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Kunst ist der Anfang Kunsttherapie bei Autismus-Spektrum-Störungen Uta von Essen Wer visuell denken kann, nimmt seine Umgebung nonverbal, sehr direkt und konkret in Bildern wahr. Der visuell Denkende versteht komplexe Zusammenhänge nicht als lineare logische Abfolgen sondern erfasst sie intuitiv als Gesamtbild. Jeder weiß, wie schnell und tief sich Bilder einprägen können und sich durch einen kurzen Blick komplexe Situationen und Gefühle erfassen lassen. Das verbale Denken hingegen kann solche komplexen Gefühle analysieren, beschreiben und deuten. Dem visuellen, verzweigten Denken steht das verbale, lineare Denken gegenüber. Dieses wird in unserer Kultur, z. B. in der Schule, überwiegend angesprochen und gefordert. Als Kunsttherapeutin habe ich beobachtet, dass Menschen mit einer Autismus-Spektrum- Störung auf der Ebene des visuellen Denkens viel leichter zu erreichen sind als auf andere Weise. Oft reicht schon eine kleine Kritzelzeichnung, um in der Therapie die Aufmerksamkeit eines Kindes oder Jugendlichen zu erregen. Viele meiner Klienten haben eine Tendenz zu sehr ausgeprägte Interessen, die sich um klar definierte Systeme wie etwa U-Bahn-Netze, Autobahnen oder Planetensysteme drehen und gerne künstlerisch dargestellt werden. Diese Systeme bleiben in ihrer Darstellung jedoch meist menschenleer. Die Darstellung von Menschen und Gesichtern wird häufig vermieden oder findet nur sehr stilisiert statt. Um soziale und zwischenmenschliche Situationen dennoch darstellen zu können, werden auf erfinderische Art und Weise Comicfiguren herangezogen oder ganz eigene Strichmännchen und Kopffüßler erfunden, die manchmal eine eindrucksvol- le Begabung zur Reduktion auf das Wesentliche zeigen (Abb. 1). Serielles Arbeiten und das Wiederholungen vertrauter Motive bieten einerseits Rückhalt und Sicherheit, dienen aber auch zum Verarbeiten noch unsortierter Wahrnehmungen. Kunsttherapeutische Interventionen werden von diesen Klienten zugelassen, wenn sie das eigene System „erweitern“, z. B. um den U-Bahn-Fahrer in einer zuvor menschenleeren U-Bahn (Abb. 2). Abb. 1: Meine Freunde Abb. 2: U-Bahn-Fahrer

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Kunst ist der Anfang Kunsttherapie bei Autismus-Spektrum-Störungen Uta von Essen Wer visuell denken kann, nimmt seine Umgebung nonverbal, sehr direkt und konkret in Bildern wahr. Der visuell Denkende versteht komplexe Zusammenhänge nicht als lineare logische Abfolgen sondern erfasst sie intuitiv als Gesamtbild. Jeder weiß, wie schnell und tief sich Bilder einprägen können und sich durch einen kurzen Blick komplexe Situationen und Gefühle erfassen lassen. Das verbale Denken hingegen kann solche komplexen Gefühle analysieren, beschreiben und deuten. Dem visuellen, verzweigten Denken steht das verbale, lineare Denken gegenüber. Dieses wird in unserer Kultur, z. B. in der Schule, überwiegend angesprochen und gefordert. Als Kunsttherapeutin habe ich beobachtet, dass Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung auf der Ebene des visuellen Denkens viel leichter zu erreichen sind als auf andere Weise. Oft reicht schon eine kleine Kritzelzeichnung, um in der Therapie die Aufmerksamkeit eines Kindes oder Jugendlichen zu erregen. Viele meiner Klienten haben eine Tendenz zu sehr ausgeprägte Interessen, die sich um klar definierte Systeme wie etwa U-Bahn-Netze, Autobahnen oder Planetensysteme drehen und gerne künstlerisch dargestellt werden. Diese Systeme bleiben in ihrer Darstellung jedoch meist menschenleer. Die Darstellung von Menschen und Gesichtern wird häufig vermieden oder findet nur sehr stilisiert statt. Um soziale und zwischenmenschliche Situationen dennoch darstellen zu können, werden auf erfinderische Art und Weise Comicfiguren herangezogen oder ganz eigene Strichmännchen und Kopffüßler erfunden, die manchmal eine eindrucksvol-le Begabung zur Reduktion auf das Wesentliche zeigen (Abb. 1). Serielles Arbeiten und das Wiederholungen vertrauter Motive bieten einerseits Rückhalt und Sicherheit, dienen aber auch zum Verarbeiten noch unsortierter Wahrnehmungen.

Kunsttherapeutische Interventionen werden von diesen Klienten zugelassen, wenn sie das eigene System „erweitern“, z. B. um den U-Bahn-Fahrer in einer zuvor menschenleeren U-Bahn (Abb. 2).

Abb. 1: Meine Freunde

Abb. 2: U-Bahn-Fahrer

Durch künstlerische Prozesse können sich in der Therapie von Menschen mit Autismus posi-tive Ressourcen „abbilden“ und „sichtbar“ werden und so in das innere Erleben integriert werden. Äußere Bilder werden zu inneren Bildern verarbeitet und das sichtbare Bild kann eine Verbindung zwischen dem inneren Erleben und der äußeren Wahrnehmung mit den gera-de für Autisten oft abstrakt erscheinenden Anforderungen herstellen. In der Kunsttherapie ist der Prozess mit seinen vielfältigen dialogischen Interaktionen genau-so wichtig wie das entstandene Kunstwerk. Neue Wege der Wahrnehmung, des Verhaltens oder des Selbstverständnisses - wie etwa als kreative und individuelle Persönlichkeit - können eröffnet werden.

Das Beziehungsgeflecht und der künstlerische Prozess Wie in der Psychotherapie geht es auch in der Kunsttherapie darum, einen guten Kontakt zum Klienten herzustellen und eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Ein Künstler produziert seine Kunst in der Regel allein, in Zwiesprache mit sich und der Leinwand oder einem ande-ren künstlerischen Material. In der Kunsttherapie tritt die Kunsttherapeutin in diesen künstle-rischen Dialog ein, den ein Kunstschaffender mit dem künstlerischen Material führt, indem sie dem künstlerischen Prozess oder dem Kunstwerk selbst Aufmerksamkeit widmet und auf der künstlerischen Ebene aber auch auf der Beziehungsebene interveniert. Aber es geht nicht nur um die Beziehung zwischen Klient und Therapeut, sondern auch um die Beziehung zu einer dritten Dimension: dem künstlerischen Werk oder dem künstlerischen Prozess. Kunst oder ein kreativer Prozess kann starke Gefühle auslösen, sowohl bei den Kunstschaffenden selbst als auch bei dem, der das Kunstwerk betrachtet. So entsteht ein Be-ziehungsgeflecht zwischen Klient, Therapeut und Kunstwerk. Dieser als „Umweg“ erschei-nende Weg der Kommunikation über das Kunstwerk bietet gerade für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung große Chancen. Menschen, die Schwierigkeiten haben, einem anderen Menschen in die Augen zu sehen, sind erleichtert, wenn sie erst einmal nur auf ein Papier oder auf kreatives Material blicken kön-nen. Der Blick der Kunsttherapeutin fällt auf das Bild statt in die Augen. Dies gibt den Klien-ten Gelegenheit, ihrerseits die Therapeutin zu beobachten. Für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, die manchmal nicht sprechen oder nur gezielt über ganz bestimmte Themen sprechen wollen, kann es erleichternd sein, sich nicht direkt mit dem Therapeuten austauschen zu müssen, sondern ein anderes Medium wählen zu können. Menschen, die sich in fremder und beunruhigender Therapieumgebung unbedingt auf irgendeine Art stabilisieren müssen, können dies z. B. durch wiederholende Zeichen auf dem Papier tun und erfahren so die Sicherheit, die sie in der Beziehungssituation mit dem Thera-peuten im Raum benötigen. Für den Klienten ist es viel leichter, auf indirekte Art, über ein Bild, ein künstlerisches Material oder durch Eintauchen in den künstlerischen Prozess mit jemandem in Kontakt zu kommen, als auf direktem Wege. Der Blick auf die Kunst kann der Anfang einer therapeutischen Beziehung und damit die Basis für das Ausbilden einer Kon-takt- und Beziehungsfähigkeit bilden.

Sarah war ein elfjähriges Mädchen, das nie sprach, sondern - besonders bei Aufregung - Geräusche in ihrer Kehle produzierte, die einem Gesang ähnelten. Sarah litt unter einer früh-frühkindlichen autistischen Entwick-Entwicklungsstörung. Zu Beginn jeder Stunde klapperte sie mit einem Schnuller wie mit einer Kastagnette

Abb. 3: "Verdichtung"

vor den Augen, bewegte sich kaum und konnte mich nicht ansehen. Sie war anfangs nur über akustische Signale und rhythmische Musik zu erreichen. Nachdem es langsam gelungen war, sie durch abwechselndes Spielen auf dem Keyboard oder Xylofon in eine dialogische Hand-lung hineinzuziehen, war es nach einem halben Jahr möglich, sie zum Malen zu motivieren. Ich reichte ihr dazu einen Stift und sie machte damit ein paar Striche auf das Papier. Dann wartete sie, bis ich ihr die nächste Farbe reichte. Sie achtete zwar nicht auf die genaue Farbe, aber es durfte nie der gleiche Stift noch einmal gereicht werden. Auch war es ihr sehr wichtig, dass alle Stifte immer wieder genau an ihren Platz in die Schachtel zurückgelegt wurden. Es schien ihr um eine gewisse Ordnung zu gehen. Unser Dialog (Stift reichen, Stift annehmen, malen, Stift weglegen) wiederholte sich so lange, bis das Blatt nahezu voll war und Sarah das Bild von sich schob (Abb. 3). Der regelmäßige Rhythmus und die damit verbundene struktur-gebende Ordnung unserer Zwiesprache hatte auf sie eine verlässliche und beruhigende Wir-kung: während des Malens „vergaß“ sie das Wedeln mit ihrem Schnuller und sie konnte das Produzieren des angespannten lauten Geräuschs über lange Strecken weglassen.

Das Reichen des Stiftes war nicht nur ein mechanischer Vorgang, sondern wirkte strukturbildend: Sarah entwickelte beim Malen ein Gespür für Leere und Fülle im Bildraum und ebenso ein Gefühl für Anfang und Ende eines Vorganges. Ihre Zeichnungen wurden nach und nach immer komplexer und wiesen größere Verdichtungen auf, es bildeten sich ein klares Zentrum und klare Richtungen ab. Nach einem Jahr der gemeinsamen Arbeit war in dem verdichteten Zentrum eine angedeu-

tete Form – ein Kreis – zu erkennen (Abb. 4). Wenn ein Kind in seiner frühen Entwicklungsphase zu zeichnen beginnt, ist nach ersten Krit-zelversuchen der Kreis - als Knäuel oder als Verdichtung - die erste Form und damit auch das erste Zeichen oder Symbol, was es abbilden kann. Diesen Versuch, einen Kreis darzustellen, könnte man sich auch vorstellen als den gestischen Versuch, den Raum, den das eigene Selbst einnimmt, zu beschreiben. Sarah begann deutlich, ein Gespür für das eigene Selbst und dafür, dass sie selbst es war, die das Bild herstellte, zu entwickeln. Heute, nach zwei Jahren Therapie will sie ihr fertig gestell-tes Bild oft selber an die Wand hängen und sie nimmt sich inzwischen selbst einen Stift oder holt sich eine Flasche mit flüssiger Farbe aus dem Regal. Sie ist deutlich selbständiger ge-worden und kann mit leichter Hilfestellung oft selbst entscheiden, was sie während der The-rapiestunde gerne tun möchte.

Unterstützung von Symbolisierungsprozessen In der Evolution gilt die Fähigkeit, Symbole bilden zu können, als ein bedeutender Entwick-lungsschritt des Menschen. Die Symbolbildung ist eng mit der Fähigkeit zum Denken und Abstrahieren verknüpft. Aus einer Vielzahl emotionaler Signale zwischen Mutter und Kind entwickeln sich zunächst die Sprache, dann das abstrakte Denken und schließlich die Fähig-keit, Symbole zu bilden. Der Gebrauch von Symbolen ist eine Voraussetzung für die soziale Kommunikation. Kinder entwickeln diese Fähigkeit um das zweite Lebensjahr herum. Sie

Abb. 4 : „Kreisbewegung“

sind dann in der Lage, eine Vorstellung von etwas zu entwickeln, was außerhalb ihrer selbst und ihrer eigenen Bedürfnisse liegt und können Wahrnehmungen und Handlungen voneinan-der trennen. Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen haben oft besondere Schwierigkeiten, Symbole zu bilden, können sich nur schlecht etwas Indirektes vorstellen oder sich auf Imaginationen einlassen. Symbole werden zwar benutzt, aber tendenziell eher wegen interessanter Formas-pekte oder im Sinne eines visuellen Zitats. Manche Menschen mit frühkindlichem Autismus haben z. B. eine ausgeprägte Vorliebe für Logos oder Werbeslogans. Diesen benutzten Zei-chen scheint aber der eigene Bezug zu fehlen, sie wirken losgelöst aus allen Zusammenhän-gen und erscheinen lediglich wie eine Momentaufnahme. Andererseits repräsentieren sie ge-naue Beobachtungen der Außenwelt und sind damit möglicherweise der Versuch, die Außen-welt zu erfassen, zu spiegeln und so in Kontakt mit ihr zu kommen. Kunsttherapie fördert und unterstützt Symbolisierungsprozesse in ganz besonderem Ausmaß. Wer Kunst macht, befindet sich schon automatisch in einem Dialog mit etwas außerhalb des eigenen Selbst. Innere psychische Prozesse werden im Außen abgebildet. Es ist ein Übertra-gen, ein Abbilden, ein Projizieren auf eine leere Leinwand. Schon die Handlung, etwas auf das Papier aufzutragen oder Material auszuprobieren ist bereits eine symbolische Handlung. Das Papier, die Leinwand oder das künstlerische Material werden zu einem imaginären Ge-genüber mit dem der Kunstschaffende ein Zwiegespräch führt. Die Zeichen auf dem Bild können eine emotionale Bedeutung erlangen und Gefühle auslösen. Damit übernehmen sie die Funktion eines Symbols. Das Kunstwerk selber kann emotional wichtig werden und zum Symbol werden. Das Finden eigener bedeutungsvoller Symbole oder eigener symbolischer Handlungen lassen den inneren psychischen Prozess sowohl für den Kunstschaffenden selbst erfahrbar und spürbar als auch für den Betrachter sichtbar werden. Symbole ermöglichen das gemeinsame Kommunizieren und gegenseitige Verstehen.

Tim war ein aufgeweckter, neunjähriger Junge, der schnelle Handlungen den langsamen vorzog, sich leicht ablenken ließ und nie lange mit seiner Aufmerksamkeit bei einer Sache bleiben konnte. Er begeisterte sich häufig für verschiedene Spezialgebiete und berichtete davon mit lauter Stimme und blitzenden Augen. Nach wechselnden Diagnosen, die sich auf seine Aufmerksamkeitsdefizite bezogen, bekam er die Diagnose Asperger Syndrom. In den ersten Therapiestunden probierte Tim ein Angebot nach dem Nächsten aus und war genauso schnell wieder damit fertig. Er wurde unruhig und langweilte sich. Immerzu sah er auf die Uhr und fragte, wann denn die Stunde endlich vorbei sei. Es wurde schnell deutlich, dass er am ehesten mit haptischen und schnell zu verarbeitenden Materialien, die ihm einen gewissen Widerstand bieten würden, zu erreichen war. Ich machte ihm den Vorschlag, mit dem Material Ton zu arbeiten.

Abb. 5: Detail „Augen“

Tim begann, den Ton intensiv zu bearbeiten. Er bohrte und ritzte, teilte, stückelte, schnitt und stach in das weiche aber schwere Material und knetete am Ende immer wieder alles zu einem Klumpen zusammen. Er wollte mit den Fäusten auf den Ton einschlagen. Stattdessen zeigte ich ihm, wie der Ton geschlagen bzw. geworfen werden muss, damit die Luft entweichen kann. Tim war begeistert von dieser Möglichkeit und warf den Ton mit großer Wucht und lautem Geschrei auf den Boden. Seine Mutter berichtete später, dass er hinterher auffallend entspannt wirkte. Die Arbeit mit dem geduldigen Material Ton hatte eine entladende, beruhi-gende, entspannende und zentrierende Wirkung auf Tim. Obwohl Tim in den darauf folgenden Wochen nie eine Form fertig stellte, sondern seinen Ton viele verschiedene Metamorphosen durchlaufen ließ, knetete er am Ende immer wieder alles zu einem Klumpen, manchmal in Form einer Kugel, zusammen. Er bestand darauf, beim nächsten Mal weitermachen zu wollen. Das Einpacken und Feuchthalten des Tons am Ende der Stunde wurde ein wichtiges Ritual. Angesichts der Schnelligkeit und Häufigkeit dieser Verwandlungen begann ich, Fotos von den verschiedenen Phasen zu machen. Durch das Unterbrechen der Metamorphosen versuchte ich, den flüchtigen Moment festzuhalten und Tims Wahrnehmung für die Qualität und die Idee, die dieser momentanen Form schon innewohnte, zu schärfen. Es ging mir darum, ihm ein Ge-fühl der Kohärenz, der Fähigkeit Zusammenhänge zu erfahren und herzustellen, zu vermit-teln. Wo ich anfangs durch Nachfragen, Beschreiben und das Fotografieren versuchte, die Form in ihrer Flüchtigkeit festzuhalten, gab er bald seinen „Phasen“ selber Namen: „Die-zu-Boden-schlagen-Phase“, „Die-in-den-Ton-schlagen-Phase“, „Die-Schutzschild-Phase“, „Die-Pfannkuchen-zuschneide-Phase“, „Die-Pfannkuchen-zur-Kugel-formen-Phase“, „Die-Auffang-Roll-Phase“ und „Die-irgendwas-Cooles-daraus-formen-Phase“. Diese letzte Phase allerdings, „Die-irgendwas-Cooles-daraus-formen-Phase“ erreichte Tim lange Zeit nicht. Dass er sie aber theoretisch benannte, zeigte mir, dass er selber eigentlich gerne diese Phase erreichen wollte. Ich versuchte, nicht so zu erscheinen, als würde ich das erwarten. Ich wusste, dass ihn das unter Druck setzten würde. Wir legten ein Fotobuch an, das immer umfangreicher und eindrucksvoller wurde. Das Buch half ihm dabei, seine vielen sprudelnden Ideen nicht als ein Defizit an Durchhaltevermögen zu verstehen, sondern als et-was Wertvolles. Die Kugel, die entstand, wenn Tim wieder einen Zustand zusammen drückte, wiederholte sich und verdeutlichte ihm möglicherweise einen wichtigen Formaspekt – den Aspekt der Ganzheit und Vollständigkeit. Nach drei Monaten begann ich parallel zu ihm ebenfalls mit Ton zu arbeiten. Da er leicht zu beeinflussen war, achtete ich besonders darauf, ihm weiterhin Raum für seine eigene Formen-sprache zu lassen und legte den Schwerpunkt vor allem auf das langsame Arbeiten. Unsere Stunden wurden sehr still, fast meditativ. Zum ersten Mal entstand auf Tims Arbeitsbrett eine deutlich erkennbare Form, die stabil blieb: Aus einer Kugel entstand eine Kopfform und die-ser Kopf bekam ein Gesicht eingeritzt. Am Ende dieser Stunde knetete Tim sein Werkstück nicht wieder zusammen sondern ließ es vor seinem inneren Kritiker bestehen und wickelte es in feuchte Tücher. In der folgenden Stunde arbeitete er daran weiter und hatte eine ganz be-sondere Idee: Er fand, dass der Kopf rundherum ganz viele Augen bräuchte und ritzte neben den beiden normalen Augen weitere Augen ein (Abb. 5). Als der Kopf nach den Ferien ge-trocknet war, bemalte er ihn. Er war sehr stolz und hatte nun die „Die-irgendwas-Cooles-daraus-formen-Phase“ erreicht.

Außerdem hatte er mit diesem „Viel-Augenkopf“ (Abb. 6), wie er ihn nannte - ein überzeugendes Symbol für seine ganz eigene Art der Wahrnehmung, eben besonders viele Dinge aus allen Richtungen sehen und wahrnehmen zu können, entwickelt. Sein „Viel-Augenkopf“ verkörpert einerseits Reizüberflutung und eine fragmentierte Wahrnehmung, und wird doch durch diesen Ausdruck zu einer Form von besonderer Stärke, besonderer Fähigkeiten und wirkt identitätsbildend. Tim kann seine Art der Wahrnehmung benennen und ausdrücken, was eine Voraussetzung für die Bewältigung von Defiziten sein kann, da er sich selbst besser versteht und sich dadurch auch anderen besser erklären kann. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, einen Platz in einem sozialen Gefüge einzunehmen und sozial zu kommunizieren.

Das Kunstwerk als Vermittler Der Begriff „Übergangsobjekt“ geht auf den englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Do-nald Winnicott (2006, S.10) zurück und meint jenen unverzichtbaren Teddy oder jene Schmu-sedecke, welche ein Baby benutzt, um sich über die Abwesenheit der Mutter hinwegzutrösten. Das Übergangsobjekt entsteht zwischen vertrauter Innenwelt und der noch fremden Außen-welt, indem es z.B. durch Eigenschaften wie Geruch, Wärme oder Weichheit an die intime Beziehung zur vertrauten Mutter erinnert. Es ist ein symbolischer Ersatz für das sichere Ge-fühl, dass sonst die Mutter bietet und in diesem Sinne eine Vorstufe für die Funktion der Symbolbildung. Die Fähigkeit, sich so ein Übergangsobjekt selbst auszuwählen oder zu „er-schaffen“, ist eine erste kreative Leistung. Das Baby erlebt sich nicht mehr als überwiegend abhängig, sondern erfährt sich erstmals als selbständig Handelnder. Das Übergangsobjekt hilft ihm dabei, seine Gefühle zu regulieren und sich selber zu beruhigen. Übergangsobjekte können aber auch zu späteren Zeitpunkten des Lebens wichtig werden und zwischen inneren psychischen Bedürfnissen und der realen Situation in der Außenwelt einen Übergang schaffen. So etwas könnte z.B. das Bedürfnis nach gelungenen sozialen Kontakten sein, die sich aber in realen Situationen als schwierig gestalten. Übergangsobjekte vermitteln Impulse, die in Situationen, für Verhaltensweisen oder Gefühle, die an die Außenwelt gerich-tet ist, nötig wären. In der Kunsttherapie kann das entstandene Kunstwerk oder der künstlerische Prozess die Funktion eines Übergangsobjekts einnehmen, wenn es zwischen der inneren Wahrnehmung, den eigenen psychischen Bedürfnissen und der Wahrnehmung der Außenwelt bzw. den An-forderungen der äußeren Welt vermittelt, indem es z.B. eine Vision entwickelt oder an eine bestimmte Fähigkeit oder Ressource erinnert.

Abb. 6: „Viel-Augenkopf“

Abb. 7: „Papiermaul“

Marco, 9 Jahre alt mit der Diagnose Asperger Syndrom und Teilhochbegabungen, versprühte den Charme eines genialen Erfinders und Entertainers, der seine Ideen in der begrenzten Zeit der Therapiestunde und vor Publikum umsetzen wollte. Er hatte in den ersten Monaten der Therapie ein großes Vergnügen daran, Maschinen zu „erfinden“, die er aus allem, was im Haus zu finden war, zusammenbaute. Mit leichter Hand verwendete er schnell und einfach zu verarbeitendes Material wie etwa Kreppband und Pappe. Vorschläge, die

darauf hinausliefen, die Maschinen stabiler zu machen, die aber auch mehr Zeit in Anspruch nahmen, schienen ihn zu langweilen. Er ließ kaum Unterstützung und Interventionen zu und schlug mir sogar Material, das ich ihm anbieten wollte, aus der Hand. Nachdem ich mich zu seiner „Assistentin“ erklärte, kam lang-sam eine gewisse - von Marco tolerierte - Interaktion und Kommunikation zustande. Er wollte aber unbedingt die Kontrolle über das Geschehen behalten - so nahm er meine Vorschläge nie direkt an, sondern griff z. B. nach bereit gelegtem Material nur dann, wenn ich es scheinbar unbeabsichtigt an einer Stelle im Raum liegen ließ, wo Marco es selber „finden“ konnte. Sei-ne Maschinen waren in ihrer möglichen Funktion einleuchtend und die Fantasienamen, die er ihnen gab, sehr anrührend. Zum Beispiel entstanden eine „Hautdurchbruchmaschine“, ein praktischer „Wandsauger“, ein „Augenmikroskop“ oder eine „Seilschnappinsektenfalle“. Die Art und Weise dieses Herstellungsprozesses wirkte hingegen hektisch, demonstrativ und in ihrer scheinbar unendlichen Fülle auch überbordend. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Marco unter Leistungsdruck stand und die unbekannte Situation sowie die unbekannte Thera-peutin mit all diesen Maschinen besser kontrollieren wollte. Marco verlor sofort nach der Therapiestunde das Interesse an seiner Erfindung. Um die Fülle der Erfindungen zu strukturieren und zusammenzuhalten und ihm damit ein Gefühl von Kohärenz und Wertschätzung zu geben, verwahrte ich am Ende der Stunde seine Erfindungen in einem großem Karton. Nach einigen Monaten und einem großem überquel-lendem Karton mit Erfindungen interessierte er sich plötzlich für diesen umhüllenden Karton. Er kam auf eine ganz neue Idee und bastelte ein Lebewesen, welches in diesem Karton leben sollte: Das „Papiermaul“ (Abb. 7). Immer wieder fragte er im Verlauf des Jahres nach dem Papiermaul, als wäre es lebendig, und wollte nach ihm sehen. Er kümmerte sich im Spiel um das Papiermaul, übte soziale Fähigkei-ten an ihm, gab ihm zu essen, baute ihm einen Fernseher, sprach mit ihm, ließ ihn rülpsen, gähnen und Luft lassen (was Marco selbst oft tat) und schimpfte daraufhin mit ihm usw. Mit-hilfe des Papiermauls fing er auch an, wirklich mit mir zu sprechen und erzählte von Proble-men in der Schule. Viele Projekte, die wir inzwischen in der Therapie bearbeitet haben, und einige seiner besonderen Interessen wurden nach einiger Zeit wieder abgelegt oder waren abgeschlossen (auch das Erfinden von Maschinen) – das Interesse für das Papiermaul blieb. Das sorgfältige Bewahren und in gewisser Weise Umsorgen seiner zerbrechlichen und flüch-tigen Erfindungen schien dazu geführt zu haben, dass Marco sich nun mehr für etwas „Le-bendiges“ interessierte und die Kontaktaufnahme sowie eine zwischenmenschliche Beziehung zu mir zuließ. Das „Papiermaul“ wurde zu einem Übergangsobjekt für Marco und half ihm

dabei, aus der Welt der genialen, aber einsamen Maschinen in die Welt der Lebewesen einzu-treten.

Nach zwei Jahren Therapie hat sich zwischen uns eine rege und interaktive Kommunikation entwickelt, die z. B. seine oft schwierige Situation in den Schulpausen mit den anderen Kindern oder seine Erfahrungen mit Freundschaft zum Inhalt hat (siehe oben Abb. 1). Wir legen Themenbücher an, z. B. zum Thema „Gefühle“, in denen er Gefühle zeichnerisch interpretiert (Abb. 8).

Identitätsentwicklung im intermediären Raum Als „Alleinsein in Gegenwart eines anderen“ beschreibt Winnicott (2006, S. 59) den Zustand, den ein Kind in Gegenwart der Mutter erlebt, wenn es sich spielerisch den ersten eigenen Er-kundungen und Interessen widmet, wobei es aber stets weiß, dass die Mutter weiterhin als Unterstützung im Hintergrund anwesend ist. In diesem „intermediären Raum“ (Winnicott 2006, S. 23) kann durch innere Impulse ein Gefühl für den eigenen psychischen Raum entste-hen. Die Mutter hat idealerweise die Aufgabe, dem Kind genügend Gelegenheiten zu ver-schaffen, um den eigenen Impulsen nachgehen zu können. Die eigene Identität bildet sich in diesem Raum zwischen den inneren Impulsen und dem „Verschaffen von Gelegenheiten“ (Winnicott 2001, S. 134). Durch vielfältige kunsttherapeutische Interventionen kann der Kunsttherapeut an dieser inne-ren Welt teilhaben und im „intermediären Raum“ Erweiterungen oder Entwicklungen anre-gen und fördern. Da direkte Interventionen oft nicht verstanden und angenommen werden, ist die unterstützende Anwesenheit und das diskrete „Verschaffen von Gelegenheiten“ ein ent-scheidender Teil der Kunsttherapie. Materialangebote, unterstützende verbale Anregungen oder paralleles Zeichnen können festgefahrene oder sich wiederholende Bildwelten erweitern. Auf der visuellen Ebene werden Interventionen von Außen viel leichter zugelassen und schnell in die eigenen Bilder integriert. Kunst ist ein Prozess, der ständig modifiziert werden kann, der sich verändert. Mit einem ge-wählten künstlerischen Material, durch Form- und Farbgebung lassen sich innere Bilder ge-zielt ausdrücken und doch besteht jederzeit die Möglichkeit einer Erweiterung und einer Ver-änderung. Menschen, die auf Veränderungen oft mit Unruhe und Verwirrung reagieren, erfah-ren künstlerische Veränderungen nicht als Bedrohung von Außen, da sie es selber sind, die diese Veränderungen verursachen. Ich habe oft beobachtet, dass eine künstlerische Verände-rung nach langen sich ähnelnden Bilderserien geradezu euphorisierende Wirkung und auf den Betreffenden haben kann. Dieses positive Erfahren von Erweiterung und Veränderbarkeit lässt sich auf Situationen im alltäglichen Verhalten übertragen, da es den inneren Raum für Neuori-entierungen nachhaltig öffnet. So lassen sich einige Kinder in diesem therapeutischen Verlauf manchmal von ihren selbst erfundenen Figuren „mitreißen“ und es entstehen Geschichten, die die Fantasie anregen und sich weiterspinnen lassen. Durch Zusammenfassen in Büchern, Leporellos oder auch in Form von vergrößerten Storyboards lassen sich diese Geschichten in eine zusammenhängende Struktur bringen, deren vertrauter Faden in den folgenden Therapiestunden wieder aufge-nommen werden kann. Besonders ausgeprägte Interessen bilden in der Kunsttherapie einen

Abbildung 8: „Richtiges Heul-Traurig-Gefühl“

Abb. 11: „Menschenland-Geisterland“

strukturierenden Rahmen und werden zur sicheren Ausgangsbasis für neue Enddeckungen, Neuorientierungen und die Identitätsentwicklung.

Der achtjährige Malte mit der Diagnose Asperger Syndrom, war von der Comicfigur Spider-man fasziniert. Er wurde nicht müde, fortwährend Szenen aus den Spiderman-Comics zu zeichnen, wobei Spiderman selbst nur mit Maske zu sehen war (Abb. 9). Durch wiederholtes behutsames Nachfragen, wie Spiderman denn eigentlich ohne Maske aussieht oder ob er denn wohl auch mit der Maske isst oder schläft usw., zeichnete Malte nach einem Dreiviertel Jahr der Therapie einen Spiderman, der sich gerade die Maske vom Kopf zieht (Abb. 10). Malte stellte dabei nüchtern fest, dass unter der Maske „schließlich nur ein ganz normaler Junge“ ist. Er entwickelte daraufhin Interesse für ganz andere Themen, deren Hauptfiguren nun auch auf dem Papier richtige Gesichter bekamen. Und er zeichnete sich sogar selbst: Ein Junge, der bei McDonald einen „Burger“ isst und dabei mit einem stark geschrumpften Spiderman aus Plas-tik spielt, die es als Zugabe zu einem Menü gibt. Die Identifikation mit Spiderman wich einer realistischeren Darstellung seines wirklichen Lebens.

Nachdem sich im weiteren therapeutischen Verlauf genügend Vertrauen gebildet hatte, war es möglich, Malte vorzuschlagen, zusammen auf einem Blatt zu zeichnen. Malte akzeptierte meinen Vorschlag, zog aber zunächst ganz pragmatisch eine Trennungslinie zwischen unsere beiden Papierhälften und verfolgte ziemlich unbeirrt sein zeichnerisches Vorhaben. Er wollte ein „Geisterhaus“ zeichnen. Ich habe seine Zeichnung in weiten Teilen auf meiner Hälfte gespiegelt, aber auch in einigen Punkten

„ergänzt“. Dies zog nun doch seine Aufmerksamkeit auf sich und es begann ganz langsam ein zeichnerischer Dialog. Wo in meinem Haus Menschen wohnten, wohnten in seinem Haus „Geister“. Er bezeichnete meine Seite als „Menschenland“ und seine Seite als „Geisterland“. Malte nahm bald Kontakt zu meiner Seite auf und überschritt sogar die Trennungslinie, indem

Abb. 10: Ohne Maske Abb. 9: Mit Maske

Abb. 12: „Pferde-Collage“

er einen Geist das andere Land durch ein Fernglas beobachteten ließ. Flugzeuge und Bälle durften zumindest den Luftraum durchqueren und in weiteren Bildern dieser Art konnten die Geister mithilfe von Zauberkraft das andere Land betreten (Abb. 11). Malte entwickelte im-mer mehr Ideen und hatte großen Spaß an unseren künstlerischen Dialogen.

Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis und Selbstwertgefühl In der Kunsttherapie werden strukturbildende, symbolbildende und identitätsbildende Prozes-se gefördert. Und für viele Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung kann Kreativität eine Möglichkeit sein, ihre Wahrnehmungen und Gefühle in eine persönliche Ordnung zu bringen und selbst zu regulieren. All diese Prozesse wirken Ich-stärkend und haben unmittel-bare Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl. Der Kunstschaffende erlebt sich selbst als akti-ve und handelnde Person und als Schöpfer und Urheber seiner eigenen Ordnung. Er erfährt hierbei Anerkennung durch die Kunsttherapeutin, durch seine Umgebung und möglicherweise auch durch Ausstellungen. Fundamental ist die Erfahrung, dass sich vermeintliche Defizite in ihr Gegenteil verkehren können und als Stärken, als ganz besondere Talente und als Besonderheiten der Persönlichkeit wahrgenommen werden können. Die Leidenschaft für bestimmte Themen und die Fähigkeit, sich auf ein Detail oder ein Thema zu fokussieren, zeichnet nicht nur viele Autisten, sondern auch viele Künstler aus. Künstler können hier positive Identifikationsfiguren sein. Das visuel-le Denken begünstigt eine genaue Beobachtungsgabe, die Fähigkeit, mehrere Aspekte gleich-zeitig zu bemerken, die Begabung zur Verdichtung, die Fähigkeit zur Reduktion oder kon-struktive Begabungen. Wesentliche Merkmale für das Selbstverständnis eines Künstlers sind eine besonders ausgeprägte Individualität und die Fähigkeit, vermeintlich bekannte Dinge auf unkonventionelle und originäre Art wahrnehmen und ausdrücken zu können. Die Kunst aus der Kunsttherapie kann ein Anfang sein, diese besonderen Formen der Wahr-nehmung als persönliche Ressource und besondere Stärke anzuerkennen.

Als ich Nele kennen lernte, war sie 17 Jahre alt und hatte schon einen langen Leidensweg hinter sich. Einige Stationen hießen „Mobbing in der Schule“ oder „Psychiatrieaufenthalt“. Nele litt unter selektivem Mutismus. Sie geriet in Anforderungssituationen in eine körperliche Erstarrung, hatte massive soziale Ängste und vermied dementsprechend alles, was mit Kon-takt zu Anderen zu tun hatte. Sie sprach seit der Vorschulzeit nur mit einigen Familienangehörigen und war außerstande, an sozialen Aktivitäten

teilzunehmen. Nele betrat das Therapieinstitut nur in Begleitung der Mutter und der Zwil-lingsschwester. Sie vermied peinlich, jemanden anzusehen, benötigte konkrete Anweisungen, um sich z. B. auf einen Stuhl zu setzen und bewegte sich dabei sehr eingeschränkt und kon-trolliert. So eine einmal eingenommene Position vermochte sie über die gesamte Zeitspanne der Therapie beizubehalten. Sie war auffallend schmal und trug stets die gleichen Kleidungs-stücke. Kurze Hosen (auch im Winter) und bunt geringelte Kniestrümpfe erinnerten an das Selbstbewusstsein und die Fröhlichkeit einer Pippi Langstrumpf. Neles eingefrorener Ge-sichtsausdruck und ihre durchweg starre Körperhaltung verursachten dagegen bei Vielen, die mit ihr zu tun hatten, ein Gefühl von lähmender Hilflosigkeit.

In den ersten Monaten las ich ihr oft vor und wählte dafür Themen, von denen ich annahm oder wusste, dass sie sich dafür interessierte: Fotobände oder Sachbücher über Pferde oder Informationen über Berufe, die mit Pferden oder Tieren zu tun hatten. Ich ermutigte sie, Mate-rial über Pferde von zu Hause mitzubringen, was sie auch bald tat. Zuerst brachte sie Pferde-zeitschriften mit, die wir gemeinsam ansahen, dann Fotos, die sie selber gemacht hatte, schließlich einen ganzen Ordner voller Pferdezeichnungen. Ich sprach viel mit Nele und erklärte ihr mein Vorgehen, fragte sie immer wieder etwas, ohne eine Antwort einzufordern sondern achtete auf winzige Bewegungen der Augen und regist-rierte dies laut als mögliche Zustimmung oder Verneinen. Ich lobte ihre Fortschritte. Ich hoff-te, dass in dieser Atmosphäre der geteilten Aufmerksamkeit und des geschützten Raumes, ihre eigene Identität wachsen würde. Ich nahm die Funktion eines Hilfs-Ichs ein und tat das, was sie im Beisein anderer nicht tun konnte: Ich zeichnete an ihrer Stelle Pferde, ich pauste Pferde ab, ich probierte verschiedene künstlerische Materialien und Techniken aus, ich übernahm in den gesprochenen Dialogen auch ihren möglichen Part. Nach einigen Monaten aber schien es, als wäre die Therapie zum Stillstand gekommen. Mir wurde klar, dass ich ihr zu viel abnahm und Nele so keine weitere Notwendigkeit entwickeln konnte, etwas zu verändern. Ich beschloss, sie mit meinen Gedanken zu konfrontieren. Und ich bat sie, falls sie wirklich weiter mit mir arbeiten wolle, um ein deutliches Zeichen. Eine Woche später bekam ich dieses deutliche Zeichen. Nele brachte mir eine Collage mit. Sie hatte aus Pferdezeitschriften Unmengen von kleinen gleich großen Pferden feinsäuberlich ausgeschnitten und auf gerastertes DIN A4 Papier geklebt (Abb. 12). Die Pferde waren fä-cherartig ineinander geschachtelt und miteinander verwoben, keines stand allein sondern sie sahen einander über die Schulter, sahen den Betrachter an und drängten sich dabei dicht zu-sammen. Sie bildeten ein komplexes dreidimensionales passgenaues Puzzle, was sich vom Untergrund abhob und in seiner Struktur an eine dicke Schuppenhaut erinnerte. Neles Mutter erzählte mir, das Nele während der ganzen Woche intensiv an diesem Objekt gearbeitet hatte. Ich war, als ich die Collage in den Händen hielt, sprachlos angesichts dieser leidenschaftlichen Wucht an Ausdrucksstärke und wusste nicht nur, dass ich ein einmaliges Kunstwerk in der Hand hielt, sondern verstand es als ein deutliches Zeichen, dass Nele mit der Therapie weitermachen wollte. Nele hatte zum ersten Mal - in ihrer eigenen Sprache - mit mir gesprochen. Je mehr Fortschritte Nele nach anderthalb Jahren in der Therapie gemacht hatte, desto schlechter schien es ihrer Zwillingsschwester zu gehen. Sie war schleichend und fast unbe-merkt an einer Essstörung erkrankt und wurde schließlich, als ihr Zustand lebensbedrohliche Ausmaße annahm, in die Psychiatrie eingeliefert. Damit fiel ihre Funktion als Neles „Sprach-rohr“ im Alltag vollkommen aus. Möglicherweise erhöhte dies Neles Bereitschaft, sich stärker am therapeutischen Dialog zu beteiligen. Ich konnte jetzt eine Art Gesprächsbuch einführen, in das ich eine Frage schrieb und ihr verschiedene Antworten zur Auswahl gab, die sie an-kreuzen konnte. Allerdings musste ich dafür den Raum verlassen, damit sie Gelegenheit hatte, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Und ich musste die „richtige“ Frage stellen. Schwierige, meist allzu persönliche Fragen ignorierte sie. Nele machte die Erfahrung, dass es zwischen dem absoluten Verweigern von Kommunikation bzw. ausschließlich nur an Familienmitglieder gerichtete Kommunikation auch etwas dazwi-schen gab, was sie selber regulieren konnte. Nele konnte mit dem Ankreuzverfahren sogar ihre Sorge um die Schwester äußern. Das Schweigen und seine Schutzfunktion konnte manchmal thematisiert werden. Einzelne Worte versuchte sie mit Ermutigung zu schreiben –

einmal gelang es ihr. Sie konnte den Namen ihres Pferdes notieren. Eine geschriebene Kom-munikation schien in greifbare Nähe zu rücken. Ich begann ein dialogisches, abwechselndes Malen mit ihr. Ich fing an und bediente mich da-bei mit Elementen „ihrer“ Sprache (Collagematerial, Tiere) und gab ihr die angefangene Zeichnung mit dem Auftrag mit, sie zu Hause weiterzumalen. Nele antwortete mir auf der Bildebene und so entstand kontinuierlich über mehrere Wochen hinweg ein gemeinsames Bild, das unseren Dialog „abbildete“. Mit ihrem Einverständnis reichte ich ihre Pferde-Collage für die geplante Ausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ von autismus Deutschland e. V. ein. Die Collage wurde für die Ausstellung angenommen. Sie probierte neue Materialien aus, wie Ton oder Pastellkreiden, Gouache. Oft konnte sie kleine Regungen wie Nicken oder Kopfschütteln kaum noch unter-drücken. Nachrichten von der entstehenden Ausstellung sowie Organisatorisches nahm sie scheinbar ungerührt zur Kenntnis. Aber sie unterschrieb die nötigen Einverständniserklärun-gen z.B. für die Veröffentlichung ihrer Collage. Es erschien ein Zeitungsartikel zur Ausstellung, der ausgerechnet Neles Bild als Aufmacher groß abdruckte. Diese Anerkennung von Außen beschleunigte unsere Therapie. Nele änderte zum ersten Mal, seitdem ich sie kannte, ihren Kleidungsstil. Sie legte die geringelten Kniestrümpfe ab und trug lange Hosen. Sie besuchte zum ersten Mal einen Zahnarzt, um sich die Zähne richten zu lassen. Sie sah nun so alt aus, wie sie wirklich war: wie eine junge Frau von 19 Jahren. Wir probierten neue Formen der Kommunikation aus: Handy, SMS und den Computer. Sie schrieb nun einzelne Sätze. Gegen Ende der bewilligten Therapieeinheiten stellte sie eine weitere Collage her: Diese war nahezu identisch mit der ersten. Nur dass diesmal die Pferde das ganze Blatt bedeckten und keinen Horizont frei ließen. Inzwischen war Nele 20 Jahre alt geworden und nach drei Jahren Therapie lehnte es der Kostenträger ab, weitere Therapieeinheiten zu übernehmen. Heute hat Neles Familie einen Laptop eingerichtet, den Nele rege nutzt. Sie hat inzwischen eine E-Mail-Adresse, über die wir regelmäßig kommunizieren. Sie hat sich ein Pony gekauft (sie hatte früher schon mal ein Pferd) und sie hat angefangen, ein kleines Internetgeschäft zu betreiben: Sie bemalt Spielzeugpferde aus Plastik nach der Vorlage berühmter Rennpferde und bietet diese im Internet zum Verkauf an. Einige hat sie schon verkauft. Sie antwortet mir nicht immer sofort auf meine E-Mails, aber meistens. Als ich sie fragte, ob ich für diesen Vor-trag einiges aus der Therapie erzählen darf, antwortete sie knapp: „hallo, ja, Sie können ein-zelheiten von der therapie erzählen. mir geht es soweit ganz gut. mfg nele“ Literatur Greenspan, Stanley I.; Shanker, Stuart G.: Der erste Gedanke. Weinheim und Basel 2007 Janert, Sybille: Autistischen Kindern Brücken bauen. München 2003 Limberg, Renate: Kunsttherapie bei frühen Störungen. Aachen 1998 Sacks, Oliver: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Hamburg 2010 Theunissen, Georg u. Schubert, Michael: Starke Kunst von Autisten und Savants. Freiburg im Breisgau 2010 Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 2006 Winnicott, Donald W.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen 2001