwickelter Reaktortyp mit 1500 MW Leistung.

3.3 CANDUDer Advanced CANDU Reactor (ACR, fortgeschrittener CANDU-Reaktor) wurde in zwei Ausführungen entwickelt: Als ACR-700 (750

2659 K. Hart: „World’s First Advanced BWR Could Generate Electricity NextWeek“, Nucleonics Week, 25. Januar 1996, S. 1.

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MW) und als ACR-1000 (1100-1200 MW). Der ACR-700 wurde inden USA auf Antrag des Energieversorgers Dominion von der NRCgeprüft. Allerdings zog Dominion im Januar 2005 den Antragzurück und optierte stattdessen für den ESBWR von GE und begrün-dete das damit, dass die NRC den Genehmigungsprozess aufgrundder fehlenden Erfahrungen mit der CANDU-Technologie in denVereinigten Staaten auf mindestens fünf Jahre veranschlagt hatte.Die Bemühungen um eine Lizenz für den ACR in den VereinigtenStaaten werden zwar fortgesetzt, aber mit weniger Nachdruck. InFolge der Entscheidung Dominions gegen den ACR-700 als Refe-renzbautyp hat AECL angekündigt, sich auf den ACR-1000 zu kon-zentrieren.

3.4 HTGRBislang ist nicht klar, ob die derzeit entwickelten HTGR-Reaktoren(High-temperature Gas-cooled Reactor, gasgekühlter Hochtempera-turreaktor) als Anlagen der Generation III oder IV eingestuft wer-den. Der Kugelhaufenreaktor PBMR (Pebble Bed Modular Reactor)basiert auf von Siemens und ABB in Deutschland entwickelten Reak-tortypen, die aber nach schlechten Erfahrung mit einem Versuchs-reaktor wieder aufgegeben wurden und inzwischen von südafrikani-schen Anbietern weiterentwickelt werden. Nach den zahlreichenÜbernahmen und Fusionen in der Reaktorherstellerbranche sinddie Lizenzgeber der Technologie jetzt Areva (für Siemens) bezie-hungsweise Westinghouse (für ABB). Die Technologie wird von demKonsortium PBMR Co. entwickelt, dem als Partner der in öffentli-chem Besitz befindliche südafrikanische Energieversorger Eskom,der britische Brennelementhersteller BNFL, der US-Energieversor-ger Exelon sowie weitere südafrikanische Unternehmen angehören.Das Projekt wurde erstmals 1998 öffentlich vorgestellt, als man nochfür das Jahr 2003 mit den ersten kommerziellen Bestellungen rech-nete. Weil es aber seitdem in der Entwicklungsphase zu unerwarte-ten Probleme gekommen ist, Exelon sich aus dem Projekt zurückge-zogen hat und die weitere Mitarbeit einiger anderer Partner, darun-ter Westinghouse, zweifelhaft erscheint, hat sich der ursprünglicheZeitplan drastisch verlängert. Selbst wenn es zu keinen weiterenVerzögerungen kommt, kann mit ersten kommerziellen Bestellun-gen nicht vor 2012 gerechnet werden.

Obwohl auch in China auf diesem Bautyp basierende Technolo-gien entwickelt werden und optimistische Aussagen über den Stand 266

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der Entwicklung zu hören sind, deutet vieles darauf hin, dass die chi-nesische Regierung die Entwicklung von Druckwasserreaktoren undmöglicherweise Siedewasserreaktoren favorisiert.

4 Schlüsselfaktoren der nuklearen ÖkonomieWie teuer die in Atomkraftwerken erzeugte Elektrizität ist, hängt vonmehreren wichtigen Faktoren ab. Einige davon sind intuitiv klar, an-dere dagegen weniger offenkundig. Die Faustregel lautet, dass überzwei Drittel der Erzeugungskosten von Atomstrom auf fixe Kostenentfallen – sprich Kosten, die anfallen, egal ob die Anlage läuft odernicht – und der Rest auf die laufenden Kosten. Die wichtigstenFixkosten sind Zinszahlungen und die Rückzahlung von Krediten,wobei auch die Stillegungskosten nicht zu unterschätzen sind. DerLöwenanteil der laufenden Kosten entfällt auf die Betriebs-, War-tungs- sowie Reparaturkosten, die Kernbrennstoffkosten dagegenspielen keine so große Rolle. Da die Annahmen für diese Parameterjedoch, wie weiter unten ausgeführt, je nach Prognose stark vari-ieren können, sollte die generelle Aufteilung zwischen fixen undvariablen Kosten nur als Indikator gesehen werden.

Darüber hinaus muss darauf hingewiesen werden, dass diesePrognosen einen Zeitraum von fünf Jahren abdecken und sich aufunterschiedliche Währungen beziehen. Die Entwicklung der Infla-tion – eine Inflationsrate von 2,5 Prozent über fünf Jahre hinweg bei-spielsweise würde die Gesamtkosten um 13 Prozent erhöhen – undallein schon die Währungsschwankungen – seit 2000 hat derWechselkurs von Dollar zu britischem Pfund zwischen 1 £ = 1,40 $und 1 £ = 1,93 $ geschwankt – bedeuten, dass alle Vergleiche einesignifikante Fehlerspanne enthalten.

4.1 Baukosten und -zeitDie Baukosten sind der am heftigsten umstrittene Parameter, ob-wohl andere Parameter wie die Kapitalkosten und die Betriebsleis-tung von vergleichbarer Bedeutung für die Gesamtkosten sind.Dafür, dass die Prognosen über die Baukosten so stark voneinanderabweichen, ist eine ganze Reihe von Faktoren verantwortlich.

Unzuverlässigkeit von DatenEin Großteil der hier zitierten Baukostenprognosen muss mit Vor-sicht genossen werden. Als zuverlässigster Indikator der zukünfti-gen Kosten haben sich häufig die bisherigen Kosten erwiesen. Aller-267

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dings müssen die wenigsten Energieversorger ordnungsgemäßgeprüfte Baukosten publizieren und haben wenig Anreize, ihregegenwärtigen Leistungen in einem anderen als guten Licht darzu-stellen. US-Energieversorger müssen Aufstellungen über die Bau-kosten ihrer Atomkraftwerke den Regulierungsbehörden vorlegen(laut deren Vorschriften nur ordnungsgemäß geprüfte Kosten aufdie Verbraucher umgewälzt werden dürfen). Auch die Baukosten fürden Sizewell-B-Reaktor lassen sich vergleichsweise gut dokumentie-ren, da das für den Bau verantwortliche Unternehmen kaum andereAktivitäten durchführte, in denen es die Baukosten hätte „verstek-ken“ können.

Aber selbst dort, wo die Baukosten zuverlässig ermittelt werdenkönnen, kann es zu Auseinandersetzungen über die Gründe für dieHöhe der Baukosten kommen. So lagen zum Beispiel laut dem PIU-Bericht 10 die tatsächlichen Kosten für Sizewell B um 35 Prozent überdem in der Bestellung aus dem Jahr 1987 angegebenen Preis. Aller-dings behauptet British Energy, dass von den schlussendlichen Bau-kosten in Höhe von rund 5400 $/kW 750 £/kW (entsprechend 25Prozent) einmalige Erstentwicklungskosten waren. Die Angebots-preise der Hersteller sind gleichfalls realistisch, obwohl die Ausrüs-tungskosten zum Teil nicht einmal die Hälfte der Gesamtkostenausmachen (auf Hoch- und Tiefbau und Installation entfällt im All-gemeinen ein höherer Anteil). Da Vertragspreise häufig Wertsiche-rungsklauseln beinhalten, liegt der endgültige Preis oft deutlichhöher und besitzen die Angebotspreise nur eine begrenzte Aussage-kraft.

Preise von Gruppen mit einem Interesse an einer bestimmtenTechnologie, beispielsweise Herstellern oder voreingenommenenOrganisationen (selbst wenn sich diese nicht auf eine konkreteBestellung beziehen) und Energieversorgern, die für Atomstromeintreten, müssen mit großer Skepsis behandelt werden. Dasselbegilt für Kostenangaben internationaler Behörden wie der NuclearEnergy Agency, insbesondere dann, wenn diese Angaben auf hypo-thetischen und nicht auf realen Kosten basieren. Im Allgemeinenwerden diese Kosten von nationalen Regierungen publiziert, die ihreeigenen Gründe haben könnten, Atomstrom in einem guten Lichtzu präsentieren und deren Zahlen im Allgemeinen nicht auf der tat-sächlichen Erfahrung basieren.

26810 Performance and Innovation Unit: „The economics of nuclear power“,Cabinet Office, London 2002.

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Üblicherweise entfällt der Löwenanteil der Kosten pro EinheitNennleistung eines Atomkraftwerks auf die Kapitalanforderungen,sprich die Baukosten sind entscheidend für Ermittlung der Strom-erzeugungskosten in einem Atomkraftwerk. Üblicherweise umfas-sen die Baukosten auch die Kosten der ersten Brennstoffladung,nicht aber die während der Bauphase anfallenden Zinsen auf Kre-dite, die so genannten Bauzeitzinsen. Um Vergleiche zwischenReaktoren mit unterschiedlicher Leistung zu ermöglichen, werdendie Kosten häufig als Kosten pro installierter kW-Leistung angege-ben. Demnach würden sich die gesamten Baukosten für ein Atom-kraftwerk mit einer Anlagenleistung von 1200 MW bei Baukostenvon 2000 £/kW auf 2,4 Milliarden Pfund belaufen.

Die Kostenprognosen für den Bau von Atomkraftwerken sind fürihre Ungenauigkeit und auch dafür berüchtigt, weit hinter den tat-sächlichen Kosten zurückzubleiben. Und anders als bei den meistenTechnologien, bei denen Lern- und Größeneffekte und der techni-sche Fortschritt bei jeder neuen Generation der Technologie zueinem Rückgang der realen Kosten führen, sind die Baukosten vonAtomkraftwerken nicht nur nicht gesunken, sondern im Gegenteilim Laufe der Jahre eher noch gestiegen.

Dabei variieren die Baukosten von Land zu Land in einem gewis-sen Maß, je nach den Arbeitskosten vor Ort und den Kosten vonRohstoffen wie Stahl und Beton.

Zu den Schwierigkeiten von VorhersagenDie Problematik von Baukostenprognosen rührt von einer ganzenAnzahl an Faktoren her. Erstens liegt bei allen gegenwärtig angebo-tenen Atomkraftwerken der Anteil der vor Ort anfallenden Arbeitensehr hoch und können die Kosten dafür bis zu 60 Prozent dergesamten Baukosten ausmachen, während die großen technischenKomponenten – beispielsweise der Turbinen-Generatorsatz, dieDampferzeuger und das Reaktorgehäuse – nur einen vergleichs-weise kleinen Anteil an den Gesamtkosten ausmachen.11 GroßeProjekte mit einem hohen Anteil an Vor-Ort-Ingenieurleistugensind bekanntermaßen schwer zu verwalten und die Kosten kaum

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11 Aufgrund der Probleme, die Baukosten zu kontrollieren, verzichtet dieWeltbank seit langem darauf, Kredite für nukleare Projekte zu vergeben.Siehe: World Bank: „Environmental Assessment Sourcebook: Guidelines forenvironmental assessment of energy and industry projects, volume III“,World Bank Technical Paper 154, World Bank, Washington, DC 1991.

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kontrollierbar. So lagen zum Beispiel in Großbritannien die Kostenfür den Bau des Kanaltunnels der Thames Barrier deutlich über denprognostizierten Kosten. Einige Reaktortypen der Generation IV,beispielsweise der Kugelhaufenreaktor, sind auf eine weitgehendeindustrielle Vorfertigung ausgelegt, was die Kostenkontrolle deutlichverbessern dürfte. Die Hersteller einiger Kraftwerkstypen bieteneine „schlüsselfertige“ Lieferung an, mit anderen Worten, sie garan-tieren die Einhaltung der vereinbarten Baukosen. Solche Garantienkönnen nur Hersteller abgeben, die sich sicher sind, alle Aspekte derBaukosten kontrollieren zu können. So wird die gegenwärtige Gene-ration von Gaskraftwerken – so genannte Kombikraftwerke (kombi-nierte Gas- und Dampfturbinenkraftwerke) – häufig zu Festpreisenangeboten, weil die Anlagen weitgehend industriell vorgefertigt wer-den und vergleichsweise wenig Vor-Ort-Arbeiten erfordern. Seit dievier großen amerikanischen Hersteller von Atomkraftwerken Mitteder sechziger Jahre insgesamt zwölf Anlagen zu Festpreisen ver-kauften und damit massive Verluste einfuhren, weil sie die Kostennicht in den Griff bekamen, ist praktisch kein Hersteller mehrbereit, komplette Anlagen zu Festpreisen anzubieten. Während ein-zelne Anlagekomponenten durchaus zu Festpreisen angeboten wer-den, sollte man Festpreise für „schlüsselfertige“ Atomkraftwerke miteiner gehörigen Portion Skepsis behandeln. Im Falle des Olkiluoto-Reaktors, für dessen Bau der Hersteller Areva verantwortlich zeich-net, soll, so heißt es, ein Festpreis vereinbart worden sein. Da dieVertragsdetails jedoch vertraulich sind, lässt sich nicht mit Sicher-heit sagen, ob der Deal keine Kosteneskalationsklauseln enthält. Sostellt sich die Frage, ob Areva, sollte die Aufsichtsbehörde beispiels-weise nach einem Unfall in einem anderen Reaktor Änderungen amReaktordesign verlangen, die sich daraus ergebenden Zusatzkostenübernehmen würde.

Zweitens steigen die Kosten, wenn Änderungen am Bautyp not-wendig werden, zum Beispiel wenn sich das ursprüngliche Designals ungenügend erweist, die Sicherheitsbehörden zusätzliche Auf-lagen verhängen oder die Entwicklung bis zum Baubeginn nochnicht abgeschlossen ist. Deshalb zielen die Anlagenbauer inzwi-schen darauf ab, bereits vor Baubeginn die volle regulatorischeGenehmigung zu erhalten, beispielsweise die in den USA geplantekombinierte Bau- und Betriebslizenz, und verlangen, dass dieReaktortypen bis zum Baubeginn so weit wie möglich ausgearbeitetsind. Allerdings kann das Risiko nachträglicher Designänderungen 270

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nie ganz ausgeschlossen werden, was insbesondere für neue Reak-tortypen gilt, bei denen sich während des Baus stets neue, unvor-hergesehene Probleme ergeben können. Darüber hinaus bestehtauch die Gefahr, dass Erfahrungen aus dem Betrieb bestehenderReaktoren nach Baubeginn Änderungen am Design erforderlichmachen. So würde beispielsweise ein größerer Unfall in einer kern-technischen Anlage zwangsläufig eine Überprüfung aller im Bau –wie auch aller im Betrieb – befindlichen Anlagen nach sich ziehenund könnten daraus gewonnene wichtige Erkenntnisse nicht einfachignoriert werden, weil für bestehende Bautypen bereits eine Geneh-migung erteilt wurde.

Lern- und Größeneffekte und technischer FortschrittMit den meisten Technologien ist die Erwartung verbunden, dassnachfolgende Bautypen aufgrund von Lern- und Größeneffektenund technischen Fortschritten billiger und besser als die Vorgängersein werden. Wie weit die Nukleartechnologie in den letzten Jahrenfortgeschritten ist, ist umstritten, fest steht dagegen, dass die Kostennicht gefallen sind. Die Gründe dafür sind komplex und nicht gutverstanden, aber zu den häufig zitierten Faktoren gehören höhereregulatorische Anforderungen (Hinweis: Nicht die Standards selbstwurden verschärft, sondern die Maßnahmen, die als zur Erfüllungder Standards notwendig erachtet werden) und unbedachte Maßnah-men zur Kostenreduzierung bei den Reaktoren der ersten Genera-tion.

Aufgrund der geringen Anzahl an Bestellungen für Reaktoren derneueren Generationen und dabei insbesondere für Reaktoren mitunzureichend dokumentierten Kosten lässt sich kaum beurteilen, obsich seitdem die Baukosten stabilisiert haben – geschweige denn, obsie zurückgegangen sind. Allerdings wirken „Lerneffekte“, mit ande-ren Worten: Leistungsverbesserungen durch Serienfertigung undGrößeneffekte, in beide Richtungen. In den siebziger Jahren ver-zeichneten die großen Reaktorhersteller bis zu zehn Bestellungenpro Jahr. Das ermöglichte es ihnen, effiziente Fertigungslinien zurHerstellung der zentralen Komponenten aufzubauen und erfahreneTeams von Entwicklern und Ingenieuren zusammenzustellen.Inwieweit diese Größeneffekte zu Kostenreduzierungen führten,lässt sich nur schwer abschätzen. Ein Bericht der Nuclear EnergyAgency aus dem Jahr 2000 deutet darauf hin, dass die intuitiveErwartung signifikanter Größeneffekte unzutreffend sein könnte.271

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So hieß es in dem Bericht unter anderem: „Die Bestellung von zweiBlöcken zur selben Zeit und mit einem Bauintervall von mindestenszwölf Monaten wird zu einem Kostenvorteil von schätzungsweise 15Prozent für die zweite Einheit führen. Falls die zweite EinheitBestandteil einer Zwillingseinheit ist, wird der Kostenvorteil schät-zungsweise 20 Prozent betragen. Die Bestellung zusätzlicher Blöckederselben Serie wird aufgrund des bei mehr als zwei Blöcken des-selben Bautyps erwartungsgemäß vernachlässigbaren Standardisie-rungseffekts dagegen nicht zu signifikant höheren Kosteneinspa-rungen führen.“12

Als die Performance and Innovation Unit (PIU) des britischenCabinet Office im Jahr 2002 die Wirtschaftlichkeit von Atomstromuntersuchte, wurden ihr Kostenprognosen des Atomkraftwerkbetrei-bers British Energy und des Anlagenherstellers BNFL vorgelegt, dieeinem „standardisierten Programm substanzielle Lern- und Größen-effekte“ konstatierten. Allerdings beurteilte die PIU das Ausmaß derLerneffekte eher skeptisch und kam zu dem Schluss, dass ein Lern-effekt zwar wahrscheinlich sei, seine Auswirkungen aber begrenztbleiben dürften: „Die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Lern-effekts könnte im Nuklearbereich jedoch geringer ausfallen als beiden erneuerbaren Energien, und zwar weil aufgrund der vergleichs-weise langen Vorlaufzeiten im nuklearen Bereich der Feedback ausden Erfahrungen des laufenden Betriebs zögerlicher erfolgt; dieNeulizenzierung von nuklearen Reaktortypen die Einführung vonBautypenänderungen noch weiter verzögert; die Größeneffekte ausder Mengenfertigung für nukleare Komponenten geringer ausfallen,da die Stückzahlen viel geringer als bei den Erneuerbaren sind, womöglicherweise hunderte oder gar tausende Anlagen installiertwerden.“13

Die großen Reaktorhersteller, die in den letzten 20 Jahren nureine Handvoll Bestellungen erhalten haben, haben ihre Fertigungs-linien stillgelegt und ihre erfahrenen Teams verkleinert. Westing-house zum Beispiel hat in den vergangenen 25 Jahren gerade einmaleine Bestellung erhalten, und selbst der französische HerstellerAreva hat bis zur Bestellung aus Finnland 15 Jahre auf ein Neu-

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12 Nuclear Energy Agency: „Reduction of Capital Costs of Nuclear PowerPlants“, OECD, Paris 2000, S. 90.13 Performance and Innovation Unit: „The Energy Review“, Cabinet Office,London 2002, S. 195. http://www.strategy.gov.uk/downloads/su/energy/TheEnergyReview.pdf.

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geschäft warten müssen. Sollte es zu neuen Bestellungen kommen,müssten die Hersteller den Bau großer Komponenten fallweise –und voraussichtlich zu höheren Preisen – an spezialisierteUnternehmen in Ländern wie Japan und in Zukunft verstärkt Chinavergeben.14 Parallel dazu müssten sie neue Entwicklungs- undIngenieurteams aufbauen.

Der 1995 fertig gestellte Reaktor Sizewell B war das bislang letzteAtomkraftwerk, das in Großbritannien gebaut wurde. Die Unstim-migkeiten darüber, inwieweit beispielsweise einmalige Erstentwick-lungskosten berücksichtigt werden müssen, erschweren eine genaueBerechnung der Baukosten. Allerdings wurden die Gesamtkostendes Reaktors vom britischen National Audit Office 1998 auf runddrei Milliarden britische Pfund taxiert,15 umgerechnet auf heutigeVerhältnisse rund 3,5 Milliarden Pfund oder 3400 £/kW.16

BauzeitDie Verlängerung der Bauzeit über den ursprünglichen Termin hin-aus führt nicht direkt zu höheren Kosten, obwohl dadurch im Allge-meinen die Bauzeitzinsen steigen und längere Bauzeiten häufig einIndiz für Probleme in der Bauphase, mit der Technologie, beimStandortmanagement oder bei der Beschaffung sind, die sich inhöheren Baukosten niederschlagen. In einem von Konkurrenz ge-prägten Energiemarkt stellen lange prognostizierte Bauzeiten einenNachteil dar; je mehr Zeit vergeht, umso höher ist das Risiko, dasssich die Rahmenbindungen verändern und die Investition noch vorFertigstellung der Anlage aufgrund der höheren Kapitalkosten (sieheunten) in einem Wettbewerbsmarkt unwirtschaftlich wird.

Die gesamte Vorlaufzeit von der Entscheidung zum Bau einerAnlage bis zur ihrer kommerziellen Inbetriebnahme (sprich bis derProbebetrieb abgeschlossen ist und der Hersteller die Anlage in dieHände des Betreibers übergeben hat) ist üblicherweise viel länger alsdie reine Bauzeit. So fiel zum Beispiel die Entscheidung zum Baudes Sizewell-B-Atomkraftwerks in Großbritannien bereits 1979, mit

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14 Sollte beispielsweise der Flamanville-EPR gebaut werden, wird dasDruckgehäuse wahrscheinlich in Japan hergestellt.15 National Audit Office: „The Sale of British Energy“, House of Commons,694, Parliamentary Session 1997–98, London 1998, HMSO.16 Laut Aussagen von British Energy entfiel ein erheblicher Anteil derGesamtkosten auf einmalige Entwicklungskosten.

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dem Bau begonnen wurde aber erst 1987 (aufgrund von Verzögerun-gen durch eine öffentliche Anhörung und Problemen mit der Tech-nologie). Da die Anlage erst 1995 ans Netz ging, belief sich diegesamte Vorlaufzeit auf 16 Jahre. Die Kosten, die in der Zeit vor demBau anfallen, sind im Vergleich zu den Kosten während der Bau-phase generell niedrig, vorausgesetzt, es handelt sich bei dem Reak-tor nicht um einen üblicherweise mit hohen Entwicklungs-, Sicher-heits- und Genehmigungskosten verbundenen neuen Bautyp. Aller-dings stellen für Stromerzeuger, die in einem Wettbewerbsmarktoperieren, derart lange Vorlaufzeiten und die damit einhergehendenRisiken – beispielsweise ein Scheitern in der Planungsphase odereine Kosteneskalation aufgrund strengerer regulatorischer Anforde-rungen – einen erheblichen negativen Anreiz für Investitionen inAtomkraftwerke dar.

4.2 NennleistungDie Nennleistung eines Kraftwerks gibt an, wie viele Kilowattstun-den verkaufbare Elektrizität (Nettoleistung) die Anlage erzeugenkann. Insbesondere für die britischen Reaktoren gilt, dass die mei-sten Anlagen aufgrund von Korrosionsproblemen und Konstruk-tionsmängeln nicht dauerhaft auf Vollast betrieben werden können.Bei den international stärker verbreiteten Reaktortypen hat die„Herabstufung“ der Nennleistung in den letzten Jahren keine son-derlich große Rolle gespielt, und es konnten die meisten Anlagenauf ihrem Auslegungsniveau betrieben werden. In manchen Fällenkönnen Anlagen dank nachträglicher Änderungen – zum Beispieldem Einsatz von Turbinen mit einem höheren Wirkungsgrad oderder Erhöhung der Betriebstemperatur – sogar oberhalb der ur-sprünglichen Nennleistung betrieben werden. Auch bei auf nochungetesteten Bautypen basierenden neuen Reaktoren besteht eingewisses Risiko, dass sie nicht auf dem geplanten Leistungsniveaubetrieben werden können, wobei dieses Risiko aber im Vergleich zuanderen Risiken im Zusammenhang mit neuen Bautypen eher rela-tiv gering sein dürfte.

4.3 KapitalkostenNeben den Baukosten sind die Kapitalkosten ein weiteres wichtigesElement des Gesamtkapitalbedarfs (siehe Anhang 1). Die realen(inflationsbereinigten) Kapitalkosten variieren von Land zu Landund von Energieversorger zu Energieversorger in Abhängigkeit des 274

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Länderrisikos und der Bonitätsbewertung des Unternehmens. Vonentscheidender Bedeutung ist auch, wie die Stromwirtschaft einesLandes organisiert ist. Handelt es sich um ein staatlich geschütztesMonopol, können die realen Kapitalkosten niedrige 5 bis 8 Prozentbetragen, in einem Wettbewerbsmarkt dagegen werden sie eher bei15 Prozent oder darüber liegen.

Wenn die Kapitalkosten den Löwenanteil an den Stromerzeu-gungskosten eines Atomkraftwerks ausmachen, dann wirkt sich dieErhöhung der Mindestrendite um über das Doppelte massiv auf dieWirtschaftlichkeit von Atomstrom aus. Es gibt keine „richtige“ Ant-wort auf die Frage, welche Kapitalkosten der Berechnung zugrundegelegt werden sollten. Als die Stromindustrie noch als Monopolorganisiert war, hatten die Energieversorger die Garantie auf einevolle Kostendeckung, mit anderen Worten: egal wie viel Geld sieinvestierten, sie konnten die Zeche den Verbrauchern in Rechnungstellen. Da also die Verbraucher die gesamten Risiken trugen, gin-gen die Kapitalgeber nur ein sehr begrenztes Risiko ein. Die Kapital-kosten schwankten je nach Land und danach, ob sich das betreffen-de Unternehmen in Staats- oder Privatbesitz befand (da staatlicheUnternehmen im Allgemeinen eine höhere Bonität genießen, liegenihre Kapitalkosten niedriger als die von Privatunternehmen), undlagen zwischen 5 und 8 Prozent.

In liberalisierten Strommärkten dagegen würde das Investitions-risiko bei den Stromerzeugern liegen, nicht bei den Verbrauchern,und sich dieses höhere Risiko auch in den Kapitalkosten widerspie-geln. Zum Beispiel befanden sich im Jahr 2002 in Großbritannienrund 40 Prozent der gesamten Stromerzeugungskapazitäten (runddie Hälfte davon aus Atomkraftwerken) im Besitz von finanziellbedrängten Unternehmen, und eine Reihe von Unternehmen undBanken haben Verluste in Höhe von insgesamt mehreren MilliardenPfund mit Investitionen in Kraftwerke erlitten. Unter solchen Um-ständen erscheint die Annahme realer Kapitalkosten von über 15Prozent durchaus gerechtfertigt. Im Falle reduzierter Risiken – zumBeispiel durch staatliche Absatz- und Preisgarantien – wären dieKapitalkosten natürlich entsprechend geringer. Allerdings würdensolche Maßnahmen staatliche Subventionen darstellen, von denennicht klar ist, ob sie nach den Gesetzen der Europäischen Unionzulässig sind.

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4.4 BetriebsleistungBei kapitalintensiven Technologien wie Atomstrom ist ein hoherAuslastungsgrad von großer Bedeutung, damit die vergleichsweisehohen Fixkosten (Tilgung von Krediten, Zinszahlungen und Rück-lagen für die Stillegung) auf eine möglichst hohe Nettoleistung um-gelegt werden können. Da Atomkraftwerke zudem physisch inflexi-bel sind und sich ein häufiges Abschalten und Wiederhochfahrenoder Veränderungen des Leistungsniveaus über das erforderlicheMaß hinaus negativ auswirken, werden Atomkraftwerke generellGrundlast gefahren – mit Ausnahme einiger weniger Länder (bei-spielsweise Frankreich), in denen der Atomstromanteil an der Ge-samtstromproduktion so hoch ist, dass ein reiner Grundlastbetriebnicht möglich ist. Ein gutes Maß für die Zuverlässigkeit einesKraftwerks und seiner Stromproduktion ist die Leistungsaus-nutzung (auch als Kapazitätsfaktor bezeichnet). Die Leistungsaus-nutzung gibt die erzeugte Strommenge in einem bestimmten Zeit-raum als Prozentsatz der Strommenge an, die das Kraftwerk erzeugthätte, hätte es in dem gesamten Zeitraum seine Nennlast erreicht.17

Im Allgemeinen wird die Leistungsausnutzung auf jährlicher oderLebenszeitbasis kalkuliert. Im Gegensatz zu den Baukosten lässtsich die Leistungsausnutzung präzise und eindeutig messen undwerden Leistungsausnutzungstabellen regelmäßig in Branchenblät-tern wie Nucleonics Week und Nuclear Engineering International publi-ziert. Auch wenn es immer wieder zu Auseinandersetzungen überdie Gründe für Abschaltungen oder die Reduktion des Leistungs-niveaus kommt, spielen solche Leistungsreduzierungen vom ökono-mischen Standpunkt aus betracht häufig nur eine begrenzte Rolle.

Ähnlich wie bei den Baukosten, haben sich auch die Prognosenzur Leistungsausnutzung der im Betrieb befindlichen Reaktoren alsviel zu optimistisch erwiesen. Die Reaktorhersteller und Unterstüt-zer der Atomenergie gingen von einer extrem hohen Arbeitsverfüg-barkeit und von Unterbrechungen lediglich zur Wartung und zumBrennstoffwechsel (einige Reaktortypen wie der AGR und CANDU

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17 In den Fällen, in denen die Nennleistung von Reaktoren herabgesetztwurde, haben manche Organisationen (zum Beispiel die IAEA) dieLeistungsausnutzung eher auf die genehmigte Nennleistung der Reaktorenals auf die geplante Leistung bezogen. Obwohl das einige nützlicheRückschlüsse auf die Zuverlässigkeit der Anlage erlaubt, sollte zum Zweckeder ökonomischen Analyse die Auslegungsleistung herangezogen werden,auf der die ursprünglichen Wirtschaftlichkeitsberechnungen der Käuferbasieren.

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werden kontinuierlich beschickt und müssen nur zur Wartung abge-schaltet werden) und einer entsprechend hohen Leistungsausnut-zung von 85 bis 95 Prozent aus. Tatsächlich jedoch verhielt sich dasganz anders, und um 1980 herum lag die Leistungsausnutzung allerAnlagen im weltweiten Durchschnitt gerade einmal bei rund 60 Pro-zent. Was das für die Wirtschaftlichkeit von Atomstrom bedeutet,macht folgende Rechnung klar: Wenn wir davon ausgehen, dass dieFixkosten bei einer Leistungsausnutzung von 90 Prozent zwei Drit-tel der Gesamtkosten der Stromerzeugung ausmachen, liegen dieGesamtkosten der Stromerzeugung bei einer Leistungsausnutzungvon 60 Prozent um bis zu einem Drittel höher. In dem Maße, indem technisches Versagen für eine geringe Leistungsausnutzungverantwortlich ist, treiben die zusätzlich anfallenden Wartungs- undReparaturkosten die Kosten pro Stromeinheit weiter in die Höhe.Außerdem müssen Energieversorger, die ihre vertraglichen Strom-lieferverpflichtungen nicht einhalten können, zumindest in Wettbe-werbsmärkten damit rechnen, dass sie, um ihre Kunden beliefern zukönnen, potenziell sehr teuren „Ersatzstrom“ einkaufen müssen.

Allerdings haben die Hersteller seit Ende der achtziger Jahrengroße Mühen zur Leistungsverbesserung unternommen, und soliegt der durchschnittliche Grad der Leistungsausnutzung weltweitinzwischen bei über 80 Prozent. In den Vereinigten Staaten, wo dieLeistungsausnutzung 1980 bei unter 60 Prozent lag, wird inzwi-schen ein Wert von 90 Prozent erreicht – allerdings beträgt diedurchschnittliche Leistungsausnutzung der amerikanischen Atom-kraftwerke für die gesamte Betriebszeit nur 70 Prozent.

Von den 414 Reaktoren weltweit, die mindestens ein Jahr imDienst waren und für die lückenlose Aufzeichnungen vorliegen,bringen es nur sieben auf eine durchschnittliche Leistungsausnut-zung für die gesamte Betriebszeit von über 90 Prozent und nur 100Anlagen auf eine durchschnittliche Leistungsausnutzung von über80 Prozent. Interessanterweise verteilen sich die 13 Anlagen mit derhöchsten Leistungsausnutzung auf nur drei Länder: sechs in Süd-korea, fünf in Deutschland und zwei in Finnland.

Neue Reaktortypen könnten die Arbeitsverfügbarkeit der bestenzwei Prozent der bestehenden Reaktoren zwar erreichen, allerdingskönnten sie auch wie Reaktoren früherer Generationen zunächstunter „Kinderkrankheiten“ leiden, wie die Erfahrungen Frankreichsin den späten neunziger Jahren mit dem N4-Bautyp belegen. Dabeimuss berücksichtigt werden, dass bei der Wirtschaftlichkeitsanalyse277

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die ersten Betriebsjahre, in denen am ehesten Kinderkrankheitenauftreten, aufgrund der Abzinsung weitaus stärker ins Gewicht fal-len als die späteren Betriebsjahre. In späteren Betriebsjahren wiede-rum kann die Leistungsausnutzung zurückgehen, wenn wegen desfortschreitenden Verschleißes Teile ausgetauscht oder zur Einhal-tung der aktuellen Sicherheitsstandards Verbesserungen durchge-führt werden müssen. Allerdings dürften sich diese Leistungs-einbußen ebenfalls aufgrund der Abzinsung weniger stark auf dieökonomische Analyse auswirken. Generell kann man auf Basis derbisherigen Erfahrungen die Annahme einer Arbeitsverfügbarkeitvon 90 Prozent oder mehr nur schwerlich rechtfertigen.

4.5 Betriebs- und Wartungskosten (ohne Brennstoffkosten)Viele Leute glauben, Atomkraftwerke seien im Prinzip automatischeAnlagen, die nur mit Brennstoff bestückt werden müssen und an-sonsten sehr geringe laufende Kosten aufweisen. Aus diesem Grundspielten die Betriebs- und Wartungskosten ohne Brennstoffkosten inStudien zur nuklearen Wirtschaftlichkeit zumeist keine große Rolle.Wie weiter unten diskutiert, sind die reinen Brennstoffkosten ver-gleichsweise niedrig und lassen sich einigermaßen zuverlässig vor-hersagen. Allerdings wurde die Mär von den geringen Betriebs-kosten in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren alsfalsch entlarvt. Damals wurde eine kleine Zahl amerikanischerAtomkraftwerke stillgelegt, als sie zeigte, dass ihre reinen Betriebs-kosten (ausgenommen die Rückzahlung der Fixkosten) höher lagenals die Kosten für den Bau und Betrieb von Gaskraftwerken. DieBerechnungen ergaben durchschnittliche Betriebs- und Wartungs-kosten von über 22 $/MWh und durchschnittliche Brennstoffkostenvon über 12 $/MWh.18 Dank intensiver Bemühungen zur Reduzie-rung der Betriebs- und Wartungskosten sanken diese bis Mitte derneunziger Jahre im Durchschnitt auf rund 12,5 $/MWh und dieBrennstoffkosten auf 4,5 $/MWh. Allerdings, so muss angemerktwerden, spiegelten diese Kostenreduzierungen vor allem die höhereArbeitsverfügbarkeit der Anlagen und weniger tatsächliche Kosten-reduzierungen wider. Da zudem viele Betriebs- und Wartungskostenfixe Kosten sind – beispielsweise für Personal und Wartung – undkaum mit dem Output eines Reaktors variieren, sinken die Betriebs-

27818 Für Statistiken zu den Betriebs- und Wartungskosten siehe:

http://www.nei.org/index.asp?catnum=2&catid=95.

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und Wartungskosten pro MWh umso stärker, je mehr Strom dieAnlage erzeugt. Inzwischen ist die Drohung von frühzeitigen Still-legungen aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit in den Vereinig-ten Staaten weitgehend vom Tisch.

In diesem Zusammenhang lohnt der Hinweis darauf, dass derEnergieversorger British Energy, der seine acht Atomkraftwerke beiseiner Gründung 1996 praktisch geschenkt bekam, 2002 finanziellkollabierte, da die Einnahmen aus dem Betrieb der Anlagen kaumzur Deckung der Betriebskosten ausreichten. Zum Teil lag das anden hohen Brennstoffkosten, insbesondere den Kosten der Wieder-aufbereitung für ausgediente Brennelemente, die inzwischen nurnoch von Großbritannien und Frankreich betrieben wird (sieheunten). Die durchschnittlichen Betriebs- und Wartungskosten deracht Reaktoren von British Energy einschließlich der Brennstoff-kosten schwankten von 1997 bis 2004 zwischen rund 1,65 und 1,9p/kWh (Pence je Kilowattstunde) und schnellten in den ersten neunMonaten des Haushaltsjahrs 2004/05 aufgrund der schlechten Per-formance einiger Reaktoren auf 2,15 p/kWh hoch. Im Durchschnittder gesamten Periode lag dieser Wert bei 1,85 p/kWh. Veranschlagtman die Brennstoffkosten einschließlich der Wiederaufbereitungs-kosten mit 0,7 p/kWh, liegen die Betriebs- und Wartungskosten mit1,15 p/kWh um 60 Prozent höher als im US-Durchschnitt.

4.6 KernbrennstoffkostenDank der seit Mitte der siebziger Jahre niedrigen Uranpreise warendie Kernbrennstoffkosten lange Zeit relativ gering. In den USA bei-spielsweise betragen die durchschnittlichen Brennstoffkosten 0,25p/kWh, werden allerdings stark vom Staat subventioniert, der gegeneine Kostenpauschale von 1 $/MWh (0,06 p/kWh) die Verantwor-tung für die Entsorgung des verbrauchten Brennstoffs übernimmt.Dabei handelt es sich um einen willkürlichen Preis, der vor überzwei Jahrzehnten festgesetzt wurde und auf keinerlei praktischerErfahrung basiert, da es weder in den USA noch irgendwo entspre-chende Entsorgungseinrichtungen gibt. Bis zum Bau eines End-lagers, wahrscheinlich bei Yucca Mountain, wird der Abbrand ausden US-Atomkraftwerken in Zwischenlagern aufbewahrt. Die tat-sächlichen Entsorgungskosten werden aller Wahrscheinlichkeitnach um ein Vielfaches über der von der US-Regierung in Rechnunggestellten Kostenpauschale liegen. Da die weltweiten Uranvorräte imVergleich zum Verbrauch zur Zeit noch relativ groß sind, entfällt279

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nur ein relativ kleiner Anteil an den prognostizierten Atomstrom-kosten auf die Brennstoffkosten. Schwieriger zu bewerten ist dieFrage der Entsorgung der ausgedienten Brennelemente. Die Wieder-aufbereitung von Kernbrennstoff ist teuer und trägt, solange dasdabei gewonnene Plutonium nicht gewinnbringend genutzt werdenkann, nichts zur Abfallentsorgung bei, da bei der Wiederaufberei-tung der verbrauchte Kernbrennstoff lediglich in unterschiedlicheBestandteile aufgespalten wird, ohne dass die vorhandene Radio-aktivität an sich vermindert werden würde. Tatsächlich entstehen beider Wiederaufbereitung großen Mengen an zusätzlichen schwach-und mittelradioaktiven Abfällen, da alle bei der Wiederaufbereitungverwendeten Geräte und Stoffe selbst zu radioaktivem Abfall wer-den. Der vor dem Zusammenbruch von British Energy abgeschlos-sene Entsorgungsvertrag zwischen BNFL und British Energy sollüber 300 Millionen Pfund pro Jahr gelautet haben, was umgerechnetKosten von rund 0,5 p/kWh entspricht. Der neue Vertrag dürfte dieKosten für British Energy um 150 bis 200 Millionen Pfund pro Jahrreduzieren, was aber nur möglich ist, weil die britische RegierungBNFL die Übernahme eventueller Verluste garantiert. Ungeachtetdieser schlechten Kostenbilanz sollen die Vereinigten Staaten zu-nächst die Wiederaufbereitung von verbrauchtem Kernbrennstoff inBetracht bezogen haben, bis die Regierung Carter das unterband.Die Entsorgungskosten hochradioaktiver Abfälle lassen sich kaumabschätzen, da bislang noch keine entsprechenden Einrichtungengebaut worden sind oder auch nur mit dem Bau daran begonnenwurde und somit jeder Versuch einer Kostenprognose notgedrun-gen eine hohe Fehlermarge aufweist.

4.7 BetriebsdauerReaktoren der Generation III sind auf eine Laufzeit von rund 60 Jah-ren ausgelegt, während bei ihren Vorgängern im Allgemeinen miteiner nur halb so langen Betriebsdauer geplant wurde. Angesichtsdes bei Atomkraftwerken sehr hohen Fixkostenanteils sollten beieiner Verdoppelung der Betriebsdauer die Fixkosten pro erzeugterStromeinheit deutlich sinken, da sich die Fixkosten ja auf einen sehrviel längeren Zeitraum verteilen. In der Praxis jedoch verhält sichdas anders. Kommerzielle Kredite müssen innerhalb von 15 bis läng-stens 20 Jahren zurückbezahlt werden, und in einer diskontiertenCashflow-Kalkulation fallen Kosten und Einnahmen, die über 10 bis15 Jahre liegen, nur wenig ins Gewicht (siehe Anhang 1). 280

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Es gibt einen gewissen Trend, die Betriebsdauer bestehender An-lagen zu verlängern, und von Druckwasserreaktoren, die ursprüng-lich auf eine durchschnittliche Betriebsdauer von 30 Jahren ausge-legt waren, wird inzwischen häufig erwartet, dass sie 40 Jahre oderlänger betrieben werden können. Allerdings sollte man nicht davonausgehen, dass der Strom billiger wird, sobald die Kapitalkostenzurückbezahlt sind, da eine Verlängerung der Betriebsdauer erheb-liche Neuinvestitionen zum Ersatz verschlissener Komponentenund zur sicherheitstechnischen Modernisierung der Reaktorenerforderlich machen kann. Zudem kommen nicht alle bestehendenReaktoren für eine Verlängerung der Lebensdauer in Frage, wie zumBeispiel die ursprünglich auf eine Betriebsdauer von 25 Jahren aus-gelegten britischen AGR-Reaktoren, die nun 35 Jahre laufen sollen,für die aber eine weitere Verlängerung der Lebensdauer aufgrundder Probleme mit den graphitmoderierten Reaktorblöcken ausge-schlossen wird.

4.8 Stillegungskosten und -rückstellungenDa bislang noch kaum Erfahrungen mit der Stillegung von Reakto-ren kommerzieller Größenordnung vorliegen und die Entsorgungs-kosten für radioaktive Abfälle (insbesondere für mittel- und langle-bige Abfälle, siehe Anhang 4) höchst ungewiss sind, lassen sich dieStillegungskosten kaum abschätzen. Allerdings wirken sich selbstStillegungspläne, die mit einem hohen Grad an Sicherheit gewähr-leisten, dass zu gegebener Zeit die prognostizierten Finanzmittelverfügbar sind, nicht allzu massiv auf die Gesamtwirtschaftlichkeitaus. Selbst wenn ein Reaktorbetreiber vor Beginn der Inbetriebnah-me den für die Stillegungsmaßnahmen prognostizierten abgezin-sten Betrag aufbringen müsste, würden die Baukosten nur um zehnProzent steigen. Die erforderlichen Einzahlungen in den Sonder-fonds von British Energy, der allerdings die erste Stillegungsphasenicht abdeckte, beliefen sich auf unter 20 Millionen Pfund pro Jahroder umgerechnet gerade einmal 0,03 p/kWh.

Problematisch wird die Sache erst, wenn die Kosten von Anfangan zu niedrig veranschlagt wurden, die Rückstellungen aufgelöstwerden oder der Reaktorbetreiber vor Ablauf der erwartetenBetriebsdauer Konkurs anmeldet – alles Probleme, von denen z.B.Großbritannien betroffen ist. Zunächst sind die voraussichtlichenStillegungskosten im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte um dasMehrfache der ursprünglich angesetzten Summe gestiegen. Bei der281

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Privatisierung des Central Electricity Generating Board (CEGB) imJahr 1990 wurden die aus Beiträgen der Verbraucher gebildetenRückstellungen nicht an das Nachfolgeunternehmen NuclearElectric übertragen. Zudem wurden die von 1990 bis 1996 ausge-zahlten staatlichen Subventionen, die laut Michael Heseltine zur„Stillegung alter, unsicherer Kernkraftwerke“ gedacht waren, vonder Betreibergesellschaft als Cashflow verbraucht und nicht ausbe-zahlte Mittel vom britischen Schatzministerium reklamiert.19 DerKollaps von British Energy schließlich bedeutet, dass ein erheblicherTeil der künftigen Stillegungskosten der British-Energy-Reaktorenvon den Steuerzahlern getragen werden muss.

Tabelle 5

Atomhaftungsgrenzen in den OECD-Ländern Stand September 2001

Land Gesetzliche Haftungsgrenzea Deckungsvorsorgea,b

Belgien 298 Mio. €

Deutschland unbegrenzt 2,5 Mrd. €c

Finnland 250 Mio. €

Frankreich 92 Mio. €

Großbritannien 227 Mio. €

Japan unbegrenzt 538 Mio. €

Kanada 54 Mio. €

Korea 4293 Mio. €

Mexiko 12 Mio. €

Niederlande 340 Mio. €

Schweiz unbegrenzt 674 Mio. €

Slowakei 47 Mio. €

Spanien 150 Mio. €

Tschechien 177 Mio. €

Ungarn 143 Mio. €

USA 10937 Mio. € 226 Mio. €

a Errechnet unter Verwendung offizieller Wechselkurse von 06/2001 bis 06/2002.

b Falls abweichend vom Haftungslimit.

c 2,5 Mrd. € Betreiberpool, 256 Mio. € Versicherung, 179 Mio. € aus dem Brüsseler Zusatz-

abkommen zum Pariser Übereinkommen.

Quelle: Inoffizielle statistische Angaben – OECD/NEA, Legal Affairs

28219 M. Heseltine, Präsident des Board of Trade, Aussage im Unterhaus, 19.Oktober 1992.

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4.9 Versicherung und HaftungHierbei handelt es sich um ein überaus kontroverses Thema, da der-zeit die Haftung der Atomanlagenbetreiber durch einen internatio-nalen Vertrag auf einen Bruchteil der wahrscheinlichen Kosten einesgrößeren Atomunfalls beschränkt ist. Das 1963 verabschiedete und1997 ergänzte Wiener Atomhaftungsabkommen begrenzt die Haf-tung von Atomanlagenbetreibern auf 300 Millionen Sonderzie-hungsrechte. In Großbritannien übernimmt der Staat derzeit nochdas über 140 Millionen Pfund hinausgehende Restrisiko, doch dürf-ten die Haftungsgrenzen entsprechend dem Pariser Übereinkom-men und dem Brüsseler Zusatzabkommen auf 700 Millionen Eurosteigen. Die Haftungsbegrenzung, die als entscheidende Voraus-setzung für die Entwicklung der zivilen Kernenergienutzung galt,stellte zugleich eine massive staatliche Subvention für die Atom-industrie dar.

Die Übersicht über die Atomhaftungsgrenzen in den OECD-Län-dern (siehe Tabelle 5), die sich in einer Studie der Kommission fürerneuerbare Energien des Deutschen Bundestags findet, illustriertdie große Bandbreite der nationalen Haftungsgrenzen, die vonmageren 12 Millionen Euro in Mexiko bis zu einer unbegrenztenHaftungspflicht in Deutschland, Japan und der Schweiz reicht.

Angesicht der Kosten, die zum Beispiel durch die Reaktorkata-strophe von Tschernobyl verursacht wurden und die sich in derGrößenordnung von mehreren Hundert Millionen Euro bewegendürften (auch wenn es barbarisch erschein mag, den Verlust einesMenschenleben oder eine Behinderung monetär zu beziffern, fürVersicherungszwecke ist es notwendig), ist klar, dass konventionelleVersicherungen das Risiko nicht abdecken können – abgesehendavon, dass eine solche Absicherung sowieso unglaubwürdig wäre,weil ein größerer Atomunfall jede noch so große Versicherungs-gesellschaft in den Bankrott treiben würde.

Nicht zuletzt deshalb kam der Vorschlag auf, Anlagenbetreibersollten durch die Ausgabe von „Katastrophenanleihen“ eine glaub-hafte Deckungsvorsorge für die finanziellen Folgen von Atomunfäl-len bereitstellen. Bei Katastrophenanleihen handelt es sich um hoch-verzinsliche versicherte Anleihen, die eine Klausel enthalten, derzu-folge die Zinszahlungen und/oder das investierte Kapital im Falleeines bestimmten Ereignisses wie beispielsweise eines Erdbebensausgesetzt werden oder verloren gehen. Ob das einen gangbarenWeg zur Bereitstellung eines gewissen Versicherungsschutzes für283

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Atomunfälle darstellt und wie sich solche Anleihen auf die nukleareÖkonomie auswirken würden, lässt sich kaum sagen, solange nochkeine konkreten Vorschläge auf dem Tisch liegen.

5 Neuere Studien zu den Kosten der Atomenergie undwarum sie differierenIn den letzten Jahren wurde eine Reihe neuerer Studien zur Wirt-schaftlichkeit von Atomstrom vorgelegt. Dazu gehören:

– „The role of nuclear power in enhancing Japan’s energy security“,James A Baker III, Institute for Public Politik an der Rice Univer-sity, USA, Mai 2000;

– Lappeenranta University of Technology (LUT), Finnish 5th Reac-tor Economic Analysis, Finnland, 2002;

– „The economics of nuclear power“, UK Performance and Innova-tion Unit, Großbritannien, Februar 2002;

– „Business case for early orders of new nuclear reactors“, ScullyCapital, USA, September 2002;

– „The future of nuclear power: an interdisciplinary MIT study“,Massachusetts Institute of Technology, USA, Februar 2003;

– „The costs of generating electricity“, The Royal Academy of Engin-eers, Großbritannien, März 2004;

– „The economic future of nuclear power“, University of Chicago,finanziert vom US-Energieministerium, USA, August 2004;

– „Levelised unit electricity cost comparison of alternative technolo-gies for base load generation in Ontario“, Canadian Energy Re-search Institute; vorbereitet für die Canadian Nuclear Association,Kanada, August 2004;

– „Projected costs of generating electricity: 2005 update“, IEA/NEA,März 2005;

– „Business case for early orders of new nuclear reactors“, OXERA,Großbritannien, April 2005.

In Tabelle 6 auf S. 297 werden die Kernaussagen dieser zehn Stu-dien aufgelistet und im Folgenden zusammengefasst.

5.1 Rice UniversityDie Studie der Rice University befasst sich mit Themen von strate-gischer Bedeutung für die japanische Energiesicherheit und nutztdazu Prognosen der Gesamtkosten der Stromerzeugung der ab 2010 284

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in Betrieb gehenden Anlagen, die vom japanische Central ResearchInstitute of Electric Power Industry (CRIEPI) erstellt wurden.20 DasInstitut geht von Erzeugungskosten von 5 p/kWh aus, eine Kosten-prognose, die allerdings im Kontext der sehr hohen und zum Teilauf den hohen Yen-Kurs zurückzuführenden Strompreise in Japangesehen werden muss. Um aussagekräftige Schlussfolgerungen zie-hen zu können, müssten die CRIEPI-Annahmen im Detail unter-sucht werden.

5.2 Lappeenranta University of TechnologyDie Lappeenranta-Studie zog nach der Entscheidung zum Bau desOlkiluoto-3-Reaktors viel Aufmerksamkeit auf sich. Obgleich etlicheAnnahmen der Studie als wirtschaftlich sensibel klassifiziert undnicht vollständig offengelegt wurden, ergeben sich aus den geringenKapitalkosten, die niedrigen Betriebskosten und der hohen Leis-tungsausnutzung geringe Erzeugungskosten.

5.3 Performance and Innovation UnitDie Performance and Innovation Unit (PIU) des britischen CabinetOffice befasste sich im Jahr 2002 im Rahmen der Überprüfung dernationalen Energiepolitik, die zum White Paper 2003 führte, auchmit der Wirtschaftlichkeit von Atomstrom. Die Einheit ermittelte fürSizewell B unter Anwendung eines Diskontsatzes von zwölf ProzentErzeugungskosten in Höhe von rund 6 p/kWh, wobei angemerktwerden muss, dass in den zugrunde liegenden Baukosten für denReaktor (2,7 Milliarden Pfund, entsprechend 2250 £/kW) die Erst-entwicklungskosten nicht berücksichtigt wurden.

In der Studie werden auch von British Energy und BNFL erstelltePrognosen und unter Anwendung einheitlicher Diskontsätze prä-sentiert. Tabelle 6 gibt die Kosten für die achte Einheit an (eine Zwil-lingsanlage der AP-1000-Baureihe), wobei davon ausgegangen wird,dass bei Errichtung der achten Einheit sämtliche Erstentwicklungs-und Anlaufkosten abgeschrieben sind. Abgesehen davon, dass diePIU mit Diskontsätzen von acht Prozent (für Anlagen, deren Baumit einem sehr geringen Risiko einherging, beispielsweise wenn derBetreiber sämtliche Kosten auf die Verbraucher umlegen kann) und15 Prozent rechnet (für eine Anlage mit einem deutlich höherenkommerziellen Risiko), basiert der Bericht auf den BNFL-Annah-

28520 Den in Pfund Sterling umgerechneten japanischen Kostenangaben liegtein Wechselkurs von 1£ = 200 Yen zugrunde.

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men. In Fällen mit einem Diskontsatz von acht Prozent kalkuliertPIU mit alternativen Anlagenlaufzeiten von 15 Jahren (entsprechendder wahrscheinlichen Laufzeit kommerzieller Kredite) und 30 Jah-ren, während der 15 Prozent-Fall nur für eine Laufzeit von 15 Jahrendurchgerechnet wird. Da Kosten oder Einnahmen, die in 20 Jahrenvon heute anfallen, mit 6 Prozent ihres nicht abgezinsten Wertes,und solche, die in 30 Jahren anfallen, mit 1,5 Prozent ihres nicht ab-gezinsten Wertes in die diskontierte Einnahmeüberschussrechnungeinfließen, dürfte es keinen allzu großen Unterschied ausmachen,ob eine Laufzeit von 15 oder von 30 Jahren zugrundegelegt wird. DieKostenschätzungen für den Fall, dass nur eine Einheit gebaut wird,liegen um 40 bis 50 Prozent höher, worin sich die Annahme wider-spiegelt, dass sich die einmaligen Erstentwicklungskosten auf rund300 Millionen Pfund belaufen werden.

Viele der Annahmen, beispielsweise für die Baukosten, sind alswirtschaftlich sensibel klassifiziert und unterliegen der Geheim-haltung. Allerdings gibt die PIU an, dass die Baukostenprognosenvon BNFL und British Energy unter 840 £/kW liegen. Die Angabenzur Leistungsausnutzung sind ebenfalls vertraulich, doch die PIUgeht von einer Arbeitsverfügbarkeit von deutlich über 80 Prozentaus.

5.4 Scully CapitalDer Scully-Report wurde vom US-Energieministerium in Auftraggegeben und untersucht die Erzeugungskosten eines 1100-MW-Druckwasserreaktors (AP-1000) unter vier Baukostenszenarien: eineMilliarde, 1,2 Milliarden, 1,4 Milliarden und 1,6 Milliarden US-Dol-lar. Im Gegensatz zu anderen Berichten basiert der Scully-Report aufdem Ansatz, die Großhandelspreise für Strom zu prognostizierenund auf dieser Grundlage zu errechnen, welche Renditen Atomanla-gen entsprechend ihrer Leistungswerte erwirtschaften. Bei einemStrompreis von 35 $/MWh (1,95 p/kWh) erreichen Atomkraftwerkeje nach Baukosten eine inflationsbereinigte Rendite bis zur End-fälligkeit von 7,3 bis 10,7 Prozent. Den Industriedurchschnitt von 10bis 12 Prozent erreicht nur das Szenario mit einer Milliarde US-Dollar Baukosten. Darüber hinaus wurden Sensitivitätsanalysen fürden Strompreis, die Leistungsausnutzung, die Brennstoffkosten unddie Bauzeit durchgeführt sowie finanzielle Aspekte, zum Beispieldas Verhältnis von Schulden zu Eigenkapital und die Kreditkosten,berücksichtigt. 286

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5.5 MITBei der Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) han-delt es sich um eine sehr ausführliche und angesehene Studie dernuklearen Erzeugungskosten im Vergleich zu anderen Optionen derStromerzeugung wie Kombikraftwerken, die detaillierte Annahmenüber die wichtigsten Komponenten enthält. Im Hinblick auf dieBetriebs- und Wartungskosten gehen die MIT-Forscher davon aus,dass diese aufgrund des Wettbewerbsdrucks bei Generatoren um 25Prozent unter denen bestehender Anlagen liegen. Bei den Bau-kosten veranschlagen die Autoren des Berichts deutlich geringereKosten als bei den meisten neueren Reaktoren in den VereinigtenStaaten (auch wenn deren Fertigstellung über 20 Jahre zurückliegt).Hinsichtlich der Leistungsausnutzung untersuchen die Autoren einhohes Szenario mit 85 Prozent und ein niedriges Szenario mit 75Prozent, wobei der höhere Wert auf den guten Kapazitätsfaktorender US-Reaktoren in den letzten Jahren und der schlechtere Wertden Zeitraum mit berücksichtigt, den die Reaktoren benötigten, umdieses höhere Niveau zu erreichen. Obwohl die MIT-Forscher ihreAnnahmen zur Stillegung nicht konkretisieren, kann man davonausgehen, dass sie der derzeitigen Praxis folgen und einen Sonder-fonds empfehlen. Die Kosten der Stillegung selbst werden nichtangesprochen.

Die wichtigsten Variablen sind dem Bericht zufolge die Leis-tungsausnutzung und die Laufzeit, obwohl sich angesichts der ver-gleichsweise hohen Kapitalkosten eine Verlängerung der Laufzeitmit rund fünf Prozent nur geringfügig auf die Gesamtkosten aus-wirkt, während sich Unterschiede in der Leistungsausnutzung mit10 bis 15 Prozent deutlich stärker niederschlagen. In allen Szenariensind Gas- und Kohlekraftwerke deutlich günstiger als Atomkraft-werke, und zwar um bis zu 45 respektive 35 Prozent. Selbst wenn dienuklearen Baukosten um 25 Prozent, die Bauzeit auf zwölf Monategesenkt und die Kapitalkosten auf 10 Prozent reduziert werden,reicht das nicht aus, die Lücke zwischen Atom- und Kohle- oder Gas-kraftwerken zu schließen.

5.6 Royal Academy of EngineersLaut dem Bericht der Royal Academy of Engineers, der eine Vielzahlvon Technologien zur Stromerzeugung vergleicht, liegen die Strom-erzeugungskosten aus Atomkraftwerken sehr nahe bei denen vonGaskraftwerken und um zehn bis 30 Prozent unter denen von Koh-287

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lekraftwerken (je nach der in den Kohlekraftwerken verwendetenTechnologie) und bei rund einem Drittel der Kosten von erneuerba-ren Energiequellen. Die Autoren der Studie, die auf drei aussichts-reichen Reaktortypen basierte – dem EPR, dem AP-1000 und demACR –, bezogen sich bei der Schätzung der Kostenfaktoren stark aufdie MIT-Studie, folgten den MIT-Forschern aber aufgrund von „tech-nologischen Differenzen“ nicht in allen Fällen. Zum Beispiel liegendie prognostizierten Betriebs- und Wartungskosten um nahezu 50Prozent unter denen der MIT-Studie.21 Laut dem RAE-Bericht wur-den die Stillegungskosten bei der Berechnung der Kapitalkostenberücksichtigt, allerdings wurden die Kostenannahmen nicht kon-kretisiert. Aufgrund der bei allen Parametern sehr optimistischenAnnahmen überraschen die in dem Bericht zitierten niedrigenErzeugungskosten kaum.

5.7 University of ChicagoDie University of Chicago vergleicht in ihrer Studie eine Reihe vonnuklearen Kostenprognosen, ohne eigene Kostenschätzungen vor-zunehmen. In ihrem „Keine-Maßnahmen“-Szenario errechnen dieAutoren der Studie die durchschnittlichen Erzeugungskosten fürdrei unterschiedliche Reaktoren mit einer Leistung von 1000 MW.Die teuerste Version ist der für Olkiluoto bestellte EPR, gefolgt voneinem Reaktor, bei dem die Erstentwicklungskosten mit einkalku-liert werden (zum Beispiel der AP-1000), und die günstigste Optionein Reaktor, bei dem die Erstentwicklungskosten bereits abgeschrie-ben sind (zum Beispiel der ABWR oder der ACR-700). Obwohl die inder Tabelle angeführten Ergebnisse die Studienergebnisse, die eineVielzahl von Szenarien darstellen, nicht umfassend wiedergeben,zeigen sie doch, dass sich selbst bei extrem niedrigen Baukosten einvergleichsweise hoher Diskontsatz stark auf die Gesamtkosten aus-wirkt.

5.8 Canadian Energy Research InstituteDas Canadian Energy Research Institute vergleicht in seiner Studiedie prognostizierten Erzeugungskosten von Kohle- und Gaskraft-

288

21 Bereits die MIT-Prognosen enthielten durch die Einbeziehung des Wett-bewerbsdrucks eine signifikante Verminderung des gegenwärtigen Kosten-niveaus (25 Prozent). Allerdings ist der von der Royal Academy of Engineersgewählte Diskontsatz konsistent mit dem Ziel einer vollen Kostendeckung.

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werken mit den Erzeugungskosten eines CANDU-6-Doppelblocks(mit einer Gesamtleistung von 1346 MW, der aktuellen CANDU-Generation) und eines ACR-700-Doppelblocks (mit einer Gesamt-leistung von 1406 MW, dem CANDU-Bautyp der Generation III).22

Wir konzentrieren uns auf die ACR-700-Option, die den Prognosenzufolge günstiger als die CANDU-6-Option ist. Die Stillegungs-kosten werden mit 250 £/kW veranschlagt und während der Reaktor-laufzeit durch Fondszahlungen abgedeckt, die sich über 30 Jahrehinweg auf 3,6 Millionen £ pro Jahr oder 0,03 p/kWh summieren.Die Gesamtkosten sind relativ niedrig, und die meisten Annahmenentsprechen denen von anderen Studien.

5.9 International Energy Agency/Nuclear Energy AgencyDie IEA/NEA-Studie basiert auf den Antworten nationaler Behördenauf eine Umfrage zu den Erzeugungskosten verschiedener Optio-nen. Aufgrund der gewaltigen Bandbreite der Angaben der einzel-nen Länder – so haben die osteuropäischen Länder sehr niedrigeKosten gemeldet, Japan dagegen sehr hohe – fällt es schwer, dieseStudie zu bewerten. Der zentrale Faktor ist der sehr niedrig ange-setzte Diskontsatz, der zusammen mit relativ optimistischenLeistungsannahmen geringe Erzeugungskosten ergibt.

5.10 OXERADem OXERA-Bericht vom April 2005 folgte im Juni 2005 ein zweiterBericht mit zusätzlichen Angaben zu den Kostenprognosen.23 DerOXERA-Bericht enthält zwar eine sehr detaillierte Wirtschaftlich-keitsanalyse, verlässt sich aber bei seinen Leistungsannahmen aufandere Berichte und geht so zum Beispiel von einer extrem hohenLeistungsausnutzung von 95 Prozent aus, ohne das zu begründen.Der OXERA-Bericht folgt demselben Ansatz wie der Scully-Reportund kalkuliert die Rendite für einen bestimmten Strompreis. Beieinem Grundlastpreis von 27 bis 33 £/MWh, rund 50 Prozent überdem, was British Energy derzeit erhält, würde der interne Zinsfußfür einen Einzelreaktor je nach Verschuldungskoeffizient zwischenacht und elf Prozent liegen. Bei einem acht Blöcke umfassenden

289

22 Angaben in kanadischen Dollar wurden auf der Basis eines Wech-selkurses von 1 £ = 2,20 CUS-Dollar umgerechnet.23 OXERA (2005): „Financing the nuclear Option: modelling the costs of newbuild“.

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Bauprogramm stiege der Ertrag der letzten Blöcke auf über 15 Pro-zent. Hierbei ist zu beachten, dass die in der OXERA-Studie ange-setzten Baukosten zwar über den Kostenprognosen einiger andererStudien liegen, aber dennoch deutlich hinter den Baukosten vonSizewell und den veranschlagten Kosten für Olkiluoto zurückblei-ben. Darüber hinaus setzen die Annahmen zur Leistungsausnut-zung und zu den Betriebskosten – zum Teil basierend auf demIEA/NEA-Report und dem Bericht von Scully Capital – eine immen-se Verbesserung gegenüber der aktuellen Reaktorgeneration voraus.

Auf der Basis dieser Kostenprognosen und der Kosten des aktuel-len Programms der Londoner Regierung zum Ausbau der erneuer-baren Energien – die OXERA auf 12 Milliarden Pfund schätzt –kommt die OXERA-Studie zu dem Schluss, dass ein Nuklearpro-gramm die Kohlendioxidemissionen im vergleichbaren Umfang ver-mindern würde, und zwar zu Kosten von lediglich 4,4 MilliardenPfund zuzüglich der Kosten der öffentlichen Nuklearrisiko-Versiche-rung. Die zitierten 4,4 Milliarden Pfund setzen sich zusammen ausKapitalzuschüssen in Höhe von 1,1 Milliarden Pfund und Kredit-bürgschaften in Höhe von 3,3 Milliarden Pfund. Zu den Kosten eineröffentlichen Nuklearrisiko-Versicherung schweigt sich der OXERA-Bericht aus.

6 Notwendigkeit und Höhe staatlicher SubventionenSukzessive Studien der britischen Regierung in den Jahren 1989,1995 und 2002 kamen zu dem Schluss, dass Stromversorger ineinem liberalisierten Strommarkt ohne staatliche Subventionen undGarantien zur Kostenbegrenzung keine Atomkraftwerke bauen wür-den – eine Erkenntnis, die sich auf die meisten Länder, die dieMonopolstellung der Energieerzeuger beendet haben, übertragenlässt. Die aktuelle Neubestellung in Finnland scheint zwar etwasanderes nahezulegen, doch wie oben erklärt, eignet sich der finni-sche Fall aufgrund der Sonderstellung des Reaktorbetreibers – einnicht auf Gewinnerzielung ausgerichtetes Unternehmen im Besitzvon Industrieunternehmen, die vertraglich zur Abnahme deserzeugten Stroms verpflichtet sind – kaum als Modell für andereLänder.

Bei den Bereichen, in denen Subventionen und Kreditbürgschaf-ten erforderlich scheinen, handelt es sich insbesondere um solche,die nicht der vollen Kontrolle des Betreibers unterliegen; dieseKosten umfassen: 290

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– Baukosten: Angesichts der hohen Baukosten für neue Atomkraft-werke und die hohe Wahrscheinlichkeit einer Kostenüberschrei-tung könnte sich die Regierung gezwungen sehen, die auf priva-te Investoren entfallenden Kosten zu begrenzen.

– Betriebsleistung : Es besteht ein signifikantes Risiko, dass die tat-sächliche Leistung schlechter als prognostiziert ausfällt. Der Be-treiber ist weitgehend für die Arbeitsverfügbarkeit verantwortlich,und es ist unklar, ob die Reaktorentwickler ausreichend Vertrau-en in ihre Fähigkeit setzen, um die Verantwortung für eine unterden Prognosen liegende Arbeitsverfügbarkeit zu übernehmen.

– Betriebs- und Wartungskosten (ohne Brennstoffkosten): Da dieseebenfalls weitgehend der Kontrolle der Betreiber unterliegen,könnten diese bereit sein, das Risiko zu tragen.

– Kernbrennstoffkosten: Von Kernbrennstoffkosten geht generellkein sonderliches Risiko aus. Uran lässt sich problemlos lagernund das Risiko höherer Weltmarktpreise lässt sich managen. DaEntsorgungskosten für verbrauchten Kernbrennstoff (vorausge-setzt, dass keine Wiederaufbereitung erfolgt) weitaus umstritte-ner sind, könnten die Reaktorbetreiber nach dem Vorbild derUSA auf eine Obergrenze für die Entsorgungskosten drängen.

– Stillegungskosten: Auch wenn sich die Stillegungskosten kaum vor-hersagen lassen, kann man davon ausgehen, dass sie in Zukunftdeutlich ansteigen werden. Die erforderlichen Beiträge zu einemgut verwalteten separaten Stillegungsfonds erscheinen zwar ver-gleichsweise moderat, doch sollten die Erfahrungen aus derStillegung und Abfallentsorgung zeigen, dass die gegenwärtigenKostenschätzungen signifikant zu niedrig sind, oder sollte dieRendite der Stillegungsfonds geringer als erwartet ausfallen,könnten die Einzahlungen deutlich erhöht werden müssen. Auf-grund dieses Risikos könnten private Entwickler einen „Deckel“für ihre Fondsbeiträge verlangen.

Insbesondere bei den ersten Blöcken, bei denen die Anlaufkosteneiner neuen Technologie anfallen, muss mit einem sehr hohen Be-darf an Kreditbürgschaften gerechnet werden. Werden mehrere An-lagen eines Bautyps gebaut und damit gute Erfahrungen gemacht,könnte der Markt zur Übernahme eines höheren Risikoanteils bereitsein, obwohl eine politische Verpflichtung zur Förderung des Atom-stroms allein noch lange keine Garantie für die Realisierung einesNuklearprogramms darstellt. Man sollte nicht vergessen, dass unter291

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den Regierungen Reagan und Thatcher, die beide eine Renaissanceder Atomenergie versprachen, die Atomindustrie massive Rück-schritte hinnehmen musste.

7 SchlussfolgerungenSeit mindestens 20 Jahren sind die Bestellungsmengen für neueAtomkraftwerke auf einem niedrigen Niveau. Die Gründe dafür sindkomplex, sie reichen von der öffentlichen Opposition gegen neueAtomkraftwerke bis hin zu den Kraftwerksüberkapazitäten in vielenpotenziellen Märkten. Daneben spielt aber auch die schlechte öko-nomische Leistung vieler bestehender Anlagen eine wichtige Rolle.Verstärkt wurde dieser Faktor noch durch den im letzten Jahrzehntgestiegenen Wettbewerbsdruck in den liberalisierten Strommärkten,die Erzeugungsoptionen mit niedrigen Kapitalkosten, kurzen Bau-zeiten und garantierter Leistung favorisieren – Eigenschaften, dieden aktuellen Reaktortypen fehlen. Bei den wenigen im Bau befind-lichen Anlagen handelt sich größtenteils um alte Reaktortypen, diefür Neubestellungen im Westen nicht in Frage kommen würdenund in Ländern gebaut werden, deren Strommarkt sich noch ineinem sehr frühen Reformstadium befindet.

In Europa und Nordamerika hat das Interesse an neuen Atom-kraftwerken teilweise wieder zugenommen. In Großbritannien wirddie nukleare Erzeugungskapazität im Laufe des nächsten Jahrzehntsaber stark zurückgehen und der Atomstromanteil an der nationalenStromproduktion von über 25 Prozent auf unter zehn Prozent fallen.Wenn die Regierung nicht eingreift, dürften die wegfallenden Kapa-zitäten durch Gaskraftwerke ersetzt werden und, so die Befürch-tung, der landesweite Ausstoß an Treibhausgasemissionen signifi-kant steigen. Außerdem haben mehrere wichtige Länder tatsächlichoder de facto den Atomausstieg beschlossen, darunter Schweden,Italien, Belgien, Deutschland, die Niederlande, Spanien und dieSchweiz. Weil der Weg von einer Politik des Atomausstiegs zurückzu einer Politik der Atomneubauten weit ist, kann man wohl davonausgehen, dass die Laufzeiten der bestehenden Reaktoren in denmeisten der genannten Länder verlängert werden.

In den Vereinigten Staaten versucht die Bush-Regierung mitHilfe von staatlichen Subventionen eines der zentralen ökonomi-schen Risiken – die Unsicherheit über die Zeitdauer und die Kostender nuklearen Lizenzierung – zu entschärfen, wobei abzuwartenbleibt, ob diese Maßnahme ausreichen wird, die Skepsis der Finanz- 292

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gemeinde in Sachen Atomstrom zu überwinden. Ohne die impliziteUnterstützung der Ratingagenturen und Investmentanalysen wer-den die amerikanischen Energieversorger keine neuen Atomkraft-werke bauen können.

Ungeachtet der schlechten ökonomischen Atomstrombilanz invielen Ländern wird das neuerliche Interesse am Atomstrom durcheine Reihe jüngerer nationaler und internationaler Studien ange-heizt, die für neue Atomkraftwerke im Vergleich zu den aktuellenKosten deutlich geringere Erzeugungskosten prognostizieren. Aller-dings sind diese Studien umstritten, und viele der ihnen zugrunde-liegenden Annahmen erscheinen wenig plausibel.

Prognosen der Stromerzeugungskosten von Atomkraftwerkensind aus drei Gründen schwierig und heikel:

– Mehrere Variablen beziehen sich auf Prozesse, für die eine Bestä-tigung im kommerziellen Betrieb noch aussteht, beispielsweisedie Stillegung von Reaktoren und die Entsorgung vor allem lang-lebiger schwach-, mittel- und hochradioaktiver Abfälle. Sämtlichebisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass die tatsächlichenKosten in solchen Bereichen die Kostenprognosen oftmals signi-fikant übersteigen.

– Für einige der Variablen gibt es keine eindeutige „richtige“ Ant-wort. Ungeachtet der Tatsache beispielsweise, dass der Diskont-satz stark variieren könnte, besteht kein Konsens über die Berech-nung und Finanzierung der Stillegungskosten.

– Vielleicht am bedenklichsten ist der Mangel an zuverlässigenaktuellen Daten über die derzeit betriebenen Atomkraftwerke.Energieversorger sind berüchtigt dafür, keine Auskünfte über dieihnen anfallenden Kosten zu geben. Da in Westeuropa in denletzten zwei Jahrzehnten nur ein paar und in den VereinigtenStaaten seit 1980 überhaupt keine neuen Atomkraftwerke geor-dert wurden, sind alle modernen Reaktortypen mehr oder weni-ger unerprobt.

Über die vergangenen vier Jahrzehnte hinweg hat die für neueAtomkraftwerke prognostizierte Leistung durchgängig deutlich überder tatsächlichen Leistung bestehender Atomkraftwerke gelegen –und es haben sich diese Annahmen praktisch unweigerlich als vielzu optimistisch erwiesen. Die Lücke zwischen den ökonomischenLeistungsprognosen der nächsten AKW-Generation und der Leis-293

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tung bestehender Anlagen ist so groß wie eh und je. Aber auch wennaus dem Umstand, dass sich die bisherigen Prognosen als falscherwiesen haben, nicht zwangsläufig geschlossen werden kann, dassdie aktuellen Prognosen ebenfalls zu optimistisch sind, deutet esdoch darauf hin, dass zumindest Prognosen, die starke Leistungszu-wächse vorhersagen, mit einem gerüttelt Maß an Skepsis betrachtetwerden sollten.

Die wichtigsten Annahmen betreffen die Baukosten, dieBetriebsleistung, die laufenden Kosten sowie die Kapitalkosten undden Diskontsatz.

Die konventionelle Weisheit in der Atomindustrie lautete in denletzten Jahren, dass die nuklearen Baukosten 1000 $/kW nicht über-steigen dürfen, wollen Atomkraftwerke mit Kombikraftwerken (Bau-kosten von rund 500 $/kW) konkurrieren. Allerdings gehen selbstdie optimistischsten Studien nicht von Baukosten unter 1000 $/kWaus. Dessen ungeachtet deutet die Häufung von Kostenprognosenim Bereich um die 2000 $/kW an, dass die neuen Reaktortypen aufein konkretes Kostenziel hin entwickelt werden. Sollte sich derAnstieg der Gaspreise in den letzten beiden Jahren fortsetzen, könn-ten Atomkraftwerke auch bei höheren Baukosten konkurrenzfähigsein, allerdings wohl kaum bei den erwarteten doppelt so hohenBaukosten.

Das alles zeigt, dass neue Reaktortypen nur unter Bezug auf kon-krete ökonomische Rahmenbedingungen entwickelt werden sollten.Andererseits kommt es bei der Bewertung dieser Projektionen vorallem darauf an, wie realistisch die ihnen zugrundeliegenden Prog-nosen sind. Skepsis ist insbesondere bei der Frage angebracht, inwelchem Maß die vorhergesagten massiven Kostenreduzierungenbei neuen Anlagen im Vergleich zu den gegenwärtigen Reaktorgene-rationen auf eine höhere Wirtschaftlichkeit der neuen Bautypenzurückgeht und in welchem Maß dafür Kosten senkende Maßnah-men verantwortlich sind, die sich auf lange Sicht als kontraproduk-tiv erweisen könnten. Als sich in den sechziger Jahren zeigte, dassAtomstrom weit weniger wirtschaftlich als erwartet war, reagierteman darauf mit Kostensenkungen, unter anderem durch Einsparun-gen an den Materialien und die schnelle Entwicklung größerer Ein-heiten, Maßnahmen, die im Rückblick wegen ihrer negativen Aus-wirkungen auf die Reaktorperformance mehr Schaden als Nutzenbrachten. So mussten zum Beispiel die Dampferzeuger in dendamals gebauten Druckwasserreaktoren wegen der verwendeten 294

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minderwertigen Materialen manchmal bereits nach 15 Jahren ausge-tauscht werden, was nicht nur mit hohen Kosten verbunden war,sondern auch eine Abschaltung der Reaktoren für rund ein Jahrerforderlich machte.

Im Durchschnitt der hier untersuchten Studien belaufen sich dieBaukostenprognosen auf rund 2000 $/kW. Die Lappeenranta-Studie, der als einzige Studie reale Vertragskosten zugrunde liegen,geht von deutlich höheren Baukosten aus – und selbst in diesem Fallsagen viele Experten, dass das Gebot für den Olkiluoto-Reaktor, aufdem die Lappeenranta-Studie basiert, unter dem wirtschaftlichenPreis liegt.

Ein weiterer Bereich, für den massive Verbesserungen prognosti-ziert werden, sind die Betriebs- und Wartungskosten (ohne Brenn-stoffkosten), die in vielen Fällen mit nur rund 40 beziehungsweise70 Prozent der aktuellen Kosten in Großbritannien beziehungsweiseden Vereinigten Staaten veranschlagt werden. Die Prognosen zurBetriebsleistung gehen üblicherweise von einem Kapazitätsfaktoraus, der mit 90 Prozent weit über den Erfahrungswerten liegt undnur von den zuverlässigsten Reaktoren auf der Welt erreicht wird.

Die schwierigste und zugleich wichtigste Annahme jedoch betrifftdie Kapitalkosten. In einigen Fällen, beispielsweise der RAE- und derIEA/NEA-Studie, wären die zugrunde liegenden Annahmen nurdann realistisch, wenn die Reaktorbetreiber sämtliche Kosten vollumlegen könnten. Die amerikanischen Studien nutzen zwar fort-schrittliche Verfahren zur Ermittlung der Kapitalkosten, doch ange-sichts der zögerlichen Liberalisierung der Strommärkte in weitenTeilen der Vereinigten Staaten bleibt unklar, inwieweit diese Studiendie Folgen der Liberalisierung der Stromerzeugung voll wiederge-ben. Einmal abgesehen von einer Rückkehr zu einem monopolisier-ten Strommarkt – ein Schritt, der unter den gegenwärtigen Umstän-den praktisch undenkbar erscheint –, würde das bedeuten, dass dieReaktorbetreiber im Prinzip durch die Steuerzahler (für den Fall,dass die Regierung einspringt) oder aber die Stromverbraucher (fürden Fall der Wiedereinführung einer verbrauchsabhängigen Sub-vention) subventioniert würden. Abgesehen davon, dass es höchstfragwürdig ist, ob solche Arrangements politisch durchsetzbarwären, wären sie auch nach EU-Recht kaum zulässig, das mit Aus-nahme von bestimmten Fällen staatliche Beihilfen generell verbietet.

Falls die Reaktorbetreiber einen signifikanten Teil des ökonomi-schen Risikos übernehmen müssen, muss mit – wie die britische295

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PIU das getan hat – einem Diskontsatz von mindestens 15 Prozentgerechnet werden, und in diesem Falle würden die durchschnitt-lichen Erzeugungskosten selbst bei überaus optimistischen Progno-sen zu den Bau- und den Betriebs- und Wartungskosten (wie bei-spielsweise bei der PIU-Studie und dem Bericht der University ofChicago) immer noch über 4 p/kWh betragen.

Wenn Atomkraftwerke gebaut werden sollen, dann setzt dasallem Anschein nach umfangreiche staatliche Garantien und Sub-ventionen voraus, und zwar insbesondere in den folgenden Berei-chen: Baukosten, Betriebsleistung, Betriebs- und Wartungskosten(ohne Brennstoffkosten), Kernbrennstoffkosten, Stillegungskosten.

Darüber hinaus könnten kommerzielle Garantien erforderlichsein, die Produktion der Anlagen zu einem Garantiepreise abzuneh-men. Ob ein solch umfangreiches Paket an „staatlichen Beihilfen“unter dem EU-Wettbewerbsrecht anerkannt werden würde,erscheint allerdings eher zweifelhaft.

296

Anmerkungen Tabelle 6:

1 Die Sizewell-B-Betriebskosten ent-

sprechen dem Durchschnitt aller acht von

British Energy betriebenen Anlagen (sie-

ben AGR-Reaktoren sowie der Sizewell-

B-Druckwasserreaktor).

2 Betriebs- und Wartungskosten bei

MIT einschließlich Brennstoffkosten.

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Tabelle 6

Vergleich der Annahmen neuerer Prognosen zu den Erzeugungs-kosten von Atomstrom

Sizewell B1 4050 86 - 84 2,07 1,26 40 Zum Teil Sonder- 65400 fonds, zum Teil ?

Cashflow

Rice University 5,0

Lappeen- ~2340 - 5 91 0,9 0,36 60 1,6ranta Uni-versity

Performance <1500 - 8 >80 - - 30 2,31& Innovation 8 15 2,83Unit 15 15 3,79

Scully 900 60 90 1,0 0,5 40 260 Mio. £Capital 1080 Rückstellungen

1260 über 401440 Jahre Laufzeit

Massachu- 2000 60 11,5 85 1,52 - 40 3,7setts Institute 75 25 4,4of Technology

Royal 2070 60 7,5 90 0,80 0,72 40 In den 2,3Academy of BaukostenEngineers enthalten

Chicago 1000 84 12,5 85 1,0 0,54 40 195 Mio. £ 2,9University 1500 3,4

1800 3,9

Canadian Nuclear Association 1920 72 10 90 0,88 0,45 30 Fonds/0,03 3,3

p/kWh

IEA/ 2000 60– 5 85 0,68 0,27 40 In den 1,2–2,7NEA –4500 120 10 –1,6 –1,17 Baukosten 1,8–3,8

enthalten

OXERA 2925 95 0,63 0,54 40 500 Mio. £ (erste in Fonds nach

Einheit) 40 Jahren 2070 Laufzeit

(spätere Einheiten)

297

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die

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$/kW

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ANHANG 1

Diskontierung, Kapitalkosten und erforderliche Rendite

Ein besonders schwieriges Thema im Bereich der Nuklearökonomiesind die Einnahmen- und Ausgabenflüsse zu unterschiedlichenZeitpunkten im Lebenszyklus von Atomkraftwerken sowie ihre Har-monisierung zum Zwecke des Vergleichs. Laut britischen Plänenkönnen vom Zeitpunkt der Bestellung eines Reaktors bis zum end-gültigen Abschluss der Stillegungsarbeiten über 200 Jahre vergehen.

Gemeinhin werden Einnahmen- und Ausgabenflüsse, die zuunterschiedlichen Zeitpunkten anfallen, unter Verwendung der dis-kontierten Einnahmeüberschussmethode (Discounted Cashflow –DCF) miteinander verglichen. Die DCF-Analyse basiert auf der intu-itiv vernünftigen Annahme, dass Einnahmen oder Ausgaben, die inder Gegenwart anfallen, stärker gewichtet werden sollen als solche,die erst in der Zukunft anfallen. Eine Entschädigung beispielsweise,die heute ausbezahlt werden muss, kostet die volle Summe, für eineEntschädigung aber, die z.B. erst in zehn Jahren entrichtet werdenmuss, reicht es aus, heute einen kleineren Betrag anzulegen und dieDifferenz durch die erwirtschafteten Zinsen wettzumachen. Bei derDCF-Analyse werden sämtliche Einnahmen und Ausgaben im Laufeder Zeit durch die „Diskontierung“ auf eine gemeinsame Basis ge-bracht. Angenommen, Sie erhalten in einem Jahr 100 US-Dollar,dann beträgt der aktuelle „Kapitalwert“ dieser Einnahme bei einem„Diskontsatz“ von fünf Prozent 95,23 Dollar – anders ausgedrückt:Bei diesem Diskontsatz würde ein Betrag von 95,23 US-Dollar zu-sammen mit den Zinsen in Höhe von 4,77 US-Dollar binnen einesJahres auf 100 US-Dollar anwachsen. Der Diskontsatz, wird häufigauch als die „Opportunitätskosten“ des Geldes bezeichnet, also alsdie (inflationsbereinigte) Rendite, die das Geld erwirtschaftenwürde, wenn man es am Kapitalmarkt investieren würde.

Während diese Methode bei kurzen Zeiträumen von rund einemJahrzehnt und bei vergleichsweise niedrigen Diskontsätzen gutfunktioniert, wirkt sie sich bei langen Zeiträumen und hohen Dis-kontsätzen massiv aus; in dem Fall müssen die der Kalkulation zu-grundeliegenden Annahmen sehr sorgfältig bedacht werden. Wirdzum Beispiel ein Diskontsatz von 15 Prozent angesetzt, reduziertsich eine Ausgabe von 100 US-Dollar in zehn Jahren auf einenGegenwartswert von gerade einmal 12,28 US-Dollar. 100 US-Dollar, 298

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die in 100 Jahren von heute fällig werden, haben selbst bei einemDiskontsatz von 3 Prozent einen Gegenwartswert von lediglich 5,20US-Dollar, während bei einem Diskontsatz von 15 Prozent Ausgabenoder Einnahmen, die in mehr als 15 Jahren anfallen, für die Wirt-schaftlichkeitsanalyse sogar vernachlässigenswert sind (sieheTabelle 7).

Tabelle 7

Die Folgen der Diskontierung: Gegenwartswerte

Diskontierungszeitraum (in Jahren) Diskontsatz3% 15%

5 0,86 0,5010 0,74 0,2515 0,64 0,1220 0,55 0,06130 0,41 0,01550 0,23 0,00092100 0,052 -150 0,012 -

Quelle: Berechnungen des Autors

Angewendet auf Atomkraftwerke, die in einem Wettbewerbsmarktmit hohen Kapitalkosten operieren, bedeutet das, dass sich Kostenund Nutzen, die in beispielsweise mehr als zehn Jahren anfallen, tat-sächlich kaum auf die Wirtschaftlichkeitsberechnung der Anlageauswirken. Demnach ergibt auch eine Verdoppelung der Laufzeitvon 30 auf 60 Jahre kaum Wirtschaftlichkeitsvorteile, wie auch Mo-dernisierungskosten, die beispielsweise in 15 Jahren anfallen, kaumins Gewicht fallen.

Auf die Stillegung übertragen – deren teuerste Phase den aktuel-len britischen Plänen nach aller Voraussicht erst 135 Jahre nach derReaktorstillegung beginnt –, werden sich auch sehr hohe Kostendiesbezüglich kaum auf die Wirtschaftlichkeit auswirken, selbstwenn man einen sehr niedrigen Diskontsatz veranschlagt und fürRückstellungen in sehr sicheren Anlageformen mit einer entspre-chend geringen Rendite von um die drei Prozent kalkuliert. Im Falleeines Magnox-Reaktors mit Stillegungskosten in Höhe von insge-samt rund 1,8 Milliarden US-Dollar, von denen 65 Prozent (etwa 1,17Milliarden US-Dollar) auf die Schlussphase entfallen, muss zurFinanzierung dieser Schlussphase zum Zeitpunkt der Stillegungeine Kapitalrückstellung von lediglich 28 Millionen US-Dollar vorge-nommen werden.299

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Die DCF-Methoden basieren implizit auf der günstigen Annahmeeiner über den gesamten Rechnungszeitraum hindurch gleichblei-benden Rendite – eine Annahme, die sich, da selbst Regierungs-anleihen, die gemeinhin als die sicherste Anlageform gelten, nurmaximal 30 Jahre laufen und es in der Geschichte der Menschheitbislang noch keine Periode von 100 Jahren ununterbrochenemWirtschaftswachstum gegeben hat, nur schwerlich rechtfertigenlässt.

Bei der Atomenergie haben wir es mit dem offenkundigen Para-dox zu tun, dass bei der Wirtschaftlichkeitsrechnung in der Investi-tionsphase ein sehr hoher Diskontsatz (sprich eine hohe Verzin-sung) von 15 Prozent oder mehr angenommen wird, während beimerwarteten Wertzuwachs von Stillegungsfonds mit einem sehr gerin-gen Diskontsatz operiert wird.

Hauptgrund für diesen Widerspruch ist das Risiko. Investitionenin die Atomenergie sind aufgrund der notorisch schwer beherrsch-baren Baukosten, den Leistungsschwankungen, der Vielzahl exter-ner Ereignisse, die sich auf den Betrieb auswirken können, und derTatsache, dass über viele Abläufe (beispielsweise die Entsorgunghochradioaktiver Abfälle und die Stillegung kommerzieller Reakto-ren) praktisch keine Erfahrungswerte vorliegen, stark risikobehaftet.Darüber hinaus kommen wegen der Kostenstrukturen – die meistenKosten fallen an, egal ob die Anlage läuft oder nicht – in einem Wett-bewerbsumfeld noch weitere Risiken hinzu. Bei vergleichsweisehohen Großhandelspreisen für Strom erzielen Atomkraftwerke guteRenditen (wie British Energy von 1996 bis 1999), bei niedrigenGroßhandelspreisen dagegen (wie in den Jahren 2000 bis 2002) tunsie sich sehr schwer. Selbst wenn ein Reaktorbetreiber über einJahrzehnt hinweg gute Profite erwirtschaftet, schützt ihn das inschlechten Jahren nicht vor dem Bankrott. Deshalb bewerten Geld-geber Investitionen in Atomkraftwerke als extrem riskant und ver-langen aufgrund der großen Gefahr, ihr Geld zu verlieren, einensehr hohen Zinssatz auf ihr investiertes Kapital.

300

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301

Schneller Brüter Monju an der Westküste Japans. Im Dezember 1995 ereignete sich ein

schwerer Unfall, Sodium-Kühlmittel trat aus dem System aus. Der Reaktor arbeitet seitdem

nicht mehr. © Nick Cobbing/Greenpeace

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ANHANG 2

Die Technologien von Atomreaktoren

Atomreaktoren lassen sich grob nach dem in ihnen verwendetenKühlmittel und dem Moderator unterscheiden. Das Kühlmittel istein (gasförmiges oder flüssiges) Fluid, über das die im Reaktorkernerzeugte Wärme an die Turbinengeneratoren transportiert wird.Beim Moderator handelt es sich um ein Material, das die Neutronenabbremst und sie lange genug im Kern hält, um eine nukleareKettenreaktion aufrecht zu erhalten. Obwohl zahlreiche Kombinatio-nen von Kühlmitteln und Moderatoren möglich sind, beschränktsich die Bandbreite in den derzeit betriebenen oder angebotenenReaktoren auf vier Kühlmittel und drei Moderatoren.

Die am weitesten verbreiteten Reaktortypen sind der Druckwas-serreaktor (DWR) und der Siedewasserreaktor (SWR), beides Reak-tortypen, die ursprünglich für den Antrieb von Unterseebooten ent-wickelt wurden und normales Wasser („leichtes Wasser“) als Kühl-mittel und Moderator verwenden. Wasser hat den Vorteil, sehr billigzu sein, ist allerdings nicht gerade der effizienteste Moderator (einTeil der Neutronen wird von den Wassermolekülen absorbiert, statt„abzuprallen“). Deshalb muss der Anteil der aktiven Uranisotopenvon 0,7 Prozent, wie er in natürlichem Uran vorkommt, in einemsehr kostspieligen Verfahren auf mehr als drei Prozent erhöht wer-den.

Als Kühlmittel hat Wasser den Nachteil, dass es diesen Zweck nurin flüssiger Form erfüllt. Bei einem Bruch im Kühlmittelkreislaufbeginnt das Kühlwasser zu kochen und fällt die Kühlleistung auf-grund der Dampfblasenbildung stark ab. Deswegen kommt demAusschluss so genannter „Kühlmittelverlustunfälle“ im Reaktor-design auch höchste Priorität zu. Der Hauptunterschied zwischenDruck- und Siedewasserreaktoren besteht darin, dass in Siedewas-serreaktoren das Kühlmittel Wasser sieden darf und der im Reaktor-kern erzeugte Dampf direkt die Turbine antreibt. In Druckwasser-reaktoren dagegen steht das Kühlmittel Wasser unter hohem Druckund bleibt deshalb flüssig. Die Wärmeenergie wird über einen Wär-meaustauscher (Dampferzeuger) auf einen sekundären Kreislaufübertragen, in dem Wasser verdampft und die Turbine antreibt.Siedewasserreaktoren sind deshalb zwar weniger komplex als Druck-wasserreaktoren, weil aber das Kühlwasser direkt zur Turbine geht, 302

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kommt es zu einer stärkeren radioaktiven Kontamination der An-lage. Bei den russischen Reaktoren handelt es sich in den meistenFällen um Druckwasserreaktoren (WWERs). In Großbritannien gibtes einen Druckwasserreaktor (Sizewell B), aber keine Siedewasser-reaktoren.

Von den Reaktortypen, die „schweres Wasser“ als Kühlmittel undModerator verwenden, sind die in Kanada entwickelten CANDU-Reaktoren am weitesten verbreitet. In schwerem Wasserstoff ersetztdas Isotop Deuterium das normale Isotop Protium. Schweres Was-ser ist ein besserer Moderator, und CANDU-Reaktoren können mit(nicht angereichertem ) Natururan betrieben werden. Allerdings ste-hen dieser besseren Effizienz die Kosten zur Erzeugung von schwe-rem Wasser entgegen.

Mit Ausnahme von Sizewell B sind sämtliche britische Reaktorengasgekühlt (Kohlendioxid) und graphitmoderiert. Die Anlagen derersten Generation – die Magnox-Reaktoren – werden mit Natururanbetrieben, doch konnten die wenigsten auf Dauer auf Vollast gefah-ren werden, da Kohlendioxid als Kühlmittel im Kontakt mit Wasserleicht sauer wird und zur Korrosion der Leitungen führt. Bei den mitangereichertem Uran betriebenen Reaktoren der zweiten Genera-tion wurden korrosionsbeständigere Werkstoffe verwendet. Graphitist zwar ein effizienter Moderator, aber im Vergleich zu Wasser rela-tiv teuer. Darüber hinaus ist Graphit brennbar und neigt unter radio-aktiver Bestrahlung zur Rissbildung und Verformung.

Auch der Tschernobyl-Bautyp, der RBMK-Reaktor, nutzt Graphitals Moderator und leichtes Wasser als Kühlmittel.

Viel Interesse haben auch die so genannten gasgekühlten Hoch-temperaturreaktoren (HTGRs) auf sich gezogen, die Helium alsKühlmittel und Graphit als Moderator verwenden: Das EdelgasHelium ist ein vollkommen inertes und sehr effizientes, aber auchsehr teures Kühlmittel. Heliumgekühlte und graphitmoderierteReaktoren können mit einer viel höheren Temperatur als leichtwas-ser- oder kohlendioxidgekühlte Reaktoren betrieben werden. Da-durch kann nicht nur ein höherer Teil der Wärmeenergie in Stromumgewandelt werden, sondern auch parallel zur Stromerzeugungein Teil der erzeugten Wärme für industrielle Prozesse genutzt wer-den. Allerdings weisen die Demonstrationsreaktoren, die im Laufeder nun schon über 50jährigen Forschung- und Entwicklungs-geschichte dieses Reaktortyps errichtet wurden, sehr schlechteBilanzen auf.303

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In jüngster Zeit hat die Idee, HTGRs zur Erzeugung von Wasser-stoff zu verwenden, der in Brennstoffzellen eine Alternative zumErdöl darstellen könnte, das Interesse an diesem Reaktortyp wiederbeflügelt. Eines der am weitesten fortgeschrittenen Programme istdas der Südafrikaner, das auf dem Kugelhaufenreaktor (PMBR,Pebble Bed Modular Reactor) basiert, einem frühen deutschenDesign, dessen Name auf die tennisballgroßen Brennstoffkugeln(pebbles) zurückgeht. Allerdings liegt das südafrikanische Pro-gramm weit hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück und dürfteder Bautyp kaum vor 2015 für kommerzielle Bestellungen verfügbarsein.

ANHANG 3

Die Hersteller von Atomreaktoren

DruckwasserreaktorenDie vier großen unabhängigen Hersteller von Druckwasserreaktorenwaren: Westinghouse, Combustion Engineering (CE), Babcock &Wilcox (B&W) und der russische Hersteller der WWERs.

Die Westinghouse-Technologie wurde am häufigsten für Lizenz-entwicklungen genutzt. Die Hauptlizenznehmer waren Framatome(Frankreich), Siemens (Deutschland) und Mitsubishi (Japan).Westinghouse-Reaktoren wurden zwar in die ganze Welt verkauft,doch in den letzten 25 Jahren wurde weltweit nur ein neuer Westing-house-Reaktor (Sizewell B) bestellt, und die letzte (später nicht stor-nierte) Bestellung in den Vereinigten Staaten liegt sogar über 30Jahre zurück. BNFL, das 1998 die Nuklearsparte von Westinghouseübernahm, bestätigte im Juli 2005, dass man die Bank N M Roth-schild mit dem Verkauf der Sparte beauftragt habe. Obwohl für denwichtigsten aktuellen Westinghouse-Bautyp, den AP-1000, nochkeine Bestellungen vorliegen, wird eine ganze Reihe von Unterneh-men als potenzielle Übernahmekandidaten gehandelt.

Die von Westinghouse unabhängigen Reaktorsparten von Frama-tome und Siemens wurden 2000 fusioniert, wobei 66 Prozent derAnteile an Framatome und der Rest an Siemens ging. Framatomewird inzwischen von der Areva-Gruppe kontrolliert, die sich imBesitz des französischen Staates befindet. Der wichtigste moderneBautyp ist der EPR (der Europäische Druckwasserreaktor), von dem 304

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bislang ein Block verkauft wurde (an Finnland) und für den eine wei-tere Bestellung von der französischen EdF erwartet wird. Framatomehat alle (rund 60) französischen Druckwasserreaktoren hergestelltund darüber hinaus Anlagen an Südafrika, Südkorea, China undBelgien geliefert. Siemens hat zehn der elf in Deutschland errichte-ten Druckwasserreaktoren gebaut und Anlagen in die Niederlande,die Schweiz und nach Brasilien verkauft.

Der japanische Hersteller Mitsubishi beschränkte sich auf denheimatlichen Markt, wo er 22 Blöcke errichtete, wagte aber nie denSchritt auf den internationalen Markt. Das modernste Mitsubishi-Design ist der APWR, doch wurden die Bestellungen dafür immerwieder verschoben, und die ersten Einheiten werden wahrscheinlicherst in den kommenden ein bis zwei Jahren bestellt.

Combustion Engineering entwickelte einen eigenen Druckwas-serreaktor, der nur in den Vereinigten Staaten errichtet wurde. ImAusland wurde die CE-Technologie nur von Südkorea lizenziert. DieNuklearabteilung von Combustion Engineering wurde 1996 vonABB und drei Jahre später von BNFL übernommen. Heute gehört dieSparte zu Westinghouse. Der modernste CE-Bautyp, das System80+, wurde von Westinghouse bislang noch nicht aktiv auf demMarkt angeboten. Der koreanische Lizenznehmer Doosan, der denReaktortyp im APR-1400 weiterentwickelt hat, hat den Reaktor zwarauch in China angeboten, dennoch dürften die meisten Bestellun-gen aus dem südkoreanischen Markt kommen.

Der britische Hersteller Babcock & Wilcox (B&W) verkaufte seineselbst entwickelten Druckwasserreaktoren praktisch ausschließlichauf dem US-Markt, doch nach dem Reaktorunfall des B&W-ReaktorsThree Mile Island stellte das Unternehmen den Verkauf von Atom-kraftwerken ein. Der einzige B&W-Reaktor außerhalb der Vereinig-ten Staaten wurde in Lizenz in Deutschland gebaut, aber 1988 nurzwei Jahre nach seiner Fertigstellung aufgrund von Lizenzstreitig-keiten stillgelegt, und er wird auch nicht wieder in Betrieb genom-men werden.

SiedewasserreaktorenDer wichtigste Hersteller von Siedewasserreaktoren ist der amerika-nische Konzern General Electric (GE). GE hat eine Vielzahl vonAnlagen in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern wieDeutschland, Japan, Schweiz, Spanien und Mexiko verkauft. Zu denGE-Lizenznehmern gehören Siemens, Hitachi und Toshiba. Abge-305

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sehen davon, dass die (inzwischen zu Areva gehörende) Atomspartevon Siemens einen SWR-Bautyp für die Olkiluoto-Ausschreibungangeboten hat, scheint der Hersteller den Verkauf von Siedewasser-reaktoren nicht aktiv zu verfolgen.

In Japan, wo sich derzeit 32 Siedewasserreaktoren im Betrieb oderim Bau befinden, bieten die dortigen Lizenznehmer weiterhin Siede-wasserreaktoren an. Ein paar neu entwickelte Reaktoren wurden vonGE gebaut, der Rest jedoch von Hitachi oder Toshiba, deren aktuel-ler Bautyp der ABWR ist – der weltweit erste Reaktor der GenerationIII, der ans Netz ging. Auf die 1996 fertiggestellte erste Einheit folg-ten zwei weitere Blöcke, die im Betrieb sind, ein weiterer Blockbefindet sich im Bau. In Taiwan befinden sich zwei weitere ABWRsvon GE im Bau. Allerdings haben Toshiba und Hitachi wie Mitsu-bishi die Reaktoren bislang noch nicht auf dem internationalenMarkt angeboten. GE hat neben dem ABWR auch den SBWR ent-wickelt, obwohl für die nächsten paar Jahre nicht mit Bestellungengerechnet wird.

Der schwedische Hersteller Asea Atom hat einen eigenen SWR-Bautyp entwickelt, von dem neun in Schweden und zwei in Finnlandgebaut wurden. Asea Atom hat sich mit Brown Boveri zu ABBzusammengeschlossen, deren Nuklearsparte 1999 dann wiederumvon BNFL übernommen wurde. BNFL bietet den Bautyp nichtmehr an.

CANDUDer wichtigste Anbieter von Schwerwasserreaktoren ist das kanadi-sche Unternehmen Atomic Energy of Canada Limited (AECL), das inKanada über 20 Blöcke errichtet und weitere Anlagen nach Argen-tinien, Rumänien, Südkorea und China geliefert hat. Obwohl derHersteller 1975 nach Anlaufen des indischen Atomwaffenpro-gramms den Kontakt zu Indien, an das ebenfalls Reaktoren verkauftwurden, abgebrochen hat, hat Indien auf Grundlage der inzwischen40 Jahre alten Pläne weitere Reaktoren gebaut. Bei den drei inArgentinien gebauten Schwerwasserreaktoren handelt es sich umeinen CANDU-Reaktor und zwei deutsche Anlagen (von denen eineallerdings nicht fertiggestellt wurde und an der derzeit auch nichtweitergearbeitet wird). Der wichtigste neue AECL-Bautyp ist derAdvanced CANDU Reactor (ACR), der in zwei Größen auf den Marktkommen soll: der ACR-700 mit einer Leistung von 750 MW und derACR-1000 mit einer Leistung von 1100 bis 1200 MW. 306

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British Energy hat sich finanziell zwar an der Entwicklung desACR-700 beteiligt, nach dem Zusammenbruch im Jahr 2002 jedochseine Beteiligung am Betrieb von acht kanadischen Atomkraft-werken wieder verkauft.

ANHANG 4

Die Stillegung von Atomreaktoren

Die Stillegung von Atomkraftwerken hat in den letzten Jahren be-trächtliches öffentliches Interesse erregt, da sich immer mehr Reak-toren dem Ende ihrer Laufzeit nähern und zugleich die prognosti-zierten Stillegungskosten explodieren und die Schwächen der Finan-zierungspläne für die Stillegungsphase offenkundig werden.

Üblicherweise wird die Stillegung in drei separate Phasen unter-teilt. In der ersten Phase wird der Kernbrennstoff entfernt und derReaktor gesichert. Die zur Entfernung des Kernbrennstoffs erfor-derliche Zeit variiert je nach Reaktortyp. Bei Reaktoren, die zumBrennelementwechsel abgeschaltet werden (zum Beispiel Druck-und Siedewasserreaktoren) und bei denen rund ein Drittel derBrennelemente im Rahmen jährlicher Abschaltungen von ein paarWochen ausgetauscht werden, ist dafür weit weniger Zeit erforder-lich als bei Reaktoren (zum Beispiel AGRs und CANDUs), derenBrennelemente im laufenden Betrieb ausgetauscht werden und diedarauf ausgelegt sind, während des Leistungsbetriebs kontinuierlichkleine Brennstoffmengen zu ersetzen. Dieser Vorgang erfordert einehoch präzise Maschinenanlage, die sehr langsam arbeitet und zurvollständigen Entfernung des Kerns unter Umständen mehrereJahre benötigt. Sobald der Kernbrennstoff entfernt ist, kann derReaktor nicht mehr kritisch werden, und der Großteil der Radioakti-vität und der gesamte hochradioaktive Abfall sind dann entfernt. Dabis zum Abschluss dieser Phase der Personalbedarf der Anlage prak-tisch ebenso hoch ist wie im Normalbetrieb, besteht ein starker öko-nomischer Anreiz, die erste Phase der Stillegung so rasch wie mög-lich abzuschließen. Technologisch gesehen birgt Phase I, bei der essich im Prinzip um die Fortsetzung der Operationen während desReaktorbetriebs handelt, keine größeren Probleme. (Die Entsorgungdes abgebrannten Kernbrennstoffs fließt nicht in die Kostenberech-ung der ersten Phase ein.)307

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In der zweiten Phase werden die nicht oder schwach kontami-nierten Strukturen abgebaut und entfernt (mehr oder weniger diekomplette Anlage bis auf den Reaktor selbst). Auch dabei handelt essich eher um Routinearbeit, die keine besonderen Fähigkeiten ver-langt. Wirtschaftlich gesehen besteht der Anreiz, diese Phase solange wie möglich hinauszuzögern, um den von den Verbrauchernzu entrichtenden Betrag zu minimieren – je später mit diesen Arbei-ten begonnen wird, um so höher die Zinserträge, die im Stillegungs-fonds angespart werden. Begrenzt wird der Beginn dieser Phasedurch den Zeitpunkt, ab dem die Stabilität des Bauwerks nicht län-ger garantiert werden kann und ein Kollaps droht, der zur Freiset-zung von radioaktivem Material führen würde. In Großbritanniengeht man davon aus, den Beginn von Phase II auf bis zu 40 Jahrenach Stillegung der Anlage hinausschieben zu können.

Die dritte Phase, die Entfernung des Reaktorkerns, ist die bei wei-tem teuerste und technologisch problematischste Phase und erfor-dert den Einsatz von ferngesteuerten Robotern. Wie bei Phase IIbesteht auch hier ein starker ökonomischer Anreiz, den Beginn derArbeiten so lange wie sicherheitstechnisch vertretbar hinauszuzö-gern, wodurch z.B. in Großbritannien mit einem Aufschub von ca.135 Jahren gerechnet wird.

Nach Abschluss von Phase III sollte das Gelände im Idealfallohne Beschränkungen für andere Nutzungen geeignet, mit anderenWorten die Radioaktivität nicht höher als auf nicht kontaminiertenFlächen sein. In der Praxis wird das allerdings nicht immer möglichsein, und an einigen „schmutzigen“ Standorten wie dem schotti-schen Demonstrationsbrutreaktor Dounreay wird aufgrund derhohen Strahlenbelastung auf unbegrenzte Zeit hinaus keine norma-le Flächennutzung möglich sein.

Da bislang nur sehr wenige über ihre Gesamtlaufzeit hinwegbetriebene kommerzielle Reaktoren vollständig stillgelegt wurden,herrscht über die Stillegungskosten ein hohes Maß an Unsicherheit.Obwohl die erforderlichen Schritte im kleinen Maßstab bereitserfolgreich demonstriert worden sein sollen, kann die Tauglichkeitdieser Verfahren erst nach der Anwendung auf einen großen Reak-tor zuverlässig bewertet werden – viele Verfahren, die bei kleinenAnlagen funktionieren, sind bei der Übertragung auf kommerzielleReaktoren auf Probleme gestoßen.

Ein erheblicher Anteil der Stillegungskosten entfällt auf die Ent-sorgung der radioaktiven Abfälle. Aufgrund der fehlenden Erfahrun- 308

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gen beim Bau von Entsorgungseinrichtungen herrscht insbesonderebei mittelaktiven und schwachaktiven Abfällen mit langen Halb-wertszeiten Unsicherheit über die tatsächlichen Entsorgungskostenin modernen Anlagen.

Diese Unsicherheit spiegelt sich in der Art und Weise wider, wieSchätzungen für nukleare Stillegungskosten angegeben werden.Normalerweise werden sie als Prozentsatz der Baukosten (beispiels-weise 25 Prozent) ausgedrückt. Angesicht der Tatsache, dass die Stil-legungskosten nur sehr begrenzt in Beziehung zu den Baukostenstehen, wird klar, wie wenig über diese Kosten bekannt ist.

Eine typische Aufschlüsselung der erwarteten undiskontiertenStillegungskosten wäre ein Sechstel für Phase I, ein Drittel für PhaseII und eine Hälfte für Phase III. British Energy musste einen „Son-derfonds“ für die Stillegung seiner Reaktoren einrichten, wobei dieKosten für Phase I aus dem Cashflow gedeckt werden sollten. BNFL,in deren Besitz sich die Magnox-Reaktoren bis zu ihrer Übernahmedurch die Nuclear Decommissioning Authority im April 2005befand, ist eine Aktiengesellschaft, und unter britischem Recht dür-fen Aktiengesellschaften keine Sonderfonds einrichten. BritishEnergy ging von einem Diskontsatz von drei Prozent für die ersten80 Jahre und null Prozent danach aus, während BNFL mit einemDiskontsatz von 2,5 Prozent für unbegrenzte Zeit rechnete. 2003/04erhöhte British Energy den Diskontsatz auf 3,5 Prozent.

Wenn wir von Stillegungskosten in Höhe von 1,8 Milliarden US-Dollar ausgehen und diese nach dem obigen Schlüssel aufteilen undmit Phase I unmittelbar nach der Stilllegung, mit Phase II nach 40Jahren und mit Phase III nach 135 Jahren begonnen wird, ergebensich die in Tabelle 8 dargestellten undiskontierten und diskontiertenKosten.

Tabelle 8

Beispielhafte Stillegungskosten (in Millionen Pfund)

Undiskontiert British Energy British Energy BNFL Diskontsatz 3% 3,5% 2,5%Phase I 300 300 300 300Phase II 600 184 151 223Phase III 1200 113 76 41Gesamt 2100 597 527 564

Quelle: Berechnungen des Autors309

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Die Stillegungskosten für die britischen gasgekühlten Reaktorendürften aufgrund ihrer schieren Größe und entsprechend großenAbfallmenge sehr hoch ausfallen. Die Stillegungskosten der weitauskompakteren Druck- und Siedewasserreaktoren werden allerWahrscheinlichkeit nach nur ein Drittel davon betragen (so werdenzum Beispiel für Sizewell B Gesamtkosten von rund 540 MillionenUS-Dollar erwartet).

Mehrere Methoden werden verwendet, um, wie nach dem Verur-sacherprinzip – „polluter pays principle“ – gefordert, die Stillegungs-kosten auf die Stromverbraucher umzulegen. Für alle Methoden gilt,dass im Falle zu niedrig angesetzter Stillegungskosten die künftigenSteuerzahler für die Differenz aufkommen müssen. In Großbritan-nien sind die prognostizierten Stillegungskosten für die Magnox-Reaktoren in den letzten 20 Jahren um den Faktor vier in die Höhegeschnellt, und dabei sind die schwierigsten Stillegungsarbeitennoch gar nicht in Angriff genommen worden.

Die am wenigsten zuverlässige Methode der Kapitalbildung istdas Umlageverfahren, bei dem ein Unternehmen bilanzielle Rück-lagen zur Stillegung bildet. Obwohl die Rücklagen durch die Bei-träge der Verbraucher gebildet werden, kann das Unternehmen dasGeld beliebig investieren, und es wird diese Rückstellung als Vermö-gen behandeln. Diese Methode ist nur dann zuverlässig, wenn mandavon ausgehen kann, dass das Unternehmen bis zum Abschlussder Stillegung existiert und die Rückstellungen mindestens die er-wartete Rendite erwirtschaften. Die Schwäche dieser Methode wurdeoffenkundig, als das Central Electricity Generating Board, in dessenBesitz sich die Kraftwerke in England und Wales befanden, 1990 pri-vatisiert wurde. Obwohl die Verbraucher durch ihre Beiträge über 1,7Milliarden Pfund an bilanziellen Rückstellungen gebildet hatten,wurde das Unternehmen zu einem Drittel des Buchwerts der Rück-stellungen verkauft, mit anderen Worten, zwei Drittel der gebildetenRückstellungen gingen verloren. Da der Staat zudem keinen Pennyder Verkaufserlöse an das Unternehmen weitergab, das die Atom-kraftwerke übernahm, ging auch der Rest der Rückstellungen ver-loren.

Eine zuverlässigere Methode scheinen Sonderfonds zu sein. Beidieser Methode entrichten Verbraucher über die Laufzeit des Reak-tors hinweg Beiträge, die auf einen unabhängig verwalteten Son-derfonds eingezahlt werden, auf den der Reaktorbetreiber keinenZugriff hat. Um das Risiko von Verlusten zu minimieren, werden 310

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die Mittel ausschließlich in sehr risikoarme Anlagen investiert, dieunter Umständen nicht mehr als drei Prozent Rendite erzielen.Zum Zeitpunkt der Stillegung kann dann der Reaktorbetreiber dieMittel aus dem Sonderfonds abrufen. Die Gefahren dieses Modellsillustriert einmal mehr die Erfahrung in Großbritannien. Der Son-derfonds von British Energy deckte nicht die Phase I ab; als dasUnternehmen lange vor dem Ende der Reaktorlaufzeiten kollabierte,musste es durch den Staat gerettet werden. Das heißt, dass der Groß-teil der Stillegungskosten von den künftigen Steuerzahlern getragenwerden muss, die dann in der Stillegungsphase zur Kasse gebetenwerden.

Die vielleicht beste Versicherung gegen unzureichende Rückstel-lungen dürfte ein Sonderfonds sein, der zum Zeitpunkt der Inbe-triebnahme einer Anlage mit ausreichend Kapital eingerichtet wird,um die Stillegungskosten nach Ende der geplanten Reaktorlaufzeitabzudecken. Ausgehend von einer Laufzeit von 30 Jahren und einemDiskontsatz von drei Prozent, würde sich die erforderliche Summeauf 40 Prozent des nicht diskontierten Gesamtbetrags belaufen. Ver-anschlagt man die nicht diskontierten Stillegungskosten auf rund 25Prozent der Baukosten, müssten rund zehn Prozent der Baukostenin den Fonds eingezahlt werden. Allerdings würden selbst bei dieserMethode die Rückstellungen unzureichend sein, falls die Anlage vor-zeitig stillgelegt wird, die Stillegungskosten höher als erwartet aus-fallen oder die Fondsrendite geringer als vorhergesagt ausfällt.

Insgesamt gesehen werden die Stillegungskosten für Atomkraft-werke also sehr hoch ausfallen. Doch selbst bei den Szenarien mitdem geringsten Risiko für die Betreiber, dass die Rückstellungen fürdie Stillegung niedrig sind, scheint es, dass sich – korrekte Kosten-prognosen vorausgesetzt – die Stillegungskosten aufgrund der Fol-gen der Diskontierung nur in geringem Maße auf die Gesamtkostenauswirken.

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KAPITEL 6

ATOMENERGIE UND KLIMAWANDEL

Von Felix Chr. Matthes

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Atomkraft und Windkraft in friedlicher Koexistenz vor dem Atomkraftwerk Brunsbüttel.

Die Windräder erzeugen je eine Leistung von 2 Megawatt umweltfreundlichem Strom, das

AKW der Kernkraft Brunsbüttel GmbH mit seinem Siedewasserreaktor mehr als 770 Megawatt.

© Paul Langrock/Zenit/Greenpeace

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1 EinleitungDie globale Erwärmung ist eine der größten Bedrohungen des 21.Jahrhunderts. Die umfangreichen Forschungen und Modellanalysenauf diesem Gebiet zeigen immer deutlicher, dass erhebliche Emis-sionsreduktionen notwendig sind, wenn die Auswirkungen dieserKlimaveränderung auf ein noch tolerierbares Maß begrenzt werdensollen.

Für eine ambitionierte Klimapolitik ist vor allem der Energiesek-tor von großer Bedeutung. Kohlendioxid (CO2) aus der Verbrennungfossiler Rohstoffe bilden den Großteil der weltweiten Treibhausgas-Emissionen. Falls in diesem Jahrhundert gravierende Einschnittebeim CO2-Ausstoß notwendig werden, müssen sich der Energiesek-tor und insbesondere die Stromwirtschaft fundamentalen Verände-rungen unterziehen.

Unter den Technologien, die möglicherweise einen Beitrag zurEmissionsreduktion leisten könnten, spielt die Atomenergie eineherausgehobene Rolle. Sie wird seit Beginn ihrer Nutzung für dieStromerzeugung allerdings sehr kontrovers diskutiert, denn die mitdieser Technologie verbundenen Risiken reichen von katastrophalenUnfällen bis hin zum militärischen oder terroristischen Missbrauchvon radioaktiven Materialien. Nach der Katastrophe von Tschernobylund anderen Unfällen stagnierte die Atomenergieproduktion.Infolge der Liberalisierung der Elektrizitätsmärkte in den meistenOECD-Ländern sahen sich zahlreiche Atomkraftwerke mit gravie-renden wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, und neue Inves-titionen in die Atomenergie erwiesen sich für viele Investoren alsunattraktiv.

Doch mit der zunehmenden Debatte zum Klimawandel ist dieDiskussion über die Atomenergie wieder auf die Agenda gesetztworden. Vor allem seit in der Europäischen Union ein Emis-sionshandelssystem für CO2 eingeführt wurde und der Ausstoß vonCO2 nunmehr mit Kosten verbunden ist, wird die Atomenergie wie-der vermehrt als eine Schlüsseltechnologie zur Emissionsminde-rung diskutiert.

Politische Maßnahmen gegen den Klimawandel, die Risiken derglobalen Erwärmung und die spezifischen Risiken der Atomenergiebilden ein komplexes Konfliktfeld. Die Debatte umfasst das Problemunterschiedlicher Risikostrukturen und die Frage nach Alternativen:Risiken für die menschliche Gesundheit und die Ökosysteme sowiedie gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen müssen gegen315

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die Verfügbarkeit und die Kosten potenzieller Alternativen abgewo-gen werden. Vor diesem Hintergrund muss der Umfang künftigerEmissionsreduktionen ebenso wie der potenzielle Beitrag der ver-schiedenen Optionen zur Emissionsreduktion eine wichtige Rolleeinnehmen. Wären lediglich moderate Emissionsreduktionen erfor-derlich oder stünde ein sehr großes Potenzial an attraktiven Alterna-tiven zur Verfügung, so wäre die Debatte um die Atomenergie vongeringer Bedeutung.

Mit dem hier vorliegenden Beitrag wird versucht, die Debatte umKlimawandel und Atomenergie zu strukturieren und aus der ein-schlägigen Literatur und den Diskussionen Schlüsse zu ziehen. Derfolgende Teil gibt einen Überblick über die notwendige Größenord-nung der Emissionsreduktion und definiert die Basis für die Rolleder Atomenergie im Rahmen einer ambitionierten Klimapolitik.Teil 3 beschreibt eine „Business As Usual“-Projektion für die CO2-Emissionen und die Entwicklung der Atomenergie in den nächstenJahrzehnten. Diese Projektion dient als Grundlage für die Darstel-lung der Optionen zur Verringerung der Emissionen. Vor dem Hin-tergrund der sehr unterschiedlichen Risikostrukturen von globalemKlimawandel und Atomkraft wird im Teil 4 ein Modell für die syste-matische Analyse und die Beurteilung unterschiedlicher Risikotypenvorgestellt. Teil 5 beschreibt und erörtert die verschiedenen Optio-nen für eine langfristige Emissionsreduktion. Teil 6 zeigt, wie eineEmissionsreduktion von 80 Prozent in einem hoch industrialisier-ten Land wie Deutschland aussehen könnte. Danach wird im Einzel-nen untersucht, welche Schlussfolgerung aus den Analysen in denvorausgegangenen Abschnitten gezogen werden können. Der letzteTeil dient der Zusammenfassung und den Schlussfolgerungen, dieaus den vorgestellten Analysen gezogen werden können.

Da die globale Erwärmung ein langfristiges Problem darstellt,müssen die unterschiedlichen Lösungsoptionen über lange Zeit-räume betrachtet werden. Dennoch wurden die Analysen auf denHorizont bis zum Jahr 2050 begrenzt, denn mit einer Ausweitungder zur Diskussion stehenden Periode wird die Einschätzung vonTechnologien und anderen Optionen zunehmend spekulativ. Ebenaus diesem Grund wurde der Zeithorizont der Analyse und Diskus-sion auf etwa fünf Jahrzehnte begrenzt.

Zwar orientieren sich alle Analysen am globalen Maßstab, aberfür viele in dieser Arbeit angeschnittene Probleme wäre ein spezi-fisch regionaler Bezug sicherlich sinnvoll, denn er würde in den für 316

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die verschiedenen Länder und Regionen sehr unterschiedlich ver-laufenden Entwicklungen und Debatten gewiss zu weiteren interes-santen Erkenntnissen führen.

2 Die Herausforderung des KlimawandelsDer globale Klimawandel ist wahrscheinlich die größte Herausforde-rung für die Energie- und Umweltpolitik der nächsten Jahrzehnte.Die zunehmenden wissenschaftlichen Belege für die Tatsache unddie Konsequenzen der globalen Erwärmung durch vom Menschenverursachte Emissionen zwingt zu neuen Wegen in der Energie-politik. Falls die Treibhausgas-Emissionen weiter ansteigen und dieKonzentrationen dieser Gase in der Atmosphäre sich verdoppelnoder noch mehr erhöhen, sind weitgehende Störungen des globalenKlimasystems zu erwarten.

Der Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) spielt beim Klimawandeleine herausragende Rolle. Die Entstehung von CO2 bei der Verbren-nung fossiler Brennstoffe ist für etwa 80 Prozent der weltweitenCO2-Emissionen verantwortlich. Kohlendioxid ist damit eines derwichtigsten Treibhausgase, die zur globalen Erwärmung beitragen.Obwohl auch die Konzentration einiger anderer Treibhausgase wäh-rend des letzten Jahrhunderts signifikant angestiegen ist undobwohl einige Treibhausgase eine außerordentlich lange Verweilzeitin der Atmosphäre haben sowie eine Reihe von Unsicherheiten ver-bleiben, tragen die vom Menschen erzeugten CO2-Emissionen tat-sächlich mit mehr als der Hälfte zum erhöhten Strahlungseffekt(Radiative Forcing*) bei, der die anthropogene globale Erwärmungverursacht (siehe Tabelle 1).

317

* Radiative Forcing (RF) bezeichnet die Änderung des globalen Mittels derStrahlungsbilanz an der Stratopause und ist somit ein Maß für die Störungdes Gleichgewichts zwischen einstrahlender Solarenergie und an den Welt-raum abgegebener langwelliger Strahlung. Ein positives Radiative Forcingführt zu einer Erwärmung, ein negatives zu einer Abkühlung. Als Maßein-heit werden W/m2 verwendet. Die „Radiative Forcing“-Werte, die sich auf-grund des Anstiegs der Konzentrationen an gut-durchmischten Treibhaus-gasen im Zeitraum von 1750 bis 2000 ergeben, werden in Summe auf 2.43W/m2 geschätzt. (A.d.Ü. nach © ACCC, 2004-09-21)

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Tabelle 1

Derzeitige Treibhausgas-Konzentrationen

Konzentration in parts per million (ppm)

Kohlendioxid (CO2) 280 375 1 variabel 1,46

Konzentration in parts per billion (ppb)

Methan (CH4) 730/ 1.852/ 23 124 0,48

688 1.730

Lachgas (N2O) 270 319 296 1.144 0,15

Troposphärisches 25 344 n.v. Stunden 0,35

Ozon (O3) -Tage

Konzentration in parts per trillion (ppt)

CFC-11 (Trichlorfluor- Null 256/253 4.600 45 0.34

methan) (CCI3F)

CFC-12 (Dichlordifluor- Null 546/542 10.600 100

methan) (CCl2F2)

CFC-113 (Trichlortri- Null 80/80 6.000 85

fluorethan) (C2CI3F3)

Kohlenstofftetrachlorid Null 94/92 1.800 35

(CCI4)

Methylchloroform Null 28/28 140 4,8

(CH3CCI3)

HCFC-22 (Chlordifluor- Null 15.811 1.700 11,9

methan) (CHCIF2)

HFC-23 (Fluoroform) Null 1.412 12.000 260

(CHF3)

Perfluorethan (C2F6) Null 312 11.900 10.000

Schwefelhexafluorid Null 5.2111 22.200 3.200 0,0025

(SF6)

Trifluormethylschwefel- Null 0,1213 ~18.000 ~3.200 (?) ‹0,0001

pentafluorid (SF5CF3)

Quelle: Blasing/Jon (2005) 318

Konzen-tration vor 1750

Aktuelletropo-sphärischeKonzen-tration

GWP(Hori-zont 100Jahre)

Atmo-sphärischeVerweilzeitJahre

ErhöhterStrahlungs-effekt W/m2

für alle

haloge-

nierten

Kohlen-

wasser-

stoffe

zusam-

men, ein-

schließ-

lich der

hier nicht

aufge-

führten

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Die Diskussion über das Niveau, auf dem Treibhausgas-Konzentra-tionen stabilisiert werden sollten, „die eine gefährliche anthropo-gene Interferenz mit dem Klimasystem verhindern würden“ (so Arti-kel 2 der UN-Klimarahmenkonvention), ist noch nicht abgeschlos-sen. Zunehmend wird jedoch eine Begrenzung des Anstiegs derglobalen Mitteltemperatur auf maximal zwei Grad Celsius über denvorindustriellen Werten als „Leitplanke“ für die Zunahme der glo-balen Erwärmung betrachtet, bei der die Folgen und Risiken fürNatur und menschliche Gesellschaften auf ein gerade noch akzepta-bles Maß begrenzt werden können. Angesichts der Tatsache, dassdie weltweite Durchschnittstemperatur seit dem 19. Jahrhundertbereits um 0,6°C angestiegen ist, kann vor diesem Hintergrund nurnoch ein weiterer Anstieg von 1,4°C hingenommen werden. Außer-dem sollte eine langfristige durchschnittliche Erwärmung von 0,2°Cpro Dekade zumindest nicht überschritten werden.

Bei der Umsetzung solcher Ziele in Konzentrationen und Emis-sionsverläufe bestehen eine ganze Reihe von Unsicherheiten (z.B.bezüglich der Klimasensibilität); diese Fragestellungen sind Gegen-stand umfangreicher wissenschaftlicher Diskussionen. Die folgen-den Aspekte sind für die Identifizierung von Maßnahmen zur Be-grenzung der globalen Erwärmung innerhalb akzeptabler „Klima-fenster“ von besonderer Bedeutung:

– die langfristigen Emissionsverläufe für die verschiedenen Treib-hausgase – aber auch für die anderen Gase, die sich auf dasRadiative Forcing auswirken (z.B. Schwefelemissionen, da SO2-Aerosole einen „Kühleffekt“ bewirken), bei denen die Steige-rungsraten, der Zeitpunkt der Trendumkehr von Emissionsstei-gerungen zu Emissionsminderungen sowie die Emissionsreduk-tionen in den folgenden Jahren von besonderer Bedeutung sind;

– die Profile für die Entwicklung der Treibhausgaskonzentrationenund der Strahlungswirkungen, die sich aus den Emissionspfadenergeben;

– die bei den neuesten Modellberechnungen zugrunde gelegte Kli-masensitivität einer Temperaturzunahme von 1,5 bis 4,5 Grad Cel-sius bei Verdopplung der CO2-Konzentrationen mit 2,5 Grad alsMittelwert; läge die Klimasensibilität im oberen Bereich, so wärenzur Einhaltung der oben genannten Grenze von 2 Grad wesent-lich weitergehende Emissionsreduktionen erforderlich; wäre siejedoch im unteren Bereich, so würden daraus geringere Restrik-319

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tionen für die künftige Emissionsentwicklung resultieren (aller-dings basieren viele Modelle auf Klimasensitivität von 2,5 bis 2,8Grad).

Die Resultate der verschiedenen Modelle zur Identifizierung akzep-tabler Emissionspfade innerhalb der Leitplanke für die globale Er-wärmung von 2 Grad weichen beträchtlich voneinander ab. Vonbesonderer Bedeutung für die Debatte sind vor allem alternativeStrategien für Emissionsreduktionen der unterschiedlichen Gaseoder alternative zeitliche Bezugszeiträume. Hare/Meinshausen(2004) weisen darauf hin, dass

– bei einer Stabilisierung der Treibhausgas-Konzentrationen bei550 ppm (alle Gase, entsprechen in etwa einer Stabilisierung vonCO2 bei 475 ppm) das Risiko, die 2 Grad-Grenze zu überschrei-ten, zwischen 68 und 99 Prozent liegt (Mittelwert 85 Prozent,den Definitionen der IPCC entsprechend „sehr hoch“);

– bei einer Stabilisierung der Treibhausgas-Konzentrationen bei450 ppm (alle Gase, entsprechen in etwa einer Stabilisierung vonCO2 bei 400 ppm) das Risiko, den Wert von 2 Grad zu überschrei-ten, zwischen 26 und 78 Prozent liegt (Mittelwert 47 Prozent –„mittlere Wahrscheinlichkeit“);

– bei einer Stabilisierung der Treibhausgas-Konzentrationen bei400 ppm (alle Gase, entsprechen in etwa einer Stabilisierung vonCO2 bei 350 ppm) das Risiko, die Leitplanke von 2 Grad zu verlet-zen, zwischen 2 und 57 Prozent liegt (Mittelwert 27 Prozent –„unwahrscheinlich“).

Vor diesem Hintergrund sollte eine ambitionierte Klimapolitik eineStabilisierung der Treibhausgas-Konzentrationen bei 400 bis 450ppm anstreben (das entspricht einer Stabilisierung der CO2-Konzen-trationen bei 350 bis 400 ppm). Für diesen Bereich der Stabilisie-rung der Konzentrationen müssten die Treibhausgas-Emissionenbis 2050 um 50 Prozent reduziert werden (verglichen mit den Wer-ten von 1990).

Zwar gibt es eine Fülle von Emissionsentwicklungen, die den ent-sprechenden Konzentrationsniveaus entsprechen, jedoch müssenwichtige Interaktionen zwischen dem Zeitpunkt der Trendumkehrund der darauf folgenden Emisisonsreduktionen in Betracht gezo-gen werden. Meinshausen (2005) zeigt, dass eine zehnjährige Verzö- 320

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gerung des weltweiten Emissionshöhepunktes zu einer Verdopp-lung der im Folgenden notwendigen Emissionsreduktion führt. Vordiesem Hintergrund ist frühzeitiges Handeln nicht nur notwenighinsichtlich des „Learning by Doing“, sondern auch, um zusätzlicheKosten und Belastungen für die Periode nach der Trendumkehr derTreibhausgas-Emissionen zu vermeiden.

Tabelle 2

Exemplarische Emissionsreduktionsziele zur Stabilisierung derCO2-Emissionen bei 400, 450 oder 550 ppm, 2020 und 2050

Stabilisierungs- Region CO2-Emissionen

Niveau 2020 2050

gegenüber 1990 (wenn nicht anders spezifiziert)

400 ppmv CO2 Global +10% -60%

Annex I -25% bis -50% -80% bis -90%

Substantielle SubstantielleMinderung gegenüber Minderung gegenüber

Non-Annex 1 Referenz in Latein- Referenz in allenamerika, Nahen RegionenOsten, Ostasien undPlanwirtschaftenin Zentralasien

450 ppmv CO2 Global +30% -25%

Annex I -10 bis -30% -70 bis -90%

Minderung gegenüber SubstanzielleReferenz in Latein- Minderung gegenüber

Non-Annex I amerika, Nahen Referenz in allenOsten, Ostasien und RegionenPlanwirtschaftenin Zentralasien

550 ppmv CO2 Global +50% +45%

Annex I -5% bis -25% -40 bis -60%

Minderung gegenüber Minderung gegenüberReferenz in Latein- Referenz in den

Non-Annex I amerika, Nahen meisten Regionen,Osten und Ostasien v.a. in Latein-

amerika und imNahen Osten

Quelle: Ecofys (2004)321

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Tabelle 2 zeigt exemplarisch die Emissionsobergrenzen für die Sta-bilisierung von CO2-Konzentrationen auf unterschiedlichen Ni-veaus, differenziert nach Ländergruppen (Annex-I- und Non-Annex-I-Länder der Klimarahmenkonvention UNFCCC). Wenn die Stabili-sierung der Treibhausgas-Konzentrationen bei 400 bis 450 ppm undder CO2-Konzentrationen zwischen 350 und 400 ppm angestrebtwird, müssten danach die globalen CO2-Emissionen im Vergleich zu1990 bis 2050 um etwa 60 Prozent abnehmen.

Für Annex-I-Länder wäre eine Reduzierung der CO2-Emissionenum 80 bis 90 Prozent erforderlich. Selbst für weniger ehrgeizigeStabilisierungsziele würden sich die notwendigen Emissionsreduk-tionen für die Industrieländer gemessen am Niveau von 1990 aufüber 70 Prozent belaufen.

Des weiteren müssten bei solchen Emissionsentwicklungen auchfür die Entwicklungsländer substantielle Emissionsreduktionenerreicht werden. Die CO2-Emissionen dieser Staatengruppe könntenin diesem exemplarischen Szenario bis 2020 ansteigen, danachmüssten sie jedoch ebenfalls signifikant abnehmen.

Allerdings hängt der Korridor der CO2-Emissionen zur Begren-zung der globalen Erwärmung auf 2°C im Vergleich zu vorindus-triellen Werten stark von der Klimasensibilität ab. Tabelle 3 illustriertdies durch Berechnungen des Wissenschaftlichen Beirats GlobaleUmweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU 2003). Beieiner angenommenen hohen Klimasensibilität sind die kumulativenCO2-Emissionen für die Periode von 2000 bis 2100 in Relation zueiner niedrigeren Klimasensibilität um den Faktor 4 geringer.

Tabelle 3

Kumulative CO2-Emissionen zur Begrenzung der globalen Erwär-mung auf 2°C über dem vorindustriellen Niveau

Annahme Zulässige kumulative CO2-Emissionen 2000-2100Klimasensitivität

˚C Mrd. t. C Mrd. t CO2

1,5 1.780 – 1.950 6.527 – 7.150

2,5 850 – 910 3.117 – 3.337

3,5 530 – 560 1.943 – 2.053

4,5 380 1.393

Quelle: WBGU (2004) 322

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Vor diesem Hintergrund müssen für die Einordnung der Atom-energie und anderer Minderungsoptionen schnelle und signifikanteCO2-Emissionsreduktionen in Betracht gezogen werden, bei denendie höchsten Emissionswerte in den Industrieländern innerhalb dernächsten beiden Jahrzehnte erreicht werden sollten. Die globalenCO2-Emissionen sollten bis 2050 um 30 bis 60 Prozent, die Emis-sionen der Industrieländer um 60 bis 90 Prozent reduziert werden.Selbst solche Größenordnungen der Emissionsminderung implizie-ren noch immer große Unsicherheiten bezüglich der Einhaltbarkeitder 2°C-Leitplanke auf. Die Einhaltung der 2°C-Grenze kann nurdann als „wahrscheinlich“ angesehen werden, wenn der Emissions-verlauf eher an der Untergrenze der o.g. Emissionslimits liegt.

3 Business As Usual

3.1 CO2-EmissionstrendsSeit Beginn des 20. Jahrhunderts sind die weltweiten CO2-Emissio-nen etwa um den Faktor 12 angestiegen. Zwar dominierten bis 1950die Emissionen des wichtigsten Treibhausgases aus Nordamerikaund Westeuropa den globalen Trend, jedoch nahmen nach demZweiten Weltkrieg auch die Emissionen der sozialistischen Staatenrasch zu.

Vor der Ölkrise der siebziger Jahre entfielen 22 Prozent der glo-balen CO2-Emissionen auf die Verbrennung fossiler Rohstoffe inden Planwirtschaften Europas, 23 Prozent auf Westeuropa und 32Prozent auf Nordamerika.

Seit den achtziger Jahren sind die signifikantesten Trends für dieglobalen CO2-Emissionen

– der stetige Emissionsanstieg in Nordamerika;– der mehr oder weniger stagnierende Emissionsanstieg in West-

europa;– die starke Abnahme der CO2-Emissionen nach dem Zusammen-

bruch der Planwirtschaften in Europa,– die ansteigenden Emissionen im planwirtschaftlichen Asien (vor

allem China) und den anderen rasch wachsenden Ökonomien desFernen Ostens.

Im Jahr 2002 betrug der Anteil Nordamerikas an den globalen CO2-Emissionen nur noch 26 Prozent. Der Anteil Westeuropas, 14 Pro-323

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zent, war vergleichbar jenem der Planwirtschaften in Asien, 15 Pro-zent, und übertraf den Anteil der Schwellenländer, 12 Prozent.

Abbildung 1

Globale CO2-Emissionen aus Kraftstoffverbrennung, 1900–2050

Quelle: Marland u.a. (2005), IEA (2004), eigene Berechnungen

Allerdings verursachten Nordamerika und Westeuropa den Löwen-anteil der kumulativen CO2-Emissionen von 1900 bis 2002. Dergesamte CO2-Ausstoß in dieser Periode beläuft sich auf 1.012 Mil-liarden Tonnen Kohlendioxid (Mrd. t CO2). Hinsichtlich der kumu-lativen Emissionen sind die Anteile der verschiedenen Regionen inetwa vergleichbar mit der Situation der tatsächlichen Emissionenvon 1970. Die Länder Nordamerikas zeichnen für etwa 32 Prozentder gesamten kumulativen CO2-Emissionen verantwortlich, West- 324

50

40

30

20

10

0

Afrika

Zentralasien (nach 2002: China)

Ferner Osten (nach 2002: Ost- und Südasien)

Naher Osten

Zentral- und Südamerika

Ozeanien (nach 2002: OECD Pazifik)

Osteuropa

Westeuropa

Nordamerika (USA und Kanada)

1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050

Referenz-Projektion

Gt

CO

2

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europa für einen Anteil von 22 Prozent und die ehemaligen soziali-stischen Länder Europas 18 Prozent. Die Anteile der planwirtschaft-lichen Länder Asiens und anderer Staaten des Fernen Ostens sindmit 8 Prozent bzw. 5 Prozent noch gering.

Die Referenz-Projektion der internationalen Energieagentur (IEA2004) geht von einer Fortsetzung der aktuellen Trends aus:

– die globalen CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossilerEnergien könnten von 2002 bis 2030 um 62 Prozent ansteigen;

– der Anstieg der CO2-Emissionen der nordamerikanischen OECD-Staaten würde 33 Prozent betragen;

– die Emissionen in Westeuropa und der Europäischen Unionkönnten um etwa 20 Prozent ansteigen;

– die Emissionen der OECD-Staaten in Asien und der Pazifikregionwürden ebenfalls um etwa 20 Prozent ansteigen;

– die CO2-Emissionen der Schwellenländer (vor allem Russlands)würden wieder um 40 Prozent ansteigen;

– die CO2-Emissionen vieler Entwicklungsländer (China, Indien,Brasilien, etc.) würden um den Faktor 1,2 bis 1,6 zunehmen.

Abbildung 2 zeigt die zentralen Sektoren für das Emissionswachs-tum in der Projektion der IEA. Die Hälfte der Emissionszunahme inder Periode von 2002 bis 2030 entfällt auf den Energiesektor, etwaein Drittel auf die Stromerzeugung mit Kohle. Den zweitenSchlüsselsektor bildet mit etwa 26 Prozent der Verkehrsbereich.Wenngleich alle Sektoren zur Emissionsreduktion beitragen sollten,so müssen doch dem Energie- und dem Transportsektor in jederKlimaschutzstrategie eine Sonderrolle zukommen.

Sogar in einem Szenario mit einer völlig anderen Dynamik desEmissionsanstiegs in den verschiedenen Weltregionen würde sichdie „historische Verantwortlichkeit“ hinsichtlich der CO2-Emissio-nen nur geringfügig verändern. Die Staaten Nordamerikas sind für28 Prozent der gesamten kumulativen CO2-Emissionen in der Perio-de von 1900 bis 2030 verantwortlich, die westeuropäischen Länderfür 18 Prozent und die ehemaligen sozialistischen Staaten Europasfür 14 Prozent. Die rasch wachsenden Länder Asiens und des Fer-nen Ostens würden auch hier nur 12 bzw. 9 Prozent der globalenkumulativen CO2-Emissionen repräsentieren.

325

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Abbildung 2

Anteile der globalen CO2-Emissionen aus Kraftstoffverbrennungnach Sektoren, 2002–2030

Quelle: IEA (2004), eigene Berechnungen

Im Vergleich zu den in Teil 2 genannten Emissionsbudgets lässtsich der Emissionstrend in der Referenz-Projektion der IEA kaummit einer der Emissionsentwicklungen in Einklang bringen, beidenen die 2°C-Leitplanke bei einer Klimasensitivität größer 2,5°Ceingehalten wird. Sollte die Klimasensibilität etwa 2,5°C betragen, somüssten die Emissionstrends nach 2030 rapide abnehmen, um einegewisse Chance für die Begrenzung der globalen Erwärmung bei2°C über dem vorindustriellen Niveau zu erhalten (Tabelle 4).

326

EndenergieverbrauchVerkehr26%

EndenergieverbrauchIndustrie

10%

Andere Umwandlungs-sektoren,Eigenbedarf

und Verluste4%

Kraftwerke undHeizwerke

(andereBrennstoffe)

18%

Kraftwerke undHeizwerke

(Kohle)33%

Nicht-energetischerEinsatz

1%

Endenergieverbrauchandere Sektoren

8%

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Tabelle 4

Kumulative CO2-Emissionen zur Begrenzung der globalen Erwär-mung auf 2°C über dem vorindustriellen Niveau und der Referenz-fall für CO2-Emissionstrends bis 2030

Annahme Zulässige Kumulative VerbleibendesKlimasensitivität kumulative CO2-Emissionen Emissionsbudget

C02-Emissionen 2000-20302000-2100

˚C Mrd. t CO2

1,5 6.527 - 7.150 ~900 86% - 87%

2,5 3.117 - 3.337 ~900 71% - 73%

3,5 1.943 - 2.053 ~900 54% - 56%

4,5 1.393 ~900 35%

Quelle: WBGU (2004), eigene Berechnungen

3.2 Nukleare EnergieerzeugungIm Gegensatz zum globalen Energiebedarf und zu den globalenCO2-Emissionen vollzog sich die Entwicklung der Atomenergiehauptsächlich in den OECD-Ländern und den sozialistischen Staatenin Europa oder in Schwellenländern. Jedoch ging das starkeWachstum der nuklearen Energieerzeugung nach der Katastrophevon Tschernobyl stark zurück. Für die Jahre nach 2000 lässt sich nurein geringes Wachstum beobachten. 2003 betrug der Anteil derAtomkraft an der Energieerzeugung 22 Prozent für die OECD-Staa-ten und 6 Prozent für die anderen Länder. Nur einige Länder derErde produzieren mehr als ein Drittel ihrer Elektrizität mit Atom-energie, darunter OECD-Staaten (Frankreich, Schweden, Belgien,Ungarn, Korea, die Slowakei und die Schweiz), aber auch einigeTransformationsstaaten (Bulgarien, Slowenien, Armenien, Litauenund die Ukraine).

327

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Abbildung 3

Atomenergieproduktion 1975-2030

Quelle: IAE (2004 und 2005)

Der Rückgang der Dynamik bei der Atomenergie in vielen Regionender Erde lässt sich auf die folgenden Faktoren zurückführen:

– zunehmender öffentlicher Widerstand gegen die Atomenergie invielen Ländern, vor allem bezüglich Katastrophen, der Entsor-gung radioaktiven Abfalls, des Transports von Kernmaterial undProblemen hinsichtlich Proliferation (Weiterverbreitung vonMassenvernichtungswaffen) und Terrorismus;

– wirtschaftliche Probleme, mit denen Atomkraftwerke nach derLiberalisierung der Elektrizitätsmärkte in einigen OECD-Ländernkonfrontiert waren, einschließlich des Problems der Finanzie- 328

3,500

3000

2,500

2000

1500

1000

500

0

1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2005 2010 2015 2020 2025 2030

Afrika

Naher Osten

Lateinamerika

Restasien

Indien

China

Transformationsstaaten

OECD Europa

OECD Pazifik

OECD Nordamerika

Referenz-Projektion

TW

h

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rung von Stillegungen und der Entsorgung der nuklearen Abfälle; – steigende Sicherheitsanforderungen und -vorschriften für neue

und bereits bestehende Atomkraftwerke;– relativ niedrige Preise für fossile Brennstoffe und starke Verbes-

serungen bei konkurrierenden Technologien zur Energieerzeu-gung.

Die Referenzprojektion für die nukleare Stromerzeugung zeigt eingeringes Wachstum bis 2010 und einen leichten Rückgang in denbeiden Jahrzehnten danach. Dieser Trend ergibt sich aus drei unter-schiedlichen Tendenzen. Vor allem in den europäischen OECD-Staa-ten geht man von einem starken Rückgang der Atomenergieproduk-tion aus. In diesen Ländern wie auch in der EU soll die Elektrizitäts-erzeugung in den nächsten drei Jahrzehnten um 40 Prozent abneh-men. In Nordamerika und den Transformationsökonomien gehtman von einer mehr oder weniger stagnierenden Atomenergiepro-duktion aus. In den asiatischen OECD-Ländern sowie in einigen Ent-wicklungsländern wird die Atomenergieproduktion laut IEA jedochstark anwachsen (IEA 2004). In den asiatischen OECD-Ländern be-läuft sich dieses erwartete Wachstum auf bis zu 60 Prozent. Aus-gehend von einem sehr niedrigen Niveau dürfte die Atomenergie-produktion in China um den Faktor 10 und in Indien um den Faktor4,8 ansteigen. Für andere Entwicklungsländer wird ein wesentlichgeringeres, aber dennoch signifikantes Wachstum der Atomenergiegesehen (Lateinamerika +38 Prozent von 2002 bis 2030, Afrika +18Prozent).

329

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Abbildung 4

Elektrizitätserzeugung im Business-As-Usual-Fall, 2002-2020

Quelle: IEA (2004)

Obwohl der World Energy Outlook von einer geringen Zunahme derAtomenergieproduktion ausgeht, dürfte deren Anteil am gesamtenStromaufkommen signifikant zurückgehen. 2002 betrug der Anteilder Atomenergie 17 Prozent, bis 2030 wird er auf nur 9 Prozentschrumpfen. Selbst in China, dem Land mit der stärksten Zunahmebei der Atomkraft, würde diese nur 5 Prozent der gesamten Strom-produktion erbringen. Der Hauptzuwachs in der Stromerzeugungim World Energy Outlook 2004 basiert auf Kohle und Erdgas.Obwohl auch eine starke Zunahme der Elektrizitätserzeugung auserneuerbaren Energiequellen prognostiziert wird, spielen diese (ab-gesehen von der Wasserkraft) in der Referenz der IEA eine wenigerbedeutende Rolle. 330

Gezeiten-/Wellenenergie

Solar

Geothermie

Wind

Biomasse und Müll

Wasserkraft

Atomenergie

Gas

Öl

Kohle

35.000

30.000

25.000

20.000

15.000

10.000

5.000

0

2002 2010 2020 2030

TW

h

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4 Der Umgang mit komplexen RisikostrukturenDie Risiken der globalen Erwärmung und die Risiken im Zusam-menhang mit der Atomenergie bilden ein Konfliktfeld, das bei derEinschätzung unterschiedlicher Risikotypen zur Entwicklung vonRichtlinien und Strategien ein systematischeres Vorgehen erfordert.

Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen derBundesregierung (WBGU) hat ein Modell zum Vergleich und zurEinschätzung unterschiedlicher Risiken vorgeschlagen. In diesemModell sollten Risiken nach folgenden Kriterien kategorisiert wer-den (WBGU 2000):

– Eintrittswahrscheinlichkeit;– Ausmaß der Schadensfolgen;– Abschätzungssicherheit, Eintrittswahrscheinlichkeit und Scha-

densausmaß;– Ubiquität (räumliche Verbreitung, globale Wirkung);– Wirkungsdauer (sehr lange Entsorgungsperioden);– Irreversibilität (irreparable Schäden);– Verzögerungswirkungen (sehr lange Verzögerungszeiten);– Mobilisierungspotenzial (große psychologische und politische

Relevanz).

Auf der Basis dieser Kriterien lassen sich Risiken nach unterschied-lichen Bereichen bündeln. Risiken im „normalen Bereich“ sinddurch folgende Attribute gekennzeichnet (WBGU 2000):

– geringe Ungewissheit in Bezug auf die Eintrittswahrscheinlich-keit und das Schadensausmaß;

– eher geringes Schadenspotenzial;– geringe bis mittlere Eintrittswahrscheinlichkeit und den verbun-

denen Schadensumfang;– geringe statistische Schwankungsbreiten von Schadenspotenzial

und Eintrittswahrscheinlichkeiten;– geringe Persistenz und Ubiquität der Risikoverursacher oder -fol-

gen;– hohe Reversibilität der potenziellen Risikofolgen;– geringes Potenzial für sozialen Konflikt und Mobilisierung.

Eine problematischere Situation ergibt sich für den kritischen Be-reich, der aus einem „Übergangsbereich“ und einem „verbotenen331

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Bereich“ besteht. Risiken im kritischen Bereich weisen mindestenseines der folgenden Charakteristika auf (WBGU 2000):

– hohe Unsicherheit für alle Risikoparameter;– großes Schadenspotenzial;– hohe Eintrittswahrscheinlichkeit (nahe 1);– hohe Abschätzungsunsicherheiten, jedoch ein begründeter Ver-

dacht, dass große Schäden möglich sind;– lange Wirkungsdauer, Ubiquität und Irreversibilität, begründete

Annahme, dass große Schäden möglich sind;– großes zu erwartendes Mobilisierungspotenzial (Weigerung, Pro-

test, Widerstand) aus Gründen wahrgenommener Verteilungsun-gerechtigkeit oder anderen sozialen und psychologischen Fak-toren.

Die Unterscheidung zwischen dem „Übergangsbereich“ und dem„verbotenen Bereich“ beruht auf der Möglichkeit der Risikoreduzie-rung oder der Konsensbildung, wenn die Chancen einer Option diepotenziellen Schäden übertreffen (WBGU 2000):

– Falls risikoreduzierende Maßnahmen möglich sind, deren Imple-mentierung den Übergang in einen normalen Risikobereich ver-spricht, sollte das Risiko als dem „Übergangsbereich“ zugehörigbetrachtet werden.

– Falls das Schadensausmaß sehr gravierend ist und keine Maß-nahmen zur signifikanten Schadensbegrenzung in Betracht kom-men oder in der Gesellschaft kein Konsens erzielt werden kann,dass diese Risiken aufgrund der damit verbundenen Chancenakzeptiert werden, sollte das Risiko als dem „verbotenen Bereich“zugehörig betrachtet werden.

Vor diesem Hintergrund sind die Schlüsselfragen bezüglich allerden kritischen Bereichen zugewiesenen Risiken folgende:

– Bestehen Maßnahmen oder werden solche entwickelt, die dasSchadensausmaß mit hoher Wahrscheinlichkeit und in voraus-sehbarer Zeit auf eine Dimension reduzieren könnten, die dem„normalen Bereich“ zuzurechnen wäre? Falls dies nicht der Fallist, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um diebetreffende Technologie zu ersetzen etc. 332

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– Besteht in der Gesellschaft ein Konsens oder könnte ein Konsenserstellt werden, in dem die Risiken schwerer Schädigungen auf-grund der damit verbundenen Chancen für die Gesellschaftakzeptiert werden könnten? Falls dies nicht der Fall ist, solltenalle Anstrengungen unternommen werden, um die betreffendeTechnologie zu ersetzen etc. Diese Dimension ist besonders kom-plex, wenn das Problem eine starke internationale und Generatio-nen übergreifende Dimension hat und keine institutionellenArrangements existieren, um einen diesbezüglichen Konsens inder Gesellschaft zu reflektieren.

Zusätzlich zu den Kriterien zur Risikokategorisierung führte derWBGU mehrere Risikoklassen ein, die die Dimensionen für einigeUmwelt- und andere Risiken aufzeigen. Tabelle 5 gibt einen Über-blick über die Risikoklassen „Damokles“, „Zyklop“, „Pythia“, „Pan-dora“, „Kassandra“ und „Medusa“.

Tabelle 5

Überblick Risikoklassen: Charakterisierung und Beispiele

Risikoklassen Charakterisierung Beispiele

Damokles – Eintrittswahrscheinlichkeit ist gering – Kernernergie– Abschätzungssicherheit für die – Großchemische AnlagenEintrittswahrscheinlichkeit ist hoch – Staudämme– Schadensausmaß ist hoch – Meteoriteneinschläge– Abschätzungssicherheit für das – ÜberschwemmungenSchadensausmaß ist hoch

Zyklop – Eintrittswahrscheinlichkeit ist ungewiss – Erdbeben– Abschätzungssicherheit für die – VulkaneruptionenEintrittswahrscheinlichkeit ist ungewiss – AIDS-Infektion– Schadensausmaß ist hoch – Massenentwicklung anthro-– Abschätzungssicherheit für das pogen beinflusster ArtenSchadensausmaß ist eher hoch – ABC-Waffensysteme

– Zusammenbruch der thermohalinen Zirkulation

Pythia – Eintrittswahrscheinlichkeit ist ungewiss – sich aufschaukelnder– Abschätzungssicherheit für die TreibhauseffektEintrittswahrscheinlichkeit ist ungewiss – Freisetzung und Inver-– Schadensausmaß ist ungewiss kehrbringen transgener (potenziell hoch) Pflanzen– Abschätzungssicherheit für das – BSE/nv-CJD-InfektionSchadensmaß ist ungewiss Bestimmte Anwendungen

der Gentechnlogie– Instabilität der west-antarktischen Eisschilde333

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Risikoklassen Charakterisierung Beispiele

Pandora – Eintrittswahrscheinlichkeit ist ungewiss – Persistente organische– Abschätzungssicherheit für die Schadstoffe (POP)Eintrittswahrscheinlichkeit ist ungewiss – Endokrin wirksame– Schadensausmaß ist ungewiss Stoffe(nur Vermutungen)– Abschätzungssicherheit für dasSchadensmaß ist ungewiss– Persistenz ist hoch (mehrere Generationen)

Kassandra – Eintrittswahrscheinlichkeit ist – Anthropogener eher hoch schleichender Klimawandel– Abschätzungssicherheit für die – DestabilisierungEintrittswahrscheinlichkeit ist eher terrestrischer Ökosystemeniedrig– Schadensausmaß ist eher hoch– Abschätzungssicherheit für dasSchadensausmaß ist eher hoch– Verzögerungswirkung ist eher hoch

Medusa – Eintrittswahrscheinlichkeit ist – Elekromagnetischeeher niedrig Felder– Abschätzungssicherheit für dieEintrittswahrscheinlichkeit ist eherniedrig– Schadensausmaß ist eher gering(Exposition hoch)– Abschätzungssicherheit für dasSchadensausmaß ist eher hoch– Mobilisierungspotenzial ist hoch

Quelle: WBGU (2000)

Für die Debatte über Atomenergie und Klimawandel sind die Risiko-klassen „Kassandra“ und „Damokles“ von besonderer Relevanz. Ausdynamischer Perspektive fordert der WBGU Vorkehrungen der Kli-mapolitik sowie große Anstrengungen, um die globale Erwärmungvom Risikotypus „Kassandra“ (siehe Abb. 5) innerhalb des Konzeptszulässiger Fenster zu begrenzen:

– Das Ansteigen der globalen mittleren Temperatur sollte auf 2°Cüber den vorindustriellen Werten begrenzt werden.

– Der Temperaturanstieg sollte pro Jahrzehnt weniger als 0,2°Cbetragen.

334

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Abbildung 5

Risikoklassen und ihre Lage im normalen, Übergangs- und verbo-tenen Bereich

Quelle: WBGU (2000)

Zum „Damokles“-Risiko der Atomenergie führt der WBGU aus:„Lässt sich das Katastrophenpotential auch bei bester Bemühungnicht sinnvoll oder nur unter exorbitanten Kosten reduzieren, dannist … eine solche Risikoquelle nur dann zu genehmigen, wenn ein-erseits der Nutzen dieser Risikoquelle existentiell bedeutsam ist undandererseits sichergestellt werden kann, daß technisch, institutionellund organisatorisch alle Möglichkeiten genutzt werden, um denKatastrophenfall erst gar nicht eintreten zu lassen und, sofern erdoch eintreten sollte, die Schäden im Katastrophenfall so weit wiemöglich zu lindern. Diese zweite Voraussetzung ist besonders dannwichtig, wenn solche Risikoquellen im Rahmen des Technologie-transfers ins Ausland exportiert werden sollen.“

Im Hinblick auf diese Aussage ist die Situation bezüglich derAtomenergie komplex:

335

Elektromagnetische Felder

Kassandra

Schadensausmaß —>

PythiaZyklop

Damokles

Medusa

Verbotsbereich

Außerhalb des Definitionsbereichs

Außerhalb des Definitionsbereichs

Auß

erha

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Übergangsbereich

Anthropogener schleichender Klimawandel

Sich aufschaukelnder Treibhauseffekt

Normalbereich

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Atomenergie

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– Die erste Schlüsselfrage ist, ob sämtliche technische, institutio-nelle und organisatorische Optionen zur Umwandlung des„Damokles-Risikos“ in eines vom Typ „Medusa“ gegeben sind,d.h. ob es möglich ist, das Schadensausmaß zu begrenzen undeine geringe Wahrscheinlichkeit des Katastrophenfalls zu ge-währleisten. Diese Optionen sollten im Hinblick auf den derzei-tigen Einsatz der Atomkraft in einem weitaus größeren Ausmaßfür sämtliche Regionen der Erde eingeschätzt werden.

– Die zweite Frage ist, ob die Atomkraft hinsichtlich der globalenErwärmung einen bedeutenden Teil der Risikosubstitution lei-sten könnte, z.B. die Substitution eines Risikos vom Typ „Kassan-dra“, das eindeutig dem „verbotenen Bereich“ angehört.

Mit den derzeitigen Reaktortechnologien lässt sich das Schadensaus-maß z.B. im Hinblick auf katastrophale Unfälle, Terroranschläge,den Umgang mit und die Endlagerung von radioaktivem Materialdefinitiv nicht so begrenzen, dass es dem „Normalbereich“ entspre-chen würde. Ferner bleiben große Unsicherheiten hinsichtlich derFrage, ob künftige Reaktorgenerationen den oben ausgeführtenAnforderungen entsprechen, sowie bezüglich der starken Relationzwischen den Risiken der Atomkraft und sozialer, politischer undinstitutioneller Stabilität.

Vor diesem Hintergrund ist die erste entscheidende Frage zurZukunft der Atomkraft im globalen Energiesystem, ob alternativeOptionen bestehen, um weltweit im Rahmen starker Einschrän-kungen der Treibhausgasemissionen eine ausreichende Energie-menge sicherzustellen. Zweitens muss die Frage gestellt werden, obund wie das Risiko des Klimawandels auf ein akzeptables Niveaubegrenzt werden kann, ohne sich auf die Atomenergie zu stützen,und wie dies innerhalb des Rahmens akzeptabler Folgen (Kosten,soziale Akzeptanz, andere Risiken) bewerkstelligt werden kann.

5 Optionen der EmissionsminderungDas breite Spektrum wissenschaftlicher Analysen hinsichtlich mög-licher Strategien zur Emissionsreduktion für die Stabilisierung derTreibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre zeigt, dass eskeine einzelne Option gibt, die die gesamte zu leistende Emissions-reduktion erbringen könnte. Der Beitrag der unterschiedlichenOptionen wird jedoch stark vom Niveau abhängig, auf dem dieTreibhausgaskonzentrationen stabilisiert werden sollen. Beschränkt 336

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man sich auf weniger ehrgeizige Reduktionsziele, so besteht offen-sichtlich ein großes Maß an Flexibilität, wie weit die verschiedenentechnologischen Optionen ausgeschöpft werden sollen. In einemsolchen Szenario könnte es wesentlich einfacher sein, den Einsatzder Atomkraft aus den im vorhergehenden Abschnitt genanntenGründen aufzugeben.

Der technologische Mix für Strategien zur Treibhausgasminde-rung wurde mit zahlreichen unterschiedlichen methodologischenAnsätzen analysiert, z.B. im Dritten Sachstandsbericht des IPCC(2001), aber auch in vielen anderen Studien (z.B. Schrattenholzeru.a. 2004, WBGU 2004).

In der hier präsentierten Analyse werden diese Studien mit einemeinfachen Ansatz eingeordnet. Wird angenommen, dass im Busi-ness-As-Usual-Fall (BAU) die globalen CO2-Emissionen aus der Ver-brennung fossiler Energieträger bis 2050 um 40 bis 50 MilliardenTonnen zunehmen und die notwendige Reduktion zur Stabilisie-rung der CO2-Konzentrationen auf einem Niveau, bei dem die 2°C-Leitplanke erreicht werden kann, 30 bis 60 Prozent unter demNiveau von 1990 liegt, so beträgt die durch Emisisonsminderungs-optionen zu schließende Lücke im Jahr 2050 25 bis 40 MilliardenTonnen CO2. In einem vereinfachten Modell wird von einem linea-ren Trend ausgegangen. Die verschiedenen Optionen für denZeitpunkt der Trendumkehr bei den Emissionen und die darauf fol-genden Reduktionspfade mit unterschiedlichen Minderungsratenwerden hier nicht weiter berücksichtigt. Dieses vereinfachendeModell wird genutzt, um potenzielle Beiträge und mögliche Inter-aktionen zwischen unterschiedlichen Bündeln von Strategien zurEmissionsminderung aufzuzeigen.

5.1 AtomenergieIm Jahr 2004 wurden weltweit 442 Atomreaktoren mit einer Ge-samtkapazität von 368,6 GW zur Stromproduktion betrieben. Diegroße Mehrzahl dieser Anlagen sind Leichtwasserreaktoren unter-schiedlicher Bauart. Im Jahr 2003 wurden 15,7 Prozent der gesamtenweltweiten Energieproduktion in Atomkraftwerken erzeugt. Bezüg-lich des Anteils der Atomkraft ist ein erheblicher Unterschied zwi-schen den OECD-Staaten und den nicht der OECD angehörendenLändern zu konstatieren. In den OECD-Ländern wurden 2003 etwa2.223 TWh Elektrizität in Atomkraftwerken erzeugt; das entsprichteinem Anteil von 22,3 Prozent. In den Nicht-OECD-Staaten wurden337

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im selben Jahr 412 TWh in Atomkraftwerken erzeugt, was einemAnteil von nur 6 Prozent entspricht.

Die BAU-Projektion der OECD weist nur eine geringe Zunahmeder Atomkraft bis 2030 aus. Der Anstieg der Gesamtkapazität von359 GW im Jahr 2002 auf 376 GW in 2030 entspricht einem jährli-chen Nettozuwachs von durchschnittlich 600 MW in der Periodevon 2002 bis 2030. Um dieses Ziel zu erreichen, muss alle zweiJahre ein neues Atomkraftwerk mit einer Kapazität von 1.200 MWans Netz genommen werden. Bezieht man jedoch die Altersstrukturder bestehenden Atomkraftwerke mit ein, so müssen jedes Jahrdurchschnittlich 4 bis 5 GW neue Nuklearkapazität in Dienst gestelltwerden (also 3 bis 4 große Kraftwerke).

Der potenzielle Beitrag der Atomenergieproduktion zu ehrgeizi-gen Emissionsreduktionszielen in der Periode von 2000 bis 2075(van der Zwaan 2002) wurde in einer Reihe von Studien bewertet.

Eine zehnfache Zunahme der Atomenergieproduktion in der Perio-de von 2000 bis 2075 (van der Zwaan 2002) würde eine weltweiteAtomkraftkapazität von 2.050 GW mit einer Produktion von 17.283TWh im Jahr 2050 bedeuten. Das entspricht in etwa der sechsfachenEnergieerzeugung des BAU-Falles. Durchschnittlich müssten bis2050 jährlich 35 GW an nuklearer Kapazität hinzugefügt werden. Einsolcher Anstieg der Atomenergieproduktion würde nicht nur dieKohle ersetzen, sondern auch einen beträchtlichen Teil derStromerzeugung mit Erdgas. Die Folge dieses extremen und offen-sichtlich unrealistischen Szenarios wäre eine CO2-Reduktion von9.700 Mt im Jahr 2050.

Pacala/Socolow (2004) schlagen eine Ausdehnung von 700 GWbis zur Mitte des Jahrhunderts vor, was im Vergleich zum derzeiti-gen Niveau einer dreifachen Kapazität entspricht. Bezieht man dennotwendigen Ersatz existierender Kraftwerke mit ein, müssen jähr-lich im Durchschnitt 25 GW Kapazität in Betrieb gehen, damit dieAtomkraftwerke im Jahr 2050 eine Kapazität von 1.060 GW errei-chen. Die Gesamtenergieproduktion würde sich in diesem Fall auf8.260 TWh belaufen und im Jahr 2050 7.000 Mt CO2 reduzieren,wenn nur Kohlekraftwerke ersetzt würden. Würden durch diezusätzlichen Atomkraftwerke Kohle- und Gaskraftwerke ersetzt, sowürde sich der Beitrag zur Emissionsreduktion im Jahr 2050 auf5.000 Mt CO2 belaufen.

338

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Ausgehend von der historischen Erfahrung hinsichtlich der Entwick-lung der Atomkraft erscheinen diese beiden Szenarios als sehr unre-alistisch. Jedoch können die wesentlichen Risiken und die größtenBedenken bezüglich der Atomkraft an einer solchen Entwicklungverdeutlicht werden. Solche Szenarien illustrieren, dass die Atom-kraft beim gesamten Stromaufkommen von Ländern und Regionensignifikante Anteile erreichen muss, in denen sie heute keine odernur eine geringe Rolle spielt. Eine drei- oder sechsfache Steigerungder Atomenergieerzeugung in Nordamerika, Europa oder Japan istangesichts des bereits beträchtlichen nuklearen Anteils im Energie-mix dieser Länder nicht vorstellbar.

Das Hauptrisiko bei Kernreaktoren ist ein großer Unfall mit mas-siver Freisetzung von Radioaktivität. Die Folge wären beträchtlicheSchäden für Gesundheit, Wirtschaft, den sozialen wie den Ökosyste-men (UNDP/UNICEF 2002). Die meisten der bestehenden und inden nächsten drei Jahrzehnten auch die meisten neuen Atomkraft-werke sind Leichtwasserreaktoren, die auf der Basis der derzeitigenReaktorkonzepte fortentwickelt werden. Für alle diese Reaktorenmüssen sehr ernst zu nehmende Sicherheitsmängel konstatiert wer-den (siehe den Beitrag von A. Froggatt im vorliegenden Band).

Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Unfallsals spezifische Größe sehr gering erscheint, würde die Zunahme derAtomkraft um das Drei- oder Sechsfache in den kommenden 50Jahren zu einem enormen Risiko katastrophaler Unfälle führen.Modellrechnungen zu den wirtschaftlichen Konsequenzen einesgroßen Unfalls in einem deutschen Atomkraftwerk ergaben, dassdie Gesamtkosten einer solchen Katastrophe etwa 2 bis 5 BillionenDollar betragen würden (Ewers/Rennings 1991 und 1994).

Neben den Leichtwasserreaktoren befinden sich einige weitere Reak-torkonzepte in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung und Im-plementierung. Bei allen diesen „evolutionären Konzepten“ (die sogenannte „Reaktor-Generation III“) bestehen gravierende und in-härente Risiken für verschiedene Unfallszenarios, die zu einer mas-siven Freisetzung radioaktiver Materialien führen können. In eini-gen Ländern hat die Forschung mit der Entwicklung „revolutionärerReaktorkonzepte“ (die so genannte „Reaktor-Generation IV“) begon-nen, die sehr viel sicherer, zuverlässiger und wirtschaftlicher als dieReaktoren der Generation III und gleichzeitig proliferations-geschützt sein sollen (NERAC 2002). Ein näherer Blick auf die tech-339

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nischen Konzepte zeigt jedoch, dass viele Sicherheitsprobleme nochvollkommen ungelöst sind; ferner belegen die empirischenErfahrungen, dass Fortschritte bei der Sicherheit in einiger Hinsichtauch wieder neue Sicherheitsprobleme schaffen können. Letztlichbleibt auch die Frage völlig offen, wie bei diesen Reaktortypen dieZielkonflikte zwischen Sicherheitsverbesserungen und möglichstniedrigen Investitionen und geringen Betriebskosten gelöst werdenkönnen. Erwähnenswert ist ferner, dass die Entwicklung dieserneuen Reaktorgeneration enorme Investitionen erfordert und dasResultat noch sehr ungewiss ist. Reaktoren der Generation IV wür-den – wenn überhaupt – frühestens in 20 bis 30 Jahren zur Verfü-gung stehen. Sehr unsicher ist auch noch, ob und wie die Bauweiseneuer Reaktoren diese gegen die Bedrohung durch konzertierte ter-roristische Akte (einschließlich Flugzeugabstürzen) absichern kann.Vergleichbare Probleme könnten ferner durch einen stärkeren Ein-satz von Atomkraftwerken in Ländern oder Regionen entstehen, indenen das Risiko militärischer Konflikte wesentlich höher ist als injenen Ländern und Regionen, in denen heute die Mehrzahl derReaktoren betrieben wird.

Eine wesentliche Voraussetzung für die massive Verbreitung vonAtomkraft zur Erreichung ehrgeiziger Emissionsreduktionsziele imJahr 2050 wird die Verfügbarkeit von nuklearem Brennstoff sein.Derzeit beläuft sich der jährliche Bedarf an nuklearem Brennstoffauf etwa 70.000 Tonnen Uran. Für eine drei- bis sechsfache Zu-nahme in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne würde sich derBedarf an nuklearem Brennstoff um ein Mehrfaches erhöhen, selbstwenn sich die Energieausnutzung signifikant steigern ließe. Zudemmüsste die Versorgung mit nuklearem Brennstoff in einigen Jahr-zehnten durch spekulative (noch unentdeckte) Ressourcen sicherge-stellt werden (siehe den Beitrag von Kreusch u.a. im vorliegendenBand). Die Kapazitäten im Uranabbau müssten beträchtlich ausge-dehnt werden, was erfahrungsgemäß viele Jahre in Anspruch neh-men würde. Ferner würden signifikante neue Anreicherungskapa-zitäten erforderlich. Lovins (2005) berichtet, dass für 700 GW zu-sätzliche Atomkraftwerksleistung 15 neue Anreicherungsanlagengebaut werden müssen.

Vor diesem Hintergrund stufen Rothwell/van der Zwaan (2003)Leichtwasserreaktorsysteme im Kontext der Erneuerbarkeit der ein-gesetzten Ressourcen als nicht zukunftsfähig ein. Zudem weisen diePläne für die Reaktoren der Generation IV eindeutig auf das Pro- 340

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blem endlicher Brennstoffressourcen für Leichtwasserreaktorsys-teme hin (NERAC 2002). Wenn die Verfügbarkeit (und die Kosten)von nuklearem Brennstoff für Leichtwasser-Reaktorsysteme jedochein Problem darstellen, wird die einfache Brennstoffnutzung zu-künftig nur noch von begrenzter Bedeutung sein können. Gegen-wärtig ist die einfache Brennstoffnutzung und die direkte Endlage-rung wegen der geringeren Kosten und des Wegfalls von Risikendurch die Wiederaufbereitung verbrannter Brennstäbe die bevor-zugte Option. Obwohl die Reaktorkonzepte der Generation IV nochin vieler Hinsicht spekulativ sind, steht mit ihrem Fokus auf „ge-schlossene Brennstoffzyklen“ die Einführung Schneller Brüter undder Wiederaufbereitung ausgebrannter Brennelemente auf breiterBasis wieder auf der Agenda (NERAC 2002). Wenn die nukleareTechnologiekette auf Brüter und Wiederaufbereitungsanlagen (undzusätzliche Transporterfordernisse) ausgedehnt wird, werden dieUnfallrisiken wie auch die Anfälligkeit hinsichtlich terroristischerAnschläge oder militärischer Konflikte signifikant ansteigen. Lovins(2005) illustriert die Dimension der Wiederaufbereitung für den Fallvon zusätzlichen 700 GW Atomkraftwerksleistung, die weltweit etwa50 Wiederaufbereitungsanlagen erforderlich machen würde.

Die Herausforderungen der Proliferation sind seit dem Ende desKalten Krieges von wachsender Bedeutung. Die aktuellen Nichtver-breitungsprobleme mit Iran und Nordkorea zeigen, dass mit einerExpansion der Atomkraft – auch regional – weitere Risiken entste-hen werden (siehe den Beitrag von O. Nassauer im vorliegendenBand). Ein Elektrizitätssystem mit 1000 GW nuklearer Kapazität ausLeichtwasserreaktoren würde pro Jahr etwa 290 Tonnen Plutonium(Pu) produzieren. Falls die Nuklearkapazität bis 2050 auf 2000 GWanstiege, würde die jährliche Plutoniumproduktion 560 Tonnen be-tragen. Solche Mengen würden zu ernsten Problemen bezüglich derNichtverbreitung führen und eine vollständig neue Qualität inter-nationaler Schutzvorkehrungen notwendig machen. Würde der ein-fache Brennstoffzyklus durch geschlossene Zyklen mit Wiederauf-bereitung und Trennung von Plutonium ersetzt, so könnten näm-lich ernsthafte Bedrohungen der internationalen Sicherheit entste-hen, da die Menge des zu befördernden Plutoniums und die Regio-nen, in denen signifikante Mengen Plutonium vorkommen würden,erheblich zunähmen. Ferner wäre es ein Irrtum anzunehmen, dassdas Risiko der Proliferation dadurch vernachlässigbar würde; diestrifft ebenso für die Reaktorkonzepte der Generation IV zu. 341

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Obwohl zahlreiche Analysen durchgeführt wurden, um Endlager-stätten zu identifizieren und ihre langfristige Verlässlichkeit zudemonstrieren, hat bislang noch kein Land eine dauerhafte Lösungfür die Endlagerung radioaktiver Abfälle gefunden. Die Forschungzur Entwicklung solcher Endlager wie auch Verfahren zur Öffent-lichkeitsbeteiligung oder Anstrengungen zur Erhöhung der öffent-lichen Akzeptanz für nukleare Lagerstätten dauern an (siehe denBeitrag von J. Kreusch u.a. im vorliegenden Band). Sollte die Mengeradioaktiven Abfalls signifikant anwachsen, so würde sich die Kluftzwischen der Erzeugung hoch radioaktiven Abfalls und der Verfüg-barkeit von Lagerstätten immer weiter vertiefen. Van der Zwaan(2002) nennt als Beispiel, dass eine Verdopplung der US-amerikani-schen Atomkraftproduktion alle 25 Jahre eine Lagerungskapazitäterfordern würde, die dem Yucca Mountain Project entspräche. NachLovins (2005) würde die Vergrößerung der globalen Atomkraftkapa-zität um 700 GW Lagerstätten mit der 14fachen Kapazität des YuccaMountain Project notwendig machen.

Nicht zuletzt ist auch die Wirtschaftlichkeit für die künftige Rolleder Atomkraft im Rahmen einer ambitionierten Klimastrategie ent-scheidend. Ohne einen Preis auf CO2 (entweder über eine Kohlen-stoffsteuer oder im Rahmen eines Emissionshandelssystems) wäredie Atomkraft auf wettbewerbsorientierten Märkten wahrscheinlichnicht konkurrenzfähig (siehe den Beitrag von S. Thomas im vorlie-genden Band). Jedoch könnte die schrittweise Einführung marktge-stützter Instrumente der Klimapolitik (z.B. das Emissionshandels-system der EU) diese Situation verändern. Die Höhe der CO2-Preise,die die Wirtschaftlichkeit neuer Atomkraftwerke signifikant verbes-sern könnte, wird noch diskutiert. Nach Sailor u.a. (2000) wäre einPreis von etwa 100 US-$/t C (27 US-$/t CO2) notwendig, damit neueAtomkraftwerke konkurrenzfähig wären. Andere Einschätzungensetzen hierfür noch bedeutend höhere Schwellenwerte an. Es sollteaber auch in Betracht gezogen werden, dass zahlreiche andere Fak-toren die ökonomische Bewertung der Atomkrafterzeugung verzer-ren. Das Fehlen ausreichender Stillegungsfonds, sehr großzügigeHaftungsregelungen, Steuervergünstigungen und andere Vorteileverschleiern in vielen Ländern die wahren Kosten der Elektrizität ausAtomkraft. Sollte die Atomkraft in der Zukunft eine bedeutendereRolle spielen, so werden diese versteckten Kosten zunehmend an dieOberfläche treten, denn die Belastungen für jene, die diese Kostenletztlich tragen müssen, werden immer offenkundiger. 342

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Atomenergie aufglobalem Niveau bis zu einem gewissen Grad zu ambitioniertenEmissionsreduktionen beitragen kann. Dieser Beitrag würde einer-seits zwar keine andere Option überflüssig machen, könnte ande-rerseits trotzdem signifikant sein. Bei solch einem Beitrag der Atom-energie wären die Konsequenzen aber erheblich. Diese Bedingun-gen müssen nüchtern bewertet werden, um einen gut begründetenVergleich mit anderen Emissionsminderungsoptionen zu ermög-lichen: Die massive Expansion der Atomenergie

– würde wegen schwerer Unfälle (einschließlich von Terroran-schlägen) die Risiken für Gesundheit, Ökosysteme, soziale undökonomische Systeme signifikant erhöhen;

– würde das Problem nuklearer Abfälle und der Proliferation ineine neue Dimension erheben, sowohl hinsichtlich der Material-mengen als auch der Regionen und der Länder, in denenProbleme entstehen würden;

– würde die Ersetzung des einfachen Brennstoffzyklus durch mehroder weniger geschlossene Kreisläufe für den nuklearen Brenn-stoff sowie die Wiedereinführung von Wiederaufbereitung undSchnellen Brütern erfordern, was zu zusätzlichen Risiken undAnfälligkeiten der Technologiekette führte;

– würde große Investitionen in die gesamte Technologiekette erfor-dern, einschließlich Bergbau, Anreicherung und Wiederaufberei-tung, was langjährige Vorbereitungsmaßnahmen erforderte;

– würde für einen stabilen Betrieb gut ausgebaute Versorgungs-netze und andere Infrastrukturen erfordern;

– wird attraktiver sein, wenn einerseits CO2-Emissionen kosten-pflichtig werden; andererseits würden aber andere Verzerrungensichtbar, die die Wirtschaftlichkeit der Atomenergieerzeugungindirekt subventionieren.

Diese Risiken und Probleme sind in vielfacher Hinsicht Thema poli-tischer und wissenschaftlicher Diskussion. Für einige Risiken beste-hen technologische oder institutionelle Vorschläge zur Begrenzungoder zum Ausschluss der Probleme oder ihrer Folgen (siehe Sailoru.a. 2000, van der Zwaan 2002). Äußerst spekulativ ist jedoch, obderartige Vorschläge in der Realität und innerhalb eines angemesse-nen Zeitrahmens umsetzbar sind oder in ausreichender Weiseimplementiert werden könnten.343

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Vor diesem Hintergrund stehen die folgenden Fragen bzw. Ana-lysen: Welche anderen Optionen könnten zu ehrgeizigen Strategiender Emissionsreduktion beitragen? Welches Potenzial bieten sie?Welche Restriktionen, Anforderungen, Zeitpläne und politischen In-strumente sind mit ihnen verbunden? Welche anderen Implikatio-nen bieten sich, und wie gestalten sich die Kosten im Vergleich zujenen der Atomkraft?

Wenn die oben genannten Risiken und Probleme der Atomkrafternsthaft bewertet werden, ist die Schlüsselfrage, ob die potenziellenAlternativen (einschließlich ihrer Implikationen) es erlauben wür-den, ehrgeizige Emissionsreduktionsziele zu erreichen. In anderenWorten:

– Wäre es möglich, im Hinblick auf Potenziale oder Kosten ehrgei-zige Emissionsreduktionsziele ohne Atomkraft zu erreichen; oder

– würden die Implikation einzelner Alternativen oder die Alter-nativen überhaupt Strategien zur Emissionsreduktion letztlichblockieren; oder

– könnte eine Strategie mit einem signifikanten Beitrag der Atom-kraft sich für ehrgeizige Strategien zur Emissionsreduktion alskontraproduktiv erweisen, weil andere Optionen dadurch nichtentwicklungsfähig wären?

Es stellt sich bei der Bewertung der Atomkraft die Frage, inwieweitbei der Planung ambitionierter Emissionsreduktionen explizit – hin-sichtlich der Potenziale – oder implizit – hinsichtlich der Konse-quenzen und Implikationen für andere Minderungsoptionen – dieNotwendigkeit besteht, die Atomkraft zu berücksichtigen, um dengroßen Herausforderungen zu begegnen und strategische Ziele und(politische) Maßnahmen zum Klimawandel zu erreichen.

5.2 Endverbrauchs-EffizienzDer World Energy Outlook (IEA 2004) geht für die nächsten dreiJahrzehnte von einer jährlichen Verbesserung der Energieintensitätzwischen 1,3 und 1,6 Prozent auf globaler Ebene aus. Das bedeutet,dass im Jahr 2030 mit einem Drittel weniger an Primärenergie der-selbe ökonomische Wert (hinsichtlich der Kaufkraftparitäten)geschaffen werden kann wie 2002. Das starke globale Wirtschafts-wachstum wird diese Gewinne aus der Energieeffizienz allerdingsmehr als wettmachen. Die IEA geht für die Periode von 2002 bis 344

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2030 von einem weltweiten Wirtschaftswachstum um den Faktor 2,4aus (die geschätzte Bevölkerungszunahme für diese Periode beträgtetwa 30 Prozent). In der Folge wird der Primärenergieverbrauch umfast 60 Prozent zunehmen. Falls sich diese Trends fortsetzen, könn-te das für 2050 einen Primärenergieverbrauch von etwa 21 MillionenTonnen Öläquivalent und jährlichen CO2-Emissionen aus derVerbrennung fossiler Energieträger von 48 Milliarden Tonnen CO2bedeuten.

Jedoch werden im BAU-, sprich Business-as-usual-Fall keine um-fangreichen Effizienzpotenziale implementiert, obwohl viele dieserOptionen im Allgemeinen kosteneffektiv sind. Jochem u.a. (2000)zeigen signifikante Energieeffizienzpotenziale (5 bis 80 Prozent) inallen Sektoren und für alle Regionen der Welt auf. Das IPCC (2001)nennt Schlüsselsektoren des Energieverbrauchs, in denen beträchtli-che Möglichkeiten für eine effizientere Energienutzung bestehen.

Bei den Endverbrauchssektoren werden für Verbesserungender Energieeffizienz folgende Bereiche als am bedeutendstenbetrachtet:

– Der Energieverbrauch von Gebäuden (einschließlich elektrischenHaushaltsgeräten); das IPCC (2001) nennt hier ein Emissions-reduktionspotenzial von 1.000 bis 1.100 Mt C (3.667 bis 4.033 MtCO2) bis 2020; Pacala/Socolow (2004) gehen von derselbenMenge für den Zeitraum bis 2050 aus, was als konservative Schät-zung betrachtet werden könnte.

– In der Industrie werden die größten Möglichkeiten bei der Ener-gieeffizienz und einer verbesserten Materialeffizienz gesehen;dem IPCC (2001) zufolge beläuft sich das gesamte Reduktions-potenzial auf 1.300 bis 1.500 Mt C (4.767 bis 5.500 Mt CO2) jähr-lich im Jahr 2020.

– Der Energieverbrauch im Verkehr ist signifikant wegen der raschansteigenden Emissionen in diesem Sektor; das IPCC (2001) gehtvon einem Einsparungspotenzial von 300 bis 700 Mt C (1.100 bis2.567 Mt CO2) im Jahr 2020 aus; Pacala/Socolow (2004) rechnenmit 2.000 Mt C (7.333 Mt CO2) für den Zeithorizont bis 2050.

Insgesamt könnte man für 2050 ein Reduktionspotenzial von bis zu16.000 Mt CO2 abschätzen, wenn in den Endverbrauchssektorenumfassende Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienzumgesetzt werden sollten. Das ist ein Anteil von 40 bis 60 Prozent345

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der verbleibenden Lücke zwischen Business-as-usual und ehrgeizi-gen Emissionsminderungszielen zur Stabilisierung der CO2-Kon-zentrationen im Bereich zwischen 400 und 450 ppm.

Einer der wichtigsten Vorteile von Strategien, die auf Energie-effizienz fokussiert sind, ist, dass viele Optionen aus der gesamt-wirtschaftlichen Perspektive kosteneffektiv sind und Emissions-reduktionen mit geringen oder sogar ohne zusätzliche Kosten imple-mentiert werden könnten. Die wichtigsten Probleme bei derImplementierung von Maßnahmen zur Energieeffizienz sind jedochnicht ökonomischer Natur. Das größte Problem bei Energieeffi-zienz-Strategien sind mannigfaltige Hindernisse und strukturelleBarrieren (von mangelnder Information und Motivation bis hin zumNutzer-Investor-Dilemma) einerseits und sehr heterogene Struk-turen hinsichtlich Akteuren, Motivationen und Fähigkeiten anderer-seits.

Die derzeitigen Technologien können zu signifikanten Verbesse-rungen der Energieeffizienz führen. Eine zusätzliche Rolle werdenmit der Zeit technische und organisatorische Innovationen spielen.Das Schlüsselproblem bei Energieeffizienz-Maßnahmen ist die Not-wendigkeit eines gleichmäßigen und stufenweisen Ansatzes undpermanenter Anstrengungen. Vor allem im Bereich der Verbesse-rung der Energieeffizienz werden ein schrittweiser Ansatz und einfrüher Start von wesentlich größerer Bedeutung sein als technischeDurchbrüche. Der langlebige Kapitalstock, z.B. im Gebäudesektor,wird frühzeitiges Handeln erfordern, damit die bestehenden Poten-ziale ausgeschöpft werden können.

5.3 Verbesserungen der Energieeffizienz im EnergiesektorVor allem im Energiesektor haben technologische Entwicklungen inden letzten Jahren signifikante Verbesserungen bewirkt. Für diekommenden Jahre und Jahrzehnte kann man von weiteren Effi-zienzgewinnen ausgehen, wenn die Dynamik in Forschung und Ent-wicklung noch weiter verstärkt wird. Die Effizienz von Kohle- undGaskraftwerken könnte im Vergleich zu den heutigen weltweitdurchschnittlichen 30 bis 35 Prozent schon in naher Zukunft auf 50Prozent bzw. 65 Prozent gesteigert werden (EK 2002). Auf längereSicht könnten Kombi- (Gas- und Dampf-) Kraftwerke eine Effizienzvon bis zu 70 Prozent erreichen, neue superkritische Dampftur-binen innerhalb der nächsten beiden Jahrzehnte Nettowirkungs-grade von 55 Prozent. 346

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Eine noch viel wesentlichere Verbesserung in der hoch effizien-ten Energieerzeugung könnte von der Kraft-Wärme-Kopplung(KWK) oder der kombinierten Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung (KWKK)kommen. Der Einsatz von Abwärme aus der Stromerzeugung fürHeizung, Industrieprozesse oder sogar Kühlung könnte die gesam-te Effizienz von KWK- und KWKK-Anlagen auf 90 Prozent anheben.KWK- und KWKK-Anlagen können in industriellen Anlagen undAnlagen der Fernwärmeversorgung betrieben werden, die eine Leis-tung von mehreren Hundert Megawatt erreichen. Darüber hinauskönnte in der Wärmeversorgung mit Mikro-CHP-Anlagen von meh-reren Kilowatt (Pehnt u.a. 2005) ein immenses Potenzial für hocheffiziente KWK-Technologien verfügbar gemacht werden.

Während die ständige Verbesserung von Kraftwerken in vielenBAU-Projektionen mit einbezogen und das zusätzliche Potenzial fürEmissionsreduktionen begrenzt ist, ist das Potenzial der KWK in denmeisten aktuellen Projektionen noch bei weitem nicht ausgeschöpft.Eine vereinfachte Kalkulation unterstreicht das bedeutendePotenzial für KWK und KWKK in einer integrierten Strategie zurCO2-Reduzierung.

Wird von einer zusätzlichen Energieproduktion aus nicht mitBiomasse befeuerten KWK-Anlagen in der Größenordnung von 20Prozent einer globalen Stromerzeugung von 30.000 TWh im Jahr2050 ausgegangen (unter Berücksichtigung einer signifikantenReduktion durch verbesserte Energieeffizienz), so würde dies zueiner jährlichen CO2-Reduktion von 2000 Mt durch zusätzlicheEffizienzsteigerung in der Energieproduktion führen, wobei zusätz-liche Effekte aus der Brennstoffumstellung noch nicht berücksich-tigt worden sind.

5.4 Brennstoffumstellung im EnergiesektorIm Business-as-usual-Szenario der IEA (2004) dominiert die Ener-gieerzeugung aus fossilen Brennstoffen die Stromversorgung bis2030. Dieser Projektion zufolge wird sich in der Periode von 2002bis 2030 die Kapazität der Kohlekraftwerke von 1135 GW auf 2156GW und die der Gaskraftwerke von 893 auf 2564 GW erhöhen. Fürdie gesamte Periode entspricht dies im Durchschnitt einem jähr-lichen Wachstum von 36 GW für Steinkohle und 60 GW für Erdgas.Zieht man ferner in Betracht, dass im selben Zeitraum etwa dieHälfte der bestehenden Kapazitäten durch neue Kraftwerke ersetztwerden muss, so müssen im Durchschnitt jedes Jahr 57 GW Kapa-347

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zität aus neuen Kohlekraftwerken und 76 GW aus neuen Gaskraft-werken in Betrieb gehen. Wird dieser Trend bis 2050 fortgeschrie-ben, so würden sich die Kraftwerks-Neuinvestitionen auf etwa 2700GW für Kohle- und 3600 GW für Gaskraftwerke belaufen. Eine Ent-scheidung für neue Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 1 GWbedeutet jährliche Emissionen von etwa 4,7 Mt CO2 (bei einemdurchschnittlichen Nutzungsgrad neuer Kraftwerke von 40 Prozentund einer Auslastung von 63 Prozent) für die Lebensdauer der Kraft-werke, die bei etwa 40 Jahren oder mehr liegt. Eine ähnliche Schät-zung für Investitionen in neue Gaskraftwerke führt zu einer jähr-lichen Emission von 1,3 Mt CO2 pro GW (ausgehend von einemdurchschnittlichen Nutzungsgrad von 55 Prozent und einer Aus-lastung von 40 Prozent).

Durch die Kombination eines weniger kohlenstoffhaltigen Brenn-stoffs und der signifikant höheren Effizienz verursacht die Stromer-zeugung in einem Gaskraftwerk im Vergleich zu einem neuen Koh-lekraftwerk 57 Prozent weniger CO2. Eine weitere Brennstoffumstel-lung im Energiesektor von Kohle auf Gas könnte also signifikantePotenziale für die Emissionsreduktion eröffnen.

Pacala/Socolow (2004) unterstellen einen Ersatz von Grundlast-Kohlekraftwerken mit einer Gesamtkapazität von 28 GW durch Gas-kraftwerke, um weitere Emissionsreduktionen zu erreichen. Diesentspricht etwa der Hälfte der o.g. jährlichen Investitionen in neueKohlekraftwerke. Wenn 50 Prozent der Neuinvestition bis zum Jahr2050 statt in Kohle in Gaskraftwerke fließen würden, so würdenKohlekraftwerke mit einer Gesamtemission von 6300 Mt CO2 imJahr 2050 durch Gaskraftwerke mit einer Gesamtemission von 2700Mt CO2 ersetzt. Würden alle Kohlekraftwerksneubauten durch Erd-gaskraftwerke ersetzt, so würden sich die genannten Emissions-niveaus verdoppeln: Kohlekraftwerke mit einer Gesamtemission von12.700 Mt CO2 würden durch Erdgasanlagen mit einer gesamtenEmissionen von 5500 Mt ersetzt. Ein Ersatz von 50 Prozent derNeuinvestitionen in Kohlekraftwerke durch Gaskraftwerke repräsen-tiert damit ein jährliches Emissionsreduktionspotenzial von 3600Mt CO2 für den Zeithorizont 2050.

Natürlich werden die zusätzlichen Investitionen in Gaskraftwerkeauch zu einem zusätzlichen Bedarf an Erdgas führen. Für die obengenannte ungefähre Schätzung beträgt der zusätzliche Gasbedarfzur Energieerzeugung 29 Exajoule (EJ) für das Jahr 2030 und 49 EJfür 2050. Der Gasbedarf im BAU-Szenario der IEA (2004) beläuft 348

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sich auf 176 EJ für 2030. In anderen Worten, der Bedarf an Erdgaswürde im Vergleich zum BAU-Fall um etwa 16 Prozent ansteigen.Der zusätzliche Gasbedarf für den Zeithorizont 2050 dürfte sich inder gleichen Größenordnung bewegen. Im Rahmen einer nachhalti-gen Energiestrategie sollte diese Erdgasmenge durch Energie-effizienzmaßnahmen entweder in anderen Bereichen (z.B. demGebäudesektor) oder im Energiesektor selbst kompensiert werden.Die Schlüsseltechnologie zur Senkung des zusätzlichen Erdgas-bedarfs ist die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) oder die kombinierteKraft-Wärme-Kälte-Produktion (KWKK). Würde ein Viertel derneuen Gaskraftwerke auf der Basis von KWK oder KWKK betrieben,so würde der zusätzliche Gasbedarf um etwa 7 Prozent sinken.

5.5 Erneuerbare EnergieDer globale Umsatz erneuerbarer Energien übertrifft den derzeiti-gen und prognostizierten weltweiten Primärenergiebedarf um dreiGrößenordnungen (Rogner 2000). Zahlreiche Technologien für denEinsatz erneuerbarer Energien sind bereits verfügbar, und viele wei-tere sind in der Entwicklung. Die größten Herausforderungen füreinen groß angelegten Einsatz erneuerbarer Energie sind folgende(Rogner 2000, WBGU 2004):

– Unter den derzeitigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen(keine Internalisierung externer Kosten) sind nur wenigeOptionen für erneuerbare Energien mit der Energie aus fossilenoder nuklearen Brennstoffen konkurrenzfähig.

– Der Einsatz und die Wirtschaftlichkeit erneuerbarer Energienunterliegen mehreren Beschränkungen, wie etwa Flächennut-zungskonflikten (z.B. Biomasse), geographischer Lage (Solarener-gie), Standort (Windkraft und geothermische Energie) oderNaturschutz und gesellschaftlichen Beschränkungen (Wasser-kraft).

– Die globale Verteilung der derzeitigen und der künftigen Energie-versorgung aus erneuerbaren Quellen unterscheiden sich deut-lich; das Potenzial an erneuerbaren Energien ist in Europa (ohnedie ehemalige Sowjetunion) und in Asien deutlich geringer als inden Amerikas oder in sonnenreichen Kontinenten und Regionen.

Die erneuerbaren Energien haben schon heute einen signifikantenAnteil an der globalen Primärenergieversorgung. Bezüglich der349

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exakten Größe dieses Anteils bestehen jedoch Unsicherheiten, dader größte Teil der heute verwendeten erneuerbaren Energien austraditioneller Biomasse besteht, die in vielen Regionen der Erdenicht kommerziell gehandelt wird. Zudem kann der Einsatz „tradi-tioneller Biomasse“ (z.B. Feuerholz) in vielen Weltgegenden nichtals nachhaltig bezeichnet werden, da er zur Entwaldung und Deser-tifikation beiträgt. Die Internationale Energieagentur (IEA 2004)schätzt, dass im Jahr 2002 etwa 10 Prozent des gesamten Primär-energiebedarfs von Biomasse abgedeckt wurde. Für 2004 nimmt siean, dass etwa 70 Prozent des weltweiten Einsatzes von Biomasse fürEnergie aus „traditioneller Biomasse“ bestanden, was zu ernstenNachhaltigkeitsproblemen führen könnte. Alles in allem könnte derEinsatz „moderner Biomasse“ für eine nachhaltige Energieproduk-tion mit Blick auf die technologischen Potenziale, die die Nachhaltig-keitskriterien erfüllen, um den Faktor sechs oder mehr ausgeweitetwerden (Rogner 2000, WGBU 2004).

Die zweite Quelle erneuerbarer Energie, die derzeit einen nichtunwesentlichen Anteil der globalen Primärenergieversorgungabdeckt, ist die Wasserkraft. Sie repräsentiert 16 Prozent der derzei-tigen weltweiten Stromproduktion und liefert etwa 6 Prozent desglobalen Primärenergiebedarfs. Obwohl für ihre Ausweitung ein sig-nifikantes technisches Potenzial besteht (Rogner [2000] referiert eintechnisches Potenzial, das um den Faktor 5 über dem derzeitigenNiveau liegt), stellt die Wasserkraft unter den erneuerbarenEnergien diejenige mit dem kleinsten Potenzial für ein weiteresWachstum dar.

Neben diesen beiden Quellen erneuerbarer Energien könnennoch einige andere Quellen in der Primärenergieversorgung dernächsten Jahrzehnte eine zunehmende Rolle spielen.

Vor allem die Windkraft zeigte in den letzten Jahren signifikanteZuwachsraten. Im Zeitraum von 1990 bis 2002 nahm die Energie-erzeugung durch Wind sowohl in den OECD-Staaten als auch in denanderen Ländern mit einer durchschnittlichen jährlichen Rate vonetwa 30 Prozent zu (Turkenburg 2000, IEA 2005). Hinsichtlich destechnologischen Potenzials für den zukünftigen Einsatz der Wind-energie referiert Rogner (2000) 640 EJ; dies liegt um den Faktor 100über dem derzeitigen Niveau.

Die Stromerzeugung aus Solarenergie befindet sich noch ineinem sehr frühen Entwicklungsstadium. Obwohl die Stromerzeu-gung mit Photovoltaik in den letzten Jahren um durchschnittlich 30 350

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Prozent jährlich gewachsen ist (Turkenburg 2000, IEA 2005) unddie Energiebereitstellung aus thermischen Solaranlagen in den kom-menden Jahren wieder ein signifikantes Wachstum aufweisen wird,bleibt der Beitrag der Solarenergie an der globalen Energieerzeu-gung noch immer sehr gering. Jedoch könnten das riesige Potenzialder Solarstromerzeugung und die rapide technische Entwicklung indiesem Bereich der Solarenergie in den nächsten 50 Jahren zueinem signifikanten Anteil an der gesamten Primärenergieversor-gung verhelfen (van der Zwaan/Rabl 2004).

Das größte technologische Potenzial unter den erneuerbarenEnergien liegt jedoch in der geothermischen Energie, die in mehre-ren Weltregionen bereits zur Stromerzeugung genutzt wird. Rogner(2000) verweist auf ein Potenzial von 500 EJ, das in 10 bis 20 Jahrenwirtschaftlich werden dürfte, und ein Potenzial von 5000 EJ, das in40 bis 50 Jahren wirtschaftlich werden könnte.

Schließlich können mittel- und langfristig die Ozeane (Gezeiten-,Wellen-, Salzgradienten- und thermale Energie) einen enormenBeitrag zur globalen Primärenergieversorgung leisten. Rogner(2000) schätzt für die verschiedenen Optionen des Einsatzes vonMeeresenergie ein technisches Potenzial von 7400 EJ.

351

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Tabelle 6

Aktuelle und künftige Kosten der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen (in ct/kWh)

Wasserkraft 2…10 2…10 2…10 2…10 5,5…15 - - -

Windkraft 5…13 3…10 3…5 2…3 4,5…9 3…6 3…6 3…5onshore

Windkraft 6…10 2…5 6,3…10 4…6 3…5,5 3…4,5offshore

Foto- 25…125 5…25 50…80a ~8a 50…100 29…58 12,5…25 9…18voltaik 30…50b ~5b

20…40c ~4c

Solar- 12…18 4…10 12…18 4…10 8…16 5…6 ~4thermischeKraftwerked

Biomasse 5…15 4…10 5…15 4…10 3,5…30 - - -

Geothermie 2…10 1…8 2…10 1…8 - - - -

Ozean- 8…20 5…15energie

Anmerkungen: a) bei 1.000 kWh/m2 (Mitteleuropa); b) bei 1.500 kWh/m2 (Südeuropa); c) bei

2.500 kWh/m2 (Südliche Regionen); d) an Standorten mit 2.500 kWh/m2

Quelle: Turkenburg (2000), ICCEPT (2002), EK (2002)

Die technischen Potenziale erneuerbarer Energien zur Stromerzeu-gung sind enorm, die wichtigste Barriere für ihren breiteren Einsatzist jedoch ihre wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit. Abgesehen vonder Wasserkraft und einigen Optionen des Biomasse-Einsatzes sinddie meisten Technologien für die Stromerzeugung aus erneuerbarenEnergien noch in einer frühen Phase der Entwicklung. Doch vieleStudien zeigen eine signifikante Kostenreduzierung, wenn For-schung und Entwicklung intensiviert werden und die Strategie derfrühen Markteinführung fortgesetzt wird. Für zahlreiche Optionender Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien ergeben sich miteiner frühen und umfassenden Markteinführung bedeutsame„Lernkurveneffekte“ (IEA 2000). 352

UNDP (2000)

aktuell aktuell aktuell 2010 2020 2050nach2020

zukünftig

ICCEPT (2002) Enquete-Kommission (2002)

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Tabelle 6 zeigt verschiedene Kostenschätzungen für Schlüssel-technologien zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien.Dieser Überblick unterstreicht, dass man für die nächsten beidenJahrzehnte von signifikanten Kostensenkungen vor allem für dieWindkraft, die Stromerzeugung aus Biomasse und für die geother-mische Energie ausgehen kann. Mittel- und langfristig (mehr alszwei Dekaden) könnten sich vor allem bei der Solarkraft und derStromerzeugung aus Meeresenergien signifikante Kostenreduktio-nen ergeben.

Abbildung 6

Projektionen für den Beitrag erneuerbarer Energien zur Gesamtenergieversorgung, 2002-2050

Quelle: WBGU (2004), Shell (2002), IEA (2004), eigenen Schätzungen und Berechnungen353

1800

1600

1400

1200

1000

800

600

400

200

0

2002 2020 2050

IEA TPES* WBGU Shell TPES* WBGU Shell TPES*

Total

andere erneuerbare Energien

Geothermische Energie

Solarheizung

Solarstrom*

Wind*

Moderne Biomasse

Traditionelle Biomasse

Wasserkraft*

* Das Primärenergie-Äquivalent der Strom-

erzeugung aus Atomenergie, Wasserkraft,

Windenergie und Sonne wurde für alle sta-

tistischen Daten und Projektionen mit einem

durchschnittlichen Nutzungsgrad von 0,33

ermittelt.

EJ

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Abbildung 6 zeigt zwei unterschiedliche Projektionen für das künf-tige Wachstum erneuerbarer Energien. Beide Szenarios sind Inter-ventionsszenarios, d.h. sie unterstellen für die Erreichung einesnachhaltigen Energiesystems auf globaler Ebene massive politischeInterventionen. Je nach Ansatz für das zukünftige Niveau desPrimärenergieverbrauchs könnten 50 bis 100 Prozent der gesamtenEnergieversorgung mit erneuerbaren Energien abgedeckt werden.Allerdings zeigt der Vergleich auch die unterschiedlichen Einschät-zungen des zukünftigen Beitrags der erneuerbaren Energien.Während Shell in seinem Szenario „Spirit of the Coming Age“(2002) ein besonders starkes Wachstum für Biomasse, Wind- undSolarenergie sieht, geht der WBGU (2004) von einem wesentlichaggressiveren Wachstum, technologischen Durchbrüchen bei derWind- und Solarenergie und einer wesentlich geringeren Zunahmedes Einsatzes von Biomasse im Energiesektor aus. GeothermischeEnergie spielt in beiden Projektionen eine signifikante Rolle.

Insgesamt könnten aus technischer Sicht erneuerbare Energienden zukünftigen Primärenergiebedarf ganz oder zu einem großenTeil abdecken. Einige Technologien für den breiteren Einsatz erneu-erbarer Energien befinden sich jedoch noch in einer frühen Phaseder Entwicklung. ICCEPT (2002) nennt folgende Gruppen an erneu-erbaren Energien zur Stromerzeugung:

– ausgereifte Technologien: Biomasse (Mitverbrennung), Wasser-kraft in großen und kleinen Anlagen, Gezeitenkraftwerke, netz-unabhängige Photovoltaik (Insellösungen);

– Technologien an der Schwelle zur ausgereiften Technologie: On-shore-Windkraftanlagen, Photovoltaik für Gebäude, Biomasse(Verbrennung);

– aufstrebende Technologien: Offshore-Windkraftanlagen, Bio-masse (Vergasung);

– konzeptionelle, in absehbarer Zukunft aufstrebende Technolo-gien: fortgeschrittene Photovoltaik, Wellen- und Gezeitenstrom-Kraftwerke, Biomasse (Hydrolyse), Geothermie (Hot-Dry-Rock-Verfahren);

– konzeptionelle Technologien: Wasserstoff-Photosynthese.

Diese lange Liste technologischer Optionen bietet genügend Flexibi-lität für verschiedene Szenarien hinsichtlich der technischen Ent-wicklungen und Fortschritte bei der Kostenreduktion für die Strom- 354

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erzeugung aus erneuerbaren Energien. Der größte Beitrag könntebis 2020 aus Biomasse, Wind- und Wasserkraft kommen. Für dieZeit danach stellt sich als wesentliche Frage, wieviel Strom durchSolartechnologien erzeugt werden und wie weit sich die Stromerzeu-gung mit Windkraft, Geothermie und Meereskraftwerken durch-setzen kann.

Dennoch bedarf es großer Anstrengungen zur Verbesserung derWirtschaftlichkeit verschiedener Technologien, zur Erreichung wei-terer technologischer Durchbrüche und zum Bau notwendigerInfrastruktur. Ein wichtiger Punkt ist in dieser Hinsicht die inter-mittierende Stromerzeugung von Photovoltaik- und Windkraftanla-gen. Ein Stromversorgungssystem mit hohen Anteilen intermittie-render Stromerzeugung wird völlig neue Anforderungen an Strom-netze und die Flexibilität anderer Stromerzeugungsoptionen erfor-dern. Der in den letzten Jahren erzielte Fortschritt (ausgereifte Prog-nosemodelle, Entwicklung hoch effizienter und flexibler Technolo-gien zur Stromerzeugung auf der Basis von Gas etc.) unterstreicht,dass die Integration von intermittierenden Stromerzeugungsoptio-nen mehr als Herausforderung denn als Barriere für den breitenEinsatz erneuerbarer Energien gesehen werden sollte. Jedoch müs-sen auch für erneuerbare Energien ökologische oder soziale Zwängein Betracht gezogen werden. In manchen Weltregionen existierenStandortprobleme für Windkraftanlagen; für einige Meerestechno-logien (Gezeitenkraftwerke) oder Wasserkraftwerke könnten nega-tive lokale (umweltbedingte) oder soziale Probleme auftreten.

Vor diesem Hintergrund muss herausgehoben werden, dass intechnologischer oder ökonomischer Hinsicht bedeutende Verbesse-rungen in der Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen in rela-tiv kurzer Zeit ein enormes Potenzial in der Energieerzeugung er-möglichen werden. Wenn bedeutende Kostenreduzierungen fürSolarenergie oder sogar Wind- und Biomassetechnologien erreichtwerden und die notwendige Infrastruktur verfügbar ist, wird sichdas Energiesystem rapide verändern. In anderen Worten, der Beitragerneuerbarer Energien zur globalen Primärenergieversorgung wirdentweder auf einem relativ niedrigen Niveau bleiben, oder er wird abetwa Mitte dieses Jahrhunderts die Struktur der Primärenergiever-sorgung sehr stark dominieren. Ein „Mittelweg“ für den Beitrag dererneuerbaren Energien ist nur schwer vorstellbar.

355

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5.6 Kohlenstoffabtrennung und -deponierungEine der aufstrebenden Technologien zur Senkung der Treibhaus-gas-Emissionen ist die Abtrennung und Speicherung von Kohlen-stoff (Carbon Capture and Sequestration, CCS). CCS umfasst Tech-nologien zur Erfassung und Anreicherung von CO2 aus unter-schiedlichen Quellen, den Transport zu geeigneten Lagerorten unddie Lagerung über lange Zeiträume. Dieses Verfahren kommt einer-seits für CO2 aus der Verbrennung fossiler Stoffe oder aus Industrie-prozessen, andererseits aber auch für die CO2-Emissionen auskohlenstoffneutraler Biomasseverbrennung in Frage. Die letztereOption bildet dabei eine Netto-Senke für CO2-Emissionen und solltein der langfristigen Klimapolitik eine Rolle spielen.

Obwohl bereits einige Bausteine der CCS-Technologiekette exi-stieren und ausgereift oder ökonomisch machbar sind, müssen nochweitere Technologiebausteine entwickelt oder bestehende verbessertwerden. Zudem bedarf es großer Anstrengungen, um ein integrier-tes System zu realisieren, das hinsichtlich Technik, Wirtschaftlich-keit und öffentlicher Akzeptanz zuverlässig ist. Die Abtrennung undSpeicherung von Kohlenstoff wird derzeit intensiv erforscht, weiter-entwickelt und gründlichen Analysen und Bewertungen unterzogen(siehe IPCC 2005, IEA 2004b + 2005b).

Aus ökonomischer Sicht bildet die Abtrennung des CO2 denSchlüssel für die Option CCS. Die größte Herausforderung hierbeiist, dass die Abspaltung von CO2 eine hohe Energieaufwendungerfordert, was die elektrische Effizienz von Kraftwerken beträchtlichverringert. Die Bindung von CO2-Emissionen könnte die Effizienzum etwa 10 Prozentpunkte senken und würde den in den beidenletzten Jahrzehnten erreichten technologischen Fortschritt zu einemguten Teil kompensieren. Zudem führen die realen Erfassungsgradefür CO2 nicht zu einem emissionsfreien Kraftwerk, da bei den der-zeit bevorzugten Technologien nur 80 bis 90 Prozent der Emissio-nen erfasst werden können (IPCC 2005). Die Kohlenstoffabtren-nung könnte auf unterschiedlichen Technologien basieren:

– Abtrennung nach der Verbrennung;– Abtrennung vor der Verbrennung;– Abtrennung mit Hilfe des Oxyfuel-Prozesses (Verbrennung mit

reinem Sauerstoff);– Abtrennung in spezifischen Industrieprozessen (z.B. Stahl- oder

Ammoniakproduktion). 356

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Für die Abtrennung vor der Verbrennung und die Abtrennung imOxyfuel-Prozess muss sich die Technologie der Stromerzeugungeinem fundamentalen Wandel unterziehen. Obwohl solche Techno-logien bereits in Form von Demonstrationskraftwerken existieren(IGCC – Kombikraftwerke mit integrierter Kohlevergasung) oderderzeit als Demonstrationsprojekte in Planung sind, gibt es nichtgenügend Anhaltspunkte dafür, dass sie sich als kommerziell taug-lich erweisen. Vor allem die IGCC-Technologie verlor in den letztenbeiden Jahrzehnten den Wettbewerb mit Dampfturbinen mit kriti-schen und überkritischen Dampfparametern. Mit pulverisierterKohle befeuerte Kraftwerke mit konventionellen Dampfturbinenentsprachen den Anforderungen des alltäglichen kommerziellenBetriebs wesentlich besser als die im Prinzip innovativere und effi-zientere IGCC-Technologie.

Der CO2-Transport könnte auf bestehende Technologien (Pipe-lines, Versand) zurückgreifen und wird hinsichtlich der Kostenweniger relevant sein, wenn Distanzen im Bereich von 200 bis 300km überbrückt werden müssen. Liegen zwischen den CO2-Quellenund den Lagerungsorten wesentlich längere Entfernungen, könntensich auch die Transportkosten zu signifikanten Kostenfaktoren ent-wickeln.

Für die Lagerung von CO2 existieren drei wesentliche Optionen. Dasabgetrennte CO2 kann in geologische Formationen oder die Tiefsee(über 1000 m) eingebracht werden, oder es kann mineralisiert unddann in geeignete Lagerstätten verbracht werden. Im Lichte der der-zeitigen Erkenntnisse kann man jedoch nur die Lagerung in geolo-gischen Formationen als akzeptabel betrachten. Es gibt einige Hin-weise dafür, dass die Injektion signifikanter Mengen CO2 in die Tief-see marine Ökosysteme schädigen könnte. Die Wirkungen von CO2-Injektionen auf marine Ökosysteme über große Ozeanflächen undlange Zeiträume sind weitgehend unbekannt. Die Mineralisierungvon CO2 würde immense Materialflüsse, Probleme der Lagerung ingroßem Maßstab und andere Umweltprobleme verursachen. ZumBeispiel würde der Mineralisierungsprozess 1,6 bis 3,7 Tonnen Sili-kate pro gelagerter Tonne CO2 erfordern und 2,6 bis 4,7 Tonnen zuentsorgendes Material erzeugen. Diese Materialflüsse und die damitverbundenen Prozesse (Bergbau, Zerkleinerung, Transport und Ent-sorgung) würden ebenfalls relativ hohe Kosten erzeugen.

357

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Demzufolge sollte in den nächsten Jahrzehnten die Lagerung ingeologischen Formationen (erschöpfte Öl- und Gasfelder, nicht ab-bauwürdige Kohleflöze, tiefe Salzformationen) als Schlüsseloptionfür CCS betrachtet werden. Das IPCC (2005) nennt für das nächsteJahrhundert einen Bereich von 200 bis 2000 Milliarden TonnenCO2 als ökonomisches Potenzial für CCS. Die Untergrenze wirdhierbei als „praktisch sicher“ (Wahrscheinlichkeit von 99 Prozentoder höher) charakterisiert, die obere Zahl wird als „wahrscheinlich“betrachtet (Wahrscheinlichkeit von 66 bis 90 Prozent). Vor diesemHintergrund könnte CCS einen signifikanten Beitrag zur langfristi-gen Emissionsreduktion liefern. Allerdings stellt auch dieses Verfah-ren eine temporäre CO2-Minderungsoption dar, die Lagerungskapa-zitäten müssen als endliche Ressource betrachtet werden.

Tabelle 7 zeigt die Kostenspannen für die verschiedenen Kompo-nenten eines CCS-Systems. Bei der Lagerung in geologischen For-mationen macht die CO2-Abtrennung den größten Teil der Kostenaus. Große Entfernungen beim CO2-Transport könnten die Kosteneines CCS-Systems einerseits erhöhen; andererseits könnte die Ver-wendung von abgetrenntem CO2 für die stärkere Ausbeutung vonÖl-Lagerstätten (Enhanced Oil Recovery – EOR) oder die Methan-gewinnung aus Kohleflözen (Enhanced Coalbed Methane Recovery– ECBM) ökonomische Vorteile bringen, die zu einer Kostensen-kung bei CCS führten. Allerdings würden sich solche Vorteile imRahmen sehr ambitionierter Emissionsreduktionsziele drastischverringern. Insgesamt weisen die Minderungskosten für CCS mit 15bis 90 US-$/t CO2 eine Spanne auf, die mit vielen erneuerbarenEnergiequellen vergleichbar ist.

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Tabelle 7

Kostenspanne für die Komponenten eines CCS-Systems von großen,neuen Betriebsanlagen

CCS-System-Komponenten Kosten-Bandbreite Bemerkungen

Abtrennung in einem Kohle- 15…75 US-$/tCO2 Netto-Kosten für abgetrenntes

oder Gas-Kraftwerk (netto abgetrennt) CO2 im Vergleich zum gleichen

Kraftwerk ohne Abtrennung

Abtrennung aus Wasserstoff- 5…55 US-$/tCO2 Gilt für hochreine Quellen und

und Ammoniak-Produktion (netto abgetrennt) erfordert einfache Trocknung

oder Gas-Verarbeitung und Verdichtung

Abtrennung bei anderen 25…115 US-$/tCO2 Bandbreite reflektiert eine Reihe

industriellen Quellen (netto abgetrennt) von unterschiedlichen Techno-

logien und Brennstoffen

Transport 1…8 US-$/tCO2 Für 250 km Pipeline oder

(transportiert) Transport von 5 (oberer Wert)

bis 40 (unterer Wert) Mt CO2/yr

Geologische Speicherunga 0,5…8 US-$/tCO2 Ohne potenzielle Erträge aus

(netto verbracht) EOR oder ECBM.

Geologische Speicherung 0,1…0,3 US-$/tCO2 Beinhaltet Vorbereitung,

Monitoring und Verifikation (verbracht) Verbringung und nachgelagertes

Monitoring, abhängig von den

Regulierungsanforderungen

Ozeanische Speicherung 5…30 US-$/tCO2 Einschl. Offshore-Transport von

(netto verbracht) 100-500 km, ohne Monitoring

und Verifikation

Mineralische Karbonisierung 50…100 US-$/tCO2 Bandbreite für Best Case,

(netto mineralisiert) beinhaltet zusätzlichen Energie-

verbrauch für Karbonisierung

Anmerkung: a) langfristig möglicherweise zusätzliche Kosten für Sanierung und Haftung

Quelle: IPCC (2005)

CCS-Systeme könnten vor allem hinsichtlich der CO2-Speicherungzu Risiken führen. Globale Risiken resultieren aus einer möglichenFreisetzung eines Teils des eingelagerten CO2 in die Atmosphäre,was wiederum zur globalen Erwärmung beitrüge. Bei der Wahl desLagerstandorts muss davon ausgegangen werden, dass das einzula-gernde CO2 100 bis 1000 Jahre in den Deponien verbleiben sollte.Hinsichtlich lokaler Risiken könnte eine plötzliche und rasche Frei-setzung von CO2 z.B. durch Lecks oder Korrosion menschlichesLeben und Gesundheit gefährden. Allmähliches und diffuses Aus-359

Abt

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rung

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treten schädigte Grundwasser und Ökosysteme oder führte zur Ver-sauerung von Böden. Viele derartige Risiken könnten durch Aus-wahl und entsprechende Konstruktion geeigneter Lagerungsstand-orte sowie umfassende Überwachungs- und Sanierungsmaßnah-men begrenzt werden. Obwohl die oben genannten Risiken nichtunterschätzt werden sollten, bestehen also einige Möglichkeiten zurReduzierung des Gefahrenpotenzials.

Trotzdem müssen noch zahlreiche Probleme gelöst werden,bevor CCS als effektive Option für eine ambitionierte Emissions-reduktion etabliert werden kann. Abgesehen von den Problemen derSicherheit sowie technologischer und ökonomischer Natur sindnoch solche bezüglich Haftungen, Eigentums- und anderen Rechtensowie der Überwachung und Verifizierung zu lösen, bis CCS alseffektive Minderungsoption betrachtet werden kann.

Die Einschätzungen der CCS-Potenziale zur globalen Emissions-reduktion unterscheiden sich für den Zeithorizont der kommendenfünf Jahrzehnte beträchtlich. Das IPCC (2005) weist darauf hin, dassder Einsatz von CCS überwiegend erst in der zweiten Hälfte diesesJahrhunderts zum Tragen kommen wird. Im Gegensatz dazu siehtder WBGU (2004) für 2050 bereits einen signifikanten jährlichenBeitrag von CCS zur Emissionsreduktion (> 15 Gt CO2). Pacala/Soco-low (2004) gehen von einer Emissionsreduktion von 3,7 Gt CO2 beimit CCS ausgerüsteten kohlegefeuerten Grundlastkraftwerken miteiner Kapazität von 800 MW und bei gasbetriebenen Grundlastkraft-werken mit einer Kapazität von 1.600 MW für die Mitte dieses Jahr-hunderts aus.

Wenn die technische Entwicklung massiv vorangetrieben wird,die noch ausstehenden Probleme (Zuverlässigkeit von Reservoirs,Infrastrukturen, rechtliche Fragen usw.) gelöst werden können undeine gesellschaftliche Akzeptanz für CCS erreicht wird, könnte CCS2050 mit mehreren Milliarden Tonnen CO2 zur Emissionsreduktionbeitragen. In einer Frühphase werden CCS-Anlagen in den Indus-trieländern etabliert; ihre weltweite Verbreitung wird von zahlrei-chen Faktoren abhängen (Infrastruktur, institutionelle Kapazitätenetc.). Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass CCS bislang nochzu den in der Entwicklungsphase befindlichen Optionen der Emis-sionsreduktion zählt, auch wenn das System zum Teil auf ausgereif-ten Komponenten beruht.

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5.7 ZusammenfassungDass eine einzelne Minderungsoption für sich genommen nicht aus-reichen wird, um die zur Stabilisierung der Treibhausgas-Konzen-trationen in der Atmosphäre notwendigen Emissionsreduktionenauf einem Niveau zu erreichen, das die globale Erwärmung auf einerträgliches Maß begrenzt, ist innerhalb der Klimadebatte allgemeinanerkannt. Weitaus schwieriger und kontroverser ist die Frage, obauf einzelne Optionen aus dem Maßnahmenkatalog verzichtet wer-den kann.

Wenn man von einer zu schließenden Lücke zwischen dem Busi-ness-as-usual-Trend für CO2-Emissionen und der notwendigenEmissionsreduktion (die zum Beispiel von der 2°C-Leitplanke be-stimmt wird) im Bereich von 25 bis 40 Gt CO2 für den Zeithorizont2050 ausgeht, dann zeigen überschlägige Schätzungen für die ver-schiedenen Minderungsoptionen folgende Resultate:

– etwa 5 Gt CO2 für eine Ausweitung der nuklearen Stromerzeu-gung bis zum Dreifachen der derzeitigen Kapazitäten;

– etwa 4 Gt CO2 für eine verbesserte Energieeffizienz von Gebäu-den;

– etwa 5 Gt CO2 für eine verbesserte Energie- und Materialeffizienzin der Industrie;

– etwa 7 Gt CO2 für eine verbesserte Energieeffizienz im Transport-sektor;

– etwa 2 Gt CO2 für eine verbesserte Effizienz im Energiesektor(noch ohne Brennstoffwechsel);

– etwa 3,6 Gt CO2 für den Brennstoffwechsel (Kohle zu Gas) imElektrizitätssektor;

– etwa 15 Gt CO2 (oder mehr) für erneuerbare Energien (im Elektri-zitäts- und Wärmesektor);

– zwischen 4 und 10 Gt CO2 für CO2-Abtrennung und -speiche-rung.

Insgesamt könnten bis 2050 Emissionsminderungsoptionen von 45bis 55 Gt CO2 (verglichen mit der Option Business-as-usual) verfüg-bar sein. In diesem Rahmen kann der Beitrag der Atomenergieselbst für einen sehr ehrgeizigen Emissionsreduktionspfad nicht alsunabdingbar angesehen werden. Allerdings bestehen einigeUnsicherheiten, Risiken und Interaktionen für alle Optionen.

361

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– Obwohl globale Erwärmung und Atomkraft unterschiedliche Risi-kostrukturen aufweisen, besteht die hauptsächliche Spannungzwischen diesen beiden Herausforderungen. Wenngleich für ein-zelne Optionen (von erneuerbaren Energien bis zu CCS) einigeRisiken für Gesundheit und Ökosysteme verbleiben, weist keineandere Minderungsoption solche Risiken für Gesundheit, Öko-systeme, soziale und wirtschaftliche Systeme auf, wie sie für dieAtomenergie unterstellt werden müssen.

– Im Gegensatz zu erneuerbaren Energien und CCS hat die Atom-energie zumindest für die nahe Zukunft noch einen starkenAnker im derzeit bestehenden System der Stromversorgung. Er-neuerbare Energien und CCS erfordern eine fundamentale Ver-änderung des Elektrizitätssystems: neue Basistechnologien, signi-fikant veränderte geographische Struktur, Netzintegration etc.Wenn jedoch die Atomkraft wesentlich zur Emissionsreduktionbeitragen soll, würde dies in zwei oder drei Jahrzehnten bedeu-tende Veränderungen in der Technologiekette erfordern: z.B.Wiederaufbereitung und Brütertechnologie. Bezüglich der Frage,ob dies überhaupt machbar wäre, bestehen jedoch noch sehr vieleUnsicherheiten. Die Veränderungen in der gesamten technologi-schen Kette der Atomkraft erfordern langfristige Vorbereitungs-maßnahmen (vom Bergbau bis zur Abfallentsorgung). Unbeant-wortet bleibt die Frage, ob alle Teile der technologischen Ketterechtzeitig entwickelt werden könnten.

– Die Anforderungen, die sich aus einem signifikanten Anteil vonerneuerbaren Energien und CCS am Stromversorgungssystemdurch erhöhte Flexibilität, Integration von Dezentralisierung undZentralisierung, Umgang mit intermittierender Stromerzeugung,Verbesserung der Infrastruktur für Elektrizität und CO2 ergeben,könnten mit den Anforderungen einer ausgeweiteten Atomkraft-nutzung wie große Einheiten, zentralisierte Netzstrukturen undgeringe Flexibilität in Konflikt kommen.

– Die einzigen Minderungsoptionen mit bereits starker Veranke-rung im Stromversorgungssystem sind die Brennstoffumstellungund die verbesserte Effizienz im Energiesektor (einschließlich derKraft-Wärme-Kopplung). Obwohl deren Beitrag im Zeitverlaufbegrenzt ist, könnten diese beiden Optionen am Beginn der Um-wandlung des Elektrizitätssystems eine Schlüsselrolle spielen.

– Die ökonomisch gesehen effektivsten Minderungspotenziale, alsodie verschiedenen Wege zur Verbesserung der Energieeffizienz, 362

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erfordern umfassende politische Interventionen wegen der man-nigfachen Hindernisse für die Implementierung von Energieeffi-zienzmaßnahmen. Eine andere Situation ergibt sich im Energie-sektor: Ein ausreichendes Niveau der CO2-Preise und geeigneteEmissionshandelspläne etc. könnten die notwendigen Maßnah-men in Gang setzen.

– Mittelfristige Optionen zur Emissionsminderung wie erneuer-bare Energien und CCS können mit der Atomenergie nicht kon-kurrieren, wenn deren externe Kosten wie Haftung und Versiche-rung, Stillegungsfonds etc. nicht angemessen in den Preis ein-fließen oder wenn andere Verzerrungen bestehen, z.B. direkteoder indirekte Subventionen. Wenn die Atomkraft in den näch-sten Jahrzehnten mehr als stagnieren soll – andernfalls wäre ihrBeitrag zur Emissionsreduktion unbedeutend –, wird sie sich miterheblichen ökonomischen Herausforderungen wegen der not-wendigen Veränderungen in der technologischen Kette konfron-tiert sehen. Auch aus dieser Perspektive könnte sich der nukleareWeg als Holzweg erweisen.

– Falls sich in einer Atomkraftanlage (einschließlich Anreiche-rungs-, Wiederaufbereitungs- und Entsorgungseinrichtungen)ein oder mehrere katastrophale Unfälle ereignen sollten, wäre dieAkzeptanz für den nuklearen Weg in kürzester Zeit verwirkt.Wenn Atomkraft einen signifikanten Beitrag zur Emissionsre-duktion leisten soll, könnte sich dieser Fall für die Klimapolitik alskatastrophal erweisen.

6 Schlüsselstrategien: Eine Fallstudie zu DeutschlandMit Blick auf die Optionen und Strategien zur Emissionsreduktionfür ein hoch industrialisiertes Land hat die Enquete-Kommission„Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globa-lisierung und der Liberalisierung“ des Deutschen Bundestags eineModellstudie in Auftrag gegeben, um unterschiedliche Strategienzur Erreichung einer CO2-Emissionsreduktion von 80 Prozent (inRelation zum Niveau von 1990) bis zum Jahr 2050 zu untersuchen(EK 2002). Das Hauptziel dieser Studie war, die Strukturen desEnergiebedarfs und ihre Implikationen im Rahmen einer ehrgeizi-gen Klimapolitik festzustellen. In der Analyse wurden vier unter-schiedliche Szenarios entwickelt (die auch einer umfassenden Sensi-bilitätsanalyse unterworfen wurden):

363

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– In einem „Referenz-Szenario“ wurden die bestehenden Vorge-hensweisen und Maßnahmen fortgeführt und keine ambitionier-te Klimapolitik für den Zeithorizont nach 2012 vorausgesetzt.

– In einem Szenario „REG/REN-Offensive“ sollte das Ziel einer80prozentigen CO2-Emissionsreduktion ohne Kohlenstoffabtren-nung und -speicherung oder Atomenergie erreicht werden (aus-gehend vom derzeitigen stufenweisen Ausstieg Deutschlands ausder Atomenergie).

– In einem Szenario „Umwandlungseffizienz“ wurde die OptionCO2-Abtrennung und -speicherung zusätzlich ermöglicht.

– In einem Szenario „Fossil-nuklearer Energiemix“ wurde dieOption Atomenergie zusätzlich zu allen anderen Minderungs-optionen zugelassen.

Die Modellstudie wurde mit unterschiedlichen Simulations- undOptimierungsmodellen durchgeführt, um aussagekräftige Resultatezu erhalten. Abbildung 7 gibt einen Überblick über die Ergebnisse.

Im Business-as-usual-Fall ist ein leichter Rückgang des Primär-energieverbrauchs zu verzeichnen, die CO2-Emissionen würden aufein Niveau von 29 Prozent unter jenem von 1990 sinken und einenzusätzlichen Emissionsrückgang von etwa 10 Prozent im Vergleichzum Niveau von 1998 erbringen. Die Struktur der Primärenergiebleibt mit einer Abnahme des Mineralölverbrauchs und einer leich-ten Zunahme der erneuerbaren Energien mehr oder weniger kon-stant. Diese Entwicklungstrends resultieren aus den demographi-schen Trends und der autonomen Verbesserung der Energieeffi-zienz der Volkswirtschaft.

Sollte auf der Basis verbesserter Energieeffizienz und einer Zu-nahme des Anteils der erneuerbaren Energien eine Emissionsreduk-tion von 80 Prozent (in Relation zum Niveau von 1990) erreicht wer-den, so würde der Primärenergieverbrauch signifikant abnehmen.Im Vergleich mit dem Referenz-Szenario würden sich die Energie-effizienz-Effekte auf 13 Prozent belaufen. Etwa 48 Prozent des ge-samten Primärenergieaufkommens würde von erneuerbaren Ener-gien gedeckt; vor allem Biomasse und Windkraft würden signifikan-te Beiträge leisten. Der Einsatz von Stein- und Braunkohle wäre bis2030 stufenweise abgebaut, der von Erdgas und Mineralöl würdedrastisch zurückgehen. Jedoch würden Erdgas und Öl im Jahr 2050noch immer 40 Prozent der gesamten Primärenergieversorgung ab-decken. Dies ist erwähnenswert, da sich wegen der geographischen 364

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Lage Deutschlands Elektrizitätsimporte aus Regionen mit einemattraktiveren Potenzial zur Stromerzeugung aus erneuerbarenEnergien auf 9 Prozent der gesamten Primärenergieversorgungbelaufen würden.

Abbildung 7

Primärenergieversorgung und Kohlendioxidemission, Szenarios ausder Fallstudie zu Deutschland

Quelle: EK (2002)365

15.000

10.000

5.000

0

a) Referenz-Szenario

b) 80% CO2-Emissionsreduktion – REG/REN-Offensive (RRO)

c) 80% CO2-Emissionsreduktion – Umwandlungseffizienz (UWE)

d) 80% CO2-Emissionsreduktion – Fossil-nuklearer Energiemix (FNE)

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1.000

500

0

1.500

1.000

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5.000

0

1990 1995 1998 2010 2020 2030 2040 2050

1990 1995 1998 2010 2020 2030 2040 2050

1990 1995 1998 2010 2020 2030 2040 2050

1990 1995 1998 2010 2020 2030 2040 2050

Steinkohle

Erdgas

Andere Erneuerbare

Mineralöl

Wasser, Wind & PV

CO2-Emissionen

Braunkohle

Atomenergie

Stomimporte

PJ

PJ

PJ

PJ

Mt

CO

2M

t C

O2

Mt

CO

2M

t C

O2

– Atomenergie

– Erdgas

– Mineralöl

– Braunkohle

– Steinkohle

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Würde man CCS als Minderungsoption mit einbeziehen, so würdesich eine deutlich andere Struktur des Primärenergieaufkommensergeben. Obwohl große Anstrengungen unterstellt werden, um dieEnergieeffizienz in den Endverbrauchssektoren zu verbessern, liegtdas Niveau der gesamten Primärenergieversorgung nur 4,5 Prozent-punkte unter dem des Referenz-Szenarios. Dies ist hauptsächlichauf den zusätzlichen, aus dem CCS-Verfahren resultierenden Ener-giebedarf zurückzuführen, das ab 2030 stufenweise eingeführt wirdund 2050 etwa 260 Mt CO2 vermeiden könnte. Allerdings wächstauch in diesem Szenario der Anteil der erneuerbaren Energienbeträchtlich an; bis 2050 erreicht er 38 Prozent. Der Fokus auf CCSmacht den Einsatz von Kohle für die Energieerzeugung wiederattraktiv, sobald dieses Verfahren verfügbar ist. Der Anteil desErdgases in der gesamten Primärenergiestruktur wird zum Großteildurch Energieeffizienz und erneuerbare Energie ersetzt.

Wenn sich die Emissionsreduktionsstrategie hauptsächlich aufAtomkraft konzentriert, wird diese die Primärenergiestruktur imJahr 2050 dominieren. Die Atomenergie würde die Kohle voll erset-zen, und CCS wäre nicht konkurrenzfähig. Dagegen werden einigeerneuerbare Energien attraktiv sein (hauptsächlich Biomasse undetwas Windkraft) und einen Anteil von 23 Prozent abdecken. DasNiveau des Primärenergieaufkommens liegt über dem des Referenz-Szenarios. Das ist hauptsächlich auf die energiestatistische Umrech-nung von Elektrizität in Primärenergie mit dem niedrigen Konver-sionsfaktor von 33 Prozent zurückzuführen (ist also diesbezüglichein statistisches Artefakt), aber auch darauf, dass keine weiteren(politischen) Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienzim Energie- und Endverbrauchssektor vorausgesetzt wurden. Mine-ralöl und Erdgas spielen in diesem Szenario nur eine Nebenrolle;der Transportsektor wurde mehr oder weniger vollständig auf inAtomkraftwerken produzierten Wasserstoff umgestellt.

Wie die Szenarioanalyse zeigte, hängt die Strategie der Emis-sionsreduktion nicht sehr stark von den Potenzialen der verschiede-nen Maßnahmenbündel ab. Abgesehen vom Nuklearszenario (zudem ernsthafte Fragen gestellt werden könnten, ungeachtet dessen,ob eine solche Entwicklung machbar ist oder nicht) ermöglicht dieVielzahl der Minderungsoptionen unterschiedliche Strategien. Inanderen Worten, das Portfolio für eine 80prozentige Emissions-minderung bis 2050 ist umfassender als notwendig.

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Abbildung 8

Kumulative und jährliche Pro-Kopf-Kosten für die verschiedenenSzenarios

Quelle: EK (2002)

Hinsichtlich der Kosten der Szenarios (Abb. 8) lassen sich zweiwesentliche Ergebnisse festhalten. Erstens bestehen für die Szena-rios verschiedene und signifikante Unsicherheiten. Aufgrund dervielfältigen Technologien, die in dem Szenario mit Fokus auf Ener-gieeffizienz und erneuerbare Energien zur Verwendung kommen(RRO), ist die Kostenspanne breiter als für jene Szenarios, in deneneinzelne Technologien eine dominantere Rolle spielen. Zweitenssind die Minderungskosten verglichen mit den gesamten System-kosten nicht zu vernachlässigen, aber noch immer auf einem akzep-tablen Niveau. Im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP – abso-lut) erreichen die Minderungskosten 2050 ein Niveau von maximal2 Prozent. Die Einschätzung des Nuklearszenarios (FNE) hängtgroßenteils von den Annahmen über die zukünftigen Kosten derAtomtechnologien ab. Wenn die Analyse auf eher „optimistischen“Annahmen beruht, ist der Einsatz der Atomenergie attraktiv. Wähltman hingegen eher „pessimistische“ Kostenparameter, dann könn-ten die Kosten mit den anderen Szenarios vergleichbar sein. Wennman jedoch zusätzlich zur Herausforderung des Klimawandels auch367

2.500

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0

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UWE RRO

Kumulative Kosten 1998-2050

gegenüber Referenz

(abdiskontiert auf 1998)

Jahreskosten

2050

(abdiskontiert auf 1998)

FNE RRO FNEUWE

€(1

998)

/E

W

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die externen Kosten der Atomenergie mit in Betracht zieht (beidenen eine breite Spanne von Mutmaßungen und kein Konsens exi-stiert), dann schrumpfen die Kostenunterschiede zwischen demNuklear- und den anderen Szenarios stark oder führen zu Kosten-vorteilen für die nicht nuklearen Szenarios.

Wenngleich nicht alle Resultate der Modellstudie zu Deutschlandauf andere Länder oder Regionen bezogen werden können und fürdiese Arten von Langzeit-Projektionen viele Unsicherheiten undSensitivitäten bestehen, lassen sich daraus doch einige wichtigeErkenntnisse ziehen:

– Es besteht eine Vielzahl von Minderungsoptionen, um Strategienfür ehrgeizige Emissionsreduktionspfade zu entwerfen. Energie-effizienz und erneuerbare Energien werden in jeder Strategieeine Rolle spielen; es gibt keinen Grund, die Option Atomenergieals unabdingbar anzusehen.

– Die Kosten für ehrgeizige Emissionsreduktionsziele sind nicht zuvernachlässigen, doch mit weniger als 2 Prozent des BIP im Jahr2050 bewegen sie sich auf einem Niveau, das im Vergleich zu denKosten der globalen Erwärmung akzeptabel ist.

– Neben dem Risiko der globalen Erwärmung und den Kosten derEmissionsminderung sind auch noch andere Risiken in Betrachtzu ziehen. Es besteht jedoch genügend Freiraum, um eine Stra-tegie zur umfassenden Risikominimierung zu implementieren.

Die laufende Debatte über die Höhe der externen Kosten der globa-len Erwärmung wie auch der Atomenergie zeigt, dass die Bewertungdes Problems von zentralen Wertentscheidungen abhängig ist. EineStrategie zur Risikominimierung mit ehrgeizigen Emissionsreduk-tionszielen und der Ausstieg aus der Atomenergie sind hinsichtlichder Potenziale machbar und hinsichtlich der Kosten akzeptabel.Falls die Atomenergie zu einer solchen Strategie einen signifikantenBeitrag leistet, wird ihre besondere Risikostruktur ehrgeizige Klima-strategien weniger robust und innovativ machen.

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7 SchlussfolgerungenDie globale Erwärmung ist wahrscheinlich eine der größten Heraus-forderungen des 21. Jahrhunderts. Das Ausmaß der potenziellenSchäden und die langfristigen Auswirkungen und Reaktionen bil-den eine spezielle Risikostruktur (Typ „Kassandra“). Jedoch ist derKlimawandel nicht das einzige Risiko für die Gesundheit, die Öko-systeme, die sozialen Strukturen und die Ökonomie. Die möglichenKonsequenzen der Atomenergie – z.B. katastrophale Unfälle, Abfall-entsorgung, Proliferation – bilden eine andere Risikostruktur (Typ„Damokles“), sollten jedoch ebenfalls bedacht werden. Dass eine ein-zelne Minderungsoption für sich genommen nicht ausreichen wird,um die zur Stabilisierung der Treibhausgas-Konzentrationen in derAtmosphäre notwendigen Emissionsreduktionen auf einem erträg-lichen Niveau zu gewährleisten, ist innerhalb der Klimadebatte all-gemein anerkannt. Weitaus schwieriger und kontroverser ist dieFrage, ob auf einzelne Optionen des Maßnahmenkatalogs verzichtetwerden kann. Eine Analyse der Interaktionen der verschiedenenMinderungsoptionen zeigt, dass sich, abgesehen von der Tatsache,dass die Atomenergie für ehrgeizige Emissionsreduktionsstrategienohnehin nicht notwendig ist, der nukleare Weg als falsch erweisenund sogar kontraproduktive Effekte entfalten könnte:

– Einige Anforderungen hinsichtlich Infrastruktur und Flexibilitätdes Elektrizitätssystems aus erneuerbaren Energien und CCSkönnten mit den Anforderungen der Stromerzeugung aus Atom-kraft, die beträchtlich erweitert werden müsste, in Konfliktkommen.

– Während für erneuerbare Energien und CCS mittelfristig Lern-effekte und Kostenreduktionen angenommen werden können,kommen auf die Atomenergie in diesem Zeitrahmen zusätzlicheKostenbelastungen zu, falls die technologische Kette der Atom-energie wegen Ressourcen- und Entsorgungsproblemen zumBeispiel grundlegend umgestaltet werden muss.

– Die wichtigsten Beiträge zu ambitionierten Emissionsreduktio-nen aus der Perspektive der Kosteneffizienz müssen von einerstarken Verbesserung der Energieeffizienz im Energie- und End-verbrauchssektor geleistet werden. Aufgrund vielfacher Hinder-nisse und Barrieren sind zur Entwicklung dieser Potenziale lang-fristige politische Anstrengungen notwendig. Die Kontroverseüber die Atomkraft verschleiert diese Notwendigkeit häufig.369

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Angesichts dieser komplexen Interaktionen sind sorgfältige kurz-,mittel- und langfristige Strategien notwendig und auch möglich.Wenn auf die Atomenergie auch kurzfristig verzichtet werden mag,sollte man sich im Elektrizitätssektor für die nächsten zwei bis dreiJahrzehnte auf die Brennstoffumstellung von Kohle auf Gas konzen-trieren und diese mit großen Anstrengungen bei der Verbesserungder Energieeffizienz in den Energie- und Endverbrauchssektorenkombinieren. Diese Strategie kann als Brücke bis zu dem Zeitraumangesehen werden, in der einerseits Lerneffekte bei den erneuerba-ren Energien deren Kosten signifikant gesenkt haben und anderer-seits Anstrengungen in Forschung und Entwicklung im BereichCCS Resultate zeigen. Die hier präsentierte Analyse zeigt, dass eineallgemeine Strategie zur Risikominimierung gestaltet und umge-setzt werden kann. Ehrgeizige Emissionsreduktionsziele könnenmit und ohne Atomkraft zu Kosten erreicht werden, die die Möglich-keiten moderner Gesellschaften nicht übersteigen. Für die notwen-dige fundamentale Transformation des globalen Energiesystemsdurch eine innovative und robuste Klimastrategie ist der Verzicht aufAtomkraft hilfreich.

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ABKÜRZUNGEN

ASME American Society of Mechanical EngineersBAU business as usualC KohlenstoffCCS carbon capture and storage

(CO2-Abtrennung und -speicherung)CO2 KohlendioxidDWR Druckwasserreaktor ECBM enhanced coalbed methane recoveryEJ Exajoule (Trillion Joule; z.B. 3,6 Exajoule = 1000 Tera-

wattstunden (TWh) = 1 Billion Kilowattstunden (kWh))EOR enhanced oil recovery GDP gross domestic product (BIP: Bruttoinlandsprodukt)GGR Gasgekühlter ReaktorGt Gigatonnen (Milliarden Tonnen)GWP global warming potentialHTGR HochtemperaturreaktorHWR Schwerwassermoderierter Reaktor (einschließlich

CANDU) (Heavy Water Reactor)IEA Internationale Energieagentur IGCC Integrated Gasification Combined CycleIPCC Intergovernmental Panel on Climate ChangeKTA Kerntechnischer AusschusskW KilowattkWh KilowattstundemSv MillisievertMt Megatonnen (Millionen Tonnen)MW Megawatt (= 1000 kW = 1 Million Watt)MWd Megawatttag (= 24.000 kWh)MWd/t Megawatttag je TonneMWe Megawatt elektrisch (elekrische Leistung eines Atomkraft-

werks)MWth Megawatt thermisch (Gesamtleistung eines Atomreaktors)OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit

und EntwicklungPJ Petajoule (1 PJ = 1 Billiarde Joule)PMBR Kugelhaufenreaktor (Pebble Bed Modular Reactor)ppm parts per millionppt parts per trillion375

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RBMK Russischer graphitmoderierter Siedewasser-Druck-röhrenreaktor (reaktor bolshoi moschtschnosti kipjaschtschij)

R&D research and development (Forschung und Entwicklung)

SFR Schneller Brüter SO2 SchwefeldioxidSWR Siedewasserreaktor t metrische TonneTWh Terawattstunden (Milliarden Kilowattstunden)UNFCCC United Nations Framework Convention on Climate

Change (Klimarahmenkonvention)yr year (Jahr)W WattWWER Russischer DWR (Wasser-Wasser-Energiereaktor)

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KURZBIOGRAPHIEN

Detlef Appel studierte Geologie in Hannover und Wien. Von 1971 bis1981 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Han-nover, wo er 1979 promovierte. Seit 1981 ist er als selbständiger Bera-ter und Gutachter im Bereich „Umweltbezogene Geowissenschaf-ten“ tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind konzeptioneller undobjektbezogener Grundwasser- und Bodenschutz, Umweltverträg-lichkeits-Beurteilungen, Deponiestandorte, Altlasten und Endlage-rung radioaktiver Abfälle.

Peter Diehl beschäftigt sich seit 1982 mit den Problemen der Uran-gewinnung, seit er sich bei einer regionalen Umweltgruppe gegendie Erschließung eines neuen Uranabbaugebietes in Südwest-deutschland engagierte. Seit 1995 leitet er das Uranprojekt desWorld Information Service on Energy (WISE), eine in Amsterdamansässige Nichtregierungsorganisation, die ein Netzwerk von Anti-Atomgruppen aus der ganzen Welt koordiniert.

Antony Froggatt arbeitet seit 1997 als unabhängiger Energie-Berater,speziell zu Energie- und Atomangelegenheiten für die EU und ihreNachbarstaaten. Er verfasste verschiedene Berichte und Aufsätzeüber die Energiepolitik der EU für diverse Organisationen, darunterdie Financial Times, die Grünen im Europäischen Parlament, Euro-safe (französische und deutsche Regulierungsbehörde), GreenpeaceInternational, Friends of the Earth und WWF. Außerdem hat erintensiv mit Umweltgruppen in Osteuropa zusammengearbeitetund sie beim Aufbau eines Netzwerks für effiziente Energienutzungunterstützt. Bevor er sich selbständig machte, arbeitete Froggattneun Jahre als Koordinator der Anti-Atomkampagnen von Green-peace International.

Jürgen Kreusch, Jahrgang 1952, Studium der Geologie in Marburgund Hannover, Schwerpunkte Geophysik, Ingenieur- und Hydro-geologie, ist seit 1980 Mitarbeiter der Gruppe Ökologie e.V. und dortgutachterlich und beratend tätig. Seine Schwerpunkte sind Deponie-rung radioaktiver und chemisch-toxischer Abfälle. Seit 1988 ist erzusätzlich einer der beiden Geschäftsführer der intac GmbH, einerGesellschaft für Beratung, Konzepte und Gutachten zu Technik undUmwelt.377

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Felix Chr. Matthes ist Diplom-Ingenieur und promovierter Politik-wissenschaftler. Nachdem er jahrelang in der Industrie tätig war,arbeitet er seit 1991 im Berliner Büro des Freiburger Öko-Instituts.Er publizierte eine Reihe von Studien zu nationaler und internatio-naler Energie- und Klimapolitik und ist in der Politikberatung aufnationaler und europäischer Ebene tätig. In den Jahren 2000 bis2002 war er wissenschaftliches Mitglied der Kommission „Nachhal-tige Energie im Rahmen der Globalisierung und Liberalisierung“ derdeutschen Bundesregierung.

Otfried Nassauer, geboren 1956, studierte Theologie und gründetedas Berlin Information Center for Transatlantic Security (BITS), daser seit 1991 leitet. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er als freierJournalist im Bereich militärischer und internationaler Sicherheits-angelegenheiten. Otfried Nassauer publizierte unter anderem zuAtomwaffen, NATO-Politik, europäische Sicherheit, Militärtechnolo-gie, Waffenkontrolle, Waffenhandel, Landminen, Kleinwaffen undSicherheitspolitik in Deutschland. Darüber hinaus arbeitet er alsKommentator und Experte zu den Themen Sicherheitspolitik undWaffenkontrolle für verschiedene Fernseh- und Radiosender. Er istHerausgeber und Autor zahlreicher Bücher. Mehr Informationen zuseinen Publikationen sind unter www.bits.de abrufbar.

Wolfgang Neumann ist Physiker. Er arbeitet im Atombereich derGruppe Ökologie, Institut für ökologische Forschung und Bildunge.V., in Hannover. Als Gutachter bzw. Sachverständiger berät Wolf-gang Neumann auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene Bür-gerinitiativen, Umweltschutzverbände, Parlamentsmitglieder, Be-hörden und Regierungen. In diesem Zusammenhang hat er eineVielzahl von Studien und Gutachten angefertigt. Seit 1999 ist er Mit-glied in den Ausschüssen „Ver- und Entsorgung“ der Reaktor-Si-cherheitskommission (RSK) sowie „Strahlenschutz bei Anlagen“ derStrahlenschutzkommission (SSK) des Bundesministers für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit. Vor diesen Berufungen war erbereits Mitglied der „Strahlenkommission“ des Bund für Umweltund Naturschutz Deutschland e.V.

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Gerd Rosenkranz, promovierter Werkstoffwissenschaftler undDiplom-Ingenieur mit Fachrichtung Metallkunde, arbeitete nacheinem Aufbaustudium der Kommunikationswissenschaften etwa 20Jahre als Journalist für überregionale Tages- und Wochenzeitungen;zuletzt bis 2004 fünf Jahre als Redakteur im Hauptstadtbüro desNachrichtenmagazins Der Spiegel mit dem ThemenschwerpunktUmwelt- und Energiepolitik. Seit Oktober 2004 ist er Leiter Politikder Deutschen Umwelthilfe e.V. in Berlin.

Steve Thomas ist Senior Research Fellow der Public Services Inter-national Research Unit der Universität Greenwich in London, wo erden Bereich Energieforschung leitet. Seinen Bachelor of Science inChemie erlangte er in Bristol. Thomas forscht seit mehr als 20 Jah-ren im Bereich Energiepolitik. Thomas ist Mitglied der Redaktionvon Energy Policy sowie weiterer energiepolitischer Fachzeitschrif-ten. Er ist Gründungsmitglied eines Netzwerks von Wissenschaft-lern in Nordeuropa (REFORM), das die politischen Perspektiveneiner Liberalisierung der Energiesysteme untersucht. In den Jahren2001 und 2002 war er Mitglied eines internationalen Ausschusses,der von der südafrikanischen Behörde für Mineralien und Energiedazu beauftragt war, eine Studie zur technischen und wirtschaft-lichen Realisierbarkeit eines Atomreaktors neuer Bauart, des PebbleBed Modular Reactors, zu erstellen.

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N E U E R S C H E I N U N G

Zur Lage der Welt 2005Globale Sicherheit neu denken

Seit den Anschlägen vom 11. September ist Sicherheit ein weltweitesThema. Sie wird in erster Linie als Schutz vor Terror und Gewalt ver-standen, der durch den Einsatz von Militär und die internationaleZusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten gewährleistetwerden soll. Der neue Bericht Zur Lage der Welt wendet sich denanderen ernsthaften Bedrohungen globaler Sicherheit zu: Klima-wandel, Bevölkerungsexplosion, Waffenhandel, Umweltzerstörungund Epidemien. Und er zeigt mögliche Wege der Zusammenarbeitin eine sichere Welt für alle.

Zur Lage der Welt ist ein jährlich erscheinender Report des an-gesehenen Worldwatch Institute in Washington. Diese Berichte sindseit fast 20 Jahren richtungsweisend in der Diskussion über einenachhaltige Entwicklung. Das weltweite Ansehen hat sich dasWorldwatch Institute durch seine präzisen Analysen, die Aktualitätder Themen und nicht zuletzt durch sein Engagement für neueAnsätze und Sichtweisen erworben. Zum dritten Mal erscheint „ZurLage der Welt“ in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung undGermanwatch. Der vollständige Report wird durch zwei Artikel derdeutschen Mitherausgeber über die Sicherheitspolitik der EU sowiedas Thema Sicherheit aus der Perspektive der Länder des Südens er-gänzt.

Worldwatch Institute (Hrsg.)in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch:Zur Lage der Welt 2005Globale Sicherheit neu denkenMit einem Vorwort von Michail Gorbatschowund weiteren Gastbeiträgen von Sunita Narain und Anja KöhneVerlag Westfälisches Dampfboot 1. Auflage, Münster 2005, zahlreiche Tabellen und Abbildungen,352 Seiten, Preis: € 19,90, ISBN 3-89691-614-9

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N E U E R S C H E I N U N G

ABC der Globalisierung

Alle reden von Globalisierung, aber nur die wenigsten wissen davonmehr. Das ABC der Globalisierung will globalisierungskritisches Wis-sen und wirtschaftliche Alternativen in knapper und eingängigerForm vermitteln. In 102 Stichworten von A wie Armut über G wieGlobal Governance bis Z wie Zivilgesellschaft erklären 72 Autorin-nen und Autoren, wie Globalisierung wirklich funktioniert.

Mit Beiträgen u.a. von Elmar Altvater, Claudia von Braunmühl,Sven Giegold, Ingrid Kurz-Scherf, Claus Leggewie und WernerRügemer.

Wissenschaftlicher Beirat von attac (Hrsg.)in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der taz:ABC der GlobalisierungVSA-Verlag, 1. Auflage, Hamburg 2005, 250 Seiten,KlappenbroschurPreis: € 10,–ISBN 3-89965-139-1

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N E U E R S C H E I N U N G

König Kunde ruiniert sein Land

Wir wollen gesunde und sichere Lebensmittel – und kaufen dasGrillfleisch beim Discounter. Wir beklagen den hohen Spritver-brauch der Autos – und verweigern uns den Sparautos. Wir wollendas Ende der nuklearen Energiewirtschaft – und zahlen unsereStromrechnung weiter an die Atomkonzerne. Da wundert es nicht,dass die größten Probleme auf den Gebieten Energie, Mobilität undLandwirtschaft durch die Nachfrage der Verbraucher verursacht wer-den. Der private Konsum ist bislang ein blinder Fleck auf der Karteder Protestbewegungen. Dabei geben die Verbraucher jeden Monatrund 80 Milliarden Euro für ihren Konsum aus. Politik mit dem Wa-renkorb kann Konzerne dazu zwingen, ihre Politik zu ändern – abersie schafft es kaum, nachhaltige Entwicklungen in Gang zu setzen.Bernhard Pötter, langjähriger Redakteur für Umwelt und Verbrau-cherpolitik bei der Berliner tageszeitung, beschreibt in seinem Buchdas Versagen des Verbrauchers in fast allen Bereichen des täglichenLebens. Er gibt praktische Tipps für Verhaltensänderungen, die vielbewirken, und macht Vorschläge, wie man Schnäppchenjäger in ver-antwortungsvolle Konsumenten verwandelt.

Bernhard PötterKönig Kunde ruiniert sein Land oekom verlag in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung 1. Auflage, München 2005, 160 Seiten, Preis: € 14,80ISBN 3-936581-92-4

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Zur Lage der Welt 2004Die Welt des Konsums

Für die Menschen in der westlichen Welt ist Konsum längst eineSelbstverständlichkeit geworden. Er bestimmt weitgehend unserenAlltag und unser Verhalten. Konsum ist der Motor unserer Wirt-schaft. Aber er deckt nicht nur unsere wichtigsten Bedürfnisse – aufdem Weg zu Glück und Wohlbefinden ist er vielen längst zum Le-bensinhalt geworden, gar zur Sucht: Der Mensch wird zum bloßenKäufer und Verbraucher. Und vergißt, daß dieser Lebensstil Folgenhat, die über das Hier und Heute weit hinausgehen.

Mit diesen Folgen für die Welt und jeden Einzelnen beschäftigensich die Beiträge des Worldwatch-Reports. Darüber hinaus skizziertder Bericht eine Ökonomie, die mit weniger Konsum funktioniert,und versucht eine Neudefinition vom „Guten Leben“. Der vollstän-dige Report wird durch zwei Artikel der deutschen Mitherausgeberüber das Spannungsverhältnis von Konsum und Ökologie sowie dasbrisante Thema Flugverkahr ergänzt.

Worldwatch Institute (Hrsg.)in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch:Zur Lage der Welt 2004Die Welt des KonsumsMit einem Grußwort von Renate KünastVerlag Westfälisches Dampfboot 1. Auflage, Münster 2004, zahlreiche Tabellen und Abbildungen,348 Seiten, Preis: € 19,90, ISBN 3-89691-570-3

Alle Bücher sind im Handel erhältlich sowie bei der Heinrich-Böll-Stiftung, Rosenthaler Str. 40/41, 10178 Berlin Tel. 030-285340, Fax 28534109 E-mail [email protected], Internet: www.boell.de 384