Kunststücke · den Ameisen im Gänsemarsch, das die Kinder so mögen. Das alles wird es nicht mehr...

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Leseprobe aus: Rolando Villazón Kunststücke Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Transcript of Kunststücke · den Ameisen im Gänsemarsch, das die Kinder so mögen. Das alles wird es nicht mehr...

Leseprobe aus:

Rolando Villazón

Kunststücke

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Rol a n do Vi l l a zón

KunststückeAus dem Spa nischen von

Willi Zur brüggen

Rom a n

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Die Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel «Malabares»bei Espasa Libros, Barcelona.

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,Reinbek bei Hamburg, März 2016

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg

«Malabares» Copyright © 2013 by Rolando VillazónInnengestaltung Joachim Düster

Umschlaggestaltung Anzinger|Wüschner|R asp, MünchenUmschlagabbildung Oktay Ortakcioglu/Getty Images

Satz aus der Fleischmann PostScript bei Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung CPI books GmbH, Leck

ISBN 978 3 499 26884 7

Für Lucía, immer.

Und für Alejandro Radchik.

Prolog

«Was schreibt er da bloß alles in sein blauesBuch?», fragt Max mit Stentorstimme.

«Sein Leben in einer Parallelwelt», antwortetClaudio bedächtig.

Eins

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Etwas heult. Etwas schmerzt.Macolieta sitzt mit dem blauen Buch auf dem Schoß in sei-

nem Bett, kann aber nicht mehr schreiben. Er seufzt, blät-tert zur ersten Seite zurück und liest noch einmal den erstenAbsatz.

Du bist aufgewacht, ohne die Augen zu öffnen. Diesmal ist eswahr. Diesmal bist du nicht mehr du selbst, sondern bist imKörper und im Leben eines anderen aufgewacht. Hinter dirlässt du den Unentschlossenen, den im Dickicht seiner endlosenFragen nach Antworten Suchenden. Du hast das alte Ich wieeine nutzlose Haut abgeworfen, und wenn du jetzt die Augenaufschlägst, wirst du feststellen, dass du in einem Flugzeugnach Barcelona sitzt; dein Name ist Balancín, und neben dirist, im Schlaf deine Hand festhaltend, sie, Verlaine, deine Ant-wort.

Etwas heult. Etwas schmerzt.Der im Mondlicht tanzende Staub lässt die Linien der

Wände, Möbel und Türen seines Zimmers verschwimmen,genau wie in jener Nacht vor Jahren, als er, um das einset-zende Heulen zum Schweigen zu bringen, anfing, in demblauen Buch die schillernden Abenteuer des Clowns Balan-cín und seiner geliebten Verlaine aufzuschreiben; die Ge-schichte dieses fantastischen Lebens, das zu führen er sichvorstellte, wenn er Sandrine gefolgt wäre. Seines Lebens in

einer Parallelwelt. Er hat Seite um Seite vollgeschrieben,doch das Heulen hört nicht auf. Und Balancín – mit Verlainean seiner Seite – ist ein berühmter Künstler mit Engage-ments in Theatern und Zirkussen auf der ganzen Welt ge-worden, während Macolieta immer noch im selben Zimmerhockt und sich mit Fragen quält.

Er legt das Buch neben das Bett. Bevor er das Licht löscht,streichelt er mit dem Schatten seiner Hand den schlankenSchatten der Sonnenblume, die in einem Topf am Fenstersteht. In der Nacht gleiten durch rissige Membranen geflüs-terte Nachrichten aus der parallelen Welt. Macolieta ist ein-geschlafen. Später wird sich das Heulen mit dem Flüsternund seinen Träumen verbinden. Er weiß, woher es kommt,will aber nicht daran denken.

Was da heult, was da schmerzt, ist das Fehlen von San-drine.

Erste Triade

Geschichten

Die Wahrheit ist die Wahrheit,ob Agamemnon sie sagt oder sein Schweinehirt.AGAMEMNON: Einverstanden.SCHWEINEHIRT: Das überzeugt mich nicht.

Antonio Machado, Juan de Mairena

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1.1.1

Macolieta

Er wachte auf, ohne die Augen zu öffnen. Ein kalter, ste-chender Schmerz im Magen hinderte ihn, die Lider zu be-wegen. Diesmal war es tatsächlich so weit; diesmal war Ma-colieta nicht mehr er selbst und erwachte im Körper undim Leben eines anderen. Er hatte dieses beklemmende Ge-fühl schon öfter gehabt, doch es war eher wie ein leichtes Ju-cken gewesen, ein vorübergehender unbehaglicher Kitzel,von dem am Ende nur das erlösende Gelächter blieb, das diedunkle Vorahnung zerschlug.

Jetzt erkennt er, dass diese flüchtigen morgendlichenKörperreaktionen nur die Vorboten waren, Begleiterschei-nungen der diesmal wirklich stattfindenden Metamorphose.Er ist sich sicher, nicht in seiner eigenen Haut zu stecken,fremde Träume geträumt zu haben, und in einem Zimmeraufzuwachen, das die Erinnerungen eines anderen birgt, indem die Minuten eines Lebens dahinkriechen, das nichtdas seine ist.

Er hat Angst wie jemand, der mitten in der Nacht auf-wacht, weil ihm der Arm eingeschlafen ist, der einen dump-fen Schmerz in der Brust verspürt, still liegen bleibt und kaltschwitzend auf den todbringenden letzten Schlag des Her-zens wartet, während eine Lawine von Erinnerungen seinInneres in Aufruhr versetzt. Denn wenn er die Augen auf-

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schlägt, wird er das Letzte verlieren, das er noch besitzt vondem, was ihn bis gestern ausgemacht hat: das Bewusstseinseiner selbst. Wenn das Licht dieses Schicksalstages aufseine Netzhaut trifft, wird ihm sein Ich langsam, aber unaus-weichlich, entgleiten, so wie sich die Erinnerung an einenTraum auflöst, den wir nicht vergessen wollen, der aberunbarmherzig aufgesogen wird vom letzten Nebelschweif,der unter den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages ver-dampft. Und in diesen kurzen Albtraumminuten, auf diesemletzten Stück des abschüssigen Tunnels, dessen Wassermas-sen ihn unerbittlich fortreißen werden von dem, der er war,und hinspülen zu dem, der er sein wird, in diesen kurzen Mi-nuten wird Macolieta Zeit haben, den ganzen Schreckeneines Mannes zu empfinden, der weiß, dass er ertrinkenwird, und dessen wild rudernde Arme schon nicht mehr dereigenen Rettung dienen, sondern eher ein Abschiedsgrußan das Leben sind.

Er wird den blauen Vorhang mit dem quadratischen Fli-cken nicht mehr sehen, der das von einer Zigarette ein-gebrannte Loch verdeckt; nicht mehr seinen maulbeerfar-benen Lesesessel, und auch nicht das Regal, in dem sichBücher und Zeitschriften in rigoroser Unordnung stapelnund mit seinen gesammelten Blechspielzeugen eine Wohn-gemeinschaft bilden. Auch seinen Schreibtisch wird er nichtmehr sehen, dessen Arbeitsfläche in Beschlag genommen istvon drei Schminktöpfen, einer winzigen Gitarre, vier bun-ten Jonglierbällen, drei riesigen orangefarbenen Knöpfen,mehreren roten Nasen, zwei gelben Taschentüchern, jederMenge Puder und einer Spinne. Nichts von dem wird er se-hen, sondern all das andere: andere Möbel, andere Gerät-

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schaften, andere Schatten, die sich in Ecken eingenistet ha-ben, die ihnen nicht gehören.

Verzweifelt wird er dorthin eilen, wo sich früher derSchminkspiegel mit seiner Umrandung aus Glühbirnen be-fand, von denen nur noch vier ihren Dienst taten, und an des-sen Stelle ihm jetzt ein grauenhafter Art déco-Spiegel denentsetzten Blick aus fremden Augen zeigen wird, die gro-teske Schreckensfratze eines unbekannten Gesichts, dieschaurige Spärlichkeit neuer Augenbrauen, das unmöglicheSpiegelbild von jemandem, den er noch nie im Leben gese-hen hat. In genau diesem Moment, wenn sein Mund sich öff-net, um den erwarteten Entsetzensschrei auszustoßen, undsich zu einem O rundet, bis er groß wie die Trichteröffnungist, durch die der letzte Bewusstseinstropfen rinnt, und ausdem Schrei ein Gähnen wird, wenn er in seiner neuen Hautund mit seiner gebrauchten Erinnerung zum Bad schlen-dert, pfeifend unter die Dusche steigt und sich fragt, woherer diese komische Melodie wohl hat, genau in diesem Mo-ment wird die Verwandlung vollendet sein.

Verdammt!, denkt Macolieta, sagt es aber nicht, weil ersich auch nicht zu sprechen traut. Er weiß – Ah, diese Ge-wissheit, die wie ein Zahnschmerz ist. Woher weiß er? –,dass auch seine Stimme anders sein wird, schrill, misstö-nend, unfähig, zu singen und die Stimmen von Comicfigu-ren nachzuahmen, sein spezielles Lachen wie von hicksen-den Ameisen im Gänsemarsch, das die Kinder so mögen.

Das alles wird es nicht mehr geben.Das Stück Pizza von gestern Abend, das er zum Früh-

stück essen wollte?Nicht mehr da.

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Die herrliche Sonnenblume in ihrem Tontopf?Nicht mehr da.Die nagelneue grüne Perücke?Nicht mehr da. Verschwunden, verschwunden.Und das blaue Buch?Wieder dreht es ihm den Magen um. Auch das blaue

Buch wird in dieser anderen Welt geblieben sein, auf demNachttisch neben dem Bett, aufgeschlagen auf der letztenbeschriebenen Seite:

… in deinem weiten Clownskostüm wirbelst du wie ein tanzen-der Regenbogen über die Bühne, hast die letzten Seidentücherin die Luft geworfen, und sie fallen genau dorthin, wo dusie haben willst, nachdem du mit deinen Kunststücken unterden Lichtern und ihren Schatten die Illusion vom Fliegenund Träumen geschaffen hast. Das Orchester spielt die letztenTakte der Melodie, mit deren Ersterben die stumme Grenzezwischen zwei Nummern erreicht wird. Die Vorstellung gehtzu Ende. Du hast dein Publikum auf einen fantastischen Wegvom Lacher zum Seufzer bis zur Verzückung geführt. DeinHerz rast. Was empfindest du? Erleichterung? Nachlassenvon Spannung? Freude? Alles? Der Schlussakkord erklingt,und der Applaus des begeisterten Publikums ist wie der pras-selnde Flügelschlag eines Schwarms aufflatternder Vögel. DerApplaus: explodierende Sonnen, die das Zirkusrund erwär-men; ein frischer Sommerregen; ein tauender Eisberg, dessenSchmelzwasser dich mitreißt bis an den Rand der Glückselig-keit. Die Welt lacht dich an, Clown. Du hast Verlaine, die Ge-fährtin deines Lebens, die deinen jugendlichen Hirngespins-ten Flügel verliehen hat. Und du hast das Abenteuer auf den

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Brettern, die die Welt bedeuten, mit ihren Kämpfen, grandio-sen Höhepunkten, vernichtenden Stürmen, ihrem Lorbeer undihren Abstürzen. Du hast dieses Publikum, die unermesslicheUmarmung Tausender Herzen. Du bist dir des unaussprech-lichen Glücks bewusst, die Höhenluft der Bühnenkunst zu at-men und jenen erhabenen Augenblick herbeizuführen, in demLachen, Magie und Träume jedes Mal neu lebendig werden.Weißt du eigentlich, wie reich du bist, Balancín?

Und als du schon glaubtest, die Vorstellung beenden zu kön-nen, das Orchester die letzten Takte spielte, die das finaleSchattenspiel deiner virtuosen Hände vor der weißen Wandbegleiten, da fordert das Publikum eine unerwartete Zugabe,noch einmal die Nummer mit den Tüchern. Nicht endenwol-lender Applaus. Und wieder tanzen die Tücher wie Kometen-schweife. Der Schweiß rinnt dir von der Stirn und vermischtsich mit einer verschämten Träne aus deinem Auge.

Ja, Balancín, du weißt, wie reich du bist.

Das blaue Buch?Verdammte Metaphysik. Nicht mehr da. Auch ver-

schwunden.Macolieta könnte heulen und in seinen Tränen ertrinken,

doch davor rettet ihn eine andere Gewissheit: Das Bild wirdnoch da sein. (Woher hat er all diese schrecklichen Gewiss-heiten heute Morgen; er, der sonst in Zweifeln versinkt?)Nur noch das Gemälde; das einzige Bild, das dank einerWette die Wände seiner Wohnung ziert.

Es war in einer Tequilakneipe in der Innenstadt. Sie tran-ken dort ein paar Gläschen, nachdem sie auf der Jagd nachRaritäten durch die Antiquariate der Stadt gezogen waren.

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Er und seine beiden unzertrennlichen Freunde: Max, einKoloss wie ein Nashorn ohne Horn und Clown aller Clowns;und Claudio, langer Lulatsch, Leser, Philosophierer undPfeifenraucher. Er erklärte gerade die verschiedenen monis-tischen Theorien als materialistische Alternative zum karte-sianischen Dualismus. Geist und Körper eins, nichts da mitSeele, mit Geist, der die Maschine steuert, jeder mentaleVorgang auch ein körperlicher. Nachdem sie schon reichlichTequila intus hatten, wurden Claudios Satzgirlanden zuneh-mend verworrener, und in Macolietas schwammigem Hirnblieben nur noch Wortungetüme wie Anomaler Monismus,Analytischer Behaviorismus und Materialistischer Reduk-tionismus hängen sowie etwas über Kandinskys Farben unddas dringende Bedürfnis, jetzt pinkeln zu müssen. Um denphilosophischen Sturzbach einzudämmen, der sie mehr be-rauschte als der Saft der Agaven, kam Max das im Fernsehenübertragene Fußballspiel zwischen Gestreiften und Blauengerade recht. Er brachte Claudio zum Schweigen, indem erMacolieta eine Wette anbot: Wenn die Blauen gewannen,würde Max seinem Nachbarn, dem Maler, das Gemälde ab-schwatzen, das Macolieta einmal gesehen und sofort vollerBegeisterung als Porträt seiner eigenen Seele erkannt hatte,und es ihm schenken; verlören die Blauen, müsste Macolietaihm zwei seiner aufziehbaren Blechspielzeuge überlassen.Diesem schien es das Risiko wert zu sein, zwei seiner gelieb-ten Blechfiguren aufs Spiel zu setzen und dafür die Chancezu bekommen, das Bild seiner Seele zu gewinnen. Er schlugein. Und da geschrieben stand, dass die Blauen sogar auchdas Rückspiel gewinnen würden, standen einen Monat spä-ter Max und Claudio vor Macolietas Tür – unangemeldet,

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wie immer – mit dem Bild und einer Flasche Bordeaux unterdem Arm.

«Ich habe dein Gemälde ergattert», witzelte Max. «Ob-wohl das MoMA alles täte, um es bei seinen van Goghs undPollocks hängen zu haben. Aber ich halte mein Versprechen,und nun müssen wir uns eben damit begnügen, es nur in dei-nen vier Wänden betrachten zu können.»

Claudio entkorkte die Flasche, sie füllten die Gläser mitrotem Wein, leerten sie, füllten sie erneut, und nachdem siesie zum dritten Mal geleert hatten, wurde die Dauerausstel-lung an der Wand gegenüber Macolietas Wohnungstür offi-ziell eröffnet.

Und jetzt, wenn er die Augen aufschlägt, wird alles an-ders sein; alles, außer diesem Gemälde, Überbleibsel auseiner unwiederbringlich verlorenen Welt oder Verbindungs-glied zwischen zwei parallelen Universen.

Das Bild ohne Rahmen (vielleicht aber hat es jetzt einen),auf dem zwei eigenartige Gestalten sich bei den letzten Zü-gen einer Schachpartie gegenübersitzen. Links auf einer un-behauenen Holzbank ein Satyr vor den weißen Figuren. Ausdem wirren Gestrüpp seiner schwarzen Mähne ragen zweistumpfe Hörner und die spitzen Ohren. Sein Grinsen, alsVorspiel unflätigen Gelächters – wie ein Wolkenbruch übereiner Prozession –, wird betont von eines Spitzbarts fahlemHaar. Auf dem nackten Oberkörper ist ein geflügeltes Herztätowiert, und zwischen seinen Bocksbeinen spottet einemaßlose Erektion jeder Scham. Die rechte Hand umfasst inder Mitte einen Stock, dessen oberes Ende ein Harlekinkopfmit einer Schellenkappe ziert. Die Linke schwebt vor odernach einem Zug nah über dem Schachbrett. Sein trunkener,

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spöttischer Blick ist auf das hagere Antlitz des Gegners ge-richtet.

Ein fahrender Ritter spielt die schwarzen Figuren; erist eine Art gen Himmel lodernde Flamme, wie ein Heiligervon El Greco. Die tiefliegenden wässrigen Augen sind kon-zentriert auf seine letzten Bauern, den Springer und denTurm gerichtet, die sich noch für das Leben des dunklenKönigs in die zweifarbig quadrierte Schlacht werfen. ImSchwung seiner Lippen liegt eine rätselhafte Ruhe, doch dieaufstrebenden Linien des Körpers sind Ausdruck einer be-herrschten Spannung. Vom Zeigefinger und vom Daumenseiner auf dem Tisch ruhenden Rechten rinnen dünne roteFäden, die zu zwei Blutstropfen werden. Die schwarzen Fi-guren sind mit spitzen Stacheln bedeckt. Schwert und Schildlehnen am herrschaftlichen Stuhl. In der Mitte des Wappen-schilds erhebt sich ein erhabener Pegasus mit ausgebreitetenSchwingen und wieherndem Maul auf die Hinterbeine. Siesitzen mitten in einer großen Stadt, und was wie eine lästigeWolke von Insekten aussieht, die beide Spieler umschwir-ren, ist in Wirklichkeit eine Schlacht. Winzige, mit Schwer-tern, Dreizacks, Lanzen, Pfeilen und Bogen bewaffneteEngel und Dämonen führen einen unerbittlichen Krieg.Überall sieht man von Pfeilen durchbohrte, blutüberströmteTeufel, enthauptete Engel, feuerspeiende, blonde Lockenversengende Drachen, tödliche Umarmungen, verzweifelteFlucht, aufgespießte Erzengel und lauernde Dämonen. Un-ter dem Schachtisch hockt ein Gnom, der das Schlachtenge-tümmel ringsum ebenso ignoriert wie die beiden Spieler. Erhat ein längliches Werkzeug in der Hand, mit dem er dieMundöffnung einer Maske zu runden scheint, die er mit der

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anderen Hand festhält. Zwischen seinen gekreuzten Beinenhat sich ein graues Tier zusammengerollt, eine Katze viel-leicht, die das Gesicht abwendet und dem Betrachter des Bil-des den Rücken zukehrt. Und auf dem Boden, verstreut zwi-schen den Leichen des biblischen Gewürms, liegen weitere,schon fertige Masken. Macolieta ist wie verzaubert von die-sem Bild. Sein Porträt. Der einzige Schmuck, der die Wändeseiner Wohnung ziert.

Eines Nachmittags – Macolieta hatte sich ein Bier geholtund betrachtete versonnen das Gemälde – kam ihm der Ge-danke, die Schachpartie zu Ende zu spielen, um herauszu-finden, wer sie gewinnen würde, der Satyr oder der Ritter.Er holte das quadrierte Wachstuch, mit dem er vier Mal dieWoche ins Café an der Ecke ging, um dort mit Don EusebioSchach zu spielen, und stellte die Figuren so auf wie auf demBild. Er spielte und erzielte ein Remis. Er spielte noch ein-mal, wieder ein Remis. Längst hat er die Übersicht über alldie Partien verloren, die er seit jenem Nachmittag gespielthat. Die Stunden, die er damit verbracht hat, einen überra-schenden Zug zu entdecken, eine Variante, ein unerwarte-tes Opfer oder einen Schlüssel, der den einen oder anderenSpieler zum Sieg führt. Alles vergebens.

Remis. Jedes Mal Remis.«Hast du gewusst, dass die Spiele auf dem Bild immer mit

Remis enden?», fragte Macolieta Max eines Tages, währender versuchte, mit einem Korken und mehreren Stecknadelnein Gefängnis für die Schreibtischspinne zu bauen, die ihnin der Nacht fies gebissen hatte.

«Platon zufolge ist das Denken ein Dialog der Seele mitsich selbst. Also Remis», entgegnete Claudio anstelle von

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Max, der damit beschäftigt war, den Affen mit den Beckenund die Ente auf dem Dreirad für das Wettrennen gegen denAnspitzroboter und das Klapperkrokodil aufzustellen, dieClaudio bereits aufgezogen hatte.

«Ja, aber mich interessiert, ob der Maler es so geplant hatoder ob das reiner Zufall ist.»

Statt einer Antwort setzte der mechanische Radau ein,mit dem die Blechfiguren ihrem Ziel entgegeneilten, hörteman die Anfeuerungsrufe von Max und Claudio, dann dasbegeisterte Klatschen des einen und das Gejammere desanderen, und nach einem Moment der Stille den gellendenSchmerzensschrei Macolietas, dem eine Stecknadel in dieHandfläche gedrungen war und der das missglückte Kork-gefängnis jetzt wütend in den Papierkorb warf.

Später, als sie sich verabschiedeten, fasste ihn Claudio anden Schultern und fragte ihn in ernstem Ton:

«Glaubst du, dass Eschers unmögliche Treppen reinerZufall sind? Glaubst du, dass der Wechsel vom Zirkus zurIrrenanstalt in Cortázars Rayuela reiner Zufall ist? Dass dasD-Moll, das Mozart für Don Juans Höllenfahrt wählte, Zu-fall ist?»

«Glaubst du, dass die Freiheit der Spinne reiner Zufallist?», gab Max feixend zurück.

Dann verschwanden die beiden ohne weitere Worte.Für immer, denn seine unzertrennlichen Freunde Clau-

dio und Max würde es in dem neuen Leben auch nicht mehrgeben. Bloß noch das Gemälde mit dem respektlosen Satyr,dem würdevollen, melancholischen Ritter, dem rätselhaftenGnom und seinen Masken, mit dem Schrecken der miniatür-lichen Schlacht und dem Schachspiel ohne Sieg.