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„Immer dann, wenn wir für andere etwas tun, wird es bedeutsam.“ Götz W. Werner by EY Magazin für unternehmerische Exzellenz 02/2016 Sinn — Das Credo der Gewinner / Selbstorganisiert, nicht führungslos / Freiheit durch Verantwortung / Maßstab und Mehrwert / Sehende Maschinen / Die ideelle DNA

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„Immer dann, wenn wir für andere etwas tun, wird es bedeutsam.“Götz W. Werner

by EY Magazin für unternehmerische Exzellenz

02 /2016

Sinn — Das Credo der Gewinner / Selbstorganisiert, nicht führungslos / Freiheit durch Verantwortung / Maßstab und Mehrwert / Sehende Maschinen / Die ideelle DNA

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Kann man Sinn in Worte fassen? Götz W. Werner hat es getan: „Immer dann, wenn wir für andere etwas tun, wird es bedeut-sam“, sagt der dm-Gründer und Preisträger des „Entre-preneur Of The Year“. Unser Award, mit dem wir alljährlich die besten Unternehmer des Landes auszeichnen, feiert in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag. Für uns Anlass genug, Gewinnern der vergangenen Jahre die Sinnfrage zu stellen: „Wie erklären Sie Ihren Kindern, was Ihr unternehmerisches Tun bedeutsam macht?“

So unterschiedlich ihre Antworten sind, so sehr eint alle Befragten, dass sie ihr Wirken mit einem höheren Zweck ver-binden. Das eigene Schaffen bekommt für sie erst dann Bedeutung, wenn auch andere davon profitieren – vom Mit-arbeiter über den Kunden bis hin zur Gesellschaft.

Die Beiträge der Entrepreneure zeigen, dass Sinn für ihre Arbeit selbstverständlich ist. Er zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Schaffen, hilft ihnen, ihr Geschäftsmodell an Zielen auszurichten, die weiter reichen als Kennziffern und Rendite-erwartungen.

Und doch ist Sinn – die Angelsachsen sprechen von „Pur-pose“ – heute mehr denn je ein Thema, was vor allem daran liegt, dass die jüngere Generation massiv danach fragt. „Start With Why“ – der Titel des amerikanischen Bestseller-autors Simon Sinek ist zum Mantra der „Generation Y“ geworden, deren Erwartungen an Unternehmen sich merklich von denen ihrer Vorgänger unterscheiden. Nicht mehr Kar-riere und Gehalt stehen an oberster Stelle, sondern Sinnfin-dung und Selbstentfaltung. Nicht mehr das „Was“ und „Wie“, sondern das „Wozu“ und „Warum“.

„Nur wer Sinn stiftet, kann auch Mehrwert schaffen“, sagt Bernd Ankenbrand, der als Hochschullehrer den Wandel von der Informationsökonomie zur Sinnökonomie erforscht. Eine der wichtigsten Auswirkungen dieses Wandels: Sinnori-entierte Unternehmen führen ihre Mitarbeiter anders, setzen auf mehr Eigenverantwortung und Mitbestimmung. Alte Kommandostrukturen haben ausgedient, statt fixer Vorgaben und starrer Hierarchien gewinnen Kooperation und Konsens an Bedeutung.

Eine Entwicklung, der wir auch bei EY Rechnung tragen und die ihren Ausdruck in unserem Purpose „Building a better working world“ findet. Sinnökonomisch übersetzt, könnten wir sagen: Wir arbeiten dafür, dass es anderen auf der Welt besser geht.

Das motiviert unsere Mitarbeiter und beschreibt einen höhe-ren Zweck, der über die reine Prüfungs- und Beratungsleis-tung hinausreicht. Er ist das „Wozu“ hinter dem „Was“ und „Wie“ – der Sinn unseres Schaffens und das Leitbild unseres Engagements.

Herzlichst

Hubert Barth Vorsitzender der Geschäftsführung EY Deutschland

Editorial

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Die Kollaboration rund um den ATLAS- Detektor am Kernforschungszentrum CERN ist ein beeindruckendes Labor der Kreati-vität, das wissenschaftliche Höchstleistungen auf Basis von Kompetenz, Vertrauen und Leidenschaft hervorbringt.

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Hall of Fame

Seit 20 Jahren verleiht EY in Deutschland den Award „Entrepreneur Of The Year“. Der Preis hat sich zu einem Qualitätssiegel entwickelt – für Unternehmer, die ideen- und erfolgreich sind, die aber darüber hinaus Verantwor-tung für ihre Mitarbeiter und die Gesellschaft übernehmen. Was haben all diese Entre-preneure, von denen wir hier einige vorstellen, gemein-sam? Gibt es Werte und Über-zeugungen, die alle teilen? Eines scheint offensichtlich: In der „Gewinner-DNA“ fin- det sich stets auch das „Sinn-Gen“: Viele erfolgreiche Unter-nehmer eint, dass sie sich fragen, warum sie etwas tun – und erst in zweiter Linie, wie sie es tun wollen. Seite 8.

In dieser Ausgabe

Stephan Grünewald

Der Kölner Psychologe und Mitbegründer des Markt-forschungsinstituts Rheingold gehört nicht zu jenen Vertre-tern seiner Zunft, die inhaltli-che Vagheit hinter kunst- voll gedrechselten Worthülsen verstecken. Er benutzt die Sprache wie ein filigranes Skal-pell – und führt es so, dass ein jeder die Botschaft versteht. Brauchen wir in Deutschland eine neue Sinndebatte? Un bedingt, meint Grünewald, der Deutschland in einem Zu-stand der Behäbigkeit und Erschöpftheit sieht. „Es ist ein Leben im sinnentleerten Schlafwagenmodus.“ Warum ausgerechnet die Flücht-lingskrise für die Deutschen ein Anlass ist, sich der Sinn-frage zu stellen, erklärt er ab Seite 48.

Bernd Ankenbrand / Julie Linn Teigland

Über den richtigen Weg in die Sinnökonomie lässt sich trefflich streiten – insbesonde-re wenn es um die Balance zwischen Profit und Purpose geht. Der Ökonomieprofessor Bernd Ankenbrand und Julie Linn Teigland, EY-Chefin für Deutschland, Österreich und die Schweiz, setzen im Ge-spräch durchaus unterschied-liche Akzente. Während Ankenbrand sich fragt, ob die Fokussierung auf Renditen und finanzielles Wachstum schwieriger wird, wenn das Thema Sinn dominanter wird, stellt Teigland klar: „Ohne Profit gibt es keinen Purpose.“ Aber erst der Sinn, sagt sie, „macht den Mehrwert eines Unternehmens aus.“ Seite 34.

Sinnorientierte Führung

Das New Yorker Orpheus Chamber Orchestra ist das welt-weit einzige Ensemble, das sich wie von Zauberhand selbst dirigiert. Den Musikern geht es darum, die Emotionen der Musik so frei herausspielen zu können, wie man sie fühlt. Das funktioniert nur im Kon-zertsaal? Weit gefehlt. Individu-alität, offener Dialog, Respekt für Kollegen, der gemeinsame Fokus auf ein „Wozu“, ein Klima der Freiheit, Furchtlosig-keit und Kritikfähigkeit: All dies sind Haltungen, die auch in der naturwissenschaftli-chen Forschung eine Teamar-beit ohne Weisungsgewalt ermöglichen und Unterneh-men helfen können, in einer immer volatileren Wirtschafts-welt erfolgreich zu bestehen. Seite 52.

Wie erklären Sie Ihren

Kindern, was Ihr unter­

nehmerisches Tun bedeut­ sam macht ?

Elon Musk

„Ich würde gern auf dem Mars sterben“, sagt Elon Musk. „Allerdings nicht beim Auf-prall.“ Das 45-jährige Multita-lent hat das Elektroauto Tesla auf die Straße gebracht, baut Raketen und träumt von solar-stromgetriebenen Zügen, die in Überschallgeschwindigkeit durch Tunnelröhren schießen. Für die einen ist der charis-matische Unternehmer und Investor einer der wenigen, die in ihrer Arbeit eine Beru-fung gefunden haben. Andere sehen den in Südafrika gebo-renen Himmelsstürmer und seine Neigung zu phantas-tischen Szenarien ausgespro-chen kritisch. Was treibt ei-nen Mann an, sein Vermögen, seine Firmen, seinen Ruf zu riskieren, um scheinbar Unmögliches zu schaffen? Seite 26.

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40 Was wirklich zählt Marc Ehrlich, Chef des Schweizer Recycling-Konzerns Vipa Group, hat sich beim Nachdenken über das, was wichtig ist, auf eine weite Reise begeben.

42 Der Rastlose Wie sich der deutsche IT-Unter-nehmer und Wagnisfinanzierer Andreas von Bechtolsheim im Silicon Valley stets neu erfindet.

46 Sehende Maschinen Das israelische Techno-logieunternehmen Mobileye treibt die Entwicklung selbstfahrender Autos maßgeblich voran.

48 „Sinn ist keine Utopie, die garantierte Erlösung bringt.“ Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald wünscht sich, dass in Deutschland endlich wieder eine neue Sinn debatte einsetzt.

52 Ohne Taktstock im Rhythmus Freiheit, Furchtlosigkeit, Kritikfähigkeit: Ein New Yorker Orchester zeigt Unternehmen, wie man auch ohne Kommando erfolgreich bestehen kann.

60 Schön und gut Wie Martin Höfeler mit dem Label Armedangels faire Mode aus der Nische holt.

62 Zehn Fragen an Julian Baggini Der britische Philosoph warnt davor, hohlen Zielen nachzujagen und darüber die Suche nach Sinn zu vergessen.

03 Editorial04 In dieser Ausgabe

08 Hall of Fame Gewinner des EY-Wettbe- werbs „Entrepreneur Of The Year“ beantworten die Frage, was ihr unternehmerisches Tun bedeutsam macht.

20 Warum tun wir, was wir tun? Wie erfolg-reiche Familienunternehmen Orientierung durch Sinn schaffen.

26 Der Himmelsstürmer Die Welt ist nicht genug: warum der Tesla-Gründer Elon Musk mit aller Macht auf den Mars will.

32 Treiber des Wandels Das B Team, eine Gruppe einflussreicher Unternehmer und Manager, kämpft für ein nachhaltigeres und faireres Wirtschaften.

34 „Nur wer Sinn stiftet, kann auch Wert schöpfen.“ Wirtschaftsprofessor Bernd Anken-brand und Julie Linn Teigland von EY im Dialog.

ThemaSinn

Halb Inszenierung, halb digitale Schnitzeljagd: Bei „Remote Mitte“, einer Produktion des Maxim Gorki Theaters, erhalten die Besucher Funkkopf-hörer und sind damit in Berlin-Mitte unterwegs. Geführt werden sie von einer künstlichen Intelligenz; die Hauptstadt wird so zur Kulisse einer virtuellen Realität. Das Projekt ist ein Beispiel für den expe-rimentellen Ansatz des Theaters: Jede Produktion hat ein spezifisches Anliegen, das den Besucher über den Abend hinaus beschäftigen soll.

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Wie erklären Sie Ihren Kindern,

was Ihr unter­ nehmerisches

Tun bedeutsam macht ?

Um die Beantwortung dieser Frage baten wir elf erfolgreiche Unternehmer. Sie alle wurden in den vergange-

nen Jahren in unterschiedlichen Kategorien mit dem Award „Entrepreneur Of The Year“ ausgezeichnet. Seit 20 Jahren

kürt EY mit diesem Preis die besten Entrepreneure des Landes und rückt exzellente unternehmerische Leistungen

ins Rampenlicht. Eines zeichnet dabei sämtliche Gewinner aus: die Überzeugung vom tieferen Sinn ihrer Tätigkeit und

die Verpflichtung für ein höheres Ziel.

„Wir sind stolz darauf, an Lösungen

zu arbeiten, die eine enorme gesell-schaftliche Relevanz

haben.“

Als Unternehmer will man etwas bewegen. Das ist die kurze und prägnante Erklärung, warum ich mit 19 Jahren den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt habe. Eine solche Entscheidung resultiert in den meisten Fällen aus einer Frustration über den Status quo. In meinem Fall war es nicht an-ders. Ich hatte an der Universitätsklinik Wien zum ersten Mal Kernspintomographie-Aufnahmen ge-sehen – und konnte es nicht fassen, dass die Neu-rochirurgen diese hochpräzisen Bilder in die Ecke des Operationssaals hängten, sich die Details so gut es ging einprägten und dann quasi drauflos-operierten. Mir war schnell klar, dass eine Soft-ware die Verbindung zwischen den Aufnahmen und dem Eingriff liefern musste.Natürlich hätte ich meinen Tatendrang auch in einem anderen Bereich ausleben können. Doch in kaum einer Branche kann man in kurzer Zeit so viel

bewegen, was gleichzeitig so vielen Menschen zugutekommt. Wenn unsere Softwareentwickler nach ihrer Tätigkeit gefragt werden, dann sagen viele von ihnen nicht: „Wir schreiben Software.“ Sondern sie antworten: „Wir heilen Krebs.“ Sie sind stolz darauf, dass sie an Lösungen arbeiten, die eine enorme gesellschaftliche Relevanz haben – und das in mittlerweile rund 100 Ländern der Welt. Und so ist für mich inzwischen auch die Zahl der Patienten entscheidend, die mit unse-ren Produkten behandelt werden. Die finanzielle Performance unseres Unternehmens ist letztlich eine Konsequenz aus dieser Konzentration auf den Nutzen für Ärzte und Patienten, aber nicht das primäre Ziel.

Es gibt wohl nicht allzu viele Unternehmer, von denen der Ausspruch „Ich liebe Revolu-tionen!“ überliefert ist. Stefan Vilsmeier, CEO und treibende Kraft des in Mün-chen beheimateten Medizin-technik- und IT-Unterneh-mens Brainlab AG, steht zu diesem Satz. Die schritt-weise Verbesserung des Be-ste henden empfindet er als „viel zu langweilig und zu langsam“. Mehrfach ließ er die Entwicklung bewährter Produkte jäh stoppen – zu-gunsten der Arbeit an einer völlig neuen Lösung. Auf die-se Weise ist es Vilsmeier gelungen, sein Unternehmen, das er im Alter von 19 Jah-ren gründete, dauerhaft als Technologieführer zu eta-blieren. Die Spezialität von Brainlab ist ein softwarege-steuertes Navigationssystem für den menschlichen Kör-per, mit dem man bestimmte Punkte genau lokalisieren und damit sicherstellen kann, dass chirurgische Instru-mente, Implantate und Strah-len für die Behandlungen von Tumoren genau an die richtige Stelle gelangen.Stefan Vilsmeier wurde 2001 als Gewinner in der Kate-gorie Informations- und Kom-munikationstechnologie/ Medien ausgezeichnet und 2002 als erster deutscher Unternehmer zum World Entrepreneur Of The Year gekürt.

Stefan VilsmeierBrainlab

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„Wir haben erkannt, dass wir nachhaltig den-

ken und handeln müssen, wenn wir uns

selbst und unserem Planeten eine lebens werte

Zukunft ermög lichen wollen.“

„Seit 32 Jahren engagieren wir uns für die Bio-Bewegung und nachhaltiges Wirtschaften. Unser bereits in den Gründertagen formulierter Leit-spruch ‚Sinnvoll für Mensch und Erde‘ gilt unver-ändert bis heute – und hat angesichts der drän-genden ökologischen und sozialen Fragen unserer Zeit mehr Bedeutung denn je. Wirtschaftliches Handeln, das sich nur an ökonomischen Paradig-men orientiert, ist nicht menschengemäß und es überfordert die Erde. Wir haben erkannt, dass wir nachhaltig denken und handeln müssen, wenn wir uns selbst und unserem Planeten eine lebenswerte Zukunft ermöglichen wollen.Nachhaltig heißt für mich: ‚Ist es sinnvoll?‘ Ich stelle die Frage nach dem ‚Warum‘ vor die Frage ‚Wie kann ich etwas besser machen?‘. Aus die-sem Impuls ist unsere Unternehmensvision ent-standen. Wenn die Wirtschaft dem Menschen

dienen soll und nicht umgekehrt, dann müssen Unternehmen ihr Handeln mit einem für die Men-schen nachvollziehbaren Sinn verknüpfen. Bei Alnatura tun wir dies durch unser Engagement für den ökologischen Landbau mit all seinen positi-ven Effekten für Mensch und Erde. Auch für Alna-tura ist der Ertrag für die unternehmerische Wei-terentwicklung erforderlich, doch nicht als ori-ginärer Zweck, sondern als nachgeordnete Folge des Handelns. Diese Haltung gibt uns die Freiheit, Wirtschaft anders zu denken und entsprechend zu handeln. Von Anfang an haben wir uns auf Pro-dukte konzentriert, die zu 100 Prozent bio sind. Damit haben wir ein ganzheitliches Denken in der Landwirtschaft entscheidend fördern können.“

In einer der vielen Lauda-tiones, die schon auf Dr. Götz Rehn gehalten worden sind, hieß es, der promovierte Volkswirt habe mit seinem 1984 gegründeten Unterneh-men Alnatura ein Dilemma überwunden: Viele Menschen fänden Biolebensmittel zwar prinzipiell besser, entschie-den sich wegen der teilweise höheren Kosten am Ende aber doch für konventionelle Produkte. In der Tat hat Rehn mit heute 1 200 Alna-tura Markenprodukten nicht nur ein attraktives Sorti-ment für unterschiedlichste Kundengruppen entwickelt, sondern er schuf mit seinen eigenen „Alnatura Super Natur Märkten“ auch einen ästhetischen Gegenentwurf zum handgezimmerten Bio-laden. Doch Rehns Anspruch reicht weit über die Laden-theke hinaus – Alnatura, cha-rakterisiert der Entrepre-neur sein Unternehmen, sei eine wirtschaftlich tätige Kulturinitiative.Dr. Götz Rehn wurde 2005 als Gewinner in der Kate-gorie Handel ausgezeichnet.

Götz RehnAlnatura

„Durch unsere Produkte sollen die bedeuten-

den Entwicklungen in der hochauflösenden

Mikroskopie für die bio-medizinische Grund-

lagenforschung weltweit zur Verfügung stehen.“

„Mit der ultrascharfen Nanoskopie kann man heute Details in Molekülgröße sichtbar machen. Das war zuvor mit einem optischen Mikroskop nicht möglich. Dadurch lassen sich beispielsweise Veränderungen in biologischen Zellen erkennen, die Auslöser schwerer Krankheiten wie Krebs sein können. Deshalb ist es wichtig, dass alle Forscher, die an diesen Problemen arbeiten, Zugang zu sol-chen Techniken haben.Anfangs konnten Nanoskopieverfahren aber fast nur diejenigen Wissenschaftler nutzen, die entwe-der bei uns am Institut oder in der Nachbarschaft eines anderen Labors arbeiteten, das auf diesem Gebiet forschte. Diese Barriere wollen wir einrei-ßen – für all die anderen, die bei ihrer Arbeit von der Nanoskopie profitieren können; in Deutsch-land und auch international.

Mit unseren beiden Firmen verfolgen meine Part-ner bei Abberior und ich deshalb zwei Ziele. Zum einen sollen durch unsere Produkte die bedeu-tenden Entwicklungen in der hochauflösenden Mi-kroskopie für die biomedizinische Grundlagen-forschung weltweit zur Verfügung stehen. Diese Forschungsarbeit ist global von größter Bedeu-tung. Ihr die besten Werkzeuge an die Hand zu geben, das kann unser Beitrag sein.Zum anderen bietet die Gründung einer Firma immer auch eine großartige Möglichkeit, den Mehrwert, den die Forschung erzeugt hat, direkt vor Ort in wirtschaftliche Vorteile für alle um-zumünzen, denn wir schaffen hier am Standort Deutschland Arbeitsplätze und zahlen Steuern.“

Professor Stefan Hell ist ein Grenzgänger – in jeder Beziehung. Von Haus aus Physiker, gelang es ihm, mit Hilfe eines chemischen Tricks das Tor zur ultrahoch-auflösenden Mikroskopie aufzustoßen. Damit verschob er die über 100 Jahre gelten-den Grenzen der Auflösung optischer Mikroskope in den Nanobereich. Für seine bahn-brechende wissenschaftli-che Arbeit wurde Hell 2014 mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt. Aber nur er-folgreicher Wissenschaftler zu sein, reicht dem heute 53-Jährigen noch lange nicht. Neben seinen Tätigkeiten als Direktor des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen und am Deutschen Krebsforschungs-zentrum in Heidelberg ist Hell engagierter Unterneh-mer. Dank zweier Start-ups stehen die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit auch anderen Forschern zur Verfügung.Professor Stefan Hell wurde 2015 als Gewinner in der Kategorie Start-up ausge-zeichnet.

Stefan HellAbberior Instruments

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Hall of Fame 1110 Hall of Fame

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„Den zentralen Auftrag, die Welt mit unserer

Arbeit ein kleines Stück zu verbessern, füllen wir

jeden Tag aus tiefster Über-zeugung mit Leben.“

„Wir entwickeln Produkte, die dazu beitragen, die Arbeit für Menschen zu erleichtern und die Effizi-enz der Produktion zu erhöhen, und die so mit dafür sorgen, den Verbrauch von Ressourcen im-mer weiter zu reduzieren. Die ifm hat sich nie als rein gewinnorientiertes Unternehmen verstanden.Den zentralen Auftrag unserer Firmenphiloso-phie, die Welt mit unserer Arbeit ein kleines Stück zu verbessern, füllen wir jeden Tag aus tiefster Überzeugung mit Leben. Deshalb liefern wir keine Produkte an die Waffenindustrie, denn wir wollen Krieg und Leid nicht mit unserem Know-how unter-stützen.Wir wollen unseren Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern ebenso wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Zulieferer einen sicheren Arbeitsplatz und deren Familien damit eine sichere Existenz ermöglichen; unabhängig davon, wo auf

der Welt Menschen für die ifm tätig sind. Wir zah-len überall faire Löhne, so dass alle, die für uns arbeiten, ein Entgelt verdienen, das es ihnen ermög-licht, ein Leben in Würde zu führen, gesundheit-lich gut versorgt zu sein und ihre sozialen Grund-bedürfnisse zu befriedigen. Wir kümmern uns auf der ganzen Welt darum, dass ein technisch höchst-möglicher Arbeitsschutz eingehalten wird.Wir bemühen uns konstant darum, den Energie-verbrauch immer weiter zu senken, Ressourcen zu schonen und Abfall zu vermeiden. Wir sind in allem, was wir tun, ehrlich, zuverlässig und bere-chenbar und wollen somit in allen Ländern, in denen wir tätig sind, eine gesellschaftlich verant-wortungsvolle und wichtige Rolle spielen. Dass diese selbst gesetzten hohen Standards immer und überall umgesetzt werden, stelle ich jeden Tag persönlich mit meiner Arbeit sicher.“

Wenn Roboter, Maschinen und Computer Muskeln und Hirn der Industrie der Zu-kunft sind, dann liefert Micha-el Marhofer mit der von sei-nem Vater mitbegründeten „Ingenieurgesellschaft für Messtechnik“ die Nerven- und Sinneszellen dazu. ifm-Sen-soren fühlen Gase, Flüssig-keiten und feste Formen; sie messen Druck, Füllstände und Positionen und übermit-teln diese Daten an Steue-rungs- und Kontrolleinheiten. Je mehr sich die Produk-tionssysteme der Industrie 4.0 miteinander vernetzen und autark kommunizieren, desto intelligenter müssen die Sensoren sein. Marhofer setzt dabei vor allem auf In-novationen aus eigener Kraft: Seine ifm gehört zu den 50 patentstärksten Unter-nehmen in Deutschland.Michael Marhofer wurde 2013 als Gewinner in der Katego-rie Industrie ausgezeichnet.

Michael Marhoferifm electronic

„Das Prinzip der Nach-haltigkeit haben wir, lange

bevor der Begriff in der öffentlichen Wahrneh-

mung wichtig wurde, in unserer Unter nehmens-

ethik fest ver ankert. Es zieht sich wie ein roter Faden durch unser Unter-

nehmen.“

„HiPP stellt Lebensmittel für Babys und Kleinkin-der in bester Bio-Qualität her. Diese Aufgabe neh-men wir sehr ernst, weil sie nur mit einem Höchst-maß an Verantwortungsbewusstsein und großer Hingabe zu erfüllen ist. Zugleich wollen wir mit unserem unternehmerischen Tun die Zukunft für nachfolgende Generationen lebenswert erhalten und die Schöpfung bewahren. Deswegen ist nach-haltiges Handeln für HiPP kein Modewort, son-dern eine Notwendigkeit. Das Prinzip der Nachhal-tigkeit haben wir, lange bevor der Begriff in der öf-fentlichen Wahrnehmung wichtig wurde, in unserer Unternehmensethik fest verankert. Es zieht sich wie ein roter Faden durch unser Unternehmen: vom ökologischen Anbau der Rohstoffe auf gesunden Böden über faire Vertragsbedingungen für unsere langjährigen Partner bis hin zum wertschätzen-den Umgang mit unseren Mitarbeitern und unter-

einander. Das bedeutet für uns auch, dass wir Ent-scheidungen nicht auf der Grundlage von Gewinn-maximierung treffen. Diese Prinzipien haben wir in unserer Ethik-Charta festgelegt. Jeder Mitar-beiter bei HiPP hält diese ein und sorgt damit für den Erhalt und das Wachstum der Firma.Dabei spielt Transparenz in unserer Unterneh-mensphilosophie eine große Rolle. Über unsere Produkte wollen wir Eltern so viele Informatio-nen wie möglich zur Verfügung stellen. In Zeiten von sozialen Medien und Internet wird dies immer wichtiger.HiPP ist trotz Globalisierung und internationalem Wachstum ein Familienunternehmen geblieben. Das sichert unseren selbstbestimmten Kurs – und das in der mittlerweile vierten Generation.“

Professor Claus Hipp ist ver-mutlich einer der bekann-testen Unternehmer Deutsch-lands. Regelmäßig tritt er im Fernsehen auf oder ist in Zeitschriften zu sehen – immer im Lodenjanker und das nun seit längerem mit Sohn Stefan Hipp. Der Bio-Pionier Hipp entwickelte das Familienunternehmen zum weltweit tätigen Hersteller von Babynahrung – und das mit einem nachhaltigen, öko-logischen Ansatz, von der Auswahl der Rohstoffe über den Herstellungsprozess bis hin zum fertigen Produkt. Mehrfach wurde HiPP als nachhaltigstes Unternehmen Deutschlands prämiert.Professor Claus Hipp wurde 2010 als Gewinner in der Kategorie Industrie ausge-zeichnet.

Claus HippHiPP

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Hall of Fame 1312 Hall of Fame

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„Als Unternehmen wollten wir ein anderes

Denken in der Medizin etablieren. Das

ist uns gelungen. Wir haben das Weltbild vieler

Ärzte verändert.“

„Als Naturwissenschaftler sind Träume und Visionen nicht so sehr mein Metier. Ich halte mich lieber an Tatsachen. Die Zahl der Menschen, die pro Jahr weltweit an multiresistenten Keimen ster-ben, weil die Erreger unempfindlich gegen Anti-biotika geworden sind, könnte von heute 700 000 auf zehn Millionen im Jahr 2050 steigen. Jahrzehn-telang wurden, auch in Deutschland, beispiels-weise einfache virale Atemwegserkrankungen mit Antibiotika behandelt. Mein Ziel war es, seit ich vor fast 30 Jahren in das von meinem Großvater gegründete Unternehmen eingetreten bin, den Beweis zu erbringen, dass pflanzliche Arzneimittel bei vielen Indikationen wirksamer sind als die chemischen Produkte der Pharmaindustrie – dabei aber keine schädlichen Nebenwirkungen haben. Das ist uns durch jahrelange harte Arbeit gelungen.

Als ich bei Bionorica anfing, wurden pflanzliche Heil mittel als Kräuter- und Klostermedizin belä-chelt. So etwas behauptet heute kein ernstzuneh-mender Mediziner mehr. Wir haben tatsächlich ein anderes Denken in der Medizin etabliert, konn-ten das Weltbild vieler Ärzte verändern und sind mittlerweile in der Schulmedizin fest verankert. Damit ist doch so etwas wie ein Traum in Erfüllung gegangen – der Traum von einer Rückbesinnung auf die Naturwissenschaft in ihrem ursprünglichen Sinn: die Natur und ihre Wirkungszusammen-hänge zu beobachten und das Beste, was die Natur uns bietet, für das Wohl des Menschen nutzbar zu machen.“

Wenn Professor Michael A. Popp nach Mallorca fliegt, dann meist nicht, um dort Urlaub zu machen, sondern um zum Beispiel nach seinen Thymian-Feldern zu schau-en. Denn die hübschen Pflan-zen mit den kleinen zart-rosa bis lila Blüten mit dem wissenschaftlichen Namen Thymus vulgaris sind poten-te Heilpflanzen. Die aus ih-nen gewonnenen Wirkstoffe werden zum Beispiel zur Behandlung von Erkältungs-krankheiten eingesetzt. Popps Unternehmen Biono-rica SE, das heute rund 1 500 Mitarbeiter beschäf-tigt, ist einer der ganz weni-gen Hersteller pflanzlicher Arzneimittel, der Rohstoffe für die eigenen Präparate selbst anbaut. Die violetten Felder sind ein Teil der Mis-sion des Pharmazeuten Popp, den Nachweis zu erbringen, dass pflanzliche Arzneimittel in puncto Wirksamkeit nicht hinter chemischen Präpa-raten zurückstehen. Für sein nachhaltiges unternehme-risches Wirken sowie sein langjähriges soziales und ge-sellschaftliches Engagement wurde ihm im vergange- nen Juli der Bayerische Ver-dienstorden verliehen.Professor Michael A. Popp wurde 2008 als Gewinner in der Kategorie Industrie ausgezeichnet.

Michael A. PoppBionorica

„Es fühlte sich für mich nicht mehr richtig an, das Unter-

nehmen so extrem dem Postulat des Kapitals

unterzuordnen.“

„Nach der Gründung von Vispiron standen für mich zunächst allein das Wachstum und der wirt-schaftliche Erfolg der Firma im Fokus – ganz un-abhängig von einer tieferen Bedeutung, die meine Arbeit mir und anderen hätte geben können. Ich hatte mich zwar schon während meines Studiums mit Umwelttechnik beschäftigt, aber ich musste erst auf eine Weltreise gehen, um den wirklichen Sinn meines beruflichen Engagements zu finden. Das war 2011. Damals lernte ich spannende Um-welt- und Sozialprojekte in Tansania, Panama und Mexiko kennen. Und ich erlebte hautnah die Folgen des Klimawandels und großer sozialer und politi-scher Ungerechtigkeit. Theoretisch wusste ich das alles auch schon zuvor, aber die unmittelbare persönliche Erfahrung hat mich sehr bewegt – und verändert.

Nach meiner Rückkehr habe ich als Erstes den lange geplanten Börsengang von Vispiron abge-sagt. Es fühlte sich für mich nicht mehr richtig an, das Unternehmen so extrem dem Postulat des Kapitals unterzuordnen. Ich wollte künftig Dinge anders machen und weiter selbst entscheiden kön-nen. Dazu gehört heute beispielsweise, dass wir keine Projekte mehr im militärischen Bereich annehmen. Stattdessen denken wir nun darüber nach, wie wir mit unserer Tätigkeit zum Fortbe-stand der Erde beitragen können. Unser Engage-ment bei erneuerbaren Energien ist ein Mosaik-stein dazu. Und der wirtschaftliche Effekt ist eben-falls großartig: Wir sind erfolgreich und fühlen uns für die Zukunft sehr gut gewappnet.“

Vision und Inspiration stan-den Pate, als Amir Roughani einen Namen für sein 2002 in München gegründetes Un-ternehmen suchte. Und da beide Begriffe Raum für vie-les bieten, ist es auf so höchst unterschiedlichen Feldern wie Engineering, Messtech-nik, Flottenmanagement und Energy tätig. Besonders die Weiterentwicklung und Förderung erneuerbarer Energien ist inzwischen eine Herzensangelegenheit des Entrepreneurs; nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus sozialen Gründen. Er ver-spricht sich davon mehr Frieden, Gerechtigkeit und lokale Wertschöpfung für die Menschen. All das weiß der gebürtige Iraner hoch zu schätzen, seit er als Kind auf der Flucht vor dem Iran-Irak-Krieg allein nach Berlin kam. Dass Roughani der Auf-stieg vom mittellosen Flücht-lingsjungen zum erfolgrei-chen Unternehmer gelang, macht ihn zum Vorbild ge-lungener Integration und zum Mutmacher.Amir Roughani wurde 2014 als Gewinner in der Kate-gorie Dienstleistung / IT aus-gezeichnet.

Amir RoughaniVispiron

Entrepreneur 02/2016 02/2016 Entrepreneur

Hall of Fame 1514 Hall of Fame

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„Der Mensch steht für mich im Mittelpunkt, er formt Gewissen und

Seele des Unternehmens. Meine Erfolgsformel

lautet: Leben ist eine Funk-tion aus Schaffen,

Familie, Freizeit und Gesundheit.“

„Ich möchte ein funktionierendes Unternehmen hinterlassen. Das bezieht sich nicht nur auf den wirtschaftlichen Erfolg, den wir uns seit den 1990 er-Jahren hart erarbeitet haben. Viel ent-scheidender ist für mich die Haltung, die wir in un-serem Konzern vorleben. Der Mensch steht im Mittelpunkt, er formt Gewissen und Seele des Un-ternehmens. Meine Erfolgsformel lautet: Leben ist eine Funktion aus Schaffen, Familie, Freizeit und Gesundheit. Alle vier Faktoren sind gleich wich-tig. Das gilt nicht nur für den Chef, sondern für jeden Mitarbeiter. Deshalb wird etwa Weiterbildung bei uns großgeschrieben. Wir haben zudem einen eigenen Betriebskindergarten, damit Frauen und Männer die gleichen Chancen haben, Karriere zu machen, und die Familie dennoch nicht zu kurz kommt. Wenn wir merken, dass ein Mitarbeiter aufgrund seiner persönlichen Situation andere

Zeiten braucht, machen wir das möglich; selbst im Schichtbetrieb, der in puncto Arbeitszeit sonst ja oft sehr starr gehandhabt wird.Unsere partnerschaftliche Haltung prägt auch das Verhältnis zu unseren Kunden und Zulieferern. Wir wollten von Anfang an nicht das schnelle Geld machen. Wir haben Nähe und Vertrauen auf-gebaut, um mit unseren Kunden gemeinsam und nachhaltig etwas aufzubauen. Davon profitieren wir heute.Nicht zuletzt haben wir etwas für eine Region geschaffen, die sich nach der Wende erst einmal neu erfinden musste. Der gewaltige Einbruch nach dem Mauerfall hat die Welt für die Menschen im Osten Deutschlands stark verändert. Heute bin ich stolz auf unseren Anteil an der wirtschaft-lichen Erfolgsgeschichte in Sachsen, wo eine große industrielle Tradition wiederbelebt wurde.“

Ein ererbter Bauernhof in Sachsen gab den Ausschlag: Dr. Gunnar Grosse, gebür-tiger Stockholmer, verzichte-te auf seinen gut dotierten Vorstandsposten bei einer schwedischen Versicherung und startete mit über 50 Jah-ren in Ostdeutschland sein eigenes Unternehmen: Komsa. Was 1992 mit dem Import von Ericsson-Handys begann, wurde inzwischen zu Deutschlands bedeutends-tem Distributor und Dienst-leister für IT- und Kommuni-kationsprodukte. Neben diversen Dienstleistungen re-pariert Komsa zudem mo-natlich über 100 000 Handys und Smartphones aller be-kannten Hersteller. Aus an-fangs vier wurden mittlerwei-le über 1 500 Mitarbeiter, die heute mehr als 1,19 Mil-liarden Euro Umsatz erwirt-schaften; und das in einem Betriebsklima, das für seine Mitarbeiterorientierung und Familienfreundlichkeit mehr-fach ausgezeichnet wurde.Dr. Gunnar Grosse wurde 2002 als Gewinner in der Kate-gorie Handel ausgezeichnet.

„Ich war davon überzeugt, dass unser zukünftiges

Leben maßgeblich durch den allgegenwärti-gen Zugang zum Internet

bestimmt sein und lang fristig alles mit allem

vernetzt sein würde.“

„Als ich mein Unternehmen gründete, motivier-ten mich zwei wesentliche Faktoren: Zum einen wollte ich vom angestellten Manager wieder zum Unternehmer werden und zum anderen hatte ich dazu auch die passende Geschäftsidee: Breitband für unterversorgte Regionen. Zum damaligen Zeitpunkt gab es weder ein Breitband-Konzept der Bundesregierung oder der EU-Kommission noch Fördermittel oder sonstige Unterstützung von öffentlicher Seite. Ich war aber davon überzeugt, dass unser zukünftiges Leben maßgeblich durch den allgegenwärtigen Zugang zum Internet be-stimmt sein und langfristig alles mit allem vernetzt sein würde. Viele Unternehmen können ihre Wett-bewerbsfähigkeit heute nur erhalten, wenn sie einen schnellen Zugang zu den Netzen der Welt und damit zu ihren Kunden, Lieferanten und Ge-schäftspartnern haben. Kommunen erhöhen mit

Glasfasernetzen die Lebensqualität ihrer Bürger und sichern die Zukunftsfähigkeit ihrer Ortschaf-ten. Mit inexio schaffen wir dafür die Vorausset-zungen; sei es, indem wir Orte im ländlichen Raum mit schnellem Internet versorgen, indem wir Mobil-funkmasten an Glasfaser-Backbones anbinden oder Gewerbegebiete mit unserer Glasfaser-Infra-struktur reif machen für die Gigabit-Gesellschaft. Außerdem investieren wir in unsere jungen Mit-arbeiter, indem wir ihnen sehr früh Entwicklungs-chancen bieten und viel Verantwortung über-tragen. Das Durchschnitts alter unseres Teams lag im Gründungsjahr bei 29 Jahren – und es hat sich seitdem kaum verändert. Beides, unser Kern-produkt Breitband- bzw. Glasfasernetze und un-sere Investition in junge Menschen, erfüllt mich jeden Tag.“

In Ballungszentren können Internetnutzer via Glas-faser schon lange mit High-speed im Netz surfen. Auf dem Land müssen sich die Menschen oftmals noch mit langsamen Analog- und ISDN-Verbindungen zufrie-den geben. David Zimmer erkannte in dieser Versor-gungslücke seine Chance und gründete 2007 inexio. Er ging in Gebiete, in denen an-dere nicht in moderne Netze investierten, weil sie glaub-ten, man könne dort kein Geld verdienen. Seitdem er 17 war, ist er als Entrepreneur aktiv. Lediglich in einem Fall erlitt er dabei Schiffbruch. inexio hingegen reiht sich ein in seine Erfolge – so sehr, dass sich kürzlich die Inves-toren von Warburg Pin cus mehrheitlich daran beteilig-ten, unter Leitung des ehe-maligen Telekom-Chefs René Obermann.David Zimmer wurde 2012 als Gewinner in der Katego-rie Start-up ausgezeichnet.

David Zimmerinexio

Gunnar GrosseKomsa

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Hall of Fame 1716 Hall of Fame

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„Womit kann ich dienen? – Unternehmerisch zu handeln heißt für mich, sich beständig zu fragen, wie man seinen Kunden noch besser dienen kann. Immer dann, wenn wir für andere etwas tun, unter-nehmerisch sind, dann wird es auch bedeutsam. Und Kunden sind nicht nur die Menschen, die unse-re Produkte und Dienstleistungen nutzen, auch meine Kollegen und die Lieferanten sind wichtige Kunden. Denn nur gemeinsam kann man die bes-ten Leistungen für andere hervorbringen. Indem wir miteinander füreinander leisten, können wir uns weiterentwickeln, uns kreativ einbringen und ausdrücken.Neben den Aspekten der Weiterentwicklung und konsequenten Kundenorientierung gibt es noch einen dritten wichtigen Punkt, der unternehmeri-sches Tun bedeutsam macht: Es geht um Sinnstif-tung. Als Unternehmer erlebt man immer wieder,

dass intensiv über Know-how gesprochen wird. Also darüber, wie etwas gemacht wird. Wer aber nur fragt ‚Wie haben wir es bislang gemacht?‘, der richtet seinen Blick auf die Vergangenheit und greift auf altbewährte Methoden zurück, um die Herausforderungen anzugehen. Wer die Zukunft gestalten möchte, der muss fragen: ‚Warum und wozu machen wir das?‘ Die ‚Know-why-Frage‘ wird oft vernachlässigt, obwohl sie für jemanden, der etwas unternehmen will, immer an erster Stelle stehen sollte. Die Frage nach dem Warum löst einen Sog aus. Sie fordert uns dazu auf, nach-zudenken, wo es hingehen soll und worin der Sinn einer Aufgabe liegt. Und wenn wir und unsere Mitmenschen einen Sinn finden in dem, was wir für andere tun, dann wird es bedeutsam.“

„Die Frage nach dem Warum löst einen Sog aus.

Sie fordert uns dazu auf, nachzu denken, wo

es hingehen soll und worin der Sinn einer Auf-

gabe liegt.“

Der gute Riese, der beste Chef der Welt – Professor Götz W. Werner und seinem Unternehmen dm sind für seine unkonventionellen Füh-rungsmethoden bereits viele Ehrentitel und Superlative verliehen worden. Werner ist Anthroposoph und hat die Unternehmensphilosophie nach den Prinzipien von Persönlichkeits entwicklung, Vertrauen und Kreativität ausgerichtet. Der Dialog war ihm stets wichtiger als die Anweisung. Das Unterneh-men hat heute mehr als 3 000 Märkte in zwölf europä-ischen Ländern. Die Mitar-beiter bestimmen zum Teil selbst bei Dienstplänen, Sor-timent und sogar beim Ein-kommen mit. Der erfolgreiche Unternehmer setzt sich für ein bedingungsloses Grund-einkommen für alle ein.Professor Götz W. Werner wurde 2008 als Gewinner in der Kategorie Handel ausge-zeichnet.

Götz W. Wernerdm-drogeriemarkt

„Wir wollen einen Bei- trag dazu leisten, dass in

Zukunft eine persona-lisierte Medizin jedem

Menschen zugutekommt, der an einer schweren

Krankheit leidet.“

„Jeder Mensch ist einzigartig – auch und gerade als Kranker. Mit der von uns entwickelten moleku-largenetischen Diagnostik, mit der wir Erbinfor-mationen entschlüsseln und medizinisch interpre-tieren können, bieten wir Patienten die Möglich-keit einer individuellen Diagnose und Therapie – und damit auch die Chance, geheilt zu werden.Es ist erstmals möglich, sämtliche für eine Krank-heit in Betracht kommenden Gene gleichzeitig zu entschlüsseln und auf bestimmte Veränderungen hin zu untersuchen. Die schweren sogenannten seltenen Krankheiten etwa, von denen vor allem Kinder betroffen sind, haben ihre Wurzeln über-wiegend im Erbgut. Die molekulargenetische Absi-cherung bedeutet oft das Ende einer nicht selten jahrelangen Odyssee auf der Suche nach der Ur-sache eines Krankheitsbilds. Gleichzeitig stellt sie den Ausgangspunkt für die gezielte bestmögliche

Behandlung des Patienten dar. Vor wenigen Jahren kosteten Gentests noch ein Vermögen, dauerten oft Wochen und Monate, manchmal Jahre, weil sämtliche Gene nur nacheinander untersucht wer-den konnten. Mit unseren Diagnostik-Panels und der Technologie des Next Generation Sequenc ing sind solche Analysen nicht nur deutlich schneller, sondern auch viel kostengünstiger geworden. In den USA oder in England ist diese Form der Diag-nostik bei manchen Krankheiten schon Standard. In Deutschland sind wir noch nicht so weit, weil derartige innovative Verfahren von den Kranken-kassen zumeist noch nicht bezahlt werden. Das hindert uns nicht, unser Credo unbeirrt zu verfol-gen: Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass in Zukunft eine personalisierte Medizin jedem Menschen zugutekommt, der an einer schweren Krankheit leidet.“

Es gibt vermutlich viele Men-schen, die Dr. Saskia Biskup und Dr. Dirk Biskup sehr dankbar sind, dass sie nicht nur im Privatleben, sondern auch geschäftlich Partner wurden. So wie jenes kleine Mädchen, dem dank moder-ner Gendiagnostik eine Kno-chenmarktransplantation mit ungewissen Erfolgsaus-sichten erspart blieb zu-gunsten einer weit wirkungs-volleren und schonenderen Vitamin-Therapie. Ihre fach-liche Expertise als Human-genetikerin und seinen wirt-schaftlichen Sachverstand als Betriebswirt vereinten die Biskups 2009 in ihrem Start-up CeGaT. Weltweit ge-lang es ihnen kurz darauf als Ersten, moderne human-genetische Diagnostik und die Hochdurchsatzsequenzie-rung, eine neue Methode zur Analyse des Erbgutes, zu verbinden.Dr. Saskia Biskup und Dr. Dirk Biskup wurden 2013 als Gewinner in der Kategorie Start-up ausgezeichnet.

Saskia und Dirk BiskupCeGaT

Entrepreneur 02/2016 02/2016 Entrepreneur

Hall of Fame 1918 Hall of Fame

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Warumtunwir,waswirtun?

eder von uns kann dazu beitragen, dass sich Dinge in unserer Gesellschaft zum Besseren wenden“ lautet das Credo von Michael Otto, Familienunternehmer und Vorsitzender des Aufsichts-

rates des Hamburger Otto-Konzerns. Mit dieser Haltung sorgte Otto dafür, dass der Nachhaltigkeitsgedanke Teil der Unternehmens-DNA wurde und heute Grundprinzip des Handelns der gesam-ten Gruppe ist.

Nicht zuletzt dank seines starken „Pur-pose“ ist dem traditionsreichen Handels- und Dienstleistungskonzern in einer Pha-se, die von disruptiven Veränderungen und der Zerstörung ehemals erfolgreicher Geschäftsmodelle geprägt ist, ein beein-druckender Umbau gelungen. Die Otto Group ist heute einer der größten Online-händler weltweit. Von den mehr als 12 Milliarden Euro Umsatz im vergange-nen Geschäftsjahr stammt über die Hälf-te aus dem Online-Geschäft.

und schwierig zu halten. Im schlimmsten Fall gehen Familienunternehmen zugrun-de, wenn die Eigentümer ihre internen Konflikte nicht mehr bewältigen können. Und dieses Risiko wächst von Generation zu Generation; nicht nur, weil die Zahl der Beteiligten zunimmt, sondern weil wo-möglich auch ihre innere Distanz zum Unternehmen größer wird und sich damit ihre Interessenlage ändert. Genau hier kann eine prägende Leitidee Orientie-rung bieten und zur gemeinsamen Richt-schnur des Handelns für alle Beteiligten werden – für Familienmitglieder, Unter-nehmensführung und Mitarbeiter.

Leuchtturmwirkung

Anders als Vision, Mission oder Unter-nehmensstrategie beinhaltet ein umfas-sender Unternehmenssinn nicht nur die wirtschaftlichen Perspektiven des Unter-nehmens, sondern auch gesellschaftliche Anforderungen. Er berücksichtigt die gesamte Wirkung des eigenen Handelns auf andere – auf Kunden, auf die Um-welt, auf die Gesellschaft. Dieser breitere Fokus kann Leuchtturmwirkung entfal-ten. Er kann die Unternehmenstransfor-mation beschleunigen, strategische Klarheit schaffen, Innovationen zielge-nauer lenken, die Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb des Unterneh-mens fördern sowie Identität und Loya-lität stärken.

Langfristig erfolgreiche Familienunter-nehmen zeichnen sich von jeher dadurch aus, dass sie bestimmte Grundsätze befolgen: Sie pflegen ihre Familien-DNA, etablieren eine gute Governance-Basis, haben ein dynamisches, an Kunden-bedürfnissen orientiertes Geschäftsport-folio, kümmern sich rechtzeitig um fami-

Von Hubert Barth und Peter Englisch

Der Wert einer sinnorientierten Unter-nehmensführung scheint unbestritten – gerade in Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit. Er bietet den gedanklichen Rahmen, mit dessen Hilfe es einem Un-ternehmen gelingt, sich immer wieder neu zu erfinden, ohne dabei die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Faktoren wie der Vertrauensverlust, dem sich viele Unter-nehmen ausgesetzt sehen, die Chancen und Risiken der Digitalisierung, die For-derung nach Nachhaltigkeit und Umwelt-verträglichkeit von Produktion und Pro-dukten, die Probleme der Vereinbarkeit kurzfristiger wirtschaftlicher Ziele mit langfristigen sozialen und gesellschaftli-chen Anforderungen machen eine Neu-ausrichtung oder zumindest Adjustierung der Unternehmensziele vielfach unum-gänglich. Bei diesen Aufgaben wirkt ein fundierter Unternehmenszweck als Kom-pass und Richtschnur.

Das komplexe System Familie

Das betrifft auch und gerade Familien-unternehmen. Zwar gilt der Typus des Family Business als besonders anpas-sungsfähig und flexibel; dabei langfristig orientiert, Werten und Traditionen verpflichtet. Familienunternehmen bilden nicht nur zahlenmäßig das Rückgrat vieler Volkswirtschaften, sondern gelten gerade in Krisenzeiten auch als Stabili-tätsfaktoren. Einerseits.

Fakt ist aber auch: Familienunternehmen haben eine ungewöhnlich hohe innere Komplexität zu bewältigen. Die Balance zwischen wirtschaftlichen Anforderungen und ökonomischen Zielen auf der einen Seite und den Beziehungen, Ansprüchen sowie den Wünschen der Eigentümerfa-milie auf der anderen Seite ist empfindlich

Wie erfolgreiche Familienunternehmen Orientierung durch Sinn schaffen

Laut Friedrich Schiller besteht die Theater-bühne aus den Brettern, die die Welt bedeu-ten. Häufig genug verkommt das geflügelte Wort zur hohlen Phrase. Shermin Langhoff füllt es wieder mit Sinn. Die Theaterregis-seurin und Leiterin des Berliner Maxim Gorki Theaters hat in ihrem Haus ein „Exil Ensem-ble“ gegründet. Es besteht aus geflüchteten Schauspielern, die ihrem Beruf nun auch in Deutschland nachgehen wollen.

Das Maxim Gorki Theater im Bezirk Mitte unterstützt schon lange Flüchtlingsprojekte, sammelt Spenden, organisiert Unterkünfte. Nun geht die Intendantin einen Schritt weiter: „Wir wollen darüber hinaus das machen, was wir am besten können: Theater.“ Dafür sucht die Bühne unter den Flüchtlingen hochbegabte Profis. Die Gruppe versteht sich ausdrücklich nicht als Ensemble für jeder-mann. Schließlich gehe es „nicht um einen Mitleidsbonus, sondern um Kunst“, stellt Langhoff fest. In einer Masterclass bilden sich die Schauspieler fort. Sie lernen bei be-kannten Regisseuren, hospitieren am Gorki und erfahren, was es heißt, in Deutschland als Schauspieler zu arbeiten. „Wir stellen also Instrumente zur Verfügung, um die neu-en Kollegen für die deutschen Stadttheater arbeitsfähig zu machen“, beschreibt die Leiterin.

Mit dem „Exil Ensemble“ verfolgt Shermin Langhoff ihren eigenwilligen Weg weiter. Die Theatermacherin wurde in Bursa in der Türkei geboren. Ihre neue Heimat hat sie stets als vielfältiges Land begriffen, gerade das hat sie genossen. Mit Sorge beobachtet die Mutter einer Tochter, dass sich in der Bundesrepublik „seltsame Ängste vor einer pluralistischen Gesellschaft“ festsetzen. Die fröhliche Utopie von Multikulti ist zu einem politischen Kampfbegriff geworden. Ihre Reaktion darauf: entschlossene Diversität. An ihrem Theater. Aber auch in der Gesell-schaft. So wird das „Exil Ensemble“ 2017 mit dem Bus im Land unterwegs sein, um das Wesen der Deutschen zu erkunden. Die Schauspieler bereisen Städte und Dörfer, reden mit Menschen, erkunden Rituale – und entwickeln daraus ein Stück. Shermin Lang-hoff freut sich darauf: „Ein neuer Blick auf uns kann sehr aufschlussreich und in gutem Sinn irritierend sein.“

Die bunteste Bühne

Shermin Langhoff wurde 1969 in Bursa in der Türkei geboren. Weil ihre Mutter nach Deutschland umsiedelte, wuchs sie bei ihren Großeltern in Edremit auf. Im Alter von neun Jahren folgte sie ihrer Mutter nach Nürnberg. Sie steu-erte eine Laufbahn im Filmge-schäft an und arbeitete mit Fatih Akin. Als Kuratorin des Hebbel am Ufer in Berlin kam sie zum The-ater. Seit 2013 ist Shermin Lang-hoff zusammen mit Jens Hillje Intendantin des Maxim Gorki The-aters. Verheiratet ist sie seit 1996 mit dem Theaterregisseur Lukas Langhoff.

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20 Familienunternehmen Best Practice Theater 21

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lieninternen oder -fremden Management-nachwuchs, der zu ihrer Kultur passt, und fördern gesellschaftliches Engage-ment, das die Familienwerte sichtbar macht. Ein gemeinsames Verständnis von Sinn und Zweck des Unternehmens war und ist bei ihnen systemimmanent.

Um aber auch künftig erfolgreich zu bleiben, stehen Familienunternehmen an-gesichts von Digitalisierung, Globalisie-rung und wachsender Unsicherheit heute nicht selten vor der Herausforderung, ihren Purpose auf den Prüfstand zu stel-len. Sie müssen sich fragen, welche Wer-te und Traditionen es dauerhaft zu be-wahren gilt und welche der notwendigen Weiterentwicklung und Veränderung möglicherweise im Wege stehen. Die Auf-gabe besteht folglich darin, sich auf einen Unternehmenszweck zu besinnen, der gleichermaßen begeistert und Orientie-rung bietet. Er soll hohe organisatori-sche Beweglichkeit ermöglichen, Verän-derung fördern, zugleich aber Kontinu-ität erlauben – und dabei ebenso in der Familie wie innerhalb und außerhalb des Unternehmens Identität stiften.

Das Vermächtnis der Gründer

Vielen Gründern geht es in den Anfangs-tagen ihres Unternehmens in erster Linie darum, ein Problem zu lösen – ein all-tägliches wie etwa die Erleichterung mü-hevoller Hausarbeit oder ein anspruchs-volles wissenschaftliches wie die Ent-wicklung lebensrettender Medikamente. Daraus hat sich in vielen erfolgreichen Familienunternehmen ein von Generation zu Generation weitergegebenes Ver-mächtnis entwickelt, das auf Werten und Ethos des Gründers fußt und auf das sich die Unternehmensführung noch heute ausdrücklich beruft.

Der Prothetik-Hersteller Ottobock etwa hat als seinen Unternehmenszweck das Ziel definiert, Menschen mit qualitativ hochwertigen und technologisch ausge-reiften Produkten Mobilität zurückzu-geben. Die Überzeugung, dass Lebens-qualität eng verbunden ist mit einem Maximum an individueller Freiheit und Selbstständigkeit, ist der Leitgedanke, der die über 90-jährige Firmengeschichte maßgebend prägt.

Bei der Neuausrichtung und Weiterent-wicklung des Unternehmenszwecks sollte deshalb zunächst das ideelle Erbe des Familienunternehmens analysiert werden. Warum wurde das Unternehmen einst gegründet? Wo liegen seine Wurzeln?

Warum besteht es heute? Hierbei kann es etwa hilfreich sein, zu hinterfragen, wie die unternehmerische Tätigkeit dazu beiträgt, das Leben allgemein oder für eine genauer bestimmte Gruppe heute und in Zukunft besser, leichter oder siche-rer zu machen.

Ein derart breit angelegter Ansatz kann auch dazu beitragen, eine typische Denk-falle zu vermeiden, in die gerade die technisch geprägten deutschen Ingeni-eurunternehmen oft hineintappen. Sie neigen dazu, auf dem Niveau der Kunden-orientierung zu stagnieren – und sich zu sehr auf die schon vorhandene Klientel zu konzentrieren. Potenzielle neue Kun-denschichten und neue Geschäftsfelder bleiben dadurch ausgeblendet.

Chance zu breiter Beteiligung

Aus der Beantwortung der zentralen Frage nach dem „Warum?“ entsteht der äußere Rahmen, der im Einklang mit den Werten den Aktionsradius des Unter-nehmens und der Familie absteckt. Dar-aus leitet sich schließlich das detaillierte-re „Was“ und „Wie“ der unternehme-rischen Tätigkeit ab. Ein klarer Purpose bietet dabei die Chance, das Manage-ment und breite Kreise der Eigentümer-familie einzubeziehen.

Im Konsens können dann Verantwort-lichkeiten und Zuständigkeiten verteilt, eindeutige Regeln für alle Beteiligten festgelegt, Ziele gesetzt werden. EY hat mit seinem Family Business Center of Excellence eine Institution geschaffen, die Unternehmerfamilien unter anderem dabei unterstützt, sich über das eigene Selbstverständnis, über Wertvorstellun-

gen und Ziele klar zu werden, einen daran orientierten Unternehmenszweck zu beschreiben und diesen etwa in einer Familienverfassung niederzulegen. Allein im vergangenen Jahr haben wir über 100 Unternehmerfamilien weltweit bei der Formulierung einer derartigen Family Governance beraten.

Der emotionale Mehrwert

Das hohe Ansehen, das viele Familien-unternehmen in ihrem Umfeld genießen, beruht nicht nur auf ihren wirtschaftli-chen Erfolgen, sondern zu einem Gutteil auf ihrem freiwilligen und von persönli-cher Überzeugung gelenkten Einsatz für gesellschaftliche Belange. Neben der positiven Außenwirkung spielt das gesell-schaftliche und soziale Engagement eine entscheidende Rolle bei der Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen. Aus Interviews mit den Eigentümern großer Familienunternehmen wissen wir, wie ernst diese den innerfamiliären Zusam-menhalt nehmen. Eines der wichtigsten und wirksamsten Instrumente dabei ist philanthropisches Engagement. Es bietet praktisch allen Mitgliedern der Familie die Möglichkeit der Teilhabe; vor allem jenen, die nicht direkt an der Unterneh-mensführung beteiligt sind. Sie können dort nach ihren individuellen Vorstel-lungen und Möglichkeiten mitwirken und ihre Verbundenheit mit dem Unterneh-men pflegen. Das schafft einen emotiona-len Mehrwert, der mit Dividenden allein kaum gelingen dürfte.

Was und wer unterstützt wird, hatte bisher freilich oft mit persönlichen Vor-lieben oder Beziehungen der Spender zu tun und folgte meist keiner Systematik.

Es geht um die Besinnung auf einen Unternehmenszweck, der gleichermaßen begeistert und Orientierung bietet.

Welchen Sinn hat Architektur? Imposante Schönheit zu erschaffen, werden viele ant-worten. Bauwerke errichten, die einer Stadt Prestige schenken und Touristen anlocken. Der chilenische Architekt Alejandro Aravena beantwortet die Frage anders. Das Ziel seiner Arbeit sei es, Probleme zu lösen. Und davon gibt es in den rasant wachsenden Megacitys seines Heimatkontinents genug.

In den großen Städten Lateinamerikas leben mehr als 110 Millionen Menschen in Slums. Öffentliche Plätze sind rar. Dafür wälzen sich kilometerlange Blechlawinen durch die Citys, quälend langsam, die Luft verpestend. Für den 49-Jährigen ist es da-her gar nicht vorstellbar, architektonisch zu wirken, ohne gegen diese Probleme an-zukämpfen. Und das tut Aravena mit unge-wöhnlichen Denkansätzen. Warum zum Bei-spiel betrachtet die Politik den sozialen Wohnungsbau als Kostenfaktor? Aravena glaubt fest daran, dass der Bau günstigen Wohnraums ein Investment für die Zukunft sein kann. Wenn der Architekt das richtige Konzept in der Tasche hat.

Halbe Häuser, volle Wirkung

Alejandro Aravena wurde 1967 in Santiago de Chile geboren. Er studierte Architektur und nahm eine kritische Haltung zur Entwick-lung der großen Städte Latein-amerikas ein. Als Leiter seines Bü-ros Elemental konzentrierte er sich mit seiner Architektur nicht nur auf die Ästhetik, sondern nimmt auch die Stadtentwicklung in den Blick. 2016 erhielt der 49-Jäh rige den renommierten Pritzker-Preis und leitete die Architektur-Biennale in Venedig.

In der chilenischen Hafenstadt Iquique konzipierte Alejandro Aravena 2004 eine Siedlung mit 100 halbfertigen Häusern. Die einkommensschwachen Familien bezogen zunächst den bewohnbaren Teil – mit der Option, in besseren Zeiten eigenständig den anderen Teil fertig zu bauen. Das Viertel in Iquique zählt heute zu den Vorzeigepro-jekten des modernen sozialen Wohnungs-baus, der auf Qualität und Eigenverantwor-tung setzt.

„Ein Architekt darf heute nicht mehr nur Designer sein“, glaubt Aravena. „Er muss auch andere Rollen spielen.“ Zum Beispiel die des Umweltschützers: Für die Uni in Santiago entwarf er eine Fassade, die das Gebäude vor der Sonne schützt – und die Klimaanlage überflüssig macht. So wird der Architekt zum Aktivisten, nicht umsonst nennt der Chilene sein Büro einen „Do-Tank“. Denken ist nicht alles, es müssen auch Ta-ten folgen. Im Sommer dieses Jahres erhielt Aravena den Pritzker-Preis, für Architekten das, was der Oscar für Schauspieler ist. Es handelt sich um eine Auszeichnung für sein Lebenswerk. Wobei der Chilene gleich klarstellte, dass man von ihm noch eine Menge erwarten darf.

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Familienunternehmen 2322 Best Practice Architektur

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Ein klarer Purpose bietet die Chance, das Management und breite Kreise der Eigentümer-familie einzubeziehen.

Mit einem genau beschriebenen Unter-nehmenszweck bietet sich nun die Chance, die Wirkung der guten Taten im Sinne eben dieses Zwecks gezielt zu ver-stärken. Wenn Engagement und Unter-nehmenszweck zueinander passen sollen, müssen sich Familie und Unternehmens-führung fragen, welche Formen des gesellschaftlichen Engagements und wel-che Projekte am besten zur eigenen Un-ternehmens- und Familienkultur passen. Unter dem Stichwort Philanthropy 2.0 verstehen viele Familienunternehmen ihre Zuwendungen zunehmend als Inves-titionen in eine bessere gesellschaftliche Zukunft.

Eine der Vorreiterinnen dieses neuen Verständnisses ist in Deutschland die Quandt-Erbin und Unternehmerin Susanne Klatten. Sie will in den kommen-den fünf Jahren rund 100 Millionen Euro aus ihrem Privatvermögen an gemein-nützige Projekte spenden. Für ihre soge-nannte Skala-Initiative arbeitet Klatten mit Spezialisten zusammen, die sie bei der Auswahl und Begleitung geeigneter Projekte unterstützen. Dabei soll ihr Geld, ohne den administrativen Aufwand einer eigenen Stiftung, maximale Wir-kung erzielen. 97 Prozent der Summe, so das Ziel der Spenderin, sollen direkt in die Projektförderung fließen.

Anreiz für die nächste Generation

Unternehmensführung, Mitarbeiter und Familie für eine gemeinsame Zielsetzung zu begeistern – nicht zuletzt durch Werte, die das Unternehmen jenseits von wirt-schaftlichen Erfolgen schafft –, diese Ein-stellung ist auch entscheidend, wenn es darum geht, die nächste Generation für

trainieren und zugleich zur Reputation von Familie und Firma beitragen.

Der Stabwechsel von einer Generation zur nächsten ist einer der kritischsten Momente in der Geschichte jedes Famili-enunternehmens. Viele Unternehmer-familien haben sich zwar das Ziel gesetzt, das Unternehmen dauerhaft in ihrer Hand zu behalten oder zumindest zu kon-trollieren. Nicht immer aber gelingt das mit dem familieneigenen Personal. Wenn sich die Familie also entscheidet, die Unternehmensführung einem exter-nen Manager anzuvertrauen, so hilft auch bei dessen Auswahl der Unterneh-menspurpose, um zu überprüfen, ob die gemeinsame Basis, das Werteverständ-nis, persönliche und wirtschaftliche Ziele der potenziellen Partner zueinan-der passen.

Forschungsergebnisse zeigen: Unterneh-men im Allgemeinen und Familienunter-nehmen im Besonderen, die Sinn und Ver-antwortung über materielle Anreize hinaus bieten, haben langfristig Wettbe-werbsvorteile. Sie sind attraktiver für Mitarbeiter und innovativer im Geschäft, wobei diese Effekte sich gegenseitig ver-stärken. Entscheidend ist, dass die Füh-rung den Unternehmenszweck nicht als Marketinginstrument versteht, sondern ihm durch gelebte Werte und daraus folgende Entscheidungen und Handlun-gen Glaubwürdigkeit und Tragkraft ver-leiht. Eigentümer, die selbst ihr Unterneh-men leiten, und Familien, die es verant-wortungsvoll steuern, spielen hier als Vorbilder eine besondere Rolle. Ihr Enga-gement und ihre Integrität fördern die Loyalität und Einsatzbereitschaft ihrer Mitarbeiter und können damit die Fähig-keit der gesamten Organisation stärken, sich schnell und umfassend an die Spiel-regeln einer neuen Welt anzupassen.

das Unternehmen zu gewinnen. Das dürf-te umso besser gelingen, je besser sich potenzielle Nachfolger aus den eigenen Reihen mit Selbstverständnis und Aus-richtung des Unternehmens identifizieren können.

Tendenziell sind heute bei vielen Unter-nehmerkindern die Ambitionen, im Fami-lienunternehmen Verantwortung zu übernehmen, eher gering. Mit hohen Ge-winnen und Gehältern ist die junge Gene-ration kaum zu locken. Für viele sind aber soziale Fairness oder ein verantwor-tungsvoller Umgang mit der Umwelt wichtige Aspekte ihres Lebens. Gerade bei den philanthropischen Aktivitäten des Familienunternehmens können poten-zielle Nachfolgekandidaten deshalb durch eigenes Engagement erfahren, welche Gestaltungs- und Umsetzungsmöglichkei-ten ihnen das Unternehmen bietet, um ihre Ideale umzusetzen. Auf diese Weise können sie sich ausprobieren, nebenbei ihre unternehmerischen Fähigkeiten

Peter EnglischGlobal Leader EY Family Business Center of Excellence

Hubert BarthVorsitzender der Geschäfts-führung EY Deutschland

Fast jeder kennt sie aus seiner Kindheit: die strenge und kluge Großmutter, die einen ermahnt, Essen niemals wegzuwerfen, so lange es noch genießbar ist. Auch Massimo Bottura hatte so eine Oma – und sie übte einen außergewöhnlichen Einfluss auf ihren Enkel aus. Der Italiener ist heute nicht nur einer der besten Köche der Welt, sondern auch ein Aktivist, der dem Verschwenden und Wegwerfen von Nahrungsmitteln den Kampf angesagt hat. Seine Waffen in die-sem Gefecht: Messer und Gabel.

„Food for Soul“ heißt die Stiftung des 54-Jährigen, dessen Restaurant „Osteria Francescana" in Mailand drei Michelin- Sterne zieren. In neu konzipierten ästheti-schen Suppenküchen verwandelt er nicht mehr verkäufliche Lebensmittel aus Groß- und Supermärkten in wertvolle Zutaten für wohlschmeckende Menüs für Bedürftige. Vor gut einem Jahr startete das Projekt in Mailand. Bologna und Modena folgten, im

Sommer 2016 eröffnete anlässlich der Olympischen Spiele eine Suppenküche in Rio. Für 2017 stehen Turin und New York auf dem Plan. Ihm gehe es um Kultur, sagt Bot-tura. „Wir geben den Menschen ihre Würde zurück, weil wir an einem Ort voller Schön-heit und Kultur für sie arbeiten.“ Untertrie-ben ist das nicht. In seinen Suppenküchen, die er in Anlehnung an mittelalterliche Spei-sesäle in Klöstern „Refektorien“ nennt, kocht die kulinarische Weltelite mit: der spa-nische Molekular-Meister Ferran Adrià zum Beispiel oder Frankreichs Star-Maître Alain Ducasse. Getafelt wird an langen Massiv-holztischen, entworfen von namhaften Desi-gnern wie Piero Lissoni und Patricia Ur-quiola. Der Kaffeehersteller Lavazza spen-dierte die Küche, die Lampenmanufaktur Artemide die Beleuchtung.

Im Refettorio von Mailand etwa versam-meln sich täglich gut 100 Menschen an den langen Tischen: Obdachlose, Flüchtlinge und Kranke, die von der örtlichen Caritas be-treut und mit köstlichen Speisen bewirtet werden. „Ich war immer ein Suchender“, sagt Bottura. Gefunden hat er nun ein neues Glück: eine Küche, die Resten eine Chance gibt – und glücklich macht.

Sterne in Suppenküchen

Massimo Bottura wurde 1962 in Modena geboren. 1987 eröff-nete er in Modena sein erstes Restaurant. In New York lernte er die Kuratorin Lara Gilmore ken-nen, seine spätere Ehefrau. 1995 eröffnete Bottura in Modena sein zweites Restaurant, „Osteria Francescana“. 2002 erhielt er seinen ersten Michelin-Stern, wei-tere folgten 2005 und 2011. Die Osteria wurde unlängst zum bes-ten Restaurant der Welt gewählt.

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24 Familienunternehmen Best Practice Kochkultur 25

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Elon Musk hat im Silicon Valley ein Vermögen verdient, er hat das Elektroauto Tesla konstruiert und eine Firma für private Raum-fahrt gegründet. Deswegen fei-ern ihn viele als einflussreichsten Unternehmer unserer Zeit. Doch es sind nicht nur seine technolo-gischen Durchbrüche und wirt-schaftlichen Erfolge, die ihn zur Schlüsselfigur gemacht haben. Er hat etwas noch viel Wichtigeres gefunden – Ziele, die größer sind als Elektroautos und Raum-schiffe. Er will nichts Geringeres als die Energieversorgung des Planeten Erde revolutionieren und gleichzeitig einen Weg für ein Leben der Menschheit im Welt-all schaffen.Der Traum vom Leben im All kam

für Elon Musk sogar noch vor sei-ner Vision vom Energiewandel mit den Elektroautos von Tesla. Seit 2002 baut er in Kalifornien Raketen. Im Bild die revolutio-näre Landestufe seiner Falcon-9- Rakete, die wieder landen kann.

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Page 15: Laden Sie das Entrepreneur-Magazin als PDF herunter

ls der Elektroauto-Erfinder, Rake-tenbauer und Energie-Visionär Elon Musk die Bühne der TED Conference betrat, wollte der Applaus nicht aufhören. Da durfte man sich von seiner etwas schüchternen Art nicht täuschen lassen. Unter den Digerati, Wissenschaftlern und Silicon-Val-ley-Milliardären, die sich alljährlich an der amerikanischen Westküste zu einer Mischung aus intellektuel-lem Gipfeltreffen und digitalem

Woodstock treffen, gilt er als Superheld. Wobei sie ihn nicht nur für seinen Erfolg feierten, für seine technologischen Durchbrüche, seine Erfolge an der Börse. Nein, die TED Conference ist auch eine immerwährende Suche des Silicon Valley nach Werten und Zielen, die jenseits von Wachstumsmargen liegen. Und von Elon Musk glau-ben viele, dass er einer der wenigen ist, die in ihrer Arbeit nicht nur eine Berufung, sondern auch einen Sinn gefunden haben.

An diesem Vormittag im Februar 2013 wollte Musk seinen jüngsten Coup präsentieren. Er war für seine Verhältnisse recht förmlich gekleidet, trug ein kariertes Hemd und ein Sportjackett. Sonst sieht man ihn fast nur in Jeans und schwarzem T-Shirt, einer selbst-gewählten Uniform, die an Steve Jobs erinnert, der ausschließlich Jeans und schwarzen Rolli trug. Musk gab sich routiniert, erzählte, wie er begonnen hatte, die Elektroautos seiner Firma Tesla zu bauen, wie er den Energieverbrauch erst der amerikanischen und dann der restlichen Welt reduzieren werde. Dann zeigte er ein Video. Da sah man eine der Grasshopper-Raketen von SpaceX in der Wüste von Texas stehen. Die Bodenkamera zeigte den Flammenausstoß der Triebwerke. Schnitt. In der Totalen erhob sich die Rakete in die Luft, blieb in 40 Meter Höhe kerzengerade stehen und setzte sanft wieder auf.

Der Applaus im Auditorium des Long Beach Convention Center war dann wohl vor allem deshalb so tosend, weil viele der Anwesenden einen Hintergrund in Natur- oder Ingenieurwissenschaften hatten und genau wussten, dass Musk hier gerade ein Paradigma auf den Kopf gestellt hatte. Seit ihrer Erfindung waren Raketen in der Raum-fahrt Konstrukte, die sich auf ihrem Weg zum Ziel Segment für Segment auflösten. Eine wiederverwendbare Rakete aber würde

die Raumfahrt revolutionieren. Traf man ihn nach seinem Auftritt, kam man durchaus mit ihm in ein Gespräch, das er mit einem leichten Akzent seiner ursprünglichen Heimat Südafrika führte. Und da flackerten rasch seine Leidenschaften auf – die Raumfahrt, schnelle Autos, noch schnellere Züge oder eine unendliche Energieversor-gung ohne fossile Brennstoffe. Man lernte aber auch einen Mann ken-nen, der seinen eigenen Worten im Kopf immer ein paar Schritte voraus war, bald schon ungeduldig auf den Fußballen wippte.

Es ist nicht ganz leicht, Elon Musks Aura und Wirkung zu verorten. Oft wurde er mit den anderen Visionären des Silicon Valley ver-glichen. Er sei wie Steve Jobs, nur freundlicher, wie Bill Gates, nur konzentrierter, wie Larry Page, nur sozial verträglicher, wie Jeff Bezos, nur nicht so marktorientiert. Nur stellt Elon Musk keine Com-puter her und Anwendungen programmiert er schon lange nicht mehr. Er baut Autos, Raketen, Züge, Neuauflagen von Technologien des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr wesentlich verändert haben.

Um den richtigen Vergleich zu ziehen, muss man eigentlich mehr als hundert Jahre in die Vergangenheit zurückblicken, ins Jahr 1884 zum Beispiel. Da präsentierten die Ingenieure aus dem Büro von Gustave Eiffel einen revolutionären Stahlturm, der anlässlich der Weltausstellung von 1889 mehr als 300 Meter über Paris hinaus-ragen sollte.

Ein Mann wie Gustave Eiffel

Ähnlich wie mehr als 100 Jahre später Musk in Long Beach konnte auch Eiffel schon auf eine lange Reihe von Erfolgsprojekten mit bewährten Technologien zurückblicken. Er hatte wegweisende Brü-cken konstruiert, den Budapester Westbahnhof gebaut und die inneren Tragwerke der Freiheitsstatue. Das bis heute weltweit wich-tigste Denkmal der Ingenieurskunst und der Überlegenheit des Werk-stoffes Stahl war auch genauso wenig der Endpunkt seiner Lauf-bahn wie die wiederverwendbare Rakete für Elon Musk. Bald nach

der Einweihung des Eiffelturmes musste Gustave Eiffel zwar beim Bau des Panamakanals einen schweren Rückschlag einstecken. Doch bald hatte er sich davon erholt und etablierte sich als einer der Pioniere der Flugzeugtechnik.

Das ist die zweite Parallele zu Elon Musk. Eiffel konnte Widerstände und Rückschläge aushalten. Die Proteste gegen seinen Stahlturm gehörten im Paris des 19. Jahrhunderts zu den heftigsten Reaktionen auf die Moderne. Intellektuelle von höchstem Rang wie Alexandre Dumas, Guy de Maupassant und Paul Verlaine wüteten gegen Eiffels Konstruktion. Charles Baudelaire schrieb: „Wenn die Technik über die Kunst hereinbricht, ist das deren sicherer Tod.“ Erst später reha-bilitierte die Architekturgeschichte Eiffels Größenwahn und erkann-te an, dass er mit seinem Stahlturm doch letztlich an die Größe der Gotik angeschlossen habe, weil er die verloren gegangene Einheit von Konstruktion und Baugestalt wiederhergestellt hatte. Nun begeg-nete Elon Musk nicht gerade der Zorn der versammelten Geisteswelt seiner Zeit. Der Widerstand war komplexer, kam von außen, von innen, aus der Wirtschaft, dem Markt, der Presse. Bei seinen Moskau-Reisen ganz am Anfang seiner SpaceX-Jahre bewies er seine Wider-standsfähigkeit gegen jede Form von Hindernissen erstmals.

Es war im Oktober 2001, als Elon Musk – mit seinem besten Freund aus dem Studium an der Pennsylvania University, Adeo Ressi, und dem Raketenexperten Jim Cantrell – nach Moskau flog, um eine Rakete

zu kaufen. Sein Plan war es, Mäuse zum Mars zu schicken und dann wieder sicher zur Erde zurückzubringen. Ein gigantisches Unterfan-gen. Cantrell hatte Meetings mit der russischen Raumfahrtbehörde und mit Raketenherstellern wie Kosmotras und Lawotschkin organi-siert. Doch die russischen Ingenieure nahmen die drei jungen Ameri-kaner nicht ernst. Zu sehr steckten sie noch im hierarchischen Denken aus den Zeiten des Kalten Krieges. Musk hatte im Sommer seinen 30. Geburtstag gefeiert, sah aber noch jünger aus. Und nichts verriet, dass er mit Zip 2 und Paypal schon zwei global erfolgreiche Firmen gegründet hatte, deren Verkauf ihn zum vielfachen Millionär gemacht hatte. Einer der Ingenieure spuckte Musk und Cantrell sogar an, so wütend war er über die impertinenten Amerikaner, die glaubten, sie könnten einfach so den Weltraum neu erobern.

Der russische Ingenieur lag gar nicht so falsch. Der Besuch des jun-gen Elon Musk in Moskau war der erste Auftritt der neuen Märkte als Supermacht. Was die amerikanischen und sowjetischen Pioniere noch die Anstrengungen von Jahrzehnten und die Ressourcen einer Weltmacht kostete, sollte Musk dann schon bald mit seinem Privat-vermögen, ein paar Investoren und in wenigen Jahren gelingen. Er reiste sogar noch ein zweites Mal nach Moskau. Wieder vergeblich, deswegen beschloss er, die Rakete einfach selber zu bauen. Und so nahm die Raumfahrtgeschichte des 21. Jahrhunderts ihren Verlauf. Am 28. September 2008 war Elon Musks Falcon 1 die erste privat finanzierte Rakete, die den Orbit erreichte.

In Silicon Valley feierte man ihn dann auch genau dafür – als An-führer einer politischen Revolution. Staatsregierungen und Behörden gelten dort als Dinosaurier, die mit ihren zähen Entscheidungspro-zessen und lästigen Regulierungen dem Fortschritt im Weg stehen. Für viele in den neuen Industrien war Musks Flug in den Orbit ein Befreiungsschlag.

Die eigentliche Supermacht, seine Wahlheimat USA, machte ihm dann schon bald ein Angebot. Im Dezember 2008 unterschrieb Elon

Was treibt einen Mann an, sein Vermögen, seine Firmen, seinen Ruf zu riskieren, um Unmögliches zu schaffen?

Jeder Schritt ein Rekord: Die Batterie-fabrik von Tesla (unten) ist das größte Gebäude der Welt. Die Dragon (rechts) war das erste private Raumschiff, das die ISS erreichte.

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Musk einen Vertrag mit der NASA, die ihm für zwölf Versorgungs-flüge zur internationalen Raumstation ISS 1,6 Milliarden Dollar bezahlen würde. Genügend Geld, um SpaceX weiterzuentwickeln. Und wieder dauerte es nicht lange. Am 25. Mail 2012 dockte eine Falcon 9 als erstes privates Raumschiff an der ISS an. Elon Musks Raketentraum war nun der offizielle Nachfolger der Spaceshuttles.

Privatwirtschaft als Supermacht

Andernorts sah man den Aufstieg von SpaceX kritisch. War das nicht die Inkarnation des Größenwahns weltfremder Silicon-Valley-Milli-ardäre? Musk war ja auch nicht der Einzige, den es ins All trieb. Im Frühjahr 2012 verkündete Google-Gründer Larry Page gemeinsam mit dem Regisseur von Monumentalfilmen wie „Titanic“ und „Avatar“, James Cameron, dass sie mit ihrer neuen Firma namens Planetary Resources im Weltraum wertvolle Metalle abbauen würden. Und der britische Abenteurer und Unternehmer Richard Branson erwei-terte seine Luftlinie Virgin Atlantic um die kommerzielle Raumflug-linie Virgin Galactic, mit der Touristen ins All fliegen sollen.

Parallel zum Widerstand gegen seine Raumfahrtträume geriet auch Elon Musks Autofirma Tesla immer wieder ins Fadenkreuz von Jour-nalisten, Behörden und der Konkurrenz. Die Reichweite zu gering, die Entwicklungszeiten zu lang, die Absatzzahlen zu gering, der Bord-computer zu unsicher, die Feuergefahr zu groß. Drei Rückrufak-tionen wegen Sicherheitsmängeln kamen in die Schlagzeilen. Und als am 7. Mai 2016 der Fahrer einer Tesla-S-Klasse-Limousine ums Leben kam, weil er sich auf den Autopiloten verlassen hatte, der einen Lastwagen nicht erkannte, wurde in der Folge die gesam-te Zukunft der selbstfahrenden Autos in Frage gestellt.

Am 1. September 2016 kam es dann zum bisher größten Rückschlag in der Geschichte von SpaceX. Eine Falcon-9-Trägerrakete explo-dierte beim Start. Zu Schaden kam niemand. Es war auch nicht der erste Unfall einer SpaceX-Rakete. Im Juli 2015 war es schon ein-mal zu einer Explosion gekommen. Doch dieses Mal war es anders.

Der Flug hätte einen Satelliten ins All bringen sollen, der für Facebook Signale über den Planeten sendet. Der Symbolwert war gewaltig. Elon Musk reagierte mit dem gebotenen Pragmatismus. Er forderte die Öffentlichkeit über Twitter auf, Videos und Aufnah-men des missglückten Starts einzusenden, sie könnten für die Unter suchung des Unfalls wichtig sein. Denn der war für Elon Musk eben vor allem nur ein Rückschlag, keinesfalls ein Grund, seine Pläne aufzugeben.

Was also treibt einen Mann, immer wieder sein gesamtes Vermö-gen, seine Firmen, seinen Ruf zu riskieren, um vermeintlich Unmög-liches zu schaffen? Man muss nur eine der nicht ganz so exklusiven Digitalkonferenzen wie die DLD in München besuchen. In jedem zweiten Vortrag, in jedem zweiten Gespräch ist Elon Musk so etwas wie der Goldstandard des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts. Der Unterschied liegt darin, dass Elon Musk es geschafft hat, nicht nur einen Sinn im Fortschritt und im Erfolg zu finden. Sicher, die Sinnsuche ist derzeit ein zentrales Motiv der Wirtschafts-welt. Elon Musk fand aber nicht nur Sinn, sondern Bestimmung. Die Elektroautos von Tesla sind nur ein erster, aber entscheidender Schritt für eine Energiewende, die fossile Brennstoffe zum Ana-chronismus machen soll. Der nächste Schritt ist schon getan. Mit der Tesla Powerwall konstruierten Musks Ingenieure für seine Firma Solarcity eine Batterie, die Solarstrom effizient speichern und Privathäuser so de facto vom Stromnetz nehmen kann. Das wäre ein vollkommen neues Modell der Energieversorgung, das die Unabhängigkeit der Pionierzeiten mit den progressiven Zielen einer grünen Zukunft vereinen würde. Und wenn die Hyperloop-Züge Wirklichkeit würden, jene luftgepolsterten, solarstromgetriebenen

Tunnelgeschosse, in denen Menschen in Überschallgeschwindigkeit schneller als mit jedem Jet reisen könnten, wäre eine Revolution der Energieversorgung greifbar. Die Raumfahrt wiederum ist für Elon Musk die logische Konsequenz seines Denkens. Es geht ihm nicht um die Eroberung des Weltraums, sondern um das Überleben der Menschheit an sich. „Ein Asteroid oder ein Supervulkan könnte uns zerstören. Wir sind Gefahren ausgesetzt, von denen die Dinosau-rier nicht einmal träumen konnten: ein künstliches Virus, ein verse-hentlich geschaffenes Mikro-Schwarzes-Loch, ein katastrophales Ausmaß der Erderwärmung oder eine bisher noch gar nicht existie-rende Technologie könnten unser Ende bedeuten. Früher oder später müssen wir unser Leben jenseits dieser grünen und blauen Kugel planen. Oder aussterben.“

Flucht der Menschheit ins All

Elon Musk ist mit seiner apokalyptischen Bestimmungsphilosophie nicht alleine. Es gibt viele Wissenschaftler, die angesichts der Reali-täten des Universums in Gedanken und Studien Szenarien durch-spielen, die als Skript für einen Science-Fiction-Film in Hollywood wohl als zu verstiegen abgelehnt würden.

Das Londoner Museum of Natural History veröffentlichte im Begleit-material zur Ausstellung „Otherworlds“ des Weltraumfotografen Michael Benson im Frühjahr 2016 ein solches Szenario. Das las sich wie eine Art Umzugsplan für die Menschheit. Es gilt als wissenschaft-lich erwiesen, dass die Sonne in ungefähr sechs Milliarden Jahren verglühen wird. Bereits in zwei Milliarden Jahren aber wird die Tem-peratur auf der Erde so ansteigen, dass jedes Leben unmöglich wird. Dann aber wäre gleichzeitig das Klima auf dem Mars perfekt für einen Neuanfang. Und wenn es nach weiteren Milliarden Jahren auf dem Mars zu heiß wird, sehen die Astronomen erst die Saturn-monde und schließlich den Jupiter als mögliche Ausweichquartiere.

Wer kann es Elon Musk da verdenken, dass er schon jetzt die Pro-jekte von Biologen finanziert, die am Massachusetts Institute of Tech-nology daran arbeiten, Gemüseplantagen für die Besiedelung des Roten Planeten zu entwickeln? Egal wie bizarr einem Elon Musks apokalyptische Gedanken erscheinen mögen, die Umsetzung in tech-nische Wirklichkeiten ist nicht unrealistisch. Sollten seine Hyperloop-Züge Wirklichkeit werden, die in einer halben Stunde von Los Angeles nach San Francisco und in drei Stunden von New York nach London fahren könnten, würde auch der Flugverkehr der Vergangenheit an-gehören. Selbst der Bedrohung durch Technologien, die wir uns noch gar nicht vorstellen können, begegnet er schon mit konkreten Pro-jekten. 2015 gründet er die Organisation OpenAI in San Francisco, die mit einem Spendenkapital von einer Milliarde Dollar daran arbei-ten soll, dass die Entwicklung künstlicher Intelligenz eine Richtung beibehält, die der Menschheit von Nutzen ist und nicht zur Gefahr wird.

In letzter Instanz aber bleibt Elon Musk Optimist. Vor nicht allzu langer Zeit sagte er: „Ich würde gern auf dem Mars sterben. Aller-dings nicht beim Aufprall.“ Das hieße für einen heute 45-Jährigen, dass die Menschheit das All spätestens in einem halben Jahrhundert erobern müsste. Und er meinte das keineswegs ironisch. Er meinte das ganz ernst.

Andrian Kreye

Andrian Kreye ist Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung und Autor mehre-rer Bücher. Den Aufstieg der digitalen Welt verfolgt er, seit ihm Timothy Leary und Jaron Lanier Ende der Achtzigerjahre in San Francisco die frühen For-men der Virtual Reality zeigten. Seit 2004 gehört er zu den Autoren des Wis-sen schafts kulturforums edge.org, in dem Wissenschaftler wie Steven Pinker, Freeman Dyson oder George Church mit Künstlern wie Brian Eno, Jaron Lanier oder Douglas Coupland Debatten führen. Seit vielen Jahren ist er auch regelmäßiger Teilnehmer der TED Conferences in Amerika und Europa.

Das Elektro-SUV Tesla X ist nur ein Element in Elon Musks Strategie für eine globale Energiewende, zu der auch Solarcity-Batterien und Solar dachziegel für Wohn häuser sowie Hyper loop-Züge gehören.

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Porträt 3130 Porträt

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Richard Branson ist kein Mann, der sich gern mit Kleinigkei-ten abgibt. Sein Format ist XXL. Als er vor mehr als 40 Jahren mit seiner Plattenfirma den bis dato unbekannten Musiker Mike Oldfield unter Vertrag nahm, verkaufte sich dessen Debüt-LP prompt über fünf Millionen Mal. Die Unternehmen seiner Virgin-Gruppe erwirtschaften satte Umsätze, sein Privatvermö-gen wird auf fünf Milliarden Dollar geschätzt. Als er vor einigen Jahren „The Elders“ ins Leben rief, einen Zusammenschluss ehemaliger Staatslenker, Friedens aktivisten, Gewerkschafter und Menschenrechtler, war ihm kein Name zu prominent. Ausschließlich Persönlichkeiten von allererstem Format wie Jimmy Carter oder die indische Gewerkschafter-Ikone Ela Bhatt wurden eingeladen, ihren Einfluss zur Lösung globaler Probleme in die Waagschale zu werfen.

Jetzt greift der britische Multiunternehmer und begeisterte Ballonfahrer, der seine Autobiografie mit „Business ist wie Rock ’n’ Roll“ betitelt hat, erneut nach den Sternen, auch wenn der Name der von ihm gegründeten Initiative, „The B Team“, nach zweiter Wahl klingt – zumindest weit bescheidener als die Aufgabe, die Branson ihr zugedacht hat. Das B Team soll näm-lich nichts weniger bewerkstelligen als die Raison d’être von Unternehmen neu zu definieren. „Regierungen und Zivilgesell-schaften können die drängenden weltweiten Probleme nicht im Alleingang lösen“, gibt Branson die Marschrichtung vor. „Jeder von uns wird gebraucht – allen voran jene, die über die nötigen Ressourcen verfügen.“ Angesichts einer Weltbevöl-kerung von neun bis zehn Milliarden Menschen im Jahr 2050,

immer häufigerer Naturkatastrophen, wachsender sozialer Ungleichheit, Unterernährung, Wassermangel und des Zusam-menbruchs ganzer Ökosysteme sei „Business as usual“ keine Option mehr. Bransons Vision: „Eine Welt, in der Unternehmen die Mission verfolgen, den sozialen, ökologischen und wirt-schaftlichen Wandel voranzutreiben.“

Gemeinsam mit Jochen Zeitz, der fast zwei Jahrzehnte lang erfolgreich die Geschicke des Sportartikelherstellers Puma lenkte, rief Branson vor drei Jahren das B Team ins Leben. Von Beginn an schlossen sich einflussreiche Unternehmer und Manager aus aller Welt wie Grameen-Bank-Gründer Muhammad Yunus, der simbabwische Entrepreneur und Philantrop Strive Masiyiwa, Unilever-CEO Paul Polman und jüngst Allianz-Vor-standschef Oliver Bäte der Initiative an.

Die Partner des B Teams verpflichten sich gegenseitig auf ein neues unternehmerisches Selbstverständnis – das soziale und ökologische Ziele auf dieselbe Stufe stellt wie das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg. „Plan B“ nennen sie dieses Vorha-ben – „weil Plan A, nach dem Unternehmen fast ausschließlich durch das Streben nach Gewinn angetrieben wurden, keine Option mehr ist“, so Jochen Zeitz. Eine neue Agenda, „die un-seren Planeten, die Weltbevölkerung und das Streben nach Profit miteinander in Einklang bringt“, müsse an die Stelle des allein profitorientierten Paradigmas treten. „Denn auf lange Sicht gilt: Was gut ist für den Planeten, ist auch besser fürs Geschäft.“ So regen Branson und Zeitz beispielsweise an, die Einkommen von Managern künftig auch an das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen wie Müllvermeidung und Senkung des Energieverbrauchs zu koppeln oder ein Accounting nach öko-logischen und sozialen Kriterien einzuführen, wie es Zeitz vor einigen Jahren bei Puma etabliert hatte.

Doch wie glaubwürdig ist eine solche Initiative, wenn deren Verfechter nicht einmal in ihren eigenen Firmen das ökologi-sche Soll erfüllt haben? Wer derartiges fordere, habe die Botschaft nicht verstanden, findet Jochen Zeitz. „Es geht nicht darum, Leute mit reinweißer Öko-Weste zu finden, sondern solche, die nachweisbar positive Anstöße in ihren Unterneh-men geliefert haben. Wir predigen nicht nur, sondern wollen unsere Vorhaben in die Tat umsetzen.“

Damit haben die B-Team-Partner auch bereits begonnen:• Etliche Mitglieder der Initiative verpflichten sich dem Ziel

der Klimaneutralität. So hat beispielsweise der Chemie-konzern Unilever binnen eines Jahres seinen CO2-Ausstoß um fast 40 Prozent reduziert.

• Der amerikanische Cloud-Computing-Anbieter Salesforce hat drei Millionen Dollar ausgegeben, um bestehende Unterschiede in der Entlohnung zwischen Männern und Frauen auszugleichen.

• Bransons Virgin Group bietet Mitarbeitern, die seit min-destens vier Jahren für das Unternehmen tätig sind, jetzt ein Jahr Elternzeit bei vollem Gehaltsbezug.

• Bob Collymore, CEO des Mobilfunk-Anbieters Safaricom, veröffentlichte im vergangenen Jahr als erster kenianischer Manager eine vollständige Liste seiner Einkünfte und Unternehmensbeteiligungen – ein deutliches Signal gegen die im Land grassierende Korruption.

• Der französische Mode- und Lifestyle-Konzern Kering wird in diesem Jahr erstmals in sämtlichen Unternehmens-sparten eine detaillierte ökologische Gewinn-und-Verlust-Rechnung vorlegen.

• Die indische Tata Group hat angekündigt, all ihre Geschäftsbereiche auf ihren ökologischen und sozialen Fußabdruck hin zu untersuchen.

Fakt ist: Von diesen ersten Schritten bis zum Ideal eines Unternehmens, das völlig in Einklang mit Natur und Gesell-schaft agiert, ist es noch ein weiter Weg. So wird es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis beispielsweise die Jets von Richard Bransons Fluggesellschaften klimaneutral fliegen. „Je größer und komplexer ein Unternehmen, desto schwerer fällt die Kurskorrektur“, erklärt Branson das Dilemma.

Anders ist es bei jungen Unternehmen. Hier lässt sich die Frage nach dem übergreifenden Sinn ihres Daseins von Beginn an in die Firmen-DNA integrieren – Plan B wäre damit Teil der Gründungslegende. Genauso sieht es auch die B-Team- Familie – und präsentierte im März dieses Jahres vor mehr als 100 Technologie-Start-ups in San Francisco ihren jüngsten Spross namens „Born B“. Junge Unternehmen sollen sich – sozusagen von Geburt an – der Agenda des B Teams verpflich-ten. „Ein neu gegründetes Unternehmen muss gar nicht erst umsteuern“, so Branson. „Es kann soziale, ökologische und wirtschaftliche Ziele von Anfang an in sein Geschäfts-modell integrieren.“

Born B zielt allerdings nicht ausschließlich auf Start-ups, son-dern genauso auf die Investorengemeinde. Mit ihrer Start-hilfe „können die Investoren abstimmen“, appelliert das B Team an die Wagnisfinanzierer, „nicht zuletzt über die Ziele der Unternehmen in ihrem Portfolio.“ Die Initiative ermuntert die Geldgeber, ihr Kapital vor allem in solche Projekte zu stecken, „die auch eine soziale Dimension haben“. Den Start-ups emp-fehlen die Altvorderen vom B Team zunächst eine genaue Standortbestimmung. Wer beispielsweise seinen ökosozialen Fußabdruck kenne, dem falle es leichter, „einen zeitlichen Rahmen mit konkreten Zielvorgaben für Produktion und Wert-schöpfungskette aufzustellen“ – und sich mit anderen, gleich jungen Unternehmen aus derselben Branche zu messen.

Bereits wenige Wochen nach der Ankündigung haben sich 120 Start-ups der neuen Initiative angeschlossen; in den sozialen Netzwerken erreichte Born B auf Anhieb mehr als 13 Millionen Menschen. Die sollen sich nach Ansicht von B-Team-Partnerin Mary Robinson in Zukunft möglichst nicht aufs Debattieren beschränken. „Wir sind jetzt an einem ent-scheidenden Punkt angelangt“, drängt die ehemalige irische Staatspräsidentin und engagierte Klimaaktivistin. „Die Zeit des Redens ist vorbei. Jetzt muss gehandelt werden.“

„ Jeder von uns wird gebraucht – allen voran jene, die über die nötigen Ressourcen verfügen, entscheidende Veränderungen zu bewirken.“Richard Branson

In seinem Langzeitprojekt „Side Effects“ widmet sich der polnische Fotograf Kacper Kowalski dem

fragilen Beziehungsgeflecht zwischen Mensch und Natur. Der im Jahr 2015 mit dem World Press

Award ausgezeichnete Kowalski fotografiert aus der Luft – von einem Paraglider oder einem

Tragschrauber aus.

Treiber des WandelsDas B Team, eine Gruppe einfluss-reicher Unternehmer und Manager, kämpft für ein „besseres Wirtschaften – zum Wohle der Menschen und des Planeten“. Nicht zuletzt Start-ups sollen sich der Agenda der Initiative ver-pflichten.

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Unternehmerinitiative 33

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Fotos Wolfgang Stahr

Bernd Ankenbrand: Frau Teigland, die Frage nach dem Sinn unseres Tuns beschäftigt heute immer mehr Menschen. Wenn ich etwa mit meinen Studenten darüber diskutiere, was sie später von ihrem Arbeitgeber erwar-ten, steht ein Wunsch an erster Stelle: Sie wollen einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen. Wie zwingend ist es in diesem Zusammen-hang für Unternehmen, darauf eine Antwort zu geben?

Julie Linn Teigland: Ich glaube, dass erfolg-reiche Unternehmen gut beraten sind, einen Sinn, ein Leitbild für sich zu entwickeln. Organisationen sind keine statischen Gebilde, sie sind im Laufe der Zeit zu dem geworden, was sie sind. Heute sind sie an einem Punkt angekommen, an dem es notwendiger ist, ein Leitbild zu formulieren, darüber zu spre-chen und es zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen. Das gab es früher auch, bloß war das nicht so ausgeprägt.

Ankenbrand: Mit der geschichtlichen Ent-wicklung sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Denn genauso, wie sich Organisationen im Laufe der Zeit entwickeln, entwickelt sich auch der Begriff dessen, was wir für sinnvoll erachten. Generell gilt: Ob etwas sinnvoll ist, hängt davon ab, welche Maßstäbe ich anlege.

Historisch gesehen gibt es in jeder Epoche der Menschheits- und Wirtschaftsgeschichte Maßstäbe, die definieren, was sinn- und wertvoll ist. Diese Maßstäbe haben sich im Laufe der Zeit evolutionär verändert, sie wurden komplexer, differenzierten sich aus. In den frühen Stammesgesellschaften zum Beispiel zählten Macht, Ehre und Dominanz. In der Industrieökonomie waren es Produk-tivität und Disziplin. Heute, in der Post-Infor-mationsökonomie, gewinnen Werte wie Nachhaltigkeit, Selbstorganisation und Ver-netzung an Bedeutung. Das heißt, auch früher wurde nicht ohne Sinn und Verstand gewirtschaftet. Es galten nur andere Maß-stäbe. Unser Sinnbegriff verschiebt sich ge-rade, daher müssen wir jetzt mehr darüber reden, was wir unter „sinnvoll“ verstehen.

Teigland: Antworten auf Sinn- und Zweck-fragen können wir heute viel freier geben und wählen als frühere Generationen. Beson-ders die jungen Leute haben mehr Freiheit als jemals zuvor. Ich bin mir zum Beispiel nicht so sicher, ob meine Kinder jemals so arbeiten werden wie ich. Nicht weil sie faul wären, sondern weil sie ein anderes Emp-finden haben. Die Frage, die wir uns als Unternehmen daher stellen müssen, lautet: Wie und womit kann ich sie ansprechen? Wieso sollten sie bei uns arbeiten und nicht woanders?

Ankenbrand: Man muss sich heute als Unternehmen erklären, muss für potenzielle Arbeitnehmer sinnvolle Anschlüsse schaf-fen. Bisher lautete das Credo: „Wer Leistung fordert, muss Geld und Karriere bieten.“ Aber das verfängt heute nicht mehr. Eine neue Generation fragt massiv nach dem Warum und dem Wozu. In dem Maße, indem wirtschaftliche und soziale Zwänge wegfal-len, entsteht eine Vielzahl an Optionen, die wir individuell als Freiheit erleben. Anders formuliert: Ich wähle meinen Job nicht mehr ausschließlich, um Geld zu verdienen. Es kommt noch etwas hinzu, das außerhalb von Geld und Karriere liegt. Für Unternehmen gilt daher: Nur wer Sinn stiftet, kann auch Wert schöpfen.

Teigland: Deshalb suchen viele Unterneh-men nach einem neuen genetischen Code, der es ihnen ermöglicht, zu überleben, sich weiterzuentwickeln und die talentier-testen Mitarbeiter zu gewinnen. In Zukunft wird es daher immer wichtiger, über den Sinn der eigenen Aktivitäten Rechenschaft abzulegen und aufzuzeigen, wofür man steht. Wir arbeiten bei EY viel mit Start-ups zusammen. Für diese Unternehmen ist es viel selbstverständlicher, sich diese Fragen zu stellen und darauf schlüssige Antworten zu geben.

„ Nur wer Sinn stiftet, kann auch Wert schöpfen“In Zeiten des Umbruchs stellt die Orientie-rung an einem übergeordneten Sinn für Unternehmen einen wertvollen Kompass dar. Im Gespräch loten Wirtschaftsprofessor Bernd Ankenbrand und Julie Linn Teigland von EY den Zusammenhang zwischen Profit und Purpose aus – und den Weg zu mehr Sinnorientierung.

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Reise. Wer Sinn sucht, muss sich auf den Weg machen, eine Entwicklung und auch eine gewisse Offenheit zulassen.

Teigland: Entscheidend ist, dabei möglichst alle Mitarbeiter mitzunehmen und glaub-würdig zu sein. Solange Purpose nur ein Mar-ketingthema bleibt, wird der Wandel nicht gelingen. Er muss untermauert werden mit harten Fakten. Andernfalls ist der Wandel auch nicht in der Kultur des Unternehmens eingebettet und bleibt lediglich eine Ver-kaufsveranstaltung.

Ankenbrand: Es gibt ein Beispiel, das ich sehr gern verwende, wenn ich über Sinn spreche. Adam Grant von der University of Pennsylvania machte ein Experiment mit dem Call Center einer Universität, dessen Aufgabe es war, Spenden einzusammeln. Wer schon einmal Kaltakquise am Telefon ge-macht hat, weiß, wie frustrierend das sein kann. Grant fragte sich also: Wie kann ich die Mitarbeiter motivieren?

Teigland: Welche Antwort fand er?

Ankenbrand: An dieser Stelle kommt der Sinn ins Spiel: Grant brachte das Call-Center-Team in einem persönlichen Treffen mit einem Alumnus zusammen, der seine private Geschichte erzählte: „Danke, dass ihr Call-Center-Mitarbeiter Spender aktiviert, denn so war es für mich möglich, ein Stipendium zu bekommen, um studieren zu können.“ Kein Marketing, sondern einfach nur: „Danke, ihr habt mein Leben verändert!“ Das hat die Motivation und damit die Leistungsbereit-schaft der Leute spürbar gesteigert. Ein gutes Beispiel für die Maxime „Nur wer Sinn stiftet, kann auch Wert schöpfen“. Nicht die Aussicht auf bessere Bezahlung oder andere Bonusleistungen hat die Call-Center-Mitar-

Prof. Dr. Bernd Ankenbrand

Prof. Dr. Bernd Ankenbrand ist Experte für Risiko- und Vertrauenswahrnehmung, Geschäfts-modellinnovation und Sinnökonomie. Er lehrt an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg und Schweinfurt. Zuvor war er Professor an der Karlshochschule International University in Karlsruhe. Ankenbrand studierte Wirtschaftswissenschaften unter anderem an der Universität Witten /Herdecke sowie der Stockholm Business School. Seine Lehr- und Forschungs-erfahrung beinhaltet unter anderem Aufenthalte an der Sino-German School of Governance im chinesischen Nanjing sowie am Social Cognition and Social Neuroscience Lab der Princeton Uni-versity in den USA.

Julie Linn Teigland

Julie Linn Teigland ist Managing Partner von EY Deutschland, Schweiz und Österreich (GSA) sowie Mitglied der Geschäftsleitung von EY Euro-pa, Mittlerer Osten, Indien und Afrika (EMEIA). Davor war sie u. a. Managing Partner von EMEIA Markets und beriet multinationale Unternehmen zu Fragen strategischen Wachstums, grenzüber-schreitender Transaktionen sowie internationalen Steuerrechts. Teigland wurde in Michigan (USA) geboren, studierte Betriebswirtschaftslehre in Heidelberg, Frankfurt und Paris und erwarb den Titel „Certified Public Accountant“ (CPA).

„ Wer Sinn sucht, muss sich auf den Weg machen, Entwicklung und Offenheit zulassen.“Bernd Ankenbrand

Ankenbrand: Wenn ein Unternehmen Mitar-beiter für sich gewinnen will, muss es heute auch Sinn bieten. Gerade Start-ups aus dem Digitalbereich haben das längst erkannt. Und für sie ist es auch viel leichter, mit dem Thema umzugehen. Sie können praktisch auf der grünen Wiese anfangen, es gibt keine Unternehmenshistorie, keine alten Maß-stäbe, die diskutiert und mühsam verändert werden müssen.

Teigland: Die „Purpose Economy“ ist noch ein relativ neuer Begriff im wissenschaftli-chen Diskurs. Was macht denn aus Ihrer Sicht Sinn aus? Gibt es dafür eine Art Formel?

Ankenbrand: Es gibt zumindest Zutaten, die im Zusammenspiel Sinn entstehen lassen. Etwas ist dann sinnvoll für mich, wenn es eine Zielorientierung gibt, die ich teile. Wenn ich also weiß, wozu ich etwas tue. Außer-dem muss ich meine eigene Wirkung erken-nen können. Und schließlich geht es um Zugehörigkeit: Sinn entsteht im Zusammen-spiel und in Wechselwirkung mit anderen.

Teigland: Das deckt sich mit einer aktuel- len Befragung, die das EY Beacon Institute jüngst veröffentlicht hat: Demnach ist eine große Mehrheit der befragten Führungs-kräfte der Meinung, dass ein starker Purpose die Mitarbeiterzufriedenheit und die Kun-denloyalität signifikant steigert. Gerade in Zeiten großer Transformationen erweist sich die Suche nach Sinn als besonders dring-lich. Das erleben wir auch im Kontakt mit unseren Mandanten. Manche von ihnen kom-men zu uns und fragen nach unserem Rat: Frau Teigland, wir sind auf dieser Reise in Richtung Transformation. Wie gelingt das?

Ankenbrand: Wie sind Ihre Erfahrungen, wo stehen Unternehmen auf diesem Weg?

Teigland: Wenn wir das Thema bei unseren Kunden ansprechen, gibt es ganz unter-schiedliche Reaktionen. Da sind die, die es skeptisch sehen und lediglich einen Marke-tingtrend wittern. Die zweite Gruppe ist interessiert und aufgeschlossen und möchte wissen, wie sie das Thema selbst angehen und gestalten kann. Und schließlich gibt es die, die nicht überzeugt werden müssen, die den Mehrwert eines klaren Purpose sehen und verstehen. Unsere Aufgabe liegt dann vor allem darin, das jeweilige Unternehmen bei dem zu unterstützen, was wir „Purpose Lead Transformation“ nennen. Grundlage hierfür ist unsere Arbeit am EY Beacon Insti-tute. Beacon heißt übersetzt Leuchtfeuer, Signal, es soll helfen, in einer komplexen Welt die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Ankenbrand: Dieses Vorgehen deckt sich interessanterweise mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Sinn. Es geht dabei nämlich um einen Gang, einen Weg, eine

„ Wir wachsen nicht aus purem Selbst- zweck, sondern für einen höheren Zweck.“Julie Linn Teigland

beiter motiviert, sondern die unmittelbare Erfahrung der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Die spannende Frage ist nun: Kann man solche Ergebnisse auf die Welt von Unternehmen übertragen? Und falls ja, wie?

Teigland: Der Purpose sollte in jedem Fall mit den Zielen, Produkten oder Dienstleis-tungen eines Unternehmens übereinstimmen. Im Pharmabereich etwa könnte man sagen, wir arbeiten daran, dass die Leute gesünder bleiben und länger leben. Wir bei EY haben uns gefragt: Wie können wir das, was wir tag-täglich tun, als sinnhaftes Leitbild formu-lieren? So kamen wir zu „Building a better working world“. Warum? Weil wir als Wirt-schaftsprüfer dazu beitragen, das Vertrauen in die Kapitalmärkte zu stärken. Weil wir ein weltweit tätiges Unternehmen sind und uns für die globale Zusammenarbeit und Integ-ration stark machen. Weil wir ein Peoples Business sind und unsere Mitarbeiter för-dern und entwickeln. Und weil wir auch für Innovation und Nachhaltigkeit stehen.

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Valerie Keller, Global Lead, EY Beacon Institute

Wegweiser für den Wandel

Führung ist heute viel ausdifferenzierter. Es gibt auch hier eine Vielzahl an Modellen. Und die Kunst – deswegen reden wir auch über Sinn – besteht vor allem darin, zu erken-nen, welches Modell in welchem Kontext sinnvoll ist.

Teigland: Dazu brauchen wir eben Leader-ship, um Anreize zu geben und einen klugen strategischen Rahmen zu definieren, der für möglichst alle Mitarbeiter Perspektiven bietet. Die Orientierung an einem Leitbild ist hierbei sehr hilfreich. Dennoch kann es manchmal auch eine Herausforderung sein, einen Purpose zu finden, der jeden im Un-ternehmen abholt und der sich auch mit der vorherrschenden Profiterwartung verträgt.

Ankenbrand: Sie haben das Stichwort Profit genannt. Das scheint mir ein wichtiger Punkt. Wenn Unternehmen heute stärker über Sinn sprechen und nach entsprechen-den Zielen für sich und ihre Mitarbeiter suchen, heißt das ja nicht, dass sie keinen Gewinn mehr machen wollen. Auch hier geht es um die Maßstäbe: Profit ja, aber es müssen eben nicht 25 Prozent Rendite sein!

Teigland: Ohne Profit gibt es keinen Pur-pose, sonst reden wir über Charity. Unterneh-men müssen wachsen, um Spielräume für Innovationen und Veränderungen zu haben. Und auch wir bei EY müssen weiter in Rich-tung Wachstum und Profitabilität gehen, nicht zuletzt, weil wir unsere Mitarbeiter for-dern und fördern wollen. Dieses „Mehr“ ist Bestandteil unserer Unternehmenskultur und deshalb auch Teil des Leitbildes. Gleich-wohl stimme ich Ihnen zu, dass wir dafür den richtigen Maßstab finden müssen, denn beides bedingt einander.

Ankenbrand: Profit muss keine rein wirt-schaftliche Kategorie sein. Ursprünglich bedeutet Profit Gewinn für die Seele. Er später wurde daraus eine wirtschaftliche Kategorie. Wachstum ist ein menschliches Bedürfnis, aber es muss nicht immer nur finanzi elles Wachstum sein. Wachstum ist auch auf anderen Ebenen notwendig, zum Beispiel hinsichtlich der Lebensqualität. Die-se Anforderung wird auch immer mehr an Unternehmen und Organisationen herange-tragen – Bereiche mit zu übernehmen, die früher öffentlich waren. Unternehmen kön-nen sehr viel dazu beitragen, für ein positi-ves, nicht ausschließlich monetäres Wachs-tum zu sorgen.

Teigland: Als Betriebswirtin habe ich ge-lernt, dass es ohne Wachstum und Profit nicht geht. Man wächst oder schrumpft. Es ist wie auf einer Waage: man kann sich nur eine Millisekunde stabil in der Mitte halten.

Unternehmen müssen deshalb nach oben streben, wenn sie mehr für ihre Mitarbei- ter, ihre Kunden und die Gesellschaft errei-chen möchten. Dieses Streben mit etwas Höherem zu verbinden, dafür steht der Pur-pose. Wir wachsen nicht aus purem Selbst-zweck, sondern für einen höheren Zweck. Das ist ein Mehrwert, im weitesten Sinne des Wortes.

Ankenbrand: Die Frage, was Mehrwert schafft und was nicht, wird jeder am Ende für sich selbst beantworten müssen. Ein gutes Beispiel ist die Digitalisierung. Sie ist span-nend, essentiell für unsere gesellschaftliche Weiterentwicklung wie auch für jedes ein-zelne Unternehmen. Sie erweitert den Raum des technisch Möglichen, sagt uns aber nicht, wozu die technischen Möglichkeiten gut sind. Vergessen wir daher nicht, an den nächsten Schritt zu denken: Wozu eigentlich digitale Transformation? Denn in der digi-talen Transformation lauert auch die Frage: „Wie wollen wir leben und arbeiten?“ Darauf müssen wir heute eine Antwort geben.

Ankenbrand: Welchen Einfluss hat das neue Leitbild auf Ihr Unternehmen und seine Mitarbeiter?

Teigland: Es gibt uns Klarheit darüber, was wir tun und warum wir es tun. Wir sind nicht nur da, um Profite zu erzielen, Geld zu verdienen und Spaß bei der Arbeit zu haben. Sondern wir fragen uns auch: Wie können wir der Gesellschaft etwas zurückgeben? Wir entscheiden heute auch anders: Welche Kunden nehmen wir an? Welche nicht? Der-zeit reden wir ganz oft mit unseren Man-danten darüber: Was ist ein Fair Share? Was ist akzeptabel? Wie passt das in die heutige Landschaft? All das wirkt sich positiv auf die Identifikation und Motivation unserer Mit-arbeiter aus – sie sehen heute viel deutlicher als früher, dass sie nicht nur Dateien be-arbeiten und Analysen anfertigen, sondern dass ihre Arbeit etwas bewirkt und Spuren hinterlässt.

Ankenbrand: Wie wirkt sich die Forderung nach Sinn auf die Organisationsstruktur von Unternehmen aus? Verträgt sich das noch mit starren Hierarchien?

Teigland: Der kulturelle Wandel, den wir jetzt erleben, erzwingt einen Druck zur Ver-änderung. Wir beobachten, dass er Firmen beweglicher und diskursiver macht. Organi-sationen beginnen, mehr denn je konsens-getrieben zu arbeiten. Was EY betrifft, bewe-gen wir uns von einem sehr strukturierten, leistungsorientierten Ansatz hin zu mehr Mit-bestimmung und Verantwortung jedes Ein-zelnen. Wir nennen das Empowerment. Die Zeiten, in denen das Leadership allein den Takt bestimmte, sind vorbei.

Ankenbrand: Welche Rolle spielt Führung in einem solchen konsensgetriebenen Konzept?

Teigland: Wir müssen uns fragen, was Füh-rung bedeutet, wenn man in einer plura-listischen Gesellschafts- oder Organisations-form unterwegs ist. Ist es mehr ein Mitein-ander? Einerseits wird Konsensorientierung wichtiger. Andererseits benötigen wir wei-terhin Anleitung und Rat, etwa wenn es dar-um geht, wie man eigenständig Mandan- ten betreut, eine Business Unit leitet oder als Partner agiert. Es kommt auf die richtige Balance zwischen Eigenverantwortung und Führung an. Die muss man von Fall zu Fall austarieren.

Ankenbrand: Das Spannende ist, dass Füh-rung immer komplexer und vielschichtiger wird. Es gibt nicht mehr dieses eine Führungs-modell, das sich, historisch gesehen, aus der Rolle des Anführers in der Stammesge-sellschaft entwickelt hat. Das Konzept von

Ständige Brüche und permanenter Wan-del prägen heute das Umfeld von Unter-nehmen auf der ganzen Welt. Bewährte Geschäftsmodelle werden immer schnel-ler überholt, vor allem infolge von Digita-lisierung und Globalisierung. Neue Wett-bewerber, veränderte Ansprüche von Verbrauchern und Mitarbeitern, aber auch ein massiver Vertrauensverlust stellen Unternehmen vor die Aufgabe, ein gänz-lich neues Selbstverständnis zu entwi-ckeln.Unter führenden Unternehmern und Vor-denkern aus Wirtschaft und Gesellschaft setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass Unternehmen die notwendige Transformation nur mit einer Neuaus-richtung ihres inneren Kompasses gelin-gen wird. Um diesen Sinneswandel voran-zutreiben, haben wir im vergangenen Jahr das EY Beacon Institute gegründet. Mit dieser Initiative wollen wir Führungs-kräfte, Entrepreneure, Wissenschaftler und Meinungsführer weltweit zusammen-bringen, um gemeinsam zu definieren, wie Unternehmen auch im 21. Jahrhundert erfolgreich sein können.

Die EY-Beacon-Gemeinschaft wird von der Überzeugung getragen, dass in Zukunft ein neues Führungsparadigma notwendig ist: Wir glauben, dass die Unternehmen künftig deutliche Wettbewerbsvorteile erzielen werden, denen es gelingt, ihren höheren Zweck – das „Warum“ – dafür zu nutzen, ihre Leistungsfähigkeit und Pro-fitabilität – das „Wie“ – zu steigern. Da-bei kommt es darauf an, dass der höhere Zweck nicht nur auf dem Papier besticht, sondern auch wirtschaftlichen Erfolgs-maßstäben gerecht wird.So treibt das EY Beacon Institute nicht nur den Gedankenaustausch unter füh-renden Persönlichkeiten der Wirtschafts-welt voran, sondern fördert auch Unter-suchungen, um Aussagen darüber treffen zu können, inwieweit die Innovations-kraft und das Wachstum von Unterneh-men durch die Einbettung eines höheren Zwecks in das Geschäftsmodell beein-flusst werden. Dazu arbeiten wir etwa mit der Saïd Business School in Oxford und mit Harvard Business Review Analytic Ser vices zusammen.Um besser zu verstehen, warum und vor allem wie Unternehmen einen höheren Zweck dafür nutzen, um Veränderungspro-zesse voranzutreiben, haben wir jüngst weltweit 474 Führungskräfte befragen lassen. Die Studie von Harvard Business Review ergab, dass zwar fast alle Befrag-ten der Bedeutung eines höheren Unter-nehmenszwecks zustimmen, dass ein sol-cher Zweck jedoch in weniger als der Hälfte der Unternehmen überhaupt artiku-liert und noch seltener eingesetzt wird, um Entscheidungen zu treffen und Mitar-beiter zu motivieren. Das liegt offenbar nicht nur an äußeren Einflüssen wie kurz-fristigen Renditeerwartungen von Inves-toren, sondern auch an internen Defizi-ten wie einem geringen Engagement der Unternehmensführung und ungeeigne-ten Erfolgsmaßstäben. Nur die wenigsten Organisationen scheinen bisher in der Lage, durch die erfolgreiche Einbettung eines höheren Unternehmenszwecks dessen volles Potenzial zu nutzen. Dies zu verändern ist unser Ziel.

„ Es gibt in jeder Epoche der Menschheits-geschichte Maßstäbe, die definieren, was sinn- und wertvoll ist.“Bernd Ankenbrand

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Philosophie Epiktet

„Worüber wir gebieten“ lautet ein Kern-thema des Philosophen Epiktet. Er zählte zu den einflussreichsten Vertretern der philosophischen Schule der Stoa, deren Essenz heutzutage allzu häufig mit den Attributen „gleichgültig“ oder gar „abge-stumpft“ bedacht wird. Dabei trennt Epiktet strikt – zwischen Angelegenhei-ten, die sich außerhalb der Macht des Einzelnen befinden, und jenen Dingen, die man selbst beeinflussen kann. „Und das, was in unserer Macht steht, ist seiner Natur nach frei, nicht zu hindern, nicht zu hemmen.“ Das ist ein Appell, jene Dinge anzugehen, die in unserer Macht stehen.

Kultur Festival Off, Montreux

Oft habe ich überlegt, wie man Menschen an klassische Musik heranführt, die sonst nicht den Weg in unsere Konzertsäle finden: junge Leute, Familien mit Kindern, Menschen, die sich den Eintritt nicht leisten können. 2015 habe ich das Festival Off im Rahmen der traditionsreichen Klassik-Festspiele Septembre Musical in Montreux initiiert, das ich seitdem finanziell unterstütze. In diesem Jahr waren es bereits mehr als 3 000 Besucher, die ein ganzes Wochenende lang – bei freiem Eintritt – klassische Musik für sich entdeckten, dargeboten von jungen Orchestern, Chören und Solisten. Ich selbst habe mir „Annelies“ angehört, ein Oratorium mit Texten aus dem Tagebuch der Anne Frank. Ergreifend und verstörend. Wer dabei war, wird es nicht vergessen.

Mythologie Orakel von Delphi

Jedem Reisenden, der zum Orakel von Delphi kam, war ein Ratschlag gewiss: „Erkenne dich selbst!“ Diese Inschrift im Tympanon des Tempels war die Auffor-derung an den Menschen, seinen Platz im Universum zu finden und anzunehmen. Heute ist dieser Satz aktueller denn je: Gewaltige Veränderungen stellen vieles in Frage, woran sich unsere Zivilisation bislang orientiert hat: von Industrie 4.0, Big Data und den sozialen Netzwerken über die Klimaerwärmung bis zur Zunah-me des Extremismus – überall stellt sich die Frage nach der zukünftigen Rolle des Menschen. Eine offene Geisteshaltung – so wie sie die Schweiz schon immer aus-gezeichnet hat – erscheint mir dabei un-verzichtbar. Der Weg zur Selbsterkennt-nis liegt in der Aktion und der Entwick - lung und niemals in der Flucht oder der Abschottung. Das sollten wir uns in Erin-nerung rufen.

Mobilität Tesla

Die Autobranche steckt mitten in der größten Umwälzung seit der Erfindung des Automobils – und der größte Treiber dieser Entwicklung heißt Tesla. Fieberhaft arbeitet das kalifornische Unternehmen an einer zweifachen automobilen Vision: einem Auto, das weder Schadstoffe ausstößt noch Unfälle verursacht. Tesla will ein erschwing liches Elektroauto bauen. Außerdem treibt der Hersteller mit atembe-raubendem, manchmal vielleicht zu rasantem Tempo die Entwicklung des selbst-fahrenden Autos zur Serienreife voran. Bis zu 90 Prozent aller tödlichen Unfälle könn-ten vermieden werden, wenn Computer zuverlässig und selbstständig Fahrzeuge steuern. Auch wenn der Weg bis dahin noch weit sein mag – Hauptsache, jemand traut sich, ihn zu beschreiten.

Nachhaltigkeit Die Zeitung von gestern

„Who wants yesterday’s papers?“, fragten einst die Rolling Stones. Mick Jagger konnte vor 50 Jahren noch nicht wissen, dass Altpapier, Plastikmüll und leere Bierdosen einmal begehrte Rohstoffe sein würden. Mein Geschäft basiert ausschließlich auf Dingen, die andere Menschen wegwerfen. 2,4 Millionen Bäume jährlich müssen nicht gefällt werden, weil unsere Papier-recyclingmaschinen auf Hochtouren laufen. Viele Entrepreneure wissen zwar, wie man Märkte erobert und Krisen löst – aber wenn sie erklären sollen, was der tiefere Sinn ihres Unterneh-mens ist, geraten sie ins Stocken. Die Berge aus Papier, Plastik und Aluminium, die sich bei unse-ren Sammelstellen auftürmen, sehe ich ausgesprochen gern. Und wenn Kinder ihren Eltern erklären, dass es keine gute Idee ist, die leere Cola-Dose in den Hausmüll zu werfen, erfüllt mich das mit großer Freude.

Literatur Louis Aragon

„Um noch zu lernen, wie man lebt, braucht es zu lang“, heißt es in einem Gedicht des französischen Schriftstellers Louis Aragon. An diesem Satz gefällt mir wirklich alles. Die Aspekte „Zeit“ und „Dringlichkeit“, denen wir uns stellen müssen. Die Vorstellung, dass man zielgerichtetes Handeln erst erlernen muss. Ich bin optimistisch, dass die Entre-preneure unserer Epoche für diesen Wettlauf gegen die Zeit gut gerüstet sind. Hoffentlich besser als Aragon. Erst im Alter distanzierte sich der Dichter, ein überzeugter Kommu-nist bis zu seinem Tod im Jahr 1982, von seiner jahrzehnte-langen blinden Parteinahme für den Stalinismus. „Ich war nicht immer der Mann, der ich bin“, hatte er nach seiner Läuterung gesagt. „Nicht eine einzige Gewissheit habe ich anders erlangt als durch den Schmerz der Erfahrung.“

„Die Verwundbarkeit eines Unternehmers auf der Suche nach Sinn sollte niemand unter-schätzen“, sagt Marc Ehrlich. Der Vorstands-chef des in Lausanne beheimateten Recyc-ling-Konzerns Vipa Group hat sich beim Nach-denken über das, was tatsächlich wichtig ist, auf eine Reise begeben, die ihn von der anti-ken Philosophie bis zu den disruptiven Tech-nologien unserer Tage führt.

Was wirklich zählt

Ökonomie Daniel Kahneman

Er begrüßt Besucher gern mit den Worten: „Ich bin kein Ökonom und gebe auch nicht vor, einer zu sein.“ Daniel Kahneman, 1934 in Tel Aviv geborener Psychologe, hat nie an den stets rational handelnden Homo oeconomicus geglaubt. Seine empirischen Studien entlarvten dieses ge-dankliche Konstrukt als großen Mythos – und führten den ökonomischen Diskurs aus dem Reich der Theorie wieder zurück ins Leben. Nicht zuletzt dem Staat wies der 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnete Kahneman eine neue Rolle zu – „ein Umfeld zu schaffen, das die Leute dazu bringt, Entscheidungen zu treffen, die sie später nicht bereuen“. Besser lässt sich die Idee eines Gemeinwesens, das den Menschen nicht seiner Freiheit beraubt, kaum auf den Punkt bringen.

Marc Ehrlich

Der bei Lausanne geborene Marc Ehrlich leitet die von seinem Vater Michel gegründete Vipa Group seit 2002. Seitdem hat der heute 45-jährige Jurist das Unterneh-men mit derzeit 170 Mitarbeitern zu einem der weltweit größten Recycling-Spezialisten entwickelt. Die Vipa Group sammelt, sortiert, verarbeitet und verkauft jähr-lich mehr als eine Million Tonnen Papier, Pappe, Glas, Kunststoff, Aluminium und Holz.

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Vorbilder 4140 Vorbilder

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Vor 40 Jahren zog es den aus Bayern stammenden Andreas von Bechtolsheim in die USA. Dort hat er seitdem mehrere IT-Unternehmen von Weltrang gegründet. Der unstillbare Wunsch, neue, bessere technologische Lösungen zu finden, hat ihn seit jeher angetrieben. „Es gibt so viele Chancen, Neues zu kreieren“, sagt er. „Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie Menschen sich nach der vermeintlich besseren Vergangenheit sehnen.“

Der Rastlose

ielleicht lässt sich der Unterschied zwi-schen Andreas von Bechtolsheim und den meisten anderen Menschen am besten so beschreiben: Gib einem Kind ein elektroni-sches Gerät aus den frühen 60er-Jahren, beispielsweise eine Tonbandmaschine, und fordere es auf, Gehäuse und Innenleben komplett in seine Einzelteile zu zerlegen – und anschließend wieder so zusammenzu-bauen, dass alles perfekt funktioniert. Kein Schräubchen, keine Feder darf übrig

bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur eines von 1 000 Kindern das schafft, ist nicht allzu groß.

Andreas von Bechtolsheim hat das Kunststück fertiggebracht, und zwar im zarten Alter von nur sechs Jahren. Sein Vater, ein Volksschullehrer, der mit der Familie damals auf einem abgelegenen Bauernhof in der Nähe des oberbayerischen Ammersees wohnte, hatte größte Sorge um das kost-bare Gerät. Nie wird Andreas von Bechtolsheim vergessen, wie erleich-tert der Vater war, als die großen Spulen wieder zu rotieren begannen. Es war die pure Neugier, die den Jungen damals dazu trieb, die Maschine auszuweiden und wieder zusammenzusetzen. Wie sieht dieser geheimnis-volle Apparat, dessen Spulen sich so gleichmäßig bewegen, wie von Geisterhand gesteuert, eigentlich innen aus? Wie funktioniert die Mecha-nik? Welche Kräfte bewegen das Tonband?

Diese Neugier am Entdecken der Welt der Technik ist die große Konstan-te im Leben des mittlerweile 61-jährigen Andreas von Bechtolsheim. Sie hat ihn zum erfolgreichen Entrepreneur gemacht, zur Unternehmer-legende, die das Computerzeitalter prägt wie nur wenige. Längst hat sich

„Andy“, wie er in der IT-Szene genannt wird, einen Platz im Olymp des Silicon Valley erarbeitet, wo er seit fast 40 Jahren lebt und arbeitet. Kaum jemand ist in der Lage, die IT-Welt so ganzheitlich zu er-fassen wie er. Sein derzeitiges Unternehmen Arista Networks – es ist seine vierte Gründung – gehört zu den Weltmarktführern bei Netzwerklösungen für die großen Cloud-Anbieter wie Amazon Web Services, Microsoft Azure und Google. Nicht minder erfolg-reich ist von Bechtolsheim als Start-up-Finanzier. Zu seinen erfolgreichen Investments zählt auch eine Firma, die heute auf der Rangliste der weltweit wert-vollsten Unternehmen Platz 2 hinter Apple belegt: Google.

Von Bechtolsheim ist überglücklich, in eine Zeit des sich rasant beschleunigenden technologischen Fortschritts hineingeboren zu sein. „Ich kann über-haupt nicht verstehen, wie Menschen sich nach der vermeintlich besseren Vergangenheit sehnen“, wundert er sich. Noch nie in der Geschichte der Menschheit habe es auch nur annähernd so viele Chancen gegeben, Neues zu kreieren: Was bauen wir als Nächstes? Wo investieren wir? Welches Pro-blem lösen wir? Was können wir besser als ande-re? Innovation ist für ihn „die Grundkraft, das Wich-tigste, auf das man sich konzentrieren kann – für bessere Lösungen, die einen Unterschied im Leben der Menschen machen“. Als Arbeit oder gar Mühsal habe er seinen Job nie empfunden, „ganz einfach, weil er mir so viel Spaß macht. Die intellektuelle Sti-mulation, die man daraus ziehen kann, ist unver-gleichlich.“

Und sie war es von Anfang an. Wieder ein Sprung weit zurück, in jene Zeit, in der Andreas von Bech-tolsheim seinen blonden Haarschopf so lang trug, dass er auch dem Gitarristen einer Hardrockband durchaus zur Ehre gereicht hätte. Da gibt es ein Foto, aufgenommen für den Wettbewerb „Jugend forscht“. 1974 holte der damals 18-Jährige mit dem Thema „Strömungsmessung durch Ultraschall“ den Bundessieg im Fachgebiet Physik. Im Bastelkel-ler des Elternhauses hatte der Gymnasiast eine komplizierte Apparatur gebaut. „Ich bin so manche Nacht aufgeblieben, um daran zu arbeiten“, erin-nert er sich. „Physik war damals mein Leben, und ich wollte etwas Großes konstruieren; etwas, das Phy-sik mit Elektronik verbindet.“ Der Sieg bei „Jugend forscht“ gab ihm das „Selbstvertrauen, dass ich komplexe Probleme lösen kann“.

Bereits mit 17 hatte er für einen mit der Familie be-freundeten Unternehmer elektronische Steuerun-gen für Blechstanzmaschinen entwickelt; pro Gerät erhielt er 100 Mark. Die Faszination des heraufzie-henden Computerzeitalters war geradezu greifbar. 1971 hatte Texas Instruments den ersten Mikro-prozessor vorgestellt. Andreas von Bechtolsheim, der „damals noch keine Ahnung von Computern“ hatte, fragte sich sofort, was man mit dieser Tech-nologie eines Tages alles machen könnte. Er spürte instinktiv: Das ist nicht das Ende einer Kette von Innovationen, sondern erst der Anfang.

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Das Elektrotechnik-Studium an der TU München frustrierte den jungen Elektronik-Freak bereits nach wenigen Wochen, weil die Studenten dort keine Computer nutzen durften. „Auf welche Zukunft soll denn so ein Studium vorbereiten“, fragte er sich, „wenn das nötigste Handwerkszeug nicht zur Verfügung steht?“ Von Bechtolsheim zog es in die USA; man könnte auch sagen, er flüchtete. Er schrieb sich an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh ein, einer der besten Hochschulen im IT-Bereich. Vermutlich wusste er damals schon, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren würde. Nach dem Master wechselte er als Doktorand an die Stanford University, die bereits damals als Mekka der IT-Forschung und einer der Wachstumsmotoren des Silicon Valley galt.

Aus der Idee, die Computer seines Instituts zu vernetzen, entstand von Bechtolsheims erste Workstation – ein aus Standardteilen gebauter Schreibtischrechner, der billiger und leistungsfähiger war als die damali-gen Großrechner. Das war die Geburtsstunde von Sun Microsystems, dem ersten Großkonzern des PC-Zeitalters. Von Bechtolsheim katapul-tierte das junge Unternehmen auf einen rasanten Wachstumskurs. Beim Börsengang im Jahr 1986 war er gerade mal 30 Jahre alt.

Der hoch aufgeschossene, erfrischend unkompliziert und unprätentiös auftretende Mann, den man selbst auf Empfängen häufig in Jeans und Birkenstock-Sandalen antrifft, ist nach wie vor von einer Rastlosigkeit getrieben, immer auf der Suche nach neuen, besseren Lösungen. In der Rolle des Ingenieurs fühlt er sich seit jeher weitaus wohler als in der des Managers. Fürs Geschäftliche hat er sich stets die besten Leute an Bord geholt. Er hasst Routine, in Meetings wird ihm schnell langweilig. Und er ist überhaupt nicht bereit, Langeweile zu ertragen – egal wie exzellent sie vergütet wird. So war es irgendwann auch bei Sun Microsys-tems. 1995 verließ von Bechtolsheim das Unternehmen und gründete

Das waren die 80er: Andreas von Bechtolsheim in der Gründungszeit von Sun Microsystems. Den Netz werkspezialisten Arista führt der Unter- nehmer seit 2008 gemeinsam mit Jayshree Ullal.

Granite Systems, sein nächstes Start-up, das Hoch-geschwindigkeitskomponenten für Internetanwen-dungen entwickelte. Die Firma war auf Anhieb so er folgreich, dass sie bereits ein Jahr später vom Netzwerk-Giganten Cisco gekauft wurde. Auch von Bechtolsheims drittes IT-Start-up, der Netzwerk-spezialist Kaelia, fand schnell einen Käufer – Sun Microsystems.

Arista Networks ist das vorerst letzte Start-up des Wahl-Kaliforniers. Das Unternehmen ist mittler-weile 1 200 Mitarbeiter stark und residiert in Santa Clara, dem Zentrum des Silicon Valley. Sein Grün-der hat es auf die nächsthöhere technologische Um-laufbahn geschossen. Er sah voraus, dass die Zeit

der großen zentralen Datenfarmen sich allmählich dem Ende zuneigte. „Von Google wusste ich, dass die existierenden Netzwerke für die entstehenden neuen riesigen Datenmengen nicht schnell genug waren“, erzählt er. „Dafür brauchte man einen neuen Ansatz, und den haben wir mit Arista entwickelt.“ Die Abwicklung großer Teile des Datenverkehrs über die Cloud entwickelte sich für Arista zum Wachs-tumsmotor; das Unternehmen kreiert seine maßge-schneiderten Netzwerklösungen direkt für die boo-menden großen Cloud-Computing-Firmen.

Seit von Bechtolsheim im Jahr 2008 Jayshree Ullal, die er noch aus Granite-Zeiten kannte, von Cisco abwarb und ihr den Posten des CEO anver-traute, kann er sich wieder mehr auf die Ingenieurs-arbeit konzentrieren. Ullal wiederum legt Wert dar-auf, dass die kulturellen Wurzeln des Unternehmens keinen Schaden nehmen. „Wir sind eine High-tech-Firma, die von Ingenieuren aufgebaut wurde und die sich an Ingenieure wendet“, sagt sie. „So soll und wird es bleiben.“

Von Bechtolsheim fasziniert nach wie vor, wie das Neue sich seinen Weg in die Welt bahnt – auch wenn er nicht immer derjenige sein kann, der es sich aus-denkt. Geld hat der verheiratete Vater einer Toch-ter genug – sein Vermögen wird auf mehr als drei Milliarden Dollar geschätzt –, was lag also näher als der Gedanke, jungen, hungrigen Unternehmern ei-nen Bruchteil davon als Startkapital zur Verfügung zu stellen? Seinen spektakulärsten Volltreffer als Wagniskapitalgeber landete er, nachdem Larry Page und Sergey Brin ihm 1998 von ihrer Idee berichtet hatten, eine Suchmaschine für das Internet zu kreieren. Von Bechtolsheim steuerte einen Scheck über 100 000 US-Dollar zur Gründung bei. „Google war die beste Idee, die mir jemals unter die Augen gekommen ist“, urteilt er. „Da wollte ich unbedingt dabei sein.“ Sein Kriterium für einen Einstieg bei einem Start-up: „Wenn mir jemand schreibt und ich zu lesen beginne, muss die Idee in der ersten Minute Sinn ergeben – sonst fliegt die Mail in den Papierkorb.“ Zeit ist ein knappes Gut für einen Mann, der es morgens nicht länger als bis fünf Uhr früh im Bett aushält. Der Tag ist eigentlich zu kurz für Andreas von Bechtolsheim.

Einigermaßen fassungslos reagiert er auf die in letzter Zeit immer wieder aufflammende Diskussion über die Schattenseiten der disruptiven Kraft der Digitalisierung. Dieses „Dennoch“ in vielen Debat-ten über den digitalen Strukturwandel kann der Mann, der diesen Wandel vorangetrieben hat wie

Arista Networks

Das in Santa Clara im Silicon Valley beheimatete IT-Unternehmen entwickelt Netzwerklösungen für große Cloud-Computing-Firmen so-wie für kleinere und mittlere Firmen. Gegründet wurde es 2004 von Andreas von Bechtolsheim. Seit 2008 amtiert Jayshree Ullal als CEO. Von Bechtolsheim ist als Chief Development Officer für die Produkt-entwicklung zuständig, Ullal für die Unternehmensstrategie. Im Jahr 2015 be schäftigte Arista Networks rund 1 200 Mitarbeiter und erwirt-schaftete einen Umsatz von 837 Millionen US-Dollar.

kaum ein anderer, einfach nicht nachvollziehen. Die Bedenken der Zöge-rer und Zauderer erscheinen ihm wie einst die wütenden Proteste der Maschinenstürmer zu Beginn der industriellen Revolution. „Da fordert das EU-Parlament allen Ernstes, den Einsatz von Industrierobotern zu be-grenzen, damit die Arbeitsplätze in den Fabriken erhalten bleiben“, wun-dert er sich. „Und die Chinesen kaufen sich mit Kuka die Perle unter den Roboterherstellern. Die haben offenbar besser verstanden, worum es geht.“ Im Silicon Valley mache sich niemand derartige Gedanken. „Die Inno-vationsmaschine, die hier über Jahrzehnte entstanden ist, läuft ohne Unterbrechung auf Hochtouren“, sagt von Bechtolsheim. „Es geht darum, die Zukunft zu entwickeln, denn die Zukunft ist besser als die Vergan-genheit. Davon bin ich fest überzeugt.“ Und wenn er einen Wunsch frei hätte? „Ich wünschte, ich könnte 200 Jahre leben – einfach nur um zu sehen, wie das alles weitergeht.“

„ Physik war damals mein Leben, und ich wollte etwas Großes konstruie- ren; etwas, das Physik mit Elektronik verbindet.“Andreas von Bechtolsheim

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dem Teller, einen aus dem Boden ragenden Poller, einen Zei-tungsartikel über das Abschneiden der israelischen Athleten bei Olympia in Rio, ein Preisschild im Supermarkt, den Hund der Nachbarin, das Gesicht eines lange nicht gesehenen, alten Freundes.

Etliche Jahre verbrachte Shashua mit der Entwicklung minia-turisierter Kameras und der dazugehörigen Software, die versteht und interpretiert, was das Kameraauge sieht. Mit sei-nem Mobil eye-Kompagnon Ziv Aviram gründete er im Jahr 2010 ein zweites Unternehmen namens Orcam. Shashua ist in beiden Unternehmen für die Technologie-Entwicklung verant-wortlich, Aviram für die Geschäftsstrategie. Gemeinsam ent-wickelten sie das Konzept einer Brille mit integrierter Kamera, die es sehbehinderten Menschen erlaubt, sich ohne Blinden-stock oder Blindenhund weitgehend sicher in ihrer Umwelt zu bewegen. Die Software übersetzt die ausgewertete Bildinfor-mation schließlich in ein akustisches Signal. Über einen Mini-Lautsprecher erhält der Träger der Brille die Information, wen oder was er gerade vor sich sieht. „MyEye“, so heißt das künstliche Auge, ist sogar in der Lage, eineiige Zwillinge von-einander zu unterscheiden.

Von den Erkenntnissen bei der Entwicklung von MyEye pro-fitiert jetzt wiederum Mobileye. Auch hier geht es in erster Linie darum, Unfälle zu vermeiden. Eine Kamera scannt die Umgebung des Autos, die Software wertet die Bilder aus und veranlasst, dass der Fahrer mit einem Warnton vor even-tuellen Gefahren gewarnt wird. „Weltweit 1,25 Millionen Verkehrstote pro Jahr sind doch Grund genug, die Entwicklung dieser Technologie massiv voranzutreiben“, findet Shashua, der streng darauf achtet, den Autoherstellern nicht allzu viel

vom eigenen Know-how preiszugeben und ihnen insbesondere keinen detaillierten Einblick in seine Algorithmen zu gewähren.

Die intelligenten Kameras fürs fahrerlose Auto sind die Königs-disziplin von Mobileye. Die Objektive geben ihre Informationen nicht mehr an den Menschen weiter, sondern gleich an die Steuerungszentrale des Fahrzeugs. Softwarekomponenten las-sen das Auto verstehen, was seine Kamera sieht – um dann bei einem plötzlich auftauchenden Hindernis innerhalb von Se-kundenbruchteilen zu entscheiden, ob eine Vollbremsung oder ein Ausweichmanöver ratsam ist oder ob das Auto einfach weiterfahren kann. Die Kamera kann beispielsweise eine große auf der Straße liegende Plastiktüte sehr genau von einem gleich großen Felsblock unterscheiden.

Kürzlich verkündete das Unternehmen eine Partnerschaft mit dem US-Konzern Delphi, dem weltweiten Technologiefüh-rer bei der Entwicklung von Software-Algorithmen für die Steuerung fahrerloser Autos. Bislang hatte Amnon Shashua vor allzu großem Hype um das autonom fahrende Auto gewarnt. Schritt für Schritt müsse man sich an die Serienreife der Technologie herantasten. „Bis wir Autos haben, die ohne Fahrer hinter dem Lenkrad oder ganz ohne Lenkrad auskom-men, werden mindestens noch sieben Jahre vergehen“, sagte er im vergangenen Jahr. Mit Delphi peilt er jetzt das Jahr 2019 an. Bis dahin wollen die beiden Unternehmen den Auto-herstellern ein komplettes marktreifes System für selbst-fahrende Fahrzeuge präsentieren. Damit hat Shashua den Weg bis zum Ziel mal eben halbiert. Und bisher hat er noch jede seiner Ankündigungen in die Tat umgesetzt.

Mobileye

Amnon Shashua (links im Bild) und Ziv Aviram gründe-ten 1999 das in Jerusalem beheimatete Technologieunter-nehmen Mobileye, das heute zu den Marktführern bei Fahrassistenzsystemen sowie bei Kameras und Software für autonom fahrende Autos zählt. Daneben führen sie mit Orcam ein Unternehmen, das bislang vor allem intel-ligente Minikameras für Sehbehinderte entwickelt.

er Mann, der sein halbes Leben damit zugebracht hat, Maschinen das Sehen beizubringen, macht sich nicht viel aus Kleidervorschriften. Auf Konferenzen und Messen tritt er häufig in lässigen Cargohosen und verwaschenem T-Shirt auf. Er sehe „ein bisschen aus wie ein Techniker, der gekommen ist, um die Freisprechanlage zu reparieren“,

schrieb kürzlich eine Zeitung. Die Rede ist von Amnon Shashua, 56 Jahre alt, Geschäftsführer der israelischen Hightech- Schmiede Mobileye und Chef von 700 Mitarbeitern. Das Unter-nehmen ist Spezialist für digitale Bildverarbeitung mittels künstlicher Intelligenz, zählt zu den Stars der aufstrebenden israelischen Technologieszene und ist Marktführer bei elek-tronischen Fahrassistenten, wie sie heute in vielen Autos der Mittel- und Oberklasse eingesetzt werden. Auf die Kameras und Chips von Mobileye setzen fast alle großen Autokon-zerne – mit Ausnahme von Daimler und Toyota – bei der Ent-wicklung des fahrerlosen Autos. Das bis heute gemeinsam von den Gründern geführte Unternehmen zählt weltweit zu den Know-how-Trägern in dieser Zukunftstechnologie der auto mobilen Welt.

In seinem Erstberuf, als Professor für Informatik an der Heb-räischen Universität Jerusalem, beschäftigte Amnon Shashua sich bereits vor der Gründung von Mobileye mit intelligenten Kameras – allerdings nicht für Autos, sondern für blinde und sehbehinderte Menschen. Vor allem ein Gedanke ließ ihn nicht los: „Wie kann eine Maschine, ein Computer mit künstlichem Auge, für sie sehen und ihnen sagen, was um sie herum passiert und was sie gerade vor sich haben?“. Ein Stück Kuchen auf

Das von Amnon Shashua und Ziv Aviram gegründete israelische Technologieunter-nehmen Mobileye zählt zu den weltweit wich-tigsten Know-how-Trägern bei der Entwick-lung selbstfahrender Autos. In ihrer zweiten Firma entwickeln die beiden Entrepre-neure eine Brille mit intelligenter Minikame-ra für Blinde und Sehbehinderte – die sich dank dieser Innovation nun sicher in ihrer Umwelt bewegen können.

Sehende Maschinen

Intelligente Kameras für selbstfahrende Autos sind die Königsdisziplin von Mobileye. Das Auto versteht, was die Kamera sieht.

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Wo liegt der Sinn, wo kommt er her? Bleibt er oder muss man ihn immer wieder neu erstreiten? Was haben Flüchtlinge und Träume damit zu tun? Und wie hilft Goethes Faust weiter? Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald wünscht sich, dass in Deutschland eine neue Sinndebatte einsetzt – und setzt leerer Betrieb-samkeit die Kraft der Träume entgegen.

ls Sie Ihr Buch über die „Erschöpfte Gesellschaft“ ge­schrieben haben, wünschten Sie sich den Start einer Sinn­debatte. Das ist drei Jahre her. Hat diese Debatte eingesetzt, Herr Grünewald? Indirekt, ja – und zwar über die Flüchtlings-problematik. Die Deutschen merken: Wir können nur integ-

rieren, wenn wir uns vorher klarmachen, wer wir ei-gentlich sind. Daher beginnen wir zaghaft, uns endlich wieder mit Sinnfragen zu beschäftigen: Wie definieren wir uns als Deutsche? Was wollen wir bewahren, was könnten wir aufgeben, was modifizieren? Und welche Werte wollen wir unseren Kindern mit auf den Weg geben? Interessant ist nun, dass die Menschen, die zu uns kommen, in ihrer Flucht einen überaus großen Sinn sehen. Sie waren bereit, für eine bessere Zukunft alles in ihrer Heimat zurückzulassen und unermess-liche Risiken aufzunehmen. Für viele Deutsche, auf die sie nun treffen, wäre das unvorstellbar.

Warum? Weil wir es uns mit einer saturierten Voll kasko- Mentalität bequem gemacht haben.

Heißt konkret? Wir scheuen das Risiko, vermeiden selbst kleinste Veränderungen. Kurz: Wir sichern uns im Hier und Jetzt ab. Es ist die Sehnsucht nach einer per-manenten Gegenwart entstanden. Wir wollen gar nicht nach vorne schauen, weil wir die Ahnung haben, dass die Krisen dieser Welt jeden Tag näher rücken. Die Zu-kunft gibt uns also kein Sinnversprechen wie etwa das, ein besseres Leben zu führen. Stattdessen macht sie uns Angst. Das Leben in der permanenten Gegenwart ist der Versuch, die Unsicherheiten draußen zu halten.

Was aber nicht funktionieren kann. Genau, der Sommer 2016 mit den Anschlägen hat gezeigt, dass die Bedro-hungen ins Land hineinschwappen. Bemerkenswert ist der Wandel von Angela Merkel. Bis vor gut einem Jahr

   „Sinn ist keine           Utopie, die          garantierteErlösung bringt.“

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Interview 49

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war sie die personifizierte permanente Gegenwart. Ihre Handhaltung, die Merkel-Raute, ist nichts anderes als ein starkes Symbol für einen geschlossenen Raum, der den Status quo halten möchte. Das kam bei den Deutschen gut an. Dann hat sie die Grenzen bzw. die Raute geöffnet und ist von der Heimatschützerin zum Willkommensengel geworden und hat die Deutschen in eine ungewisse Zukunft geschickt. Das hat ihr viele Sympathiepunkte eingebracht, aber – wie wir jetzt bei den Wahlen erleben – auch große Probleme.

Zurück zum Zustand der Deutschen: Wie lebt es sich denn mit einer Vollkasko­Mentalität in der permanenten Gegenwart? Man ist behäbig – und doch erschöpft. Es ist ein Leben im sinnentleerten Schlafwagenmodus.

Und jetzt klingelt der Wecker. Ja, denn wir werden durch die Flüchtlinge mit einer neuen Realität konfron-tiert. Es entstehen Ängste, das ist die eine Seite. An-dererseits startet aber eben auch ein frischer Prozess, der uns daran erinnert, wie großartig es ist, in Freiheit und vergleichsweise sehr hoher Sicherheit zu leben. Ich hoffe, dass wir Deutschen nun erkennen, dass die-se Dinge nicht gottgegeben sind, sondern dass man sie sich mühsam jeden Tag aufs Neue erstreiten und erkämpfen muss.

Verstehen wir Deutschen uns denn noch auf dieses Streiten und Kämpfen? Wir müssen es wieder lernen. In der Tat schlummern sehr viele noch in einem ent-ideologisierten Zustand, der zu einer coolen Gleichgül-tigkeit führt. Es gehört zum guten Ton, alles gleicher-maßen für gültig zu erklären. Kaum jemand bringt noch Überzeugungen mit, für die es sich zu streiten lohnt. Nun beginnt jedoch eine Übergangsphase. Wir spüren, dass sich diese Überzeugungslosigkeit auf Dauer nicht halten lässt – ganz einfach, weil die enormen Widersprü-che dieser Welt in unseren Lebensraum eindringen. Dazu müssen wir uns verhalten. Wir sind aufgefordert, Haltung zu zeigen. Und das führt uns in ein Dilemma.

Inwiefern? Egal, was wir tun: Wir machen uns schul- dig. Angenommen, wir hätten die Grenzen vor gut einem Jahr dichtgemacht: Hätten wir die Bilder von an den Grenzzäunen rüttelnden Flüchtlingen verkraftet? Wir hätten uns ohne Zweifel schuldig gefühlt. Doch die-

se Schuld spüren wir nun auch, weil wir die Menschen ins Land gelassen haben, ohne eine Antwort darauf zu haben, wie wir sie erfolgreich integrieren können.

Die Welt wandelt sich in vielen Bereichen rasant, nicht zuletzt durch Megatrends wie Globalisierung und Digitalisierung. Fördert diese Dynamik die Sinndebatte? Nehmen wir die Digitalisierung, da passieren aktuell tatsächlich eine Menge Innovationen, aber was machen wir damit? Hauptsächlich nutzen wir die digitalen Werk-zeuge dafür, die Amplituden des Schicksals abzuschwä-chen. Kontrollierende Apps sollen verhindern, dass ich schlapp und krank werde oder mein Haus abbrennt.

Und doch werden wir krank und doch brennt es. Natürlich. Das Ideal der digitalen Welt ist es, eine Welt zu erschaffen, die keine unliebsamen Überraschungen mehr kennt. Das Smartphone wird das Zepter der Macht. Aber das ist eine Illusion, denn selbstverständlich behält auch das digitale Leben seine Widersprüche. Je intensiver wir jedoch den Allmachtsfantasien hinter-herjagen, desto größer wird die Enttäuschung über einen Alltag, der immer noch mühsam ist, oder über Krisen, bei denen wir unsere Ohnmacht spüren.

Führt diese Fallhöhe zu dem Schwarz­Weiß­Denken, das wir aktuell in vielen Diskussionen erleben? Wir erleben tatsächlich eine Agonie des Common Sense, also des allgemeinen Sinnes. Wir können das bei der Analyse von Medienangeboten beobachten: Zeitungen oder Sen-dungen, die es als ihre Aufgabe verstehen, eine gemein-schaftliche Perspektive zu entwickeln, sind auf dem Rückzug. Das Internet hat sich im Gegenzug dazu kom-plett pervertiert. Was hat uns denn das World Wide Web zunächst versprochen? Ein neues Zeitalter der Auf-klärung, weil sehr viele Menschen den Zugriff auf das Weltwissen erhalten.

Das Wissen ist ja noch da. Ja, aber wer heute im Inter-net unterwegs ist, folgt beinahe ausschließlich seinen partialen Subinteressen. Das wird besonders deutlich, wenn man sich anschaut, wie die Menschen in den sozialen Netzwerken kommunizieren. Statt der verspro-chenen weltweiten Aufklärung erleben wir eine perma-nente inzestuöse Selbstbespiegelung. Weil das jedoch alleine nicht glücklich macht, suchen sich immer mehr Menschen vermeintlich stabile äußere Rahmen und einfache Lösungen für die komplexen Probleme. Ange-boten werden diese von den Populisten, die überall in der westlichen Welt auf dem Vormarsch sind.

Statt sich also der persönlichen Sinnfrage zu stellen, tummeln sich die Menschen lieber unter ihresgleichen und versammeln sich hinter starken Persönlichkeiten. Was können wir tun, um das zu verändern? Gehen wir ein paar Schritte zurück. Ist Sinn etwas Gegebenes? Oder muss man den Sinn immer wieder neu erstreiten? Der Text, der unser deutsches Abendland entscheidend geprägt hat, ist Goethes Faust. Wer oder was schenkt dem Dasein von Faust einen Sinn? Die Liebe zu einer jungen Frau? Die Fähigkeit, ein Wunderheiler zu sein? Macht oder Reichtum? An allen diesen Stationen er-kennt Faust, dass er sich zwar kurz an diesen Entwick-lungen berauschen kann, jedoch keine Erfüllung findet.

und sofort die Termine für den Tag anzeigen lässt, unterdrückt den Traum.

Wie lassen sich die Sinnangebote der Träume nutzen? Erlauben wir uns erstens wieder zweckfreie Räume, in die wir uns zurückziehen können. Diese Orte sind die Keimzellen des Schöpferischen. Unsere Dichter und Denker haben das in Studienzimmern und Lauben getan, in Schrebergärten und Garagen. Leider werden diese Räume unter dem Diktat der Effizienzoptimierung zube-toniert. Es ist an der Zeit, diese traumanalogen Orte neu zu entdecken. Zweitens sollten wir die Angst vor dem Fremden ablegen. Gerade wir Deutschen sollten uns da-bei auf eine historische Eigenschaft besinnen, die in der aktuellen Diskussion um die Flüchtlingsfrage viel zu kurz kommt. Dieses Land ist durch seine zentrale Lage so etwas wie die Völkermühle Europas, wie Carl Zuck-mayer es in „Des Teufels General“ beschrieben hat. Auf diesem Boden mischen sich von jeher die Völker Euro-pas. Römer und Schweden, Böhmen und Franzosen – alle sind hier durchmarschiert und haben uns mit fremden Einflüssen konfrontiert. Und aus dieser Auseinander-setzung erwachsen Erfindungen und Innovationen, die letztlich den Reichtum unseres Landes mitbegründen.

Unseren Rhythmus wiederfinden, sich immer wieder mit dem Fremden arrangieren – das klingt nach viel Arbeit. Liegt hinter diesen Bemühungen der Sinn ver­steckt? Wir dürfen nicht in die Falle tappen und Sinn mit einer Utopie verwechseln, die uns eine garantierte Erlösung bringt. Das Leben wird seine Widersprüche be-halten, ein Paradies auf Erden ist nicht möglich – auch, wenn die Versprechungen der Digitalisierung uns das weismachen möchten. Rückschläge gehören zum Leben, sie sind nicht zu verhindern. Wichtig ist nur, dass man in diesen Momenten nicht aufgibt oder den Sinn generell in Frage stellt. Hier landen wir nun wieder bei Faust, der die Erlösung durch die Engel erfährt, die schließlich sagen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Wobei das strebende Bemü-hen eben nicht im Hamsterrad stattfinden darf.

Er bleibt ein Suchender, bis er am Ende von Faust II die Vision eines freien Volkes auf freiem Land formu-liert, das seine Freiheit gegen die Übermacht der Fluten jeden Tag aufs Neue erringen muss. An dieser Stelle lässt Goethe seinen Faust dann sagen: „Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!“ Das Interessante daran: Diese Vision von Sinn führt einen nicht aufs Faulbett. Sie hält einen immer in Betriebsamkeit.

Beinahe wie Sisyphos … den man sich laut Albert Camus als glücklichen Menschen vorstellen muss.

Aber ist diese ständige Betriebsamkeit nicht genau der Grund, warum wir in einer, wie Sie schreiben, erschöpften Gesellschaft leben? Diese Betriebsamkeit darf nicht ohne Sinn auskommen. Sonst stecken wir im Hamsterrad, wo wir sehr effizient an unserer Selbst-versklavung arbeiten.

Viele bleiben drin in diesem Hamsterrad, oft bis zur Besinnungslosigkeit. Warum steigen wir nicht aus? Weil das ewige Strampeln einen großen Vorteil hat: Wir können auf diese Art wunderbar unsere Ängste und Widersprüche ausblenden. Eben bis zur vollständigen Besinnungslosigkeit. Wenn wir selbst den Ausstieg nicht schaffen oder nicht schaffen wollen: Wie schaffen wir die Erlösung? Wie finden wir neuen Sinn? Über den ersten Ausweg haben wir eben schon gesprochen, es ist die Begegnung und die Auseinandersetzung mit dem Fremden, das uns zwar verstört, aber auch inspi-riert. Ein zweiter Ausweg ist das Gegenteil der besin-nungslosen Betriebsamkeit – also die besinnungsvolle Unbetriebsamkeit. Diese erleben wir, wenn wir träu-men. Der Traum in der Nacht stellt die Betriebsblindheit des Tages in Frage. Dabei ist die Motorik stillgelegt, wir können also in dieser Zeit nichts anrichten und genie-ßen eine ästhetische Narrenfreiheit. Doch der Traum ist unbequem, weil er uns wie ein Störenfried mit Sinn-angeboten konfrontiert, die wir im Alltag verdrängen. Seine Mission: Er möchte unser Leben verändern.

Wenn wir nur am nächsten Morgen noch wüssten, was wir nachts geträumt haben … Wir neigen tatsäch-lich dazu, Geträumtes zu verdrängen. Weil es uns Angst macht. Und weil wir unseren Rhythmus aus Tag und Traum, aus Ruhe und Betriebsamkeit verloren haben. Wer sich morgens vom Smartphone wecken

Stephan Grünewald

Stephan Grünewald, geboren 1960 in Mönchen-gladbach, ist Psychologe und Mitbegründer des Marktforschungsinstituts Rheingold. Zu den Schwer-punkten seiner Arbeit zählt die Trend- und Gesell-schaftsforschung. 2006 erschien sein erstes Buch, „Deutschland auf der Couch“, das wie der Nach-folger „Köln auf der Couch“ zum Bestseller wurde. 2013 veröffentlichte er das Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“, das ihn für die FAZ zum „Psychologen der Nation“ werden ließ. Stephan Grünewald ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Zusammen mit seiner Familie lebt er in Köln. Sein Herz schlägt für Borussia Mönchengladbach. Neben Fußball ist die klassische Musik seine Passion: Grünewald spielt begeistert Klavier.

„ Wir beginnen, uns endlich wieder mit Sinnfragen zu beschäftigen: Wie definieren wir uns? Welche Werte wollen wir unseren Kindern mitgeben?“

„ Eine Welt ohne unliebsame Überraschungen ist eine Illusion – auch das digitale Leben behält seine Widersprüche.“

02/2016 EntrepreneurEntrepreneur 02/2016

Interview 5150 Interview

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In einer volatilen Unternehmens-welt gewinnen postheroische Führungsmodelle und selbstorga-nisiertes Teamwork zunehmend an Bedeutung. Aber worauf kommt es wirklich an, um Selbstverant-wortung und Selbstverwaltung in nachhaltigen Erfolg zu überset-zen? Das zeigen die Beispiele des Orpheus Chamber Orchestra und der ATLAS-Kollaboration am weltweit größten Institut für Teil-chenphysik CERN.

Ohne Taktstock im Rhythmus

Das Orpheus Chamber Orchestra spielt seit 1972 ohne Diri genten – und

setzt stattdessen auf Vertrauen und Dialog zwischen einzig artigen Künst ler-

persönlichkeiten.

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Sinnorientierte Führung 5352 Sinnorientierte Führung

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ie schön Musik klingt, wenn dem En-semble Freiheit und dem Klang Raum gegeben wird, kann man in der be-rühmten Carnegie Hall erleben, wenn das New Yorker Orpheus Chamber Orchestra spielt. Es ist das weltweit einzige Orchester, das sich wie von Zauberhand selbst dirigiert. Ein Ensem-ble, das seit seiner Gründung 1972 auf die Führung eines Dirigenten ver-zichtet. Bis heute ist dieses Kollektiv von einem liberalen „Anti-Government“-Geist beseelt, der sich Anweisungen von Dritten verbittet, wie sie für Diri-genten herkömmlicher Ensembles typisch sind. Für Orchester unter Auto-

in die ei gene Organisation, weshalb die Musiker regelmäßig für Inhouse-Demonstra tionen und Executive Train-ings gebucht werden. Die Arbeitsme-thodik des Orchesters – der „Orpheus Process“ – wird sogar an der Harvard Business School gelehrt. Könnte das Beispiel Orpheus insgesamt Schule ma-chen und die Unternehmen der Zu-kunft prägen?

Neue Nachdenklichkeit

Digitalisierung und Globalisierung stellen die Wirtschaft vor enorme Her-ausforderungen. In einer Welt des Wandels können alte „Command and Control“-Vorstellungen wenig be-wirken. Management-Guru Gary Hamel empfiehlt Unternehmen daher, sich endlich von starren Hierarchien und Kontrollmechanismen zu befreien, allen voran von der jeden Innovations-geist erstickenden Bürokratie. Laut Hamel sollen künftig einerseits Selbst-führung, Kreativität und Flexibilität großgeschrieben werden, andererseits Kooperation, Nachhaltigkeit – und Sinn. Sein Vorzeigebeispiel ist Morning Star, der größte Tomatenverarbeiter der Welt, dessen Erfolg auf Selbstver-antwortung und Selbstverwaltung basiert.

Wozu tun wir, was wir tun? Wie kön-nen wir der Welt geben, was sie braucht? Aus der neuen Nachdenklich-

kraten vom Typ eines Herbert von Karajan oder Sergiu Celibidache war es selbstverständlich, sich der Autori-tät dessen zu beugen, der den Takt-stock schwingt; der entscheidet, was gespielt wird und wie es gespielt wird. Der bekannte Oboist Albrecht Mayer beschrieb in einem Interview die Kultur bei den Berliner Philharmonikern in der von Karajan geprägten Ära als freud-los und von Angst geprägt: „Fehler wa-ren fatal, und Karajan allein hat be-stimmt, was richtig oder falsch war. Es gab keinen Interpretationsspielraum.“ Unfrei, eher nach Straflager, hätten die Aufnahmen aus jener Zeit geklungen.

Heute sind es eher die kollegialen Maestros, von Sir Simon Rattle über Kirill Petrenko bis hin zu Andris Nelsons, die prägend sind – und den Musikern mit Respekt vor ihrer Mei-nung und ihrem Talent begegnen.

Dennoch: Orpheus geht noch einen Schritt weiter. In dem Klangkörper, der die Intimität und Wärme eines Kam-merensembles mit der Klangfülle eines großen Orchesters verbinden möchte,

legt man größten Wert auf die selbst-ständige Entfaltung musikalischer Individualität und auf offenen Dialog. Selbst von berühmten Gastsolisten lässt man sich nichts sagen, wenn sie die Gruppe mit einer Hand zu dirigie-ren versuchen. Über die Jahre hat sich aus einer Handvoll Musiker, die „ein-fach tolle Musik machen wollten“, ein hochprofessioneller Orchesterbetrieb mit Administration, Kuratorium und Sponsorship entwickelt, wie der derzeit verantwortliche Direktor Alexander Scheirle erklärt. Das Orpheus genießt aber nicht nur in der Musikszene eine exzellente Reputation, sondern auch bei Großunternehmen. CEOs und Manager wollen eine gute Portion des originel-len Geists des Orchesters mitnehmen

keit spricht ein erhöhtes Bewusstsein für ethische Fragen, die mit betriebs-wirtschaftlichen Erwägungen erst mal wenig zu tun zu haben scheinen. Einer, der den Perspektivwechsel in der Wirt-schaft ziemlich erfolgreich auf den Begriff gebracht hat, ist der ehemalige McKinsey-Berater Frederic Laloux. Sein Megaseller „Reinventing Organi-zations“ weist den Weg zu „integralen“ „Teal“-Organisationen, wo entwick-lungsgeschichtlich ausgereifte Manager die gemeinsame Sinnfindung unter-stützen, Verantwortung – und damit Autorität – an selbstorganisierte Teams abgeben und auf die kollektive Intel-ligenz bauen. Das klingt gut. Und so gibt es neben Laloux’ Leitfaden eine ganze Reihe ähnlicher Ansätze, die mit schillernden Labels wie „Soziokratie“, „Agiles Projektmanagement“ oder „Design Thinking“ eine Dynamisierung verkrusteter Strukturen versprechen.

Das bekannteste dieser sinnorientier-ten Modelle ist „Holacracy“: eine Art soziale Technologie für Unternehmen, die die Entscheidungsmacht auf die gesamte (meist mittelgroße) Organi-sation verteilt. Ziel des Holacracy- Erfinders Brian Robertson war es, neue Arbeitswelten zu schaffen, in denen

sich selbstorganisierte, ständig wech-selnde Teams („Kreise“) mit klar defi-nierten Zuständigkeiten engagiert die Bälle zuspielen. Vom amerikanischen Onlinehändler Zappos über die Content-Plattform Medium bis hin zu dem jun-gen Berliner Unternehmen Soulbottles, das mit dem Verkauf recyclebarer Glas-flaschen global den Zugang zu saube-rem Trinkwasser unterstützt – Firmen und Non-Profit-Organisationen auf der ganzen Welt haben sich dieses System schon zu eigen gemacht. In der Hola-cracy-Organisation treten an die Stelle herkömmlicher Hierarchien bestimmte Regeln, wie die Teamkreise zusam-mengesetzt, verändert und bei Bedarf wieder aufgelöst werden sollen. Jeder soll die Rolle(n) bekommen, die er am besten beherrscht; in moderierten Meetings sollen alle gehört und am Ende soll eine für alle akzeptable Ent-scheidung gefällt werden.

Die schöne neue Organisationswelt hat allerdings auch ihre weniger schö-nen Seiten. Entscheidungsprozesse können sich verzögern oder unbefrie-digend ausfallen, wenn nicht alle glei-chermaßen transparent und engagiert kommunizieren. Und wo unter dem Deckmantel von Holacracy alte Macht-mechanismen weiterwirken, gibt es nicht mehr Sinn, sondern mehr Unsinn: Statusgehabe, Endlos-Meetings, In-effizienz, mangelnden Gemeinschafts-geist. Das alte Lied eben. Das Social-Media-Unternehmen Medium etwa hat Holacracy deshalb inzwischen wieder ad acta gelegt.

Wie das Beispiel Holacracy zeigt, kann es in Zeiten der Unübersichtlichkeit nicht darum gehen, ein Zuviel an Füh-rung nun mit einem Zuwenig zu erset-zen. Damit es mit der Selbstorgani-sation nachhaltig klappt, muss es einen gemeinsamen Sinnbezug geben, der Werte wie Verantwortung, Vertrauen, Autonomie und Zugehörigkeit prak-tisch lebbar macht – ohne wirtschaft-lichen Interessen im Weg zu stehen. Die Balance zwischen Stabilität und Agi-lität sollte Folge des gemeinsam fo-kussierten Sinns sein, nicht seine mehr oder weniger künstlich konstruierte Ursache. Sonst besteht die Gefahr, dass das auf Innovation gepolte, intrinsisch motivierte und wertschätzend auf ein-ander einwirkende Arbeiten nur in der Euphorie des Neuanfangs klappt – weil man irgendwann ernüchtert feststellt: Das Neue ist doch bloß das Alte. Es trägt nur ein schickeres Kleid.

„ Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, end-losen Meer.“Antoine de Saint-Exupéry

Der Cellist Alexander Scheirle wurde 2016 Direktor des Orpheus. Der Deutsche, der seit 2007 in New York lebt, schätzt die individuelle Kompetenz und das Enga-gement seiner Musikerkollegen.

Im Orpheus Chamber Orchestra hat die Stimme jedes einzelnen Mitglieds Gewicht. Kreative Ideen sind ebenso willkommen wie deutliche Kritik an den Vorgaben der ständig wechselnden Konzert-meister und Stimmführer.

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Sinnorientierte Führung 5554 Sinnorientierte Führung

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Selbstführung aus Tradition

Selbstorganisiertes Teamwork steht auch in Sphären fernab von Konzernen und Start-ups hoch im Kurs. Nicht nur in der Welt der Musik, wo das Orpheus Chamber Orchestra seit über vier Jahr-zehnten zum Wohl der Gruppe – und des künstlerischen Resultats – auf Mikromanagement verzichtet, sondern auch in der naturwissenschaftlichen Forschung. Nahe Genf liegt CERN, das weltweit größte Forschungszentrum für Teilchenphysik. Heerscharen inter-nationaler Naturwissenschaftler und Computerspezialisten fahnden dort nach dem Ursprung von Materie und Kräften, um die großen Rätsel des Kosmos zu lösen: Woher kommen wir? Wie entstand alles und warum in dieser Form? Das an internationalen Organi-sationen wie der UNO orientierte CERN beherbergt komplexe Teilchenbeschleu-niger-Anlagen, darunter das Flagg-schiff LHC: eine Art Zeitmaschine, die es erlaubt, die Uhr fast bis zum Ur-knall zurück zudrehen. Eines von vier Experimenten am LHC ist ATLAS, ein 44 Meter langer, 7 000 Tonnen schwe-rer und 500 Millionen Schweizer Fran-ken teurer Teilchen detektor.

Für das ATLAS-Experiment arbeiten mehr als 3 000 Wissenschaftler aus 178 Forschungsinstituten und 38 Län-dern ohne Weisungsgewalt und ohne rechtliche Verbindlichkeit in Teams zusammen. Das Netzwerk der einzel- nen Institute stützt sich lediglich auf ein „Memorandum of Understanding“ (MoU), eine Übereinkunft, in der die jeweiligen Aufgaben und zu leistenden finanziellen Beiträge festgehalten wer-den. Die ATLAS-Teams arbeiten selbst-organisiert, aber nicht führungslos.

Die ATLAS-Kollaboration (links der Detektor) operiert innerhalb des institutionellen Rahmens von CERN und der europäischen Mitgliedstaaten, die die Finan-zierung sichern. Sie ist eines der bekanntesten „Big Science“-Pro-jekte überhaupt.

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Sinnorientierte Führung 57

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Rebekka Reinhard

Rebekka Reinhard promovierte über amerikanische und französische Gegenwartsphilosophie. Sie ist Autorin von sechs Büchern, darunter „Die Sinn-Diät“ (2009) und „Kleine Philoso- phie der Macht“ (2015), sowie Redak-teurin der Philosophie-Zeitschrift „Hohe Luft“. Zudem ist sie seit zehn Jahren als Key Note Speaker für Unternehmen unterwegs.

werden, wo die externen Kollegen sitzen. Hat ein Team ein Ergebnis, wird das schriftliche Dokument an alle ver-schickt. Und alle können es kommentie-ren. Die finalen Veröffentlichungen enthalten deshalb circa 2 800 alphabe-tisch geordnete Autorennamen. Denn schließlich hat jeder direkt oder indi-rekt zu einem Forschungsergebnis bei-getragen, sei es durch Datenanalyse, den Bau oder die Unterhaltung des Detek-tors oder eine der unzähligen Vorarbei-ten. Autorität hat jeder, die erfahrenen Profs wie die über 1 000 Doktoranden und Postdocs, die die Zusammenar-beit mit ihrem Elan befeuern. In diesem Reservoir kluger Köpfe fällt es nicht schwer, auf die Kompetenz der anderen zu vertrauen; auch, wenn man für die eigene These oder Theorie Kritik einstecken muss. Gerade die (konstruk-tive) Kritik könnte ja zu einer neuen Erkenntnis beitragen, die nicht nur für den einzelnen Wis senschaftler, son-dern für die ganze Kollaboration ent-scheidend sein kann.

Wo der gemeinsame Sinn nicht nur aus Visionen geschöpft wird, sondern

auch aus einer langen Tradition – die Institution CERN besteht seit 1954 –, da steigt das Haltbarkeitsdatum der Selbstführungsmodelle enorm.

Das zeigt sich auch an der Arbeitswei-se des New Yorker Orpheus Chamber Orchestra, die seit seinen Anfängen so gut wie unverändert praktiziert wird. Bei Orpheus ist der Direktor immer auch Teil des Ensembles, er hat sowohl administrative als auch künstlerische Aufgaben. Allerdings ist sein Einfluss beschränkt, vor allem, was das Künst-lerische betrifft. Denn in musikalischen Fragen herrscht gleiches Stimmrecht, von der Auswahl der Stücke bis zu den Proben. Wie bei der ATLAS-Kollabo-ration basiert hier die Selbstorganisa-tion auf dem hundertprozentigen Engagement, der umfassenden Exper-tise, der Freiheit und nicht zuletzt auch der Persönlichkeit des Einzelnen. Die Emotionen der Musik so frei her-ausspielen können, wie man sie fühlt: Darum geht es, und darum kann und darf es niemanden geben, der den Takt-stock schwingt. Jedes Werk hat einen anderen Konzertmeister, eine andere erste Geige. Mit jedem neuen Stück übernimmt jeder Künstler einen neuen Part. Die Methode aber bleibt die gleiche: Zuerst probt nur der jeweilige Kern („Core“) der Hauptakteure ein Stück, bestimmt dessen Interpretation, die Nuancierung, den Aufbau – dann kommt der Rest des Kollektivs hinzu. Und zwar nicht, um sich den Wünschen des „Core“ still zu fügen, sondern um dessen Vorentscheidungen hitzig zu diskutieren, dezidiert abzulehnen oder humorvoll in Frage zu stellen. Das kann dauern … aber es lohnt sich.

Wie bei ATLAS sind fachliche Konflikte häufig, menschliche selten. Der Streit um eine Bach- oder Strawinsky-Inter-pretation dient – genau wie der um eine physikalische These – dem gemein-samen „Wozu“. Im einen Fall ist das die Kunst – ein gemeinsam auf höchstem Niveau erschaffenes Musikstück, das das Publikum mitreißt –, im anderen die Wissenschaft. Sinn, wie er bei Orpheus und ATLAS kultiviert wird, ist kein in spontanen Brainstormings erdachtes Konstrukt. In beiden Fällen entsteht Sinn aus einer gemeinsamen Erfahrung, die eine lange Geschichte hat. Bei Orpheus gibt es Ensemblemitglieder, die seit den 1970 er-Jahren mit un-veränderter Verve dabei sind und dafür sorgen, den Geist der Gründerzeit lebendig zu erhalten: „Das trägt das

Orchester noch für Jahrzehnte“, meint Alexander Scheirle.

Auch die ATLAS-Kollaboration schöpft aus einer langen Historie. Die gegen-seitige Anerkennung von Menschen unterschiedlichster sozialer und politi-scher Herkunft war bei CERN von Beginn an Realität. Die meisten Dokto-randen gehen nach ihrem Forschungs-aufenthalt in ihre Herkunftsländer zurück, um bei Unternehmen anzuheu-ern. Der Physiker Siegfried Bethke, der die Aktivitäten des Max-Planck-Insti-tuts bei ATLAS koordiniert, bezeichnet diesen „Spin-off von enthusiastischen jungen Leuten“ als unschätzbaren Ge-winn. Für die Wirtschaft. Für die Gesell-schaft insgesamt. Freiheit, Offenheit, Diplomatie: Diese Grundprinzipien bil-den nicht nur die Basis wissenschaft-lichen Fortschritts. Das hochkomplexe selbstorganisierte Teamwork von tau-senden Leuten, wie es bei ATLAS tag-täglich funktioniert, kann man durch-aus auch als Projekt für eine bessere Welt betrachten.

Sinn braucht Bildung

Sinnorientierte Kooperationen wie ATLAS und das Orpheus Chamber Orchestra haben heutige Unternehmen eine Menge zu lehren: das Verständnis und den unbedingten Respekt vor dem Kollegen, der kulturell und politisch „anders tickt“; die Bedeutung von Bil-dung als Basis von Exzellenz; den Wert von Exzellenz für ein funktionie-rendes Miteinander; den gemeinsa-

men Fokus auf ein „Wozu“, das keinen ideologischen Überbau braucht, um die Gruppe nachhaltig anzufeuern; ein Klima der Freiheit, Furchtlosigkeit und Kritikfähigkeit; die Anerkennung derer, die vor einem kamen und nach einem kommen werden; den Wert einer von Zweckrationalität unberührten Traditi-on des Schönen, Wahren und Guten, die Menschen seit jeher beglückt und weiterbringt.

Übrigens: Wer noch tiefer verstehen will, warum langwierige demokrati-sche Entscheidungsprozesse lohnen – in ästhetischer wie in ökonomischer Hinsicht – muss sich nicht mal aus dem Büro herausbewegen. Ein paar der besten Aufnahmen des Orpheus kann man online hören (orpheusnyc.org) – und sich verzaubern lassen.

Es gibt durchaus eine personelle Hier-archie: ein Board, einen gewählten Sprecher (derzeit Dave Charlton von der Universität Birmingham), einen technischen Koordinator, und darunter verschiedene Operationskoordina-toren. Aber niemand kann den Mitglie-dern der Kollaboration irgendetwas vorschreiben. Was sie besser als jede Kontrollmaßnahme zusammenhält und antreibt, ist – nach der Entdeckung des berühmten Higgs-Teilchens – das Brennen auf den nächsten wissen-schaftlichen Durchbruch, den sie nur gemeinsam bewerkstelligen können.

Respekt ist entscheidend, bei der Kommunikation wie bei der Entschei-dungsfindung. Und Höflichkeit: „Man ist einfach aufmerksamer, wenn man die Kultur des anderen nicht so kennt“, sagt Andreas Höcker, bis vor kurzem Physik-Koordinator bei ATLAS. Sobald ein anderssprachiger Kollege den Raum betritt, wechselt man automa-tisch ins Englische. Englisch ist natür-lich auch die Sprache der Meetings – die per Video auch nach Kalifornien, Japan und überall dorthin übertragen

Für Siegfried Bethke, verantwortlich für die ATLAS- Aktivitäten des Max-Planck-Instituts für Physik, haben die Vorurteilslosigkeit und die gegen seitige Anerken- nung am CERN Beispielfunktion auch für Unternehmen. Unten: ATLAS-Detektor am CERN, rechts: Teamwork bei der Detektor-Montage.

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58 Sinnorientierte Führung Sinnorientierte Führung 59

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Wie Martin Höfeler mit dem Label Armedangels faire Mode aus der Nische holt.

Schön und gut

Eines war für Martin Höfeler (34) immer klar: Wenn er schon ein eigenes Unternehmen gründen würde, dann sollte es die Welt auch ein bisschen bes-ser machen. Aber dass er einmal einem der erfolgreichsten deutschen Labels für faire Mode vorstehen würde, hätte er sich nicht träumen lassen, als er 2007 noch während seines BWL-Studiums in einem kleinen Kölner Büro Armed angels gründete.

Eigentlich wollte Höfeler schlicht T-Shirts produzieren und einen Teil des Erlö-ses für soziale Zwecke spenden. Eine Idee, von der er sich allerdings schnell verabschiedete, als ihm die schlechten Bedingungen in der Fast-Fashion- Industrie bewusst wurden. Er entschied sich dafür, nach seinen eigenen Re-geln zu spielen. Heute beschäftigt Armedangels insgesamt 60 Mitarbeiter und erzielte 2015 mit vier Kollektionen im Jahr für Männer und Frauen einen Jahresumsatz von 16 Millionen Euro, über den eigenen Online-Shop und über 800 Verkaufspunkte in 18 Ländern. Jährliche Steigerungsraten von um die 50 Prozent sind mittlerweile Gewohnheit.

SinnTHEMA

Unser Purpose

• Wir glauben an mehr als Profit – wir wollen die Welt verändern

• Wir wollen ein neues Denken in der Modeindustrie und beim Konsumenten etablieren

• Wir alle tragen Verant wortung für unseren Planeten und die Menschen, die auf ihm leben

• Der Weg: Größe gibt Macht – Wachstum ist wichtig• Sinn steht an erster Stelle, ist aber ohne über-

zeugende Produkte nichts wert• Werte entscheiden – faire Standards sind wichtiger

als der neueste Modetrend

Warum Purpose?

• Sinn als Daseinsberechtigung eines Unternehmens• Bei jedem Produkt und jeder Dienstleistung möglich• Kein Marketingansatz – muss aus Überzeugung entstehen• Finden durch Fragen: Warum gibt es uns?

Warum tue ich, was ich tue?• Erfordert: ein Team, das nicht nur Geld verdienen will• Ist Motivation und Antriebskraft für jegliches Handeln

Kunden

• Ernstnehmen durch Einsicht: Niemand will hässliche Kleidung tragen, egal wie nachhaltig sie ist

• Mehr Kunden, mehr Marktbe-deutung – durch Mode, die wir auch selbst tragen würden

• Daraus folgt: Mode nicht nur fürs gute Gewissen, Fair Fashion soll Spaß machen

• Kunden sind Käufer, aber auch Multiplikatoren unserer Idee

• Masse ist gut, denn Wirkung erreichen wir nur gemeinsam

Lieferanten

• Sind die Grundlage für das, was wir tun – also Partner

• Unser Ziel: faire Löhne und Arbeitsbedingungen, auch bei Subunternehmen

• Verbindung durch eine gemeinsame Mission und Eigenverantwortung

• Erfordert Nähe – man muss sich persönlich kennen

• Beziehung durch Vertrauen – Kontrollen immer anmelden

• Bei Problemen gemeinsam lernen

Kommunikation

• Ganz entscheidend, denn Sinn ist nicht sichtbar• Aufklärung statt Eigenlob, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger• Erfordert Fakten und Geschichten über Zahlen und Menschen• Transparenz heißt: Dokumentation der gesamten Lieferkette• Glaubwürdigkeit: Wir sind nicht perfekt, geben aber nicht auf• Überzeugen durch eigenes Hinterfragen – jeden Tag

Kultur

• Gesunde Mischung aus Dynamik und Ausgeglichenheit

• Soziale Prinzipien: Verantwortung, Freiheit, Einfluss, Wertschätzung

• Nicht nur reden, sondern machen• Sinn entfacht ein inneres Feuer –

Mitarbeiter brennen für ihre Arbeit• Sinn und Selbstverwirklichung gehen

Hand in Hand

Denn Höfeler folgt einem einfachen Credo: Seine Mode darf niemandem scha-den, weshalb ausschließlich nachhaltige und biozertifizierte Rohstoffe zum Einsatz kommen und die Arbeitsbedingungen auch bei den Produzenten etwa in der Türkei, in Portugal oder China akribisch überprüft werden. Auch leistet Armedangels seinen eigenen Beitrag, etwa durch verbesserte Planung, kons-tante Termine für die Lieferanten und verbindliche Bestellungen ohne ab-rupte Wechsel, was den Druck bei den Zulieferern herausnimmt. Was freilich alles nichts nützen würde, sähe die Mode nicht auch gut aus. Weshalb die Designs modern und zeitgemäß sind.

Eines will Armedangels nämlich auf keinen Fall sein: ein Ökoanbieter, der es sich in der Nische gemütlich macht. Höfelers Mode soll ausdrücklich die Massen erreichen, weil sie fair, vor allem aber weil sie schön ist. Auch im nächsten Jahr will die Marke präsenter werden – in Eco-Stores, im normalen Einzelhandel und darüber hinaus. Schließlich ist Höfeler mittlerweile fest davon überzeugt: Fairness kommt nie aus der Mode.

Mindmap 61

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Gibt es aus Ihrer professionellen Perspek­ tive bessere und schlechtere Wege, Sinn zu suchen? Wir suchen Bedeutung oft in kon-kreten Zielen: einen Traumpartner, die erste Million, Kinder. Aber Sinn ist kein Preis, den man erringt und behält. Wir sollten ihn nicht als Ziel begreifen, sondern als Weg.

Wie kann man als Unternehmer „Purpose“ jenseits von finanziellem Erfolg definieren? Der Psychologe Daniel Kahneman spricht vom erlebenden und vom erinnernden Selbst. Ein erfolgreiches Leben zu leben be-deutet, beide zufriedenzustellen. Viele Men-schen räumen jedoch einem dritten Selbst Priorität ein: dem antizipierten zukünftigen Selbst, das nach Erreichen irgendwelcher Ziele glücklich und erfüllt sein soll. Weil sie das erlebende Selbst vernachlässigen, bleibt auch dem erinnernden Selbst wenig Wertvolles. So jemand mag ein Vermögen machen, indem er freudlos all seine Zeit für ein schlechtes Produkt opfert. Ich sehe mehr Erfolg in einem Entrepreneur, der mit gan-zem Herzen ein bescheidenes Unternehmen mit guter ökologischer und sozialer Bilanz führt.

Julian Baggini Welche Rolle spielt Ethik bei der Suche nach Sinn? Gibt es ein richtiges Leben im falschen?Ich denke ganz optimistisch, dass unethisches Verhalten für die allermeisten Menschen jedes Gefühl von Lebenszufriedenheit unter-gräbt.

Die wenigsten Menschen denken regelmäßig über den Sinn des Lebens nach – was verpas­sen sie? Das Nachdenken über den Sinn des Lebens erhöht die Chancen, jene Dinge zu tun, die uns wirklich zufrieden machen. Andernfalls riskieren wir, dass unsere Jahre verstreichen, während wir hohlen Zielen nachjagen. Der Sinn des Lebens ist keine ab-strakte Frage, die wir ignorieren können.

Ist es heute für junge Menschen einfacher oder schwerer, ihre persönlichen Lebens ziele zu definieren? Einerseits ist es einfacher, weil sie nicht mehr in ein Korsett starrer Erwartun-gen hineingeboren werden. Aber diese Frei-heit hat auch etwas Beängstigendes, weil sie viel Verantwortung in unsere Hände legt.

Sind wir wirklich frei, unseren Weg zu wählen? Die kurze Antwort lautet: nein. Allerdings verschwören sich „Nature und Nurture“ nur selten komplett gegen einen. Erfolgreiche Menschen unterschätzen aber gern die Rolle von Zufall und günstigen Startvorausset-zungen für ihre Leistungen.

Unser Gehirn ist oft schon aktiv, bevor eine bewusste Entscheidung fällt – ist der freie Wille also nur eine Illusion, wie manche Hirn­forscher meinen? Dahinter steckt die naive Vorstellung eines freien Willens, der von un-seren Erfahrungen unabhängig ist. Sie ist weder plausibel noch wünschenswert. Wir sind Wesen mit Geschichte und gerade sie macht uns zu dem, was wir sind.

Kann ich beeinflussen, wie frei mein Wille ist? Er ist am wenigsten frei, wenn wir un-reflektiert agieren. Um Freiheit zu erlangen, müssen wir Verantwortung übernehmen.

Was ist die wichtigste Frage auf dem Ster­bebett? Viel wichtiger finde ich, sich schon vorher zu fragen: Lebe ich mein Leben, so gut ich kann, oder verschwende ich meine Zeit mit Dingen, an denen mir letztendlich nichts liegt?

Herr Baggini, Sie haben sich mit der großen Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt. Was ist Ihre Antwort? Wenn Sie nicht religiös sind, hat das Leben kein ultimatives Ziel. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht wert wäre, gelebt zu werden. Menschen finden Sinn in den Wundern der Welt, in Kunst, Liebe oder sozialem Engagement. Viele dieser Sinnstifter sind jedoch schwer fassbar und fragil. Das Problem ist weniger, Sinn zu finden, als ihn zu erhalten und zu erneuern.

Kleine Gedanken über große Fragen und große Gedanken über kleine Fragen sind das Spezialgebiet des britischen Philosophen Julian Baggini. In seinen rund 20 Büchern beschäftigt er sich mit dem Sinn des Le-bens, der Willensfreiheit oder der Konstruk-tion unseres Ichs ebenso tiefgehend wie mit der Frage, was wir heute zum Abendes-sen haben sollten oder wie die Menschen in Englands typischstem Postleitzahlenbe-zirk ticken. Eine philosophische und doch lebenspraktische Sicht auf die elementaren, aber auch die eher abseitigen Fragen des Lebens steht auch im Mittelpunkt von Bag-ginis journalistischer Arbeit für Guar dian, Financial Times oder New Statesman. Seit seiner Doktorarbeit über persönliche Iden-tität am University College London im Jahr 1996 wurde Baggini so auch ohne Profes-sur zu einem der wichtigsten Philosophen seines Landes.

Entrepreneur 02/2016

62 Zehn Fragen

Impressum

Herausgeber:Hubert BarthVerantwortlich:Achim Rust

Konzept und Realisation:Ulrike KrauseCorporate CommunicationsGestaltung:Anzinger und Rasp, MünchenArt Direction:Markus Rasp, Miriam BröckelProjektmanagement:Maria Freundorfer

Adresse der Redaktion:Ernst & Young GmbHWirtschaftsprüfungsgesellschaftFriedrichstraße 14010117 [email protected]

Druck:Druck- und Verlagshaus ZarbockFrankfurt am Main

Bildnachweise:S. 2 / 63: peterginter.com, S. 5 rechts: Hiroyuki Ito / getty images, S. 6: Esra Rotthoff, S. 9: Brainlab AG, S. 10: Matthias Ziegler, S. 11: Gerster / laif, S. 13: Florian Generotzky, S. 14: Tom Ziora, S. 15: Elias Hassos, S. 16 / 17: Michael Hudler, S. 18: Jens Steingässer, S. 19: Andreas Pohlmann, S. 21 oben: Esra Rotthoff, S. 21 unten: picture alliance / dpa, S. 22 oben: Vincenzo Pinto / getty images, S. 22 unten: ELEMENTAL, S. 25 oben: Food for Soul, S. 25 unten: Paolo Terzi, S. 26: SpaceX, S. 27: Art Streiber / AUGUST, S. 28: Peter Lamos, S. 29: Bryce Duffy, S. 30: Tesla, S. 31: Joe Pugliese / AUGUST, S. 32: Kacper Kowalski / Panos Pictures / VISUM, S. 40 rechts: www.jaywatson.com, S. 40 links: akg-images / TT News Agency / SVT, S. 40 unten: Courtesy of Boston Public Library, S. 41 oben: Céline Michel, S. 41 rechts: Saskja Rosset, S. 41 links: Charlie Waite / getty images, S. 41 unten: Churrito / getty images, S. 42: Pastor / Polaris / laif, S. 44: Roger Ressmeyer / Corbis / VCG / getty images, S. 45: Arista, S. 46 / 47: Mobileye, S. 52 – 54: Hiroyuki Ito / getty images, S. 55: Matt Dine, S. 56 / 57, 58 unten: Claudia Marcelloni, S. 58 oben: Max Planck Gesellschaft, S. 59: CERN, S. 62: TAPE FILM

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EY | Assurance | Tax | Transactions | Advisory

Die globale EY-Organisation im Überblick Die globale EY-Organisation ist einer der Marktführer in der Wirtschafts- prüfung, Steuerberatung, Transaktionsberatung und Managementberatung. Mit unserer Erfahrung, unserem Wissen und unseren Leistungen stärken wir weltweit das Vertrauen in die Wirtschaft und die Finanzmärkte. Dafür sind wir bestens gerüstet: mit hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern, starken Teams, exzellenten Leistungen und einem sprichwörtlichen Kundenservice. Unser Ziel ist es, Dinge voranzubringen und entscheidend besser zu machen – für unsere Mitarbeiter, unsere Mandanten und die Gesellschaft, in der wir leben. Dafür steht unser weltweiter Anspruch „Building a better working world“.

Die globale EY-Organisation besteht aus den Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited (EYG). Jedes EYG-Mitgliedsunternehmen ist rechtlich selbstständig und unabhängig und haftet nicht für das Handeln und Unterlassen der jeweils anderen Mitgliedsunternehmen. Ernst & Young Global Limited ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem Recht und erbringt keine Leistungen für Mandanten. Weitere Informationen finden Sie unter www.ey.com.

In Deutschland ist EY an 21 Standorten präsent. „EY“ und „wir“ beziehen sich in dieser Publikation auf alle deutschen Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited.

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