Krieg und Bürgerkrieg bei Lucan und in der griechischen Literatur (Studien zur Rezeption der...

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1. Einleitung 1.1. Voraussetzungen und Ziele der Studie 1.1.1. Lucans Bellum civile als Summe der Literaturgeschichte Das Lucan-Bild der vorliegenden Studie könnte im Licht der Forschungs- geschichte eher ungewohnt erscheinen. Hier wird weder der von seinem Onkel Seneca geprägte junge Stoiker noch der glühende Republikaner und Teilnehmer an der gescheiterten Pisonischen Verschwörung gegen Nero porträtiert. Die Übertragung von solchen aus der antiken biographischen Tradition gewonnenen Informationen auf die Interpretation von Lucans Bellum civile, die entscheidend zu dessen Reputation als eines anti- caesarianischen und anti-neronischen Epos beigetragen hat, wird bewusst vermieden. Die Lektüre will also unpolitisch sein im Sinne einer von ideo- logischen Positionen möglichst unvoreingenommenen Interpretation des Werks, nicht aber unpolitisch im Sinne einer Ausblendung des historischen und kulturellen Entstehungskontexts und der Thematik des Bürgerkriegs, die ja an sich ein eminent politisches Thema in der ursprünglichen Bedeu- tung des Wortes darstellt. Im Zentrum der Untersuchung soll das Bellum civile als literarisches Werk in seiner Position in der griechisch-römischen Literaturgeschichte stehen, ohne dass dabei der Autor Lucan ganz hinter seinem Text ver- schwinden soll. Neuere Untersuchungen haben Lucans Erzähler zur zentra- len Instanz des Werks gemacht, der durch seine widersprüchlichen Aussa- gen als unzuverlässig, nihilistisch und geradezu postmodern erfahren wird. 1 Der Erzähler wird in der Tat auch in dieser Studie eine wichtige _____________ 1 Lektüren, welche die internen Spannungen und Widersprüche in Lucans Erzähler und seinem Text hervorheben, der dadurch selbst zu einem Bürgerkrieg gerate, werden namentlich von Henderson (1987; überarbeitete Version 1998a), Johnson (1987), Masters (1992) und Bartsch (1997) vertreten; vgl. auch Dinter (2005a: 308f.; 2010: 183f.; 2012 passim), Feichtinger (2007) und Rolim de Moura (2010). Narduccis (1999) Kritik an solchen besonders im anglophonen Raum verbreiteten dekonstruktivistischen Lektüren schießt über das Ziel hinaus; vgl. dagegen die Evaluationen bei Martindale (1993: 71f.) und O’Hara (2006: 131-142). In jüngerer Zeit haben Sklenář (2003) und D’Alessandro Behr (2007) aus unterschiedlichen Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/9/14 4:15 PM

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  • 1. Einleitung

    1.1. Voraussetzungen und Ziele der Studie

    1.1.1. Lucans Bellum civile als Summe der Literaturgeschichte

    Das Lucan-Bild der vorliegenden Studie knnte im Licht der Forschungs-geschichte eher ungewohnt erscheinen. Hier wird weder der von seinem Onkel Seneca geprgte junge Stoiker noch der glhende Republikaner und Teilnehmer an der gescheiterten Pisonischen Verschwrung gegen Nero portrtiert. Die bertragung von solchen aus der antiken biographischen Tradition gewonnenen Informationen auf die Interpretation von Lucans Bellum civile, die entscheidend zu dessen Reputation als eines anti-caesarianischen und anti-neronischen Epos beigetragen hat, wird bewusst vermieden. Die Lektre will also unpolitisch sein im Sinne einer von ideo-logischen Positionen mglichst unvoreingenommenen Interpretation des Werks, nicht aber unpolitisch im Sinne einer Ausblendung des historischen und kulturellen Entstehungskontexts und der Thematik des Brgerkriegs, die ja an sich ein eminent politisches Thema in der ursprnglichen Bedeu-tung des Wortes darstellt.

    Im Zentrum der Untersuchung soll das Bellum civile als literarisches Werk in seiner Position in der griechisch-rmischen Literaturgeschichte stehen, ohne dass dabei der Autor Lucan ganz hinter seinem Text ver-schwinden soll. Neuere Untersuchungen haben Lucans Erzhler zur zentra-len Instanz des Werks gemacht, der durch seine widersprchlichen Aussa-gen als unzuverlssig, nihilistisch und geradezu postmodern erfahren wird.1 Der Erzhler wird in der Tat auch in dieser Studie eine wichtige

    _____________ 1 Lektren, welche die internen Spannungen und Widersprche in Lucans Erzhler

    und seinem Text hervorheben, der dadurch selbst zu einem Brgerkrieg gerate, werden namentlich von Henderson (1987; berarbeitete Version 1998a), Johnson (1987), Masters (1992) und Bartsch (1997) vertreten; vgl. auch Dinter (2005a: 308f.; 2010: 183f.; 2012 passim), Feichtinger (2007) und Rolim de Moura (2010). Narduccis (1999) Kritik an solchen besonders im anglophonen Raum verbreiteten dekonstruktivistischen Lektren schiet ber das Ziel hinaus; vgl. dagegen die Evaluationen bei Martindale (1993: 71f.) und OHara (2006: 131-142). In jngerer Zeit haben Sklen (2003) und DAlessandro Behr (2007) aus unterschiedlichen

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  • Einleitung 2

    Rolle spielen, doch immer im Sinne einer Kreation des historischen Autors Lucan. Ebenso wird auch Intertextualitt hier nicht nur als ein Phnomen betrachtet, das sich auf der Ebene des Textes und seiner Rezeption durch zeitgenssische und sptere Leserinnen und Leser vollzieht, sondern auch im produktionssthetischen Sinn der Ttigkeit des Autors verstanden, der ber ein breites Repertoire von Texten der griechischen und rmischen Li-teratur verfgt und dieses mit Hilfe allusiver Strategien als knstlerisches Mittel zur Textgestaltung und Rezeptionslenkung einsetzt.2

    Auch wenn das Bild von Lucan als dem tragisch endenden Originalge-nie, das mittels seiner jeden Rahmen sprengenden Rhetorik ungestm ge-gen die Tradition rebelliere, zu Recht als berholt gelten mag, sind Studien zu Lucans Stellung innerhalb der poetischen Tradition noch allzu oft von einer einengenden Sichtweise geprgt. Die Definition des Bellum civile als eines historischen Epos kann in zwei Richtungen fhren, je nachdem ob der Akzent auf historisch oder auf Epos liegt. So hat man auf der einen Seite die Frage nach den historiographischen Quellen Lucans, auf der an-deren die nach seiner epischen Umgestaltung des historischen Stoffes ge-stellt. In dieser Studie soll nicht das Verhltnis des Bellum civile zu den ohnehin groenteils verlorenen historischen Quellen, sondern die narrati-ve Gestaltung des Brgerkriegs als literarische Fiktion im Zentrum stehen. Auch dieser Zugang ist nicht neu, doch hat die weitgehende Beschrnkung auf die epische Gattung und die lateinische Dichtung meist in dieser Kombination zu der bekannten Definition von Lucan als einem Gegen-

    _____________ Positionen die Vorstellung von Lucans chaotischem Erzhler revidiert, doch wer-fen deren Interpretationsanstze andere Probleme auf (siehe unten Kap. 1.1.2.).

    2 Latinistische Anwendungen der modernen Intertextualittstheorie haben als Reak-tion gegen ein enges Verstndnis von Intertextualitt im ausschlielichen Sinn be-wusster Anspielungen den Fokus vom Autor auf den Text und dessen Rezipien-ten verlagert (Fowler 1997; Pucci 1998; Edmunds 2001), doch ist auch die Frage der Autorintention im Sinne des impliziten Autors und der rezeptionslenkenden Funktion intertextueller Bezge wieder in die Diskussion eingebracht worden (Hinds 1998: bes. 17-51; zu Lucan vgl. von Albrecht 1999: 1-32, Maes 2005: 1-3 und Gro 2013: 33-40; allgemein Broich/Pfister 1985: 20-25, 27, 31); vgl. auch den synthetischen Ansatz von Farrell (1991: bes. 3-25), die Methodendiskussion bei van Tress (2004: 1-23) und die umfangreiche Studie von Hutchinson (2013) zur Intertextualitt der rmischen mit der griechischen Literatur. Fr unsere Zwe-cke hilfreich ist vor allem das von Conte (1974a; 1986; vgl. Conte/Barchiesi 1989) etablierte Intertextualittsmodell einer poetischen Memoria, das sowohl spezifi-sche Prtexte (Modello-Esemplare) als auch allgemeine Gattungsmerkmale (Modello-Genere) einbezieht; dies entspricht grob den Begriffen der Einzeltext- und Systemreferenz (Broich/Pfister ebd. 48-58) oder Genettes Intertextualitt/ Hypertextualitt und Architextualitt (1993: 9-21). Zu den rmischen Begriffen der imitatio und aemulatio siehe gleich unten, zur gattungsberschreitenden Intertextualitt unten Kap. 1.2.2.

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  • Voraussetzungen und Ziele der Studie 3

    Vergil gefhrt, bei der neben literarischen vor allem ideologische Ge-sichtspunkte eine entscheidende Rolle spielten.3 Obwohl neuere Untersu-chungen auch Homer, das hellenistische Epos und weitere rmische Epiker neben Vergil, darunter insbesondere Ovid, als Gattungsmuster oder spezi-fische Prtexte einbezogen haben, hat dies nur zu einer Verschiebung des Fokus innerhalb des epischen Paradigmas, nicht aber zu einer grundstzli-chen Neuorientierung gefhrt.4 Lucans Auseinandersetzung mit allen sei-nen poetischen Vorgngern ist bisher noch nicht in ausreichendem Mae fr die Interpretation des Bellum civile fruchtbar gemacht worden.

    Die vorliegende Studie erweitert daher die Untersuchung der Inter-textualitt im Bellum civile in zwei Hinsichten: zum einen hin auf Lucans Rezeption der griechischen Literatur (sowohl in Form einer direkten Re-zeption griechischer Texte als auch ber die Vermittlung durch lateinische Vorgngertexte, die ihrerseits die griechischen Texte rezipiert haben), zum anderen auf die Integration von Elementen weiterer Gattungen neben dem Epos, insbesondere der Tragdie. Auch dieser in der griechischen Dichtung belesene Lucan scheint gewhnungsbedrftig zu sein, wurde die Autorin doch mit der Frage konfrontiert, wozu bei einem Werk mit einem so emi-nent rmischen Thema wie dem Brgerkrieg berhaupt die griechische Literatur herangezogen werden msse. Wie unten (Kap. 1.2.1.) ausfhrli-cher dargelegt werden soll, bedrfte jedoch eher die umgekehrte Position der Begrndung, weshalb Lucan eine Ausnahmeerscheinung in der rmi-schen Literaturgeschichte bilden und nicht in einen kreativen Wettstreit mit der griechischen Literatur eingetreten sein sollte, was zudem in eklatantem Kontrast zum Philhellenismus der neronischen Kultur stnde. Ebenso kann die Ausweitung des Blicks auf andere Gattungen dazu beitragen, die noch stets verbreitete Monopolisierung der epischen Tradition zu berwinden. Eine rein gattungsinterne Analyse wird dem Phnomen nicht gerecht, dass Intertextualitt in der antiken Literatur nicht erst seit dem Hellenismus regelmig die Gattungsgrenzen berschreitet. Der oft konstatierte unstabi-_____________ 3 Das von Thierfelder geprgte Schlagwort von Lucan als Gegen-Vergil (1970: 63;

    ursprnglich 1934: 14) ist bei von Albrecht zum ber-Vergil mutiert (1970: 281-289, bes. 281: Ultra-Vergil, ber-Aeneis; vgl. dens. 1999: 236); siehe jetzt er-neut Casali (2011) zum Konzept des Bellum civile als einer Anti-Aeneis. Nament-lich Narducci (1979; 1985; 2002) liest das Bellum civile als antiphrastischen Ge-genentwurf zur Aeneis; vgl. auch die Parallelstellensammlung bei Heitland (1878: cviii-cxxvi) und die Artikel von Thompson/Brure (1968) und Eigler (2005; 2010).

    4 Zu Lucans Ovid-Rezeption vgl. an neueren Studien Esposito (1994: 87-133), Wheeler (2002), Tarrant (2002), Papaioannou (2005) und Keith (2011); der Auf-satz von Nagyills (2006) zur Rezeption der Werke Ovids im neunten Buch ist da-gegen noch einem formalistisch-punktuellen Verstndnis von Allusion verhaftet. Allgemein zu Lucans Stellung innerhalb der epischen Tradition siehe unten Kap. 1.2.1.

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  • Einleitung 4

    le, polyphone Charakter des Bellum civile, der meist auf die stndig wech-selnde Position von Lucans Erzhler zurckgefhrt wird, knnte sich in dieser Optik auch als ein Produkt der Kombination oder des Konflikts verschiedener Gattungen und Prtexte erweisen.

    Dabei erhebt die vorliegende Studie keineswegs den Anspruch, den magischen Schlssel zu liefern, mit dessen Hilfe sich alle Probleme dieses komplexen Werks lsen lieen. Ihr Ziel ist bescheidener, doch hoffentlich realistischer. In Ergnzung anderer Anstze will sie einen bisher vernach-lssigten Aspekt des Bellum civile untersuchen, der jedoch nicht willkr-lich gewhlt oder von einer nur auf bestimmte Episoden begrenzten Bedeu-tung ist. Wie gezeigt werden soll, zieht sich insbesondere die Bezugnahme auf griechische und rmische Tragdien als ein integral mit dem Thema des Brgerkriegs verbundenes, bergreifendes Muster durch das ganze Werk und verleiht diesem eine weitere, durch den Rekurs auf die Prtexte konstituierte Bedeutungsebene. Intertextualitt im Bellum civile soll denn auch nicht im engen Sinne von punktuellen Allusionen verstanden werden, was bei der hier untersuchten Form der Intertextualitt zwischen Texten unterschiedlicher Sprachen und angesichts des Verlusts groer Teile der antiken Literatur ohnehin problematisch wre, sondern ist auf die Adapta-tion und Transformation von Motiven und Themen, die Charakterisierung von Figuren, Szenentypen und narrative Techniken auszuweiten.

    Die Hauptthese der Studie lsst sich folgendermaen zusammenfassen: Mythologisch-literarische Paradigmata von Krieg und Brgerkrieg, die Stoff der griechischen Literatur, insbesondere der Homerischen Epen, der attischen Tragdie und der hellenistischen Dichtung bilden und via diese Texte Eingang in die rmische Dichtung gefunden haben, sind untrennbar mit der fiktionalen Modellierung des historischen Gegenstands von Lucans Epos verwoben, prgen zentrale Aspekte von dessen Form und Inhalt und lenken durch intertextuelle Bezugnahmen auf Prtexte dessen Rezeption. Lucans literarische Gestaltung des Brgerkriegsthemas macht Gebrauch von poetischen Darstellungsstrategien, die fr seine Rezipienten vor ihrem Erwartungshorizont erkennbar sein sollen und von denen sich die Neuar-tigkeit des Bellum civile im kontrastierenden Vergleich abhebt.

    Dabei erscheint es mir wichtig, dass eine solche Herangehensweise nicht von auen an das Werk herangetragen ist, sondern sich aus dem Text selbst heraus begrnden lsst. Die bekannte hyperbolische Rhetorik von Lucans Epos soll hier daher nicht als ein rein stilistisches Merkmal, son-dern ebenso als eine Metapher fr seinen Umgang mit der literarischen Tradition verstanden werden.5 Die bella plus quam civilia des ersten

    _____________ 5 Vgl. etwa Schetter (1978: 71): Das Bellum civile ist ein Epos der Superlative. []

    An entscheidenden Stellen weisen berbietungsformeln auf das Nonplusultra gi-

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  • Voraussetzungen und Ziele der Studie 5

    Verses antizipieren demnach nicht nur intratextuell die Dimensionen des Brgerkriegs, der als suizidaler Bruderkrieg gegen innen und als kosmi-scher Weltkrieg gegen auen die Extreme auslotet, sondern stellen zu-gleich einen intertextuellen berbietungsgestus dar.6 Lucan charakterisiert seinen Brgerkrieg als einen Super-Krieg, der alle bis anhin in der grie-chisch-rmischen Literatur beschriebenen Kriege in sich umfasst und selbst noch bertrifft. Diese im Promium angekndigte Strategie wird im weiteren Verlauf des Werks durch explizite und implizite Bezugnahmen auf frhere Beispiele von Krieg und Brgerkrieg untermauert, welche na-hezu die gesamte Bandbreite der griechisch-rmischen Mythologie und Historie abdecken, wobei die antike Literatur ohnehin keine strikte Trenn-linie zwischen Mythos und Historie zieht. Die Dimension des Brgerkriegs als Bruderkrieg wird durch das rmische Exemplum von Romulus und Remus und dessen griechisches Pendant Eteokles und Polyneikes unterstri-chen, die Dimension als Weltkrieg durch den Verweis auf mythische und _____________

    gantischer Begebnisse hin [].; Hbner (1976: 113); Henderson (1987: 135; 1998a: 186f.). Nach Morford (1967: 40-44, am Beispiel der Sturmbeschreibung) zeigt vor allem Martindale (1976: bes. 48-51), dass Lucans Hyperbeln oft gezielt auf Innovationen gegenber der literarischen Tradition hinweisen. Ein vergleichba-res Phnomen lsst sich in dem von Seidensticker (1985) beschriebenen compara-tivus Senecanus erkennen, dem hyperbolischen Charakter der Seneca-Tragdien, durch den der Dichter in Wettstreit mit seinen Vorgngern und Zeitgenossen tritt (ebd. 132f.; vgl. unten Kap. 1.2.2.); Gro (2013: 274f.) schlgt als Analogie dazu den Begriff des comparativus Lucani vor. Vgl. auch Hardie (1986: 241-292) zu den Funktionen von Hyperbeln bei Vergil. Smolenaars (1994: xxxii) identifiziert eine vergleichbare Strategie in der Technik der multiple imitation bei Statius: He thus challenges all existent (epic) poetry, inviting his reader to judge the suc-cess of his creative imitation. Zur weiteren Verwendung des berbietungstopos in der sptantiken und mittelalterlichen Literatur siehe Curtius (1963: 171-174, bes. 173): Der groe berbieter Lucan wird selbst berboten durch Dante.

    6 Schrijvers (1989: 62-66) interpretiert die Hyperbel des ersten Verses im Kontext des Promiums, Nez Gonzlez (2006) setzt sie in Bezug zum ganzen Werk und bezieht plus quam dabei vor allem auf die suizidale Dimension des Brgerkriegs. Vgl. Roches Kommentar (2009: 57f., 100-103), der das Moment der Transgression betont. Zu den verschiedenen Dimensionen von Lucans Brgerkrieg und der ber-blendung mehrerer literarischer Genres vgl. auch Fantham (2010a). In Bezug auf ihre Diagnose von Lucans Verhltnis zur griechischen Literatur komme ich jedoch gerade zum entgegengesetzten Schluss, wie ich im Folgenden aufzuzeigen hoffe (2011: xix): If we look to Lucans Civil War for a reflection of either Homeric epic or any other literary inheritance from Greek epic or tragedy this quickly proves misleading. When the known world is torn apart by matching forces, and combat is polarized as the hatred of rival commanders, or the massed and anony-mous conflict of armies, there is little opportunity for grounding the narrative in myth or history, or for conscious opposition of Greek and Roman traditions. Hut-chinson (2013: bes. 329-333, 347-349) argumentiert dagegen ebenfalls dezidiert fr eine selbstbewusste Auseinandersetzung Lucans mit der griechischen Literatur.

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  • Einleitung 6

    historische Kriege von der Gigantomachie, dem Troianischen Krieg, dem Krieg um Theben und dem Zug der Argonauten ber die Perserkriege unter Xerxes und den Feldzug Alexanders des Groen bis zu den ueren und inneren kriegerischen Auseinandersetzungen der Rmischen Republik, den Punischen Kriegen unter Scipio und Hannibal, den Brgerkriegswirren zur Zeit der Gracchen, dem ersten rmischen Brgerkrieg unter Marius und Sulla und dem Partherfeldzug des Crassus. Lucan charakterisiert den rmi-schen Brgerkrieg dadurch als den grten aller bisherigen in der Literatur beschriebenen Kriege, dessen Dimensionen sich mit den herkmmlichen Mitteln der Dichtung nicht mehr erfassen lassen, da er alle bekannten Para-digmata sprengt (vgl. 1.68: immensumque aperitur opus).

    Neben dieser auf die gesamte griechisch-rmische Literaturgeschichte abzielenden berbietungsstrategie wird auch die zweite Komponente von Lucans Umgang mit der literarischen Tradition bereits im Promium ange-kndigt: sein Wettstreit mit der griechischen Literatur. Im Nero-Elogium weist Lucan die griechischen Inspirationsgottheiten Apollo und Dionysos-Bacchus zurck, da der vergttlichte Nero ihm gengend Kraft fr sein rmisches Gedicht zu schenken vermge (1.63-66: sed mihi iam numen; nec, si te pectore vates / accipio, Cirrheae velim secreta moventem / solli-citare deum Bacchumque avertere Nysa: / tu satis ad vires Romana in carmina dandas). Auf den ersten Blick scheinen diese Verse gerade die Ablehnung griechischer Stoffe zugunsten des rmischen Brgerkriegsthe-mas zu verknden; die Rhetorik der Passage greift jedoch zugleich auf die aemulatio-Topik der rmischen Dichter zurck, die fr sich in Anspruch nehmen, als Erste eine Gattung der griechischen Literatur in Rom einge-fhrt zu haben, und sich dabei mit einem griechischen Vorgnger messen.7 Die im Promium fehlende Hlfte des aemulatio-Topos liefert die Sphragis in der Troia-Episode des neunten Buches nach, wo Lucan den seinem Ge-

    _____________ 7 Narducci (2002: 26-28) weist zu Recht die Interpretation der Stelle als Ablehnung

    des neronischen Philhellenismus zurck, will darin jedoch seinerseits Polemik ge-gen die programmatische Hesiod-Nachfolge von Vergils Georgica sehen (2.176: Ascraeumque cano Romana per oppida carmen), einem der Beispiele fr den aemulatio-Topos (weitere bei Reiff 1959: 9-22, 62-69, 77-82; Huler 1976: 303f. und 1978: 58-60; Russell 1979; Zintzen 1987; Hinds 1998: 52-63; Vogt-Spira 1999; Harrison 2007: 28-30; Hutchinson 2013: 5-42). Reed (2011: bes. 23) liest Romana carmina dagegen als bewusste Selbsteinordnung Lucans in die rmische Tradition des historischen Epos im Gegensatz zur griechischen Epik. Statius nimmt Lucans Rhetorik auf, wenn er in Silvae 2.7 den mythologischen Stoffen an-derer Dichter, die nach Lausberg (1985: 1614 Anm. 198) auf die drei wichtigsten griechischen Epen die Ilias, die Odyssee und die Argonautika verweisen, das rmische Thema des Bellum civile gegenberstellt (48-53); auch dort ist aber kei-neswegs eine Abkehr von der griechischen Literatur impliziert (siehe unten Kap. 1.2.1.).

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  • Voraussetzungen und Ziele der Studie 7

    dicht von den lateinischen Musen versprochenen unvergnglichen Nach-ruhm dem Ruhm Homers an die Seite stellt (9.983-986: nam, si quid Latiis fas est promittere Musis, /quantum Zmyrnaei durabunt vatis honores, / venturi me teque legent; Pharsalia nostra / vivet, et a nullo tenebris damnabimur aevo). Diese Passage enthlt die einzige explizite Erwhnung der Musen im Werk und stellt somit wie die Anrufung Neros das quiva-lent eines Musenanrufs dar; ebenso ist Homer der einzige im Werk na-mentlich erwhnte Dichter.8 Die Verbindung von rmischen Musen und griechischem Vorbild ist in dem Sinne gedeutet worden, dass Lucan sich unter polemischer Verleugnung seiner Vorgnger Vergil und Ennius, der sich seinerseits als Reinkarnation Homers prsentiert hatte, durch seine di-rekte Homer-Nachfolge als wahrer rmischer Homer proklamieren wol-le.9 Lucans aemulatio geht jedoch auch darber noch hinaus: Der Selbst-vergleich mit Homer als dem Gattungsbegrnder der epischen Schlssel-tradition und berhmtestem Dichter berhaupt bildet den Hhepunkt von Lucans berbietungsstrategie gegenber der gesamten griechischen und rmischen Literaturgeschichte, dem von Friedrich Gundolf und Eduard Fraenkel gerhmten Pathos Lucans.10

    _____________ 8 Die beiden einzigen weiteren namentlich genannten Schriftsteller wenn man von

    den Brgerkriegsteilnehmern absieht sind ebenfalls Griechen: der Philosoph Pla-ton (10.181-183) und der Astronom Eudoxos (10.187), die beide im Rahmen des Nil-Exkurses von Caesar als von ihm selbst bertroffene gelehrte Vorgnger cha-rakterisiert werden (siehe unten Kap. 5.2.), was in Parallele zur berbietungsstra-tegie des Dichters Lucan steht.

    9 So etwa Huler (1978: 59); hnlich Zeitlin (2001: 236-239); Hutchinson (2013: 27, 35-38, 41f., 329f.). Tesoriero (2005: 211) weist auf die fiktive Datierung der Troia-Episode vor der Entstehung der Aeneis hin. Dagegen von Albrecht (1970: 272): Es wre freilich bereilt, wollte man aus dieser Stelle auf eine besondere In-tensitt von Lucans Homernachfolge schlieen. Homer erscheint hier weniger als Vorbild denn als Sinnbild fr den epischen Dichter und seine verewigende Kraft.; Walde (2003: 147): Fern davon, dass dies Hme gegen oder Herabsetzung von Vergil wre, ist Homer wie im Promium der Annales des Ennius eine Chiffre fr das epische Dichten. Vgl. van der Keur (2014) zu Silius Selbstprsentation als Romanus Homerus. Zu Homer als Prtext des Bellum civile siehe unten Kap. 1.2.1., zur Interpretation der Sphragis im Kontext der Troia-Episode Kap. 4.3.1.

    10 Gundolf (1970: 10; ursprnglich 1924: 32): Lucan wetteifert mit Homer und Ver-gil, und seine Pharsalia sollen als Gigantenkampf die Ilias, als dichterische Rede-kunst die Aeneis berbieten.; Fraenkel (1970: bes. 21-24; ursprnglich 1927); wiederaufgenommen bei Seitz (1965: bes. 214f.) und Lausberg (1985: 1566, 1585f., 1611-1614). Vgl. auch Gro (2013: 83): Lucan stilisiert sich hier zum zweiten Homer, Caesar zum Achilles alter und Pharsalus zur neuen Iliupersis. So gilt das Diktum des Erzhlers vom multis utile bellum [1.182] auch fr den Autor selbst. Zur Vorstellung von Homer als Quelle aller Gattungen vgl. Quintilian Inst. or. 10.1.46 mit Brink (1972: 553-556) und Williams Kommentar (1978: 85-99) zum Kallimacheischen Apollon-Hymnos; vgl. auch unten Kap. 4.3.2.

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  • Einleitung 8

    In diesem Sinne lassen sich nicht nur die Passagen, die sich explizit zur aemulatio des Bellum civile uern, sondern auch weitere Stellen als im-plizite berbietungsgesten gegenber Homer und der von ihm ausgehen-den literarischen Tradition interpretieren. So bertrifft nach Aussage des Erzhlers die im Truppenkatalog des Pompeius (3.169-297) aufgezhlte Menge und Vielfalt der Vlker alle frheren Unternehmungen, von den Heeren der Perserknige Kyros und Xerxes bis zur Flotte des Agamemnon (3.284-290: non, cum Memnoniis deducens agmina regnis / Cyrus et effusis numerato milite telis / descendit Xerses, fraternique ultor amoris / aequora cum tantis percussit classibus, unum / tot reges habuere ducem, coiere nec umquam / tam variae cultu gentes, tam dissona vulgi / ora).11 Das letzte Beispiel evoziert neben dem mythologischen Przedenzfall des Troiani-schen Krieges auch ein spezifisch literarisches Paradigma, den Schiffskata-log aus dem zweiten Buch der Ilias (2.484-760), der ja auch formal den Anknpfungspunkt fr Lucans Katalog bildet.12 Durch die Aussage, dass Pompeius mit seiner beispiellosen Truppenmacht die ganze Welt mit in den Untergang gerissen habe (3.169f.: totum per orbem; vgl. 290-292; 296f.), stellt Lucan sein Epos somit auch ber Homer und die von diesem begrndete epische Katalogtradition.

    Eine weitere Passage aus dem vierten Buch bezeichnet das durch den Massensuizid der Soldaten bekannt gewordene Flo des Caesarianers Vul-teius als das berhmteste Schiff der Welt (4.573f.: nullam maiore locuta est / ore ratem totum discurrens Fama per orbem), ein Titel, der eigentlich

    _____________ 11 Die Beispiele von Kyros und Xerxes evozieren Herodot, Aischylos Perser (vgl.

    die Truppen- und Gefallenenkataloge 1-64 und 302-330) und eventuell das histori-sche Epos Persika des Choirilos von Samos (so Khlmann 1973: 292; Huler 1978: 60); numerato milite (3.285) verweist wohl auf die Heereszhlung des Xer-xes bei Herodot (7.60, wo allerdings eine andere Zhlmethode beschrieben wird; vgl. Hunink 1992: 137 ad loc.) und den anschlieenden Truppen- und Schiffskata-log (61-99). Vgl. die weiteren Anspielungen im Truppenkatalog des Pompeius auf Salamis (3.183), Kroisos (272) und die Massageten (283) und berhaupt die zahl-reichen bereinstimmungen mit den bei Herodot genannten Vlkern des Ostens. Zu BC 3.284-290 siehe auch unten Kap. 2.2.6. In seiner Feldherrenrede vor Phar-salos reproduziert Pompeius diesen berbietungsgestus (7.360-362: primo gentes oriente coactae / innumeraeque urbes, quantas in proelia numquam, / excivere manus. toto simul utimur orbe). Zu vergleichbaren selbstreflexiven berbietungs-gesten in flavischen Truppenkatalogen vgl. C. Reitz (2013: 237-240).

    12 Lausberg (1985: 1577): Mit dem Wort classibus ist auch hier gewissermaen wie-der das Stichwort zitiert. Hutchinson (2013: 348) liest auch den negativen Erzhlerkommentar zu dem im Schiffskatalog nicht erwhnten Pharsalos als Reich Achills in BC 6.349 (melius mansura sub undis) im Sinne einer berbie-tung Homers durch den Brgerkrieg; vgl. ebd. 330f. zu Lucans Caesar als berbie-ter des homerischen Achilleus. Zu weiteren Anspielungen auf den Schiffs- und den Troerkatalog der Ilias siehe unten Kap. 2.2.6. und 2.3.2.

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  • Voraussetzungen und Ziele der Studie 9

    der Argo zukommt, wie bereits die Odyssee bezeugt (12.70: ). Damit bertrgt Lucan ein bereits im Prtext angelegtes Kon-kurrenzmotiv den impliziten Vergleich von Odysseus Schiff mit der Argo auf seinen eigenen Text: Das Flo des Vulteius wird die Berhmt-heit der mythischen Schiffe, die diese durch die literarischen Gestaltungen erlangt haben, dank dem Bellum civile noch bertreffen (maiore ore, totum per orbem).13

    Ein analoges Verfahren findet sich zu Beginn des sechsten Buches, wo der von Caesar um das Lager des Pompeius bei Dyrrhachium errichtete gigantische Wall (6.29-47) den von Gttern erbauten Stadtmauern Troias und den Ziegelmauern Babylons, einem der sieben Weltwunder, gegen-bergestellt wird (6.48-50: Nunc vetus Iliacos attollat fabula muros / ascri-batque deis; fragili circumdata testa / moenia mirentur refugi Babylonia Parthi).14 Die berbietungsstrategie nimmt in diesem Fall die Form einer Konkurrenz mit sagenhaften Wundern an (attollat; mirentur), die durch Caesars Wall in den Schatten gestellt werden. Auch hier lsst sich der Hin-weis auf die vetus fabula im Sinne einer alexandrinischen Funote als intertextuelle Referenz an die Ilias lesen.15 Lucan reproduziert dabei er-neut einen im Prtext selbst angelegten Gestus, da dort die Mauern Troias ebenfalls zu einem menschengemachten Bauwerk in Konkurrenz treten

    _____________ 13 Vgl. Asso (2010: 212 ad loc.): The hyperbole betrays the poets ambition of com-

    peting with Argo, the ship whose fame wins over all other ships.; hnlich Leigh (2009: 245). Dinter (2012: 127f.) liest die anfngliche Bezeichnung von Vulteius Flo als dem dritten (BC 4.452f.) als Hinweis auf die Argo als das erste literari-sche Schiff im Kontext von Lucans poetics of repetition. Auch Esposito (2001: 61f.) interpretiert maiore ore als metaliterarische Anspielung auf das epische Stilregister, versteht den Komparativ jedoch absolut und nicht als berbietung an-derer Epen; in seinem Kommentar (2009: 267 ad loc.) verweist er auf die ampli-ficatio als Kennzeichen der autocoscienza poetica di Lucano. Die Charybdis aus der Odyssee wird zu Beginn der Vulteius-Episode ebenfalls in einem berbie-tungsgestus erwhnt (4.460f.: contorti verticis undae / Tauromenitanam vincunt fervore Charybdim; vgl. Lausberg 1985: 1577; Esposito 2009: 225f. ad loc.).

    14 Das zweite Beispiel, die Mauern Babylons, verweist wohl erneut auf Herodot (1.178-181), ebenso wie der Vergleich des Walls mit der berbrckung des Hel-lesponts durch Xerxes in 6.55f. (Hdt. 7.33-36); vgl. den analogen Vergleich bei Caesars Bau einer Mole in Brundisium in 2.672-677.

    15 Von Albrecht (1970: 274), Lausberg (1985: 1577) und Sklen (2003: 45-47) inter-pretieren die Passage als berbietung von Homers Mythos durch die historische Realitt, wobei Sklen zudem Iliacos als Wortspiel mit der Ilias und die an-schlieende Pest in Pompeius Lager (6.88-103) als Anspielung auf die Pest in Ili-as 1.9-53 deutet. Saylor (1978) bercksichtigt diese Dimension in seiner Analyse der verschiedenen Assoziationen des Walls nicht; vgl. dagegen die metaliterarische Lektre der Befestigungswerke im Bellum civile durch Masters (1992: 25-42). Zum Begriff der Alexandrian footnote vgl. Hinds (1998: 1-5).

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  • Einleitung 10

    mssen: Aus Furcht, dass der Ruhm des von den Achaiern um das Schiffs-lager errichteten Walls die von ihnen selbst erbauten Stadtmauern der Ver-gessenheit berlassen werde, beschlieen Poseidon und Apollon, den Wall nach Ablauf des Kriegs durch eine riesige Flutwelle zu zerstren (Il. 7.433-466; 12.3-35; vgl. 15.360-366).16 Whrend es den Gtter in der Ilias noch gelingt, das menschliche Bauwerk spurlos zu vernichten, sind im Bellum civile die gttlichen Mauern selbst zu einer vetus fabula geworden, und in Troia sind kaum mehr Spuren davon zu erkennen (9.965: magnaque Phoebei quaerit vestigia muri) der Ruhm gehrt jetzt Caesars Wall und damit Lucans Epos.

    Ebenfalls im sechsten Buch tritt die Super-Magierin Erictho auf, die als thessalische Seherin/Dichterin (6.651: Thessala vates) eine textinterne Doppelgngerin des Dichters Lucan darstellt. Wie ihr Schpfer durch seine berbietung der poetischen Tradition zeichnet sie sich durch ihre Innova-tionen gegenber der magischen Tradition von Zaubersprchen aus (6.507-509, bes. 509: inque novos ritus pollutam duxerat artem; 577f.: illa magis magicisque deis incognita verba / temptabat carmenque novos fingebat in usus) und bertrifft damit die ohnehin bereits alle Vorstellungskraft ber-steigenden Fhigkeiten der thessalischen Hexen nochmals bei weitem (6.436f.; vgl. dazu unten Kap. 2.1.).17

    Wenn man schlielich noch den Hinweis auf den thebanischen Bru-derkrieg im Prodigienkatalog des ersten Buches hinzunimmt die heilige Flamme, die das Ende der Feriae Latinae anzeigt, spaltet sich in zwei Zun-gen in Nachahmung des Feuers, das den gemeinsamen Scheiterhaufen der feindlichen Brder Eteokles und Polyneikes verzehrte (1.550-552: osten-dens confectas flamma Latinas / scinditur in partis geminoque cacumine surgit / Thebanos imitata rogos) , verweist Lucan in den metaliterarischen Begriffen von imitatio und aemulatio auf alle drei groen Sagenkreise,

    _____________ 16 Zum Rivalittsmotiv in der Ilias vgl. Grethlein (2008: 33); zur Interpretation der

    Stelle im Kontext der Troia-Episode siehe unten Kap. 4.3.3. mit Anm. 187. Auch Lucan weist wie Homer auf die Vergnglichkeit des Bauwerks hin, wenn er den Ausbruch des Pompeius aus dem Wall mit einer Flutwelle vergleicht (6.263-278; vgl. 6.19-21 zur Fragilitt von menschengemachten Befestigungen im Vergleich mit natrlichen).

    17 Zu Erictho als vates siehe vor allem OHiggins (1988: 217-223) und Finiello (2005: 178-182); vgl. Dinter (2012: 62-75) und Hardie (2012: 179, 391f.) zu Eric-tho als Verkrperung der ,Fama. Zu ihren innovativen Fhigkeiten vgl. Masters (1992: 205-215, bes. 214), Korenjak (1996: 116, 135, 157f.), Hmke (1998: 128), de Nada (2000: 151-161), Tesoriero (2000: 11, 110), Finiello (ebd. 178f.) und be-sonders Arweilers (2006) metaliterarische Lektre Ericthos als einer selbstreferen-tiellen Figur der Hyperbel im Bellum civile. Tola (2011) war mir nicht zugnglich.

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  • Voraussetzungen und Ziele der Studie 11

    den Troianischen Krieg, den Theben-Zyklus und die Argonautensage.18 Diese Anspielungen lassen sich zugleich als Hinweise auf die literarischen Bearbeitungen dieser Mythen in den Homerischen Epen, der attischen Tra-gdie und den Argonautika des Apollonios Rhodios sowie deren Adaptati-onen in der rmischen Literatur lesen. Die Lektre dieser Passagen im Sinne einer immanenten Poetik unterstreicht somit die Selbstdarstellung von Lucans Bellum civile als Summe und zugleich berbietung der antiken Literaturgeschichte, die nicht nur die durch Homer begrndete epische Tradition umfasst, sondern alle Gattungen mit einschliet.

    1.1.2. Einordnung der Studie in die Lucan-Forschung

    Innerhalb der gegenwrtigen Forschungslandschaft drfte der Fokus der vorliegenden Studie nicht mehr ganz so fremd anmuten. Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich ein Aufbruch und Wandel in der Lucan-Forschung vollzogen, der ihr neue Fragestellungen und Interpretati-onsanstze erffnet hat. Das eingangs in bewusst plakativen Zgen skiz-zierte Bild eines stoischen und republikanischen Lucans hat dabei einige entscheidende Nuancierungen und Revisionen erfahren. Der Frage nach dem Verhltnis des Bellum civile zum kaiserzeitlichen Stoizismus haben sich in jngster Zeit gleich mehrere Monographien gewidmet, die jedoch zu inkommensurablen Ergebnissen gelangen. Whrend Robert Sklen (2003) in Lucans Ethik und Kosmologie und insbesondere in seiner termi-nologischen Verwendung von virtus einen systematischen anti-stoischen Nihilismus erkennen will, zieht Francesca DAlessandro Behr (2007) in ihrer Untersuchung zur Funktion der Apostrophen im Bellum civile die dia-metral entgegengesetzte Schlussfolgerung, dass Lucan eine positiv konno-tierte stoische Ethik und Poetik als didaktisches Mittel zur Rezeptionssteu-erung einsetze. Claudia Wieners Monographie (2006) zum Problem von Entscheidungsfreiheit und Determinismus bei Lucan und in Senecas Tra-gdien stellt das Weltbild des Bellum civile ebenfalls in einen engen Bezug zu zeitgenssischen Diskursen der kaiserzeitlichen Stoa und liest die bel-letristischen Werke beider Autoren als eine intellektuell anspruchsvolle

    _____________ 18 Zu dieser Interpretation von BC 1.550-552 siehe Ambhl (2005a: 261f.) und unten

    Kap. 2.2.2. Der Titel des Artikels von Green (1991) scheint ebenfalls eine Analo-gie zwischen der Rivalitt von Caesar mit Pompeius (1.120: stimulos dedit aemula virtus) und von Lucan mit Homer zu implizieren. Zu imitatio und aemulatio als rmischen literaturkritischen Begriffen vgl. Reiff (1959), Linn (1971: 1-5) und Hutchinson (2013: 28-30).

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  • Einleitung 12

    Art stoischer Moraldidaxe.19 Demgegenber hat Jula Wildberger in ihrem Beitrag zu Stoizismen als Mittel der Verfremdung (2005) die attraktive Lsung vorgeschlagen, dass Lucan Elemente der stoischen Philosophie ge-rade nicht im Sinne einer affirmativen oder kritischen philosophischen Auseinandersetzung einsetze, sondern sich verschiedener Kombinationen und Inversionen des stoischen Zeichensystems bediene, um poetische Ef-fekte zu erzeugen.

    Ein vergleichbar zwiespltiges Bild ergibt sich bei der Frage nach der politisch-ideologischen Tendenz des Bellum civile. Der angebliche Repub-likanismus Lucans, der lange Zeit als unbestrittene und ungeprfte Voraus-setzung der Interpretation die Einschtzung von Pompeius und vor allem Cato als positiven republikanischen Helden und von Caesar als negativem, tyrannischem Anti-Helden prgte, ist aufgrund der Beobachtung in Frage gestellt worden, dass die republikanische Haltung vor allem ein Merkmal der zudem von inneren Widersprchen nicht freien Erzhlerfigur im Bel-lum civile sei und dass alle drei Hauptfiguren eine komplexe Charakterisie-rung mit positiven und negativen Zgen aufwiesen.20

    Angesichts dieser Aporien erscheint eine von ideologischen Prmissen mglichst unbelastete Fokussierung auf den literarischen Charakter des Bellum civile umso wnschenswerter. Das Verhltnis von Lucans Epos zu verschiedenen poetischen Traditionen und die im Werk ihren Ausdruck findende sthetik sind in den letzten Jahren erfreulicherweise vermehrt ins Blickfeld der Forschung getreten. Die zwei italienischen Sammelbnde Interpretare Lucano (Esposito/Nicastri 1999) und Lucano e la tradizione dellepica latina (Esposito/Ariemma 2004), gefolgt vom Basler internati-onalen Lucan-Kongress (Walde 2005) und der Rostocker Tagung zu Lu-cans Bellum civile zwischen epischer Tradition und sthetischer Innovation (Hmke/Reitz 2010) ziehen eine Bilanz der bisherigen Forschung und be-schreiten neue Wege jenseits der ausgetretenen Pfade.21 Daneben ist auch _____________ 19 Zitat: Wiener (2006: 17). Forschungsberblicke zu Lucans Verhltnis zum Stoi-

    zismus bieten Wiener (ebd. 5-11; vgl. dies. 2010) und Wildberger (2005: 56-59). 20 Zur ambivalenten politischen Haltung von Lucans Erzhler vgl. Masters (1994)

    und Leigh (1997), zum emotionalen Charakter seiner politischen uerungen auch Bartsch (2011). In Abweichung von der durch Martis (1945) stoisches Modell und Ahl (1976) vertretenen communis opinio, der sich auch Radicke (2004: 106-140) letztlich wieder anschliet (mit gewissen Nuancierungen auch Nosarti 2002-2003), deutet etwa Galimberti Biffino (2002a und b) Caesar und Pompeius und in gewis-sem Sinn auch Cato als Antihelden. Zur komplexen Charakterisierung von Lucans Figuren vgl. Walde (2003: 148; 2006) und Maes (2009); Marks (2010a: bes. 16) hlt dagegen am generell negativen Bild Caesars in der neronischen Literatur fest. Siehe dazu auch unten Kap. 1.2.1. und 1.2.2.

    21 Zum Stand und den Desideraten der Forschung siehe besonders die Einleitungen von Esposito (1999), Walde (2005a) und Franchet dEsprey (2010) zu den von

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  • Voraussetzungen und Ziele der Studie 13

    die zum Teil bereits in diesen Publikationen thematisierte Rezeption von Lucans Epos fr dessen Interpretation fruchtbar gemacht worden, so die Tradition der Scholien in einem von Paolo Esposito herausgegebenen Band (2004) und die Lucan-Rezeption von der Antike bis ins 19. Jahrhundert in einem Sammelband von Christine Walde (2009). Auch der von Paolo Asso herausgegebene Brills Companion to Lucan (2011), der neben den be-kannten Forschungsfragen zu Autor und Werk selektive Fallbeispiele zur Intertextualitt und Leitthemen des Bellum civile aufgreift, enthlt einige Beitrge zur Rezeption, whrend die unter dem Titel Lucain en dbat: Rhtorique, potique et histoire versammelten Akten des Kolloquiums von Bordeaux (Devillers/Franchet dEsprey 2010) die Interpretation des Werks vor allem im historischen, literarischen und ideologischen Kontext der neronischen Epoche verankern. Einem speziellen Thema, der Bezug-nahme Lucans auf gelehrte und naturwissenschaftliche Diskurse, widmet sich der Band Doctus Lucanus (Landolfi/Monella 2007).

    Besondere Aufmerksamkeit hat die literaturwissenschaftlich orientierte Forschungsrichtung der Narratologie und Poetik des Bellum civile und der Rolle des Erzhlers gewidmet und damit teilweise Aspekte wieder aufge-nommen, welche die ltere Forschung meist unter dem Begriff der Rheto-rik erfasst hatte.22 Obwohl dank diesen Studien die Eigenarten von Lucans Brgerkriegsepos vor dem Hintergrund der antiken Literaturgeschichte ein

    _____________ ihnen herausgegebenen Bnden sowie Braunds Einleitung (2010) zum postum von Charles Tesoriero herausgegebenen Lucan-Band in der Reihe Oxford Readings in Classical Studies; vgl. auch Walde (2003). Zur lteren Forschung siehe die fort-laufenden Forschungsberichte von Rutz (1964, 1965; 1984, 1985a; vgl. 1985b). C. Walde bereitet eine Fortsetzung fr das Lustrum vor.

    22 Zur Rhetorik als oft negativ konnotiertem Interpretationsparadigma der Lucan-Forschung siehe Walde (2003); vgl. Narduccis (2007: 387-395) knappen berblick zu Lucans rhetorischem Stil. Mit dem Erzhler (siehe dazu vor allem Kap. 3.3.2.) befassen sich unter anderen Schlonski (1995), Narducci (2002: 88-106), Effe (2004: 61-72) und Gro (2013: 41-70), mit den Apostrophen des Erzhlers an Fi-guren innerhalb des Epos die bereits genannte Untersuchung von DAlessandro Behr (2007), Asso (2008) und Bartsch (2012), mit den direkten Reden Tasler (1972), Schmitt (1995) und Helzle (1996: 83-143), mit dem Schweigen Anzinger (2007: 108-155), aus textlinguistischer Perspektive schlielich Lucifora (1991) mit dem Ablativus absolutus und Schwartz (2002) mit Lucans Tempusgebrauch. In ei-nem allgemeineren Sinn auf Rhetorik, Poetik und Metapoetik fokussieren nach dem Artikel von OHiggins (1988) die Studien von Masters (1992), de Nada (2000) und Dinter (2012), auf den Aspekt des Spektakels Leigh (1997) sowie auf die Bildersprache der vier Elemente Loupiac (1998). Die jngst erschienene Studie von Day (2013) zum Bellum civile im Kontext antiker und moderner sthetischer Theorien des Erhabenen sowie die narratologische Analyse von Ludwig (2014) zur Erzhlperspektive und Charakterfokalisation bei Lucan konnten hier inhaltlich lei-der nicht mehr bercksichtigt werden.

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  • Einleitung 14

    deutlicheres Profil gewonnen haben, bildet eine systematische Untersu-chung der Rezeption der griechischen Literatur durch Lucan und der Funk-tion der intertextuellen Bezugnahmen namentlich auf tragische Prtexte im Bellum civile noch stets ein Desiderat. Auf den ersten Blick knnte die vorliegende Studie als ein auf Lucans Verhltnis zur griechischen Literatur fokussiertes Gegenstck zu der 2004 erschienenen Monographie von Jan Radicke zu Lucans poetischer Technik erscheinen, doch ist deren Ansatz ein ganz anderer. Zum einen konzentriert sich Radickes Untersuchung, die die Form eines fortlaufenden Kommentars zum Bellum civile annimmt, auf Lucans Umsetzung historiographischer Quellen in eine epische Erzh-lung und bezieht die poetische Tradition bewusst nur ganz am Rande mit ein. Als einzige historische Vorlage Lucans wird die aus anderen Quellen rekonstruierte Darstellung des Brgerkriegs bei Livius identifiziert; zudem sttzt sich die Interpretation in hohem Mae auf Hypothesen zur Struktur und dem geplanten Endpunkt des Bellum civile nach einem Modell von zwlf Bchern. Zum anderen kann Radickes Anwendung von Begriffen und Methoden der Erzhlforschung und der Dramentheorie auf die Analyse der epischen Handlung und der Figurenkonzeption nur bedingt berzeu-gen, zumal sie eine Rckkehr zum oben beschriebenen statischen Modell der Charakterisierung der drei Hauptfiguren impliziert.23 Anstelle der allzu schematisch anmutenden Lektre Radickes pldiert die vorliegende Studie fr eine offenere Lektre, die mehrere, vor allem poetische Traditionen als intertextuellen Hintergrund unterschiedlicher Passagen des Werks einbe-zieht.

    Nach diesem globalen berblick wird eine Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zu den einzelnen Fragestellungen im jeweiligen Kon-text erfolgen. ber die engeren Grenzen der Lucan-Forschung hinaus ha-ben neuere Forschungsanstze zur Rezeption der griechischen Literatur in Rom, zur gattungsberschreitenden Intertextualitt, zur attischen Tragdie und ihrer gesellschaftlichen Funktion sowie komparatistische Untersu-chungen zu Krieg und Literatur vielfltige Anregungen fr den Ansatz dieser Untersuchung geliefert.

    _____________ 23 Die berlegungen zum Erzhler und zum Autor im Schlusskapitel (Radicke 2004:

    511-519) bleiben ebenfalls vage, auch wenn die Feststellung sicherlich zutrifft, dass Lucans Erzhler sich grundstzlich als ein Erzhler charakterisieren lsst, dessen Wesen sich in hchstem Mae aus der Literatur selbst speist (ebd. 512).

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  • Voraussetzungen und Ziele der Studie 15

    1.1.3. Aufbau der Studie

    Die methodischen Voraussetzungen der Studie werden in den verbleiben-den Abschnitten der Einleitung ausfhrlicher begrndet und vertieft. Die Bedeutung der griechischen Literatur fr das Bellum civile wird vor dem Hintergrund der Rezeption der griechischen Literatur in Rom betrachtet und in den kulturellen Kontext der neronischen Epoche eingebettet; dabei soll auch die Frage der direkten oder indirekten, ber die lateinische Litera-tur vermittelten Rezeption griechischer Texte diskutiert werden (Kap. 1.2.1.). Dies leitet ber zu den Formen und Funktionen der Intertextualitt im Bellum civile, insbesondere in ihrer gattungsberschreitenden Form. Die griechischen und rmischen Tragdien (Kap. 1.2.2.) erweisen sich dabei neben der hellenistischen Dichtung (Kap. 1.2.3.) als zentrale Prtexte von Lucans Epos. Die Einleitung schliet mit einem berblicksartigen Vergleich der literarischen Gestaltung des Brgerkriegsthemas im Bellum civile mit anderen Darstellungen von Krieg und Brgerkrieg in der griechi-schen und rmischen Literatur (Kap. 1.3.1.), die in den kulturhistorischen Kontext der gesellschaftlichen Verarbeitung von Kriegserfahrungen und deren Reflexion im Medium des Mythos und der Literatur eingeordnet werden; als spezifisches Vergleichsmodell dient dabei die attische Trag-die des fnften Jahrhunderts v. Chr. (Kap. 1.3.2.).

    Das zweite Kapitel skizziert die Funktion des Mythos im Bellum civile anhand der expliziten Erwhnungen mythologischer Stoffe in Gleichnis-sen, Katalogen und Exkursen und der mythisch aufgeladenen Geographie von Lucans Landschaften; zugleich sollen hier erste Facetten der Rezeption der Tragdie und der hellenistischen Dichtung am Beispiel des Thessalien-Exkurses im sechsten Buch aufgewiesen werden. Dies dient als Vorberei-tung auf die Untersuchung der impliziten Verwendung von Mythen als intertextuellen Paradigmata in den darauf folgenden Kapiteln, die den Kern der Untersuchung bilden. Das dritte Kapitel ist dem Krieg um Theben und den thebanischen Tragdien gewidmet, die als mythisch-literarisches Para-digma den Brgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius zu einem Bruder-krieg stilisieren. Nach einer Analyse von einzelnen Motiven wie der bela-gerten Stadt oder dem Opfertod fokussiert die vergleichende Lektre auf die Sequenz von Schlachtbeschreibung, Bestattungsverbot, improvisierter Bestattung und Totenklage in den Bchern sieben bis neun. Der Krieg um Troia bildet das Thema des vierten Kapitels, das die Reflexe der epischen und tragischen Darstellungen vom Untergang Troias in den Erinnerungen des Greises an den Brgerkrieg zwischen Marius und Sulla im zweiten und Caesars Besuch bei den Ruinen Troias im neunten Buch aufzeigt. Das fnfte Kapitel schlielich betrachtet im Sinne eines Epilogs die Ekphrasis

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  • Einleitung 16

    von Cleopatras Palast und ihrem Bankett im zehnten Buch vor dem Hin-tergrund der alexandrinischen Literatur und Poetik.

    Die Studie behandelt somit in einem in groben Zgen dem Aufbau fol-genden Durchgang durch das Werk zentrale Passagen des Bellum civile anhand der verschiedenen Kriegsschaupltze, die als literarische Land-schaften mit diesen Orten verbundene Mythen und Prtexte aufrufen und zugleich ein Netz von intratextuellen Querbezgen ber das Werk hin spannen. Die Lektre dieser Episoden vor dem Hintergrund der griechisch-rmischen Literaturgeschichte ffnet einen weiten intertextuellen Horizont fr Lucans innovative Darstellung des Brgerkriegs, der dessen Stilisie-rung zu einem alles Bisherige bertreffenden Super-Krieg unterstreicht.

    1.2. Lucan und die griechische Literatur

    1.2.1. Lucans Rezeption der griechischen Literatur

    Die Feststellung, dass die rmische Literatur sich von ihrem Beginn an in produktiver Auseinandersetzung mit der griechischen Literatur entwickelt hat, bedarf in der gegenwrtigen Latinistik keiner Rechtfertigung mehr. Jenseits von bloer Quellenforschung, der obsessiven Suche nach oft hypo-thetischen griechischen Vorbildern fr lateinische Texte und kulturhisto-risch oder sthetisch geprgten Vorurteilen, welche die griechischen Ori-ginale ber die rmischen Kopien stellten, hat die Intertextualitts- und Rezeptionsforschung an vielfltigen Beispielen aufgezeigt, wie die griechi-schen Gattungen durch die Rmer adaptiert und im neuen gesellschaftli-chen, politischen und kulturellen Kontext funktionalisiert wurden.24 Dabei

    _____________ 24 Whrend Zintzen (1987) in der Bewertung der Abhngigkeitsverhltnisse teils

    noch alten Vorurteilsstrukturen verhaftet ist, ffnet der Sammelband von Vogt-Spira/Rommel (1999; darin besonders Vogt-Spira 1999; vgl. dens. 1996) den Blick auf die Bedeutung der Rezeptionsprozesse fr die Herausbildung kultureller Identi-tt (vgl. auch den Sammelband von Citroni 2003). Ein solcher Zugang ist in der anglophonen Forschung bereits lnger eingebrgert, wo die Interaktion zwischen der rmischen und der griechischen Kultur in der Republik bis zum Beginn des Prinzipats in Hinblick auf die Prozesse der Identittsbildung, Herrschaftsstrukturen und die soziale Differenzierung einer rmischen Elite, die griechische Bildung als kulturelles Kapital einsetzt, untersucht wird (Gruen 1992: bes. 223-271; Habinek 1998: bes. 15-68; Wallace-Hadrill 1997; 1998; 2008: bes. 3-37; verschiedene Bei-trge in Braund/Gill 2003); siehe jngst auch die umfassende Studie von Hutchin-son (2013) zu den kulturellen Kontexten der Rezeption der griechischen Literatur in Rom. Die kulturelle Interaktion in der Kaiserzeit ist allerdings hufiger aus der umgekehrten Perspektive, dem Verhltnis der griechischen Intellektuellen zum

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  • Lucan und die griechische Literatur 17

    ist auch die entscheidende Vermittlerrolle der hellenistischen Dichtung und der alexandrinischen Kanonbildung ins Blickfeld gerckt.25 Durch ihre Kontakte mit der griechischen Kultur rezipierten die Rmer die Literatur von Homer bis zur zeitgenssischen hellenistischen Dichtung als ein Ge-samtcorpus, so dass etwa die Homerischen Epen zugleich durch den Filter der attischen Tragdie, des hellenistischen Epos und der alexandrinischen Philologie gelesen werden konnten. In mehreren sukzessiven Rezeptions-vorgngen wurden die griechischen Texte und Gattungen dabei in unter-schiedlichen historischen Kontexten jeweils neu bewertet und umgeformt. Mit der fortschreitenden Entwicklung, in der die sich etablierende rmi-sche Literatur neben das griechische Corpus tritt und dieses schrittweise berlagert, gewinnt zudem das Phnomen der indirekten Rezeption an Bedeutung. Die Rezeption der griechischen Literatur in Rom steht somit prinzipiell in einer doppelten Traditionslinie: Sie kann vermittelt ber fr-here rmische Texte erfolgen, welche die griechischen Texte ihrerseits be-reits rezipiert haben, jederzeit aber auch in einem erneuten direkten Rck-griff ber die Sprachgrenzen hinweg reaktiviert werden.26

    Whrend die neuere Forschung zur augusteischen Dichtung den grie-chischen Hintergrund in diesem Sinne selbstverstndlich einbezieht und fr die Interpretation der Texte fruchtbar macht, ist ein solcher Zugang fr Lucan bisher erst in Anstzen versucht worden.27 Doch bildet gerade die Literatur der neronischen Epoche ein wichtiges Zwischenglied als unmit-

    _____________ rmischen Imperium in der sogenannten Zweiten Sophistik, studiert worden (u.a. Swain 1996; Goldhill 2001; Whitmarsh 2001; Ostenfeld 2002).

    25 Siehe Zetzel (1983). Zum griechisch-rmischen literarischen Kanon im Sinne einer reprsentativen Auswahl mageblicher Autoren fr Unterrichtszwecke und als Modelle zur kreativen Nachahmung vgl. Schmidt (1987) und Mayer (1995).

    26 Vgl. Conte/Barchiesi (1989: 109) zur imitazione translinguistica als Gegenstck zur imitazione intralinguistica; vgl. Hutchinson (2013: bes. 165-219). Fr den doppelten intertextuellen Verweis auf einen rmischen Prtext und dessen dahinter sichtbar gemachten griechischen Prtext nicht notwendigerweise mit dem Ziel einer Korrektur des rmischen Prtexts hat Thomas (1986: 188f.) den Begriff der window-reference geprgt; alternativ wird dafr auch der Begriff two-tier allusion verwendet (vgl. Hinds 1987: 56, 151 Anm. 16; Nelis 2001: 5).

    27 Vgl. zu Vergils Homer-Rezeption das Standardwerk von Knauer (1964), Schlunk (1974: zu den Homer-Scholien), Barchiesi (1984) und Dekel (2012), zu seiner Re-zeption der hellenistischen Dichtung allgemein Clausen (1987) und Reed (2007) und speziell des Kallimachos George (1974) sowie des Apollonios Nelis (2001 und 2008; vgl. dens. 2000 zur Bedeutung des Apollonios fr das rmische Epos insge-samt). Zu Ovids Rezeption des Homerischen Demeter-Hymnos vgl. Hinds (1987), zu seiner Rezeption der Homerischen Epen, des epischen Zyklus und der attischen Tragdie in den Metamorphosen Papaioannou (2007), zur Kallimachos-Rezeption van Tress (2004). Siehe auch die Beitrge zur rmischen Dichtung im Band von Effe/Glei/Klodt (2009) zur Homer-Rezeption.

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  • Einleitung 18

    telbare Vorluferin der flavischen Epik, wo die Rezeption der griechischen Dichtung ebenfalls ein gngiges Forschungsparadigma darstellt; so betont Gregory Hutchinson in seiner jngsten systematischen Studie zur Inter-textualitt der lateinischen mit der griechischen Literatur (2013), dass grie-chische Modelle auch nach der augusteischen Zeit kaum an Bedeutung gegenber den rmischen eingebt htten, sondern mit diesen komplexe Verbindungen eingegangen seien.28 Die kulturhistorischen Voraussetzun-gen eines solchen interkulturellen Rezeptionsprozesses sind zweifellos ge-geben, ist doch gerade die neronische Kultur durch einen ausgeprgten Philhellenismus gekennzeichnet.29

    Auch unabhngig von Neros persnlichen Interessen spielte die grie-chische Bildung im Rom der frhen Kaiserzeit generell die Rolle eines sozialen Distinktionsmerkmals, so dass man geradezu von einem Bilingua-lismus der Oberschicht und besonders der Dichter sprechen kann.30 Die Kenntnis zumindest der Hauptwerke der griechischen Literatur stellte ei-nen essentiellen Bestandteil des Bildungshorizonts junger mnnlicher An-gehriger der Elite und insbesondere angehender Rhetoren dar, wie er im zehnten Buch von Quintilians Institutio oratoria errtert wird.31 Das in

    _____________ 28 Hutchinson (2013: bes. 1 und 326-333 zu Silius und Lucan). Siehe jngst auch den

    Sammelband von Augoustakis (2014) zur Intertextualitt der flavischen Dichtung mit der griechischen Literatur. Speziell zur Homer-Rezeption in der Thebais des Statius, den Argonautica des Valerius Flaccus und den Punica des Silius Italicus vgl. die ltere Studie von Juhnke (1972), deren enger Ansatz durch das Konzept der multiple imitation bei Statius abgelst worden ist (Smolenaars 1994: xxvi-xxxv), sowie Smolenaars (1991) und Schenk (1999: 257-264) zu Valerius Flaccus. Zu Statius und der griechischen Literatur vgl. an neueren Monographien Taisne (1994), Delarue (2000) und McNelis (2007: vor allem zu Kallimachos), den Arti-kel von Holford-Strevens (2000) sowie den Forschungsbericht von Kiel (2006: 140-151) zu den diesbezglichen Publikationen im Zeitraum von 1934 bis 2003; Kiel selbst vertritt dabei eine allzu skeptische Position. Apollonios Argonautika bilden bekanntlich eines von Valerius Flaccus zentralen Modellen (vgl. jetzt auch Heerink/Manuwald 2014), doch ist die Apollonios-Rezeption in Rom mit Aus-nahme von Vergil (siehe die vorangehende Anm.) darber hinaus noch kaum er-forscht (so Glei 2008: 25; Nelis 2008: 341).

    29 Dem neronischen Philhellenismus widmet sich der Band Neronia VII (Perrin 2007). Zum griechischen Epigramm im Rom der neronischen Zeit vgl. Sullivan (1985: 22-24, 79) und Argentieri (2007: 158-161). Siehe auch unten Kap. 4.1.2. zum Troia-Stoff in der neronischen Zeit (mit weiterer Literatur in Anm. 24).

    30 Vgl. den Begriff des bilinguismo poetico bei Conte/Barchiesi (1989: 100), Fant-ham (1998: 4f.) zur Zweisprachigkeit rmischer Dichter und generell zum Bilin-gualismus in der rmischen Welt Wallace-Hadrill (2008: bes. 13f., 17-28) und Hutchinson (2013: 135-164).

    31 Zur Bedeutung der griechischen Bildung in der Kaiserzeit siehe Fantham (1998: 4f., 131-136, 153f., 165f.); speziell zur Rolle Homers vgl. Lausberg (1985: 1578f., 1618f.), Lamberton (1997: 44-48), Zeitlin (2001: bes. 235-241) und Farrell (2004).

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  • Lucan und die griechische Literatur 19

    Silvae 5.3.146-158 geschilderte Lehrprogramm von Statius Vater umfasst sogar eine weit ber den Kanon hinausgehende Auswahl griechischer Ly-riker und hellenistischer Dichter wie Lykophron.32

    Die biographische Tradition ber Lucan, der man in diesem Punkt wohl Glauben schenken darf, besttigt dieses Bild. Nach der dem Vacca zugeschriebenen Vita soll sich Lucan besonders im Deklamieren in grie-chischer und lateinischer Sprache ausgezeichnet haben (Vita II.22f.: Decla-mavit et graece et latine cum magna admiratione audientium); die Vita Suetons erwhnt einen Studienaufenthalt in Athen, von dem ihn Nero an den Hof zurckberufen habe (Vita I.7f.: revocatus Athenis a Nerone).33 Lucans literarische Produktion, die mit Ausnahme des Bellum civile gr-tenteils verloren ist, umfasst denn auch trotz seines jugendlichen Alters ein breites Spektrum verschiedener Gattungen; darunter befinden sich wohl der alexandrinisch-neoterischen Tradition verpflichtete Werke mit grzisie-renden Titeln wie Orpheus, Iliaca oder Catachthonion zu mythologischen Themen und eine Tragdie Medea.34 In der nach dem Muster von Vergils Biographie konstruierten, hierarchisch aufsteigenden Abfolge der Gattun-gen markiert das Epos den Hhepunkt und zugleich den durch den vorzei-tigen Tod beschleunigten Abschluss der literarischen Karriere.35 Wie in der

    _____________ 32 Siehe Holford-Strevens (2000) und McNelis (2002), der das Gedicht als Zeugnis

    fr die wichtige Rolle griechischer Intellektueller am Kaiserhof und generell in der rmischen Elitekultur interpretiert, Hutchinson (2013: 73-76) und Hulls (2014: 196-199); zum Bildungsprogramm im Vergleich mit Quintilians Lektrekanon vgl. Bonadeo (2007).

    33 Die Viten sind nach Braidotti (1972) zitiert. Vgl. Cornelius Nepos ber Atticus Bilingualismus (Atticus 4.1): Idem poemata pronuntiabat et Graece et Latine sic, ut supra nihil posset addi. Zum Aufenthalt in Athen vgl. Fantham (2011a: 5f.), all-gemein zur Rolle Athens als Studienort Hutchinson (2013: 81-97; zu Lucan: 83).

    34 Vgl. die Titelliste am Ende der Vita des Vacca (Vita II.51ff.; vgl. 32ff.) und die Umschreibung verschiedener Werke in Statius Silvae 2.7.54-74. Zu den Quellen vgl. Fantham (2011a: bes. 6-8), zum Nachleben der opera minora Lucans Esposito (1977). Zu den Iliaca siehe unten Kap. 4.1.2.

    35 Zur biographischen Konstruktion der Gattungshierarchie vgl. Barchiesi (1989: 115-118), zu ihrer Verbindung mit dem rmischen Kallimacheismus dens. (2011: 526-530); vgl. auch die Beitrge in Hardie/Moore (2010). Diesem Konzept folgt die Vita des Vacca in der Evaluation der Jugendwerke Lucans (Vita II.55f.: non fastidiendi quidem omnes, tales tamen, ut belli civilis videantur accessio). Suetons Vita zitiert dafr einen Ausspruch des Dichters selbst (Vita I.4f.: aetatem et initia sua cum Vergilio conparans ausus sit dicere: et quantum mihi restat ad Culi-cem), den Statius in Silvae 2.7.73f. aufnimmt (haec primo iuvenis canes sub aevo, / ante annos Culicis Maroniani). Die chronologische Abfolge der Werke in Silvae 2.7 ist ebenfalls eine literarische Konstruktion, wie Mensching (1969) zeigt; siehe jetzt auch Newlands (2011a: bes. 444 und ihren Kommentar 2011: 236-241). Der Topos von Lucan als jugendlichem Genie drfte hier seinen Ursprung haben, doch

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  • Einleitung 20

    individuellen Biographie Lucans das Epos die Summe seines poetischen Schaffens verkrpert, braucht auch der rmische Stoff des Bellum civile nicht als eine Absage an die alexandrinische sthetik der Frhwerke kon-struiert zu werden, sondern kann wie im Fall der Aeneis und Statius Thebais als deren Fortsetzung und Integration in ein greres Werk ver-standen werden.

    So charakterisiert auch Statius in Silvae 2.7 Lucan als poeta doctus in der alexandrinischen Tradition und zugleich als Dichter eines Epos mit rmischem Stoff eine Verbindung, die nicht nur den griechischen bio-graphischen Hintergrund des Statius, sondern auch das Selbstverstndnis Lucans und berhaupt der rmischen Elitekultur der frhen Kaiserzeit reflektiert.36 Cum grano salis lsst sich auch die Poetik von Petrons Eu-molpus, dem fiktiven Verfasser eines Brgerkriegsepos, auf Lucans Bellum civile bertragen; dieser postuliert als unabdingbare Voraussetzung fr die Komposition eines solchen Werks einen berfluss an literarischen Ein-flssen (Sat. 118.3: neque concipere aut edere partum mens potest nisi in-genti flumine litterarum inundata; 6: ecce belli civilis ingens opus quisquis attigerit nisi plenus litteris, sub onere labetur).37 Die griechische Literatur ist daher unbedingt in das intertextuelle Spektrum des Bellum civile mit einzubeziehen, um sowohl dessen Selbstanspruch als auch dem Erwar-tungshorizont der zeitgenssischen Rezipienten gerecht zu werden.38

    _____________ ist er gerade nicht im Sinne des romantischen Originalgenies zu verstehen, das scheinbar ohne in einer Tradition zu stehen allein aus sich heraus schpft.

    36 Der Begriff doctus bildet ein Leitmotiv des Gedichts (3, 12, 46, 76, 83); vgl. die Definition von Lucans Publikum (46f.: et doctos equites et eloquente / cantu pur-pureum trahes senatum). Zu Statius biographischem Hintergrund und zweispra-chigem Bildungshorizont vgl. Holford-Strevens (2000), Delarue (2000: 3-38, 91-96: auch zu Lucan), McNelis (2002; 2007: 21-24), Heslin (2008: 123, 126), New-lands (2012: bes. 1-15 und 136-159 zum poet between Rome and Naples) und Hulls (2014), der Statius Selbstprsentation als Romanisierung der griechischen Kultur definiert.

    37 Zur hier vorausgesetzten Deutung von Petrons Haltung gegenber Lucan siehe un-ten Kap. 4.1.2. Gro (2013) whlt das Petron-Zitat plenus litteris als Motto seiner Mainzer Dissertation zu Lucans Rezeption von Horazens Lyrik (vgl. ebd. 277 sei-nen Aufruf zur gattungsbergreifenden Erforschung von Lucans Intertextualitt).

    38 Vgl. die treffenden Bemerkungen zum breiten Bildungshorizont Lucans und der daraus abzuleitenden Verpflichtung der Interpreten bei Schrijvers (1990: 21): Le caractre htrogne de La Pharsale nous oblige de chercher (ou de rtablir) toutes les traditions, modles ou sources dont Lucain sest servi et qui constituent en quelque sorte la mmoire du pote. Il ne sagit pas dune Quellenforschung an und fr sich mais il faut reconstruire lrudition livresque de Lucain afin de discerner sur ce fond les manipulations et ainsi les desseins artistiques de lassembleur-manipulateur littraire. Vgl. in diesem Sinne bereits Marti (1964: 170-172), Espo-

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  • Lucan und die griechische Literatur 21

    Nachdem die ltere Quellenforschung der Rezeption der griechischen Literatur durch Lucan in der Folge des Verdikts von R. Pichon, der die Benutzung griechischer Texte durch Lucan auer durch die Vermittlung rmischer Autoren pauschal in Abrede stellte, kaum Beachtung ge-schenkt hatte, wird diese mittlerweile als selbstverstndlich vorausge-setzt.39 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Beziehungen des Bellum civile zu griechischen Prtexten ebenso intensiv wie diejenigen zu rmi-schen Prtexten erforscht worden wren, beschrnken sich die meisten diesbezglichen Untersuchungen doch auf den Vergleich isolierter Passa-gen oder Motive von Lucans Epos mit bestimmten griechischen Prtexten, ohne diese zueinander und zum Werkganzen in Beziehung zu setzen. Ein-zig die Schlsseltradition des griechisch-rmischen Epos ist in einem sys-tematischeren Sinn als Gattungsmodell von Lucans historischem Epos herangezogen worden.40

    Die Untersuchungen zu Lucans Verwendung und Umformung von epi-schen Bauformen wie Katalogen oder Gleichnissen und von Szenentypen wie beispielsweise Schlachtbeschreibungen, Bestattungsszenen, Trumen oder einem Seesturm sind allerdings in der Regel eher komparatistisch als spezifisch intertextuell ausgerichtet oder konzentrieren sich hauptschlich auf den Vergleich mit rmischen Vorgngern;41 erst in jngster Zeit hat _____________

    sito (1979: 348f.) und den programmatischen Titel Doctus Lucanus des Sammel-bands von Landolfi/Monella (2007).

    39 Pichon (1912: 217). Symptomatisch ist das weitgehende Fehlen griechischer Auto-ren in der Rubrik Quellen und Vorbilder der lteren Forschungsberichte, so etwa bei Rutz (1964; vgl. ebd. 258f.: Kritik an der Identifikation von Anspielungen auf griechische Passagen bei Goossens 1946). Vgl. dagegen die wachsende Ablehnung von Pichons These seit von Albrecht (1970: 273), Lebek (1976: 35 Anm. 47), Rutz (1984: 136-138; 1985b: 1463f.) und Lausberg (1985: 1566f.). Krzlich pldiert Adorjni (2007) fr eine vermehrte Beschftigung mit Lucans griechischen Vor-bildern und fhrt dazu ein paar Beispiele aus Homer, Pindar und der Tragdie an.

    40 Vgl. von Albrechts Aufsatz (1970; aktualisierte englische Version in: Ders. 1999: 227-250) zu Lucan und der epischen Tradition, Hulers Studie (1976; 1978) zur Gattungstradition des historischen Epos und Lausbergs Aufsatz (1990) zum didak-tischen Epos (siehe dazu unten Kap. 1.2.3.). Siehe auch die Lucan-Kapitel in Handbchern zum antiken Epos: Burck/Rutz (1979: bes. 171-179); Toohey (1992: 166-185) mit Akzent auf der alexandrinischen Tradition; Ahl (1993) und Bartsch (2005) mit Fokus auf Vergil (ebenso Hardie 1993 und Quint 1993). Hutchinson konzentriert sich in den relevanten Abschnitten seiner Intertextualittsstudie (2013: 186-188, 329-333, 339f., 347-350) ebenfalls auf das Super-Genre des narrativen Epos und dessen Untergattungen, betont jedoch auch die Rolle weiterer Gattungen.

    41 Zur epischen Kompositionstechnik Lucans siehe die Untersuchungen von Syndi-kus (1958), Piacentini (1963), Morford (1967), Schnberger (1968), Lebek (1976), Rutz (1989) und Radicke (2004; vgl. die Kritik oben in Kap. 1.1.2.). Zu den Kata-logen vgl. Ganer (1972: 137-211) und Khlmann (1973: 285-294) und speziell zu den Truppenkatalogen C. Reitz (2013), zu den Gleichnissen siehe die unten in

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  • Einleitung 22

    sich die Aufmerksamkeit der Forschung gezielt auf Lucans innovative Transformation oder sogar Subversion der traditionellen epischen Form-elemente im Rahmen seiner intertextuellen Technik gerichtet.42

    Mit Lucans Homer-Rezeption befassen sich einige Studien nher. Mi-chael von Albrecht geht im Rahmen seines 1970 erschienenen Aufsatzes zu Lucans Verhltnis zur epischen Tradition auch auf Homer ein, dem Lucan ungeachtet der offensichtlichen Unterschiede in einer ganzen Reihe wesentlicher Zge nher stehe als seinem rmischen Vorgnger Vergil; dazu zhlten neben phraseologischen Berhrungen und szenischen Remi-niszenzen vor allem die tragische Weltsicht, die sich im Grundthema der Erwartung des Unterganges uere, die Darstellung des Grsslichen und Erbrmlichen, sowie der kosmische Aspekt und die Historizitt des Stof-fes fr Homer sei der Mythos ja Geschichte.43 Manche dieser Aspekte werden von Marion Lausberg in ihrer umfnglicheren Studie (1985) ver-tieft; neben strukturellen Entsprechungen, die das Bellum civile als ein rmisches Pendant zur Ilias erscheinen lieen, hebt sie vor allem die Ana-logien zwischen den Figurenpaaren Caesar Pompeius und Achilleus Agamemnon im Kontext des Streits um die Macht und entsprechende Be-

    _____________ Kap. 2.2.1. genannte Literatur. Zu Schlachtbeschreibungen und Aristien in kompa-ratistischer Perspektive vgl. nach den lteren Studien von Erbig (1931), Miniconi (1951), Metger (1957; Auszug: 1970) und Raabe (1974: 166-241) vor allem Espo-sito (1987; 1994: 87-133), daneben Foucher (1997; 2000: 358-383), Franchet dEsprey (2004) und Gibson (2008); zu Bestattung und Totenklage vgl. Burck (1981), Fantham (1999) und Keith (2008). Seesturmszenen vergleichen Morford (1967: 20-58), Linn (1971: 60-132), Borzsk (1983), Cristbal (1988), Niederbud-de (1991) und Matthews (2008: bes. 23-25, 315-318). Zu den Trumen vgl. Walde (2001: bes. 389-416), zu den Gastmahlszenen Bettenworth (2004: bes. 178-213; siehe dazu unten Kap. 5.) sowie zu den epischen Frauengestalten Keith (2000) und Sannicandro (2010); vgl. auch die Artikel von Finiello (2005) und Dangel (2010) und die Studie von Augoustakis (2010) zu Frauen im flavischen Epos. Lngs-schnitte durch das antike Epos bieten Feeney (1991) zu den Gttern (vgl. die Bei-trge in Baier 2012 zu Lucan bis Silius) und Hershkowitz (1998a) zum Wahnsinn; auch Fratantuono (2012) stellt Lucans Epos im Zeichen des Wahnsinns in eine Tri-logie mit Vergils Aeneis (2007) und Ovids Metamorphosen (2011), zieht aber auch Manilius als Prtext heran; seine interpretierende Lektre des ganzen Werks konn-te hier nicht mehr einbezogen werden.

    42 Siehe dazu die kursorische Skizze im Vorwort zu Hmke/Reitz (2010: viii-xi), wo unter anderem Truppenkataloge, Ekphraseis, Schlachtbeschreibungen und Aristien genannt sind. Vgl. exemplarisch Maes (2005) zu Lucans Transformation epischer Epiphanien (message scenes) oder Gorman (2001), Sklen (2003: 13-58) und Hmke (2010; vgl. 2012) zur Subversion der seit Homer zum epischen Standard-repertoire zhlenden heroischen Aristie.

    43 Von Albrecht (1970: bes. 272-277; vgl. 1999: 229-233).

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  • Lucan und die griechische Literatur 23

    ziehungen zwischen den Frauengestalten hervor;44 schlielich weist sie auf die Bedeutung der moralischen Homerauslegung fr die Cato-Figur und der physikalischen Homerallegorese fr Lucans Verzicht auf den Gtter-apparat hin. Whrend Lausberg sich noch in defensivem Sinne auf den Nachweis von Lucans Homer-Rezeption konzentriert, legt Carin M.C. Green (1991) den Schwerpunkt auf die Bedeutung und Funktion von Lucans bersetzung solcher homerischer patterns in sein rmisches Epos; der Streit zwischen Achilleus und Agamemnon diene als Folie fr den Beginn des Konflikts zwischen Caesar und Pompeius, in der Folge transformiere Lucan den Brgerkrieg zu einem zweiten Troianischen Krieg mit Pompeius als dem Fhrer des zum Untergang verurteilten Rom.

    Der Aufweis von typologischen Entsprechungen zu Homer hat indes auch eine problematische Seite. Gerade im Bereich der Interfiguralitt, der Assoziation von Lucans Protagonisten mit literarischen Vorgngern, verkennt eine allzu schematische Interpretation die Komplexitt der inter-textuellen Bezge, die keine durchgngigen Identifikationsmuster zulassen, sondern sich im Gegenteil berkreuzen und durch gegenlufige Assoziati-onen unterlaufen werden.45 So ist Caesar nicht einfach als ein zweiter Achilleus Gegenspieler von Pompeius in der Rolle eines Agamemnon, Priamos oder Hektor, sondern wird auch mit troianischen Helden assoziiert (siehe unten Kap. 4.3.); zudem berlagern sich in beiden Figuren ebenso widersprchliche Anklnge an tragische Charaktere (siehe unten Kap. 1.2.2. und Kap. 3.).46

    _____________ 44 Auf die strukturelle Entsprechung der Promien des Bellum civile und der Ilias in

    der Ankndigung von Leiden infolge eines internen Konflikts hatte bereits Conte (1970: 342) hingewiesen. Masters (1992: 258) verweist auf die auffllige Koinzi-denz, dass das Bellum civile wie die Ilias mit dem Namen des Unterlegenen endet. Vgl. auch Roches Kommentar (2009: 19f., 95-97, 110, 247, 277f.) zu strukturellen und thematischen Korrespondenzen zur Ilias im Promium und im Rest von BC 1, Hardie (2010: 21f.) zu Parallelen zwischen den Heeresversammlungen in BC 1 und Ilias 2, Christophorou (2010) zu den Reden des Achilleus in Ilias 1 und 9 als Mo-dellen fr Caesars Streben nach Wiederherstellung seiner Ehre sowie den kurzen berblick bei Hutchinson (2013: 329-332).

    45 Zur Interfigurality als Spielart der Intertextualitt siehe Mller (1991). 46 Solche schematischen Zuordnungen prgen etwa Sengs (2003) Aufsatz zu Troia-

    Motiven bei Lucan und Radickes Charakterisierung der Hauptfiguren (2004: 122, 138). Auch Leigh (2009: 242f.) und Christophorou (2010) assoziieren Lucans Cae-sar einseitig mit dem Achilleus der Ilias und analog dazu Glaesser (1984) Pom-peius mit Hektor. Siehe dagegen Lausberg (1985: 1577) zu Agamemnon als Folie fr Pompeius und Caesar sowie Walde (2003: 148; 2006: 47f.) zur komplexen intertextuellen Kompositionsstruktur von Lucans Caesar; vgl. auch die knappen, aber prgnanten Bemerkungen bei Hutchinson (2013: 331f.). Dieses Prinzip gilt nicht nur fr mythische Vorluferfiguren; so dienen beispielsweise auch Xerxes und Alexander als Modelle sowohl fr Caesar als auch fr Pompeius oder Cato. Im

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  • Einleitung 24

    Die Tendenz der bisherigen Forschung, Homer zum zentralen Bezugs-punkt Lucans in dessen Auseinandersetzung mit der griechischen Dichtung zu machen, mag im Licht der expliziten Erwhnung Homers in der Sphragis (9.984: Zmyrnaei vatis) gerechtfertigt erscheinen. Wie eingangs dargelegt, implizieren diese und weitere Passagen jedoch nicht nur eine berbietung Homers als Archegeten der epischen Tradition, sondern ber-haupt der gesamten griechisch-rmischen Literaturgeschichte, was durch das breite intertextuelle Spektrum der Troia-Episode besttigt wird (siehe unten Kap. 4.3.). Die Homer-Rezeption im Bellum civile wird in der vor-liegenden Studie denn auch nicht als gesondertes Thema untersucht, son-dern mit der Rezeption anderer Prtexte verbunden. Dabei sollen neben dem Epos des Apollonios auch andere Gattungen der hellenistischen Dich-tung sowie vor allem die Tragdie in den Blick genommen werden.

    1.2.2. Lucans Bellum civile und die Tragdie

    Die Intertextualitt im Bellum civile beschrnkt sich nicht auf die epische Tradition, sondern bezieht auch andere poetische Gattungen wie Tragdie, Elegie, Epigramm oder Satire mit ein, um von der Prosa ganz zu schwei-gen. Diese gattungsberschreitende Form der Intertextualitt lsst sich statt mit dem berholten Begriff einer Kreuzung der Gattungen, der das biolo-gistische Modell der Entstehung einer neuen, hybriden Gattung suggeriert, besser mit dem von Stephen Harrison eingefhrten Begriff des generic enrichment erfassen:47 Das Bellum civile bleibt seiner Gattungszugehrig-keit nach ein historisches Epos, seine literarische Form wird jedoch berei-chert durch die Integration von Elementen anderer Gattungen. Die Praxis einer solchen gegenseitigen Bereicherung verschiedener Gattungen hatte sich nach hellenistischem Vorbild im rmischen Epos lngst eingebrgert, wie etwa die Aeneis Vergils und in noch hherem Mae die Metamorpho-sen Ovids illustrieren.48 _____________

    brigen werden eindimensionale Identifikationsmodelle auch der Aeneis nicht ge-recht, wo Aeneas als Gegenspieler des Turnus intertextuell sowohl mit Hektor als auch mit Achilleus assoziiert wird.

    47 Kritik an dem von Kroll (1924) geprgten Begriff der Kreuzung der Gattungen bt Barchiesi (2001) aus kulturhistorischer und gattungstheoretischer Perspektive. Harrison (2007: 1; vgl. 11-18) definiert generic enrichment in der augusteischen Dichtung als the way in which generically identifiable texts gain literary depth and texture from detailed confrontation with, and consequent inclusion of elements from, texts which appear to belong to other literary genres. Er unterscheidet dabei zwischen formalen, thematischen und metagenerischen Elementen (ebd. 19-33).

    48 Zur gattungsberschreitenden Intertextualitt in der hellenistischen Dichtung vgl. Schmakeit (2003) und Ambhl (2005: 12-22, bes. 13f.) mit weiterer Literatur. Zur

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  • Lucan und die griechische Literatur 25

    Unter den auerepischen Einflssen auf das Bellum civile spielt die Tragdie eine zentrale Rolle. Die Verwandtschaft zwischen Epos und Tra-gdie stellt seit der Poetik des Aristoteles einen vielbehandelten Gegen-stand der Literaturkritik dar, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass die attische Tragdie Stoffe und narrative Techniken der Homerischen Epen aufgreift, werden doch in einer Rckprojektion bereits der Ilias selbst tra-gische Qualitten zugeschrieben.49 In umgekehrter Richtung ist im oben genannten Sinn eines generic enrichment sptestens seit dem Hellenis-mus ein deutlicher Einfluss der Tragdie auf das Epos zu beobachten, so etwa in den Argonautika des Apollonios, welche neben den Homerischen Epen die Medea des Euripides als zentralen Prtext voraussetzen und dabei epische und tragische Darstellungsstrategien miteinander verbinden.50 Auch die frhrmische Literatur weist enge Beziehungen zwischen Epos und Tragdie auf, produzieren Livius Andronicus, Naevius und Ennius doch in beiden Gattungen, ein Phnomen, das in der Folge wieder bei Ovid und Lucan zutage tritt, die neben ihren Epen auch jeweils eine Medea-Tragdie verfassten.51

    Insbesondere Vergils Aeneis markiert den Beginn einer neuen Dimen-sion des Tragischen in der Geschichte des rmischen Epos. Bei der Eva-luation der Forschungsergebnisse zu tragischen Elementen in der Aeneis erweist sich indes als problematisch, dass die verschiedenen Studien ganz unterschiedliche Definitionen des Tragischen voraussetzen, von einzelnen Motiven und Strukturelementen ber die Figurencharakterisierung bis hin zu werkbergreifenden Themen und Fragenkomplexen, die mit der Trag-die assoziiert werden.52 Der Begriff des Tragischen gert dabei hufig in _____________

    rmischen Literatur allgemein vgl. Fedeli (1989), Jenkyns (2005), Harrison (2007) und die Beitrge in Papanghelis/Harrison/Frangoulidis (2013), speziell zu Vergil und Ovid die berblicke in den verschiedenen Companions (Farrell 1997 und 2009; Harrison 2002: 87-89; Keith 2002; Casali 2009).

    49 Zur Rezeption Homers in der attischen Tragdie vgl. Gould (1983), Garner (1990), Hunter (2004a: 241-245), Scodel (2005) und Ambhl (2010d). Zum (vor)-tragi-schen Homer vgl. u.a. Redfield (1975: bes. 69-98), Rutherford (1982), Slatkin (2007) und die etwas einseitige Studie von Rinon (2008). Von Albrecht (1970: 276, 299) sieht in der tragischen Weltsicht eine Verbindung zwischen Lucan und Homer; vgl. auch Lausberg (1985: 1588 Anm. 88, 1612f.).

    50 Vgl. dazu die Dissertationen von Nishimura-Jensen (1996) und Schmakeit (2003). 51 Zu den engen Verbindungen von Epos und Tragdie in den Biographien rmischer

    Dichter vgl. Barchiesi (1989: 115-118), Hardie (1997: 323-325) und Curley (2013: bes. 1-58, 217-235). Vgl. auch den berblick ber die Querbeziehungen zwischen Epos und Tragdie von Livius Andronicus bis Statius bei Dangel (2009).

    52 Siehe die Forschungsberblicke in Suerbaum (1980: bes. 267f.) und Hardie (1997) sowie die Skizzen von Horsfall (2007) und Harrison/Panoussi (2014). Die lteren Studien von A. Knig (1970) zu Vergils Rezeption der griechischen Tragdie so-wie von Stabryla (1970) und Wigodsky (1972) zu seiner Rezeption der republika-

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  • Einleitung 26

    Gefahr, durch eine allzu unspezifische Anwendung verwssert oder auf eine rein formalsthetische Betrachtungsweise reduziert zu werden, die zu-dem oft von einem Tragdienbegriff ausgeht, der eher der modernen Geis-tesgeschichte als dem antiken Verstndnis zu entspringen scheint.53

    Dieser Tendenz sucht ein besonders von Philip Hardie vertretener neu-erer Forschungsansatz dadurch zu begegnen, dass er Vergils Rezeption der Tragdie unter Rckgriff auf die ursprngliche soziopolitische Funktion der Gattung in eine direkte Verbindung zur Brgerkriegsthematik stellt; die tragischen patterns in der Aeneis reflektieren und problematisieren dem-nach die politischen und gesellschaftlichen Spannungen der Umbruchszeit zwischen Republik und Prinzipat.54 Die kulturhistorischen Implikationen dieses Vergleichs zwischen den gesellschaftlichen Kontexten im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. und dem Rom der Brgerkriegszeit sollen unten (Kap. 1.3.2.) nher betrachtet werden. Im gegenwrtigen Kontext ist vor allem die Verknpfung von Vergils intertextueller Bezugnahme auf die attische Tragdie mit der Brgerkriegsthematik von Bedeutung, besitzt doch gerade die Tragdie mit ihrem Fokus auf komplexen Konfliktkonstel-lationen sei es innerhalb der Familie oder im Kontext der Polis eine besondere Affinitt zum Thema des Bruder- und Brgerkriegs; die ins Epos integrierte Vielfalt dramatischer Perspektiven eignet sich dabei be-_____________

    nischen rmischen Tragdie bestehen im Wesentlichen aus Parallelstellensamm-lungen, welche teilweise bereits auf die antiken Vergilkommentatoren zurck-gehen (vgl. Zorzetti 1990). Andere Untersuchungen analysieren den Aufbau von einzelnen Szenen bis hin zu ganzen Bchern unter dem Gesichtspunkt tragischer Strukturelemente oder beziehen den Begriff des Tragischen im aristotelischen Sinn auf die Charakterisierung von Figuren wie Dido oder Turnus (vgl. etwa Harrison 1988: 59-62 und dens. 2007: 208-214; Deremetz 2000 zu Buch 2; Heinze 1965: 115-144, Wlosok 1976, Fernandelli 2002-2003 und die weitere umfangreiche Lite-ratur zu Buch 4; Lesueur 1998 zu Buch 7; Pavlock 1985 zu Buch 9); Schenk (1984) definiert Turnus dagegen als einen untragischen Helden. Panoussi (2002) liest Dido und Turnus vor dem Hintergrund von Sophokles Aias; ihre Mono-graphie (2009) zur Rezeption der griechischen Tragdie in der Aeneis legt den Schwerpunkt auf die rituelle Dimension der tragischen Intertexte (hnlich Krum-men 2004); Mac Grin (2013) stellt Vergils intensive Rezeption der dionysischen Tragdien und insbesondere von Euripides Bakchen in den historischen Kontext der Auseinandersetzung zwischen Octavian und Antonius.

    53 Zu den weit divergierenden Definitionen der Gattung Tragdie und des Tragischen von der Antike bis zur Neuzeit und dem prgenden Einfluss romantischer Konzep-te auf den modernen Tragdienbegriff siehe die kritische Studie von Most (2000).

    54 Hardie (1991; 1997); vgl. seine Definition der Aeneis als an amalgam of the com-memorative, panegyrical tradition of historical epic with the problematics of Attic legendary tragedy (1997: 325). Hardies Ansatz ist von Panoussi (2002; 2005: bes. 415; 2009: bes. 1-7, 218-226), Galinsky (2003) und Rossi (2004: bes. 67-69) auf-genommen und in modifizierter Form weitergefhrt worden; vgl. auch MacGrin (2013).

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  • Lucan und die griechische Literatur 27

    sonders zur Problematisierung der Schuldfrage, da sie keine eindeutige Stellungnahme fr die eine oder die andere Brgerkriegspartei zulsst und die Rezipienten dazu zwingt, ihre Position fortwhrend zu berdenken.55 Im Gefolge von Vergils Aeneis entfaltet der tragische Intertext eine analo-ge thematische Relevanz im thebanischen Zyklus von Ovids Metamorpho-sen und bereits auch unter dem Einfluss von Lucans Bellum civile in Statius Thebais.56

    Whrend bei Vergil, Ovid und Statius die Brgerkriegsthematik impli-zit in mythisch-tragischen Stoffen gespiegelt wird, macht Lucans Bellum civile den rmischen Brgerkrieg selbst zum Thema. Die Frage, ob und in welcher Form die Tragdie auch in Lucans Epos prsent ist, msste dem-nach eine noch unmittelbarere Relevanz fr dessen Deutung besitzen. Dennoch ist ein analoger Zugang zu Lucans Rezeption der Tragdie bisher noch nicht versucht worden. Zwar ist das Bellum civile, das im Mittelalter als Exempel des erhabenen Stils als eine tragedia klassifiziert wurde,57 in der Forschungsgeschichte fters als ein tragisches Epos oder selbst als eine epische Tragdie bezeichnet worden.58 Die przise Bedeutung dieser

    _____________ 55 Der von Vernant (1972b: 25) stammende Begriff der Problematisierung der

    Realitt (Hardie 1997: 313) wird von Galinsky auf den intertextuellen Prozess selbst bertragen (2003: 282): [] Virgil constantly goes beyond intertextual aes-thetics. The basic situation alone [] is not only inverted or adapted, but problem-atized by being presented from, or by eliciting, various viewpoints []. In short, the allusiveness is dramatic. Vgl. auch Conte zur spannungsreichen Kombination von episch-homerischen und tragischen Traditionen in der Aeneis (2007: 23-57: The Virgilian Paradox: An Epic of Drama and Pathos; 150-169: The Strategy of Contradiction: On the Dramatic Form of the Aeneid).

    56 Zum Einfluss der tragischen Dimension der Aeneis auf die sptere Epik, die er als epic of problematics definiert, vgl. Hardie (1993; 1993a; 1997: 322f. [Zitat]) und Hershkowitz (1998a: bes. 24-61). Zu Ovid und der Tragdie vgl. Hardie (1990), Gildenhard/Zissos (1999; 2000), Wheeler (2002: bes. 376-378 zur Rezeption bei Lucan) und Curley (2003: zu Sophokles und Ovids Tereus; siehe jetzt seine Mo-nographie von 2013). Zu Statius und der (attischen) Tragdie vgl. Ripoll (1998), Bessone (2006; vgl. ihre Monographie von 2011: bes. 19-22, 75-101), Braund (2006), Heslin (2008), Smolenaars (2008), Soerink (2014) und Hulls (2014). Kiels Forschungsbericht (2006: 65f.) uert sich allzu kritisch zur Gattungskreu-zung. Sauer (2011) untersucht dramatische Erzhlstrukturen bei Valerius Flaccus.

    57 Vgl. Fraenkel (1970: 18f.); Rutz (1970a: 3); von Moos (1979). 58 So etwa Marti (1975: 76: an epic tragedy); ausfhrlicher dies. (1964: 173): Ra-

    ther than an epic with a historical setting, the Pharsalia may be described as an an-ti-epic. But what is an anti-epic if not a tragedy? The conception as well as the formal design of the Pharsalia seems to me to be that of a tragic drama conceived on the large scale of the epic. hnlich Huler (1976: 206): Das Bellum civile Lucans ist eine Tragdie in epischem Versma; die Tragik ist von der Art, dass sie den Knstler selbst ergreift. An neuerer Literatur vgl. etwa Dangel (2009: 156: un immense drame).

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  • Einleitung 28

    plakativen Schlagworte bleibt dabei jedoch im Unklaren: Bezieht sich der tragische Charakter des Bellum civile auf dessen Inhalt oder auch auf dessen Form, und sollen damit allgemeine thematische Parallelen oder ein spezifisches intertextuelles Verhltnis zu bestimmten Tragdien bezeichnet werden?

    Im breitesten Sinn lsst sich der Brgerkrieg selbst als ein tragisches Thema definieren.59 Seine Reprsentation in den Begriffen eines Bruder-kriegs verweist auf essentiell tragische Themen wie Verwandtenmord, den Zyklus von Verbrechen und Rache und die Frage nach Erbschuld und indi-vidueller Verantwortung der Geschlechterfluch, der in der Tragdie das thebanische Knigshaus der Labdakiden oder die Familie der Atriden ver-folgt, ist auf ganz Rom ausgedehnt, wenn Caesar und Pompeius als Erben des Marius und Sulla erscheinen. Diese tragische Dimension manifestiert sich in Geistererscheinungen und Trumen, Prodigien und kosmischen Phnomenen wie dem verzgerten Sonnenaufgang oder dem in den Furien personifizierten furor.60 Manche dieser Motive treten verstrkt in der r-mischen Tragdie und insbesondere bei Seneca auf,61 doch sind sie bereits in der attischen Tragdie angelegt; so bezeichnet auch Aristoteles (Poetik 1453b20) Mord innerhalb der Familie als besonders geeigneten Tragdien-stoff.62

    In Bezug auf die tragische Charakterisierung der Figuren wird insbe-sondere Pompeius gerne als ein tragischer Held beschrieben und das siebte Buch als dessen Tragdie gelesen, die den Rezipienten nach der Aussage des Erzhlers in BC 7.210-213 wie einen Theaterzuschauer zwischen

    _____________ 59 Nicht zufllig spielte die Lucan-Rezeption eine zentrale Rolle fr das elisabethani-

    sche Brgerkriegsdrama (vgl. von Koppenfels 1975; berarbeitete Fassung 1991); vgl. jetzt auch die Beitrge von Hardie (2011) und Braund (2011).

    60 Loupiac (1990) id