Laokoon - Personal Homepage of Wolfgang Melchior · Laocoonte, qui est in Titi imperatoris domo,...

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Ludwig- Maximilians- Universität München Institut für deutsche Philologie/ Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur Dozent: Prof. Klaus Kiefer Referent: Wolfgang Melchior M.A. Wintersemester 2007/ 08 30.10.2007 Laokoon Die Laokoon-Gruppe zeigt auf exemplarische Weise, dass Bildkunst nicht als bloße Illustration der Wortkunst zu verstehen ist. Die Geschichte der Gruppe zeigt zweitens, wie Bilder ein interpretatorisches Eigenleben führen. 1. Archäologische Entdeckungsgeschichte (als Produktanalyse) Phase I: Fund und Ergänzungen der Renaissance 14. Januar 1506: Fund in Rom (Oppius-Hügel) durch Weinbauern Felice de Fredis. Guilano Sangallo und Michelangelo (ähnlich Bild 1) Bezeichnung als Laokoon-Gruppe, wie sie von Plinius in Naturalis historiae (Quelle 2: Plin. Hist. Nat. 36,37) erwähnt wird. 1525 Bandellinis Kopie in Florenz mit restauriertem, abgewinkeltem Arm (Bild 2) 1532/33: Teilrestaurierung durch Montorsoli (Schüler Michelangelos): Ergänzungen des Laokoon-Arms (hochgereckter Arm; Bild 5) 18. Jh. Ergänzungen der Arme der Söhne (Bild 5) durch A. Cornacchini Vorlage für literarische Tradition (siehe 2.1) Phase II: Moderne Archäologie 1879 Fund der Friesplatte des Ostfrieses in Pergamon mit Athena- Gruppe durch A. Conze und C. Humann („Pergamon Altar“; Bild 7) 1905 Fund und Ankauf des verlorenen Arms Laokoons durch Pollak 1957/60 Restaurierung mit diesem Arm (= heutige Version; Bild 6) 1957 Fund einer Inschrift in der Grotte von Sperlonga mit den drei rhodischen Meistern, die Plinius als Künstler der Laokoon- Gruppe nannte (Quelle 2: Plin. Hist. Nat. 36,37; Bild 9) Dort auch weitere Funden von Figurengruppen (Odysseus) Heutiger Befunde/Forschung: Sicher: Späthellenistisches und kein klassisches Werk Zwei Thesen: a) B. Andreae: Stilistische und politische Deutung - Kopie einer Bronzestatue in Pergamon (140 v. Chr.) um 30-40 n. Chr. (also römische Kaiserzeit unter Tiberius; 14-37n.Chr.) angefertigt - Ausstellung in der Grotte von Sperlonga (Tiberius) - Plinius’ Bemerkungen zu den Künstlern sind durch komparative Studien bestätigt. b) S. Settis: Historische Methode - Mythologische Botschaften besitzen Bedeutung sui generis - Datierung auf 40-20 v. Chr. Aufgrund der von Plinius genannten Künstler und Techniken

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Ludwig- Maximilians- Universität München Institut für deutsche Philologie/ Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur Dozent: Prof. Klaus Kiefer Referent: Wolfgang Melchior M.A. Wintersemester 2007/ 08 30.10.2007

Laokoon Die Laokoon-Gruppe zeigt auf exemplarische Weise, dass Bildkunst nicht als bloße Illustration der Wortkunst zu verstehen ist. Die Geschichte der Gruppe zeigt zweitens, wie Bilder ein interpretatorisches Eigenleben führen. 1. Archäologische Entdeckungsgeschichte (als Produktanalyse) Phase I: Fund und Ergänzungen der Renaissance 14. Januar 1506: Fund in Rom (Oppius-Hügel) durch Weinbauern Felice de Fredis. Guilano Sangallo und Michelangelo (ähnlich Bild 1) Bezeichnung als Laokoon-Gruppe, wie sie von Plinius in Naturalis historiae (Quelle 2: Plin. Hist. Nat. 36,37) erwähnt wird. 1525 Bandellinis Kopie in Florenz mit restauriertem, abgewinkeltem Arm (Bild 2) 1532/33: Teilrestaurierung durch Montorsoli (Schüler Michelangelos): Ergänzungen des Laokoon-Arms (hochgereckter Arm; Bild 5) 18. Jh. Ergänzungen der Arme der Söhne (Bild 5) durch A. Cornacchini

Vorlage für literarische Tradition (siehe 2.1) Phase II: Moderne Archäologie 1879 Fund der Friesplatte des Ostfrieses in Pergamon mit Athena- Gruppe durch A. Conze und C. Humann („Pergamon Altar“; Bild 7) 1905 Fund und Ankauf des verlorenen Arms Laokoons durch Pollak 1957/60 Restaurierung mit diesem Arm (= heutige Version; Bild 6) 1957 Fund einer Inschrift in der Grotte von Sperlonga mit den drei rhodischen Meistern, die Plinius als Künstler der Laokoon- Gruppe nannte (Quelle 2: Plin. Hist. Nat. 36,37; Bild 9) Dort auch weitere Funden von Figurengruppen (Odysseus) Heutiger Befunde/Forschung: Sicher: Späthellenistisches und kein klassisches Werk Zwei Thesen: a) B. Andreae: Stilistische und politische Deutung

- Kopie einer Bronzestatue in Pergamon (140 v. Chr.) um 30-40 n. Chr. (also römische Kaiserzeit unter Tiberius; 14-37n.Chr.) angefertigt

- Ausstellung in der Grotte von Sperlonga (Tiberius) - Plinius’ Bemerkungen zu den Künstlern sind durch komparative Studien

bestätigt. b) S. Settis: Historische Methode

- Mythologische Botschaften besitzen Bedeutung sui generis - Datierung auf 40-20 v. Chr. Aufgrund der von Plinius genannten Künstler

und Techniken

W. Melchior: Laokoon, HS Bilddidaktik (K. Kiefer), 2007/08 Handout __________________________________________________________________________________

2. Rezeptionsgeschichte Grundlage: 29-19 v. Chr. Entstehung von Vergils Aeneis 2.1 Literarische Tradition: Klassizismus und Idealismus 1755 Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (Quelle 3) 1766 Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (Quelle 4) 1793 Schiller: Über das Pathetische (Quelle 5) 1797/8 Goethe: Laokoon (Quelle 6); Über Laokoon (Quelle 7) 2.1 Bildtradition: bis Mitte 18. Jh. Bildtradition der teilrestaurierten Version (Bild 3 und 4) Abweichung: El Grecos Laokoon von 1610 (Bild 10) Heute Fortsetzung der teilrestaurierten Version (Bild 11 und 13) 3. Themen der Rezeption: 3.1 Zitat von Kunstwerken oder Illustration des Mythos Moderne Archäologie (Andreae)

- jüngerer Sohn: toter Niobide - älterer Sohn: Gefährte des Odysseus (Bild 8) - Laokoon: Ostfries des Pergamon-Altars (Athene zieht Giganten an den

Haaren; Bild 7) Winckelmann: Nachahmung der Griechen Lessing: Differenz von bildender Kunst (Malerei) und Poesie Goethe: Eigenständigkeit jedes Kunstwerks durch Darstellung von Charakter 3.2 Einzelaspekte 3.2.1 Kunst und Schönheit Winckelmann: Kunst als vollkommene Natur, nur verwirklicht bei den Griechen Lessing: Differenz zwischen bildender Kunst und Poesie Goethe: Individualität und Charakter 3.2.2 Das Leiden Winckelmann:

- „stille Größe und edle Einfalt“ gemildertes Leiden - Erstickter Schrei: Darstellung von Leiden in ethischer Dimension

Goethe: kein gemilderter Ausdruck, sondern Moment des höchsten Grades von Ausdruck 3.2.3 Ruhe und Bewegung Winckelmann: Ausdruck als Ruhe an der Oberfläche und Bewegung in der Tiefe Goethe: Dialektik von Ruhe und Bewegung durch Perspektive und Einbildungskraft Lessing:

- Ruhe und Moment als Zeichen bildender Kunst, nicht eines Kunstwerks - Sehen als Hinzudenken können

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Literatur: ANDREAE, Bernd: Odysseus – Mythos und Erinnerung, Kat. Ausstellung Haus der

Kunst, München, 1. Oktober 1999 - 9. Januar 2000, Mainz: von Zabern 1999

LAOCOONTE. Alle origini die Musei Vaticani, Kat. Ausstellung Musei Vaticani, Rom, 18. November - 28. Februar 2007, Rom: „L’Erma“ di Bretschneider 2006

MÜLLER, Marion G.: Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Methoden, 2003

MÜLDER-BACH, Inka: Sichtbarkeit und Lesbarkeit Goethes Aufsatz Über Laokoon, Neupublikation im Goethezeitportal, URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/laokoon_muelder- bach.pdf> Eingestellt am 29.01.2004 Erstpublikation: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Inge Baxmann / Michael Franz / Wolfgang Schäffner. Berlin 2000, S. 465-479. SCHMÄLZLE, Christoph (Hg.): Marmor in Bewegung. Ansichten der Laokoon-

Gruppe, Frankfurt/M. u. Basel: Stroemfeld 2006 WILM, Marie-Christin: Laokoons Leiden. Oder über eine Grenze ästhetischer Erfahrung bei Winckelmann, Lessing und Lenz, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006. (auch auf:

http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaet ze/wilm.pdf; Abruf 24.10.2007)

Literarische Quellen: GOETHE, Johann Wolfgang: Über Laokoon, in: ders.: Werke (Hamburger

Ausgabe,) 14 Bde., München: dtv 1985-1998, Bd. 12:Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen., S. 56-66

GOETHE, Johann Wolfgang: Laokoon, veröff. in Friedrich Schiller: Horen (1797), 10.Stück. Entnommen:

http://www.wissen-im-netz.info/literatur/schiller/horen/1797/10/01.htm LESSING, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und

Poesie. in: ders.: Werke, hg. v. Walter Hoyer, 3 Bde., Leipzig.: Deutscher Klassiker Verlag 1956., Bd. 2: Die mittlere Epoche 1760-1770, S. 139-253

C. PLINII SECUNDi: Naturalis historiae libri XXXVII, Vol 5. Libri 31-37, hg. v. Karl Mayhoff, Teubner-Verlag 1967 SCHILLER, Friedrich: Über das Pathetische, in: Friedrich Schiller: Ausgewählte Schriften zur Dramentheorie, hg. v. Klaus J. Berghahn, Reclam Stuttgart 1987, S. 55-82 (nach: Schiller: Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe, hg. v. Eduard von der Bellen, Stuttgart/Berlin: Cotta-Verlag 1904/105) WINCKELMANN, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst , in: Helmut Holtzhauer (Hrsg): Winckelmanns Werke in einem Band, Berlin/Weimar 1969, S. 1-38

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Literarische Quellen und Interpretationen (alle Herv. v. mir) I. Mythos und Überlieferung Quelle 1: Vergil, Aeneis, 2. Gesang Aus: Vergil: Aeneis, übers. v. Johann Heinrich Leipzig: Voß, Philipp Reclam jun., 1875 40 Jetzo vor allen zuerst in dem Schwarm nachströmenden Volkes,

Rennt, vom Eifer erglüht, Laokoon hoch von der Burg her. Elende, ruft er von fern, welch rasender Wahn, o ihr Bürger? Glaubt ihr hinweggefahren den Feind? und hofft ihr, betruglos Komme vom Danaervolk ein Geschenk? So kennt ihr Ulixes?

45 Hier sind entweder geheim in dem Holz verschlossen Achiver, Oder das Rüstzeug ward auf unsere Mauern gezimmert, Hoch in die Häuser zu schaun und der Stadt zu nahen von oben; Oder es birgt sonst Tücke. Dem Roß nicht getrauet, o Teukrer! Was es auch sei, mir bangt vor dem Danaer, bring' er Geschenk auch! (Quídquid id est, timeo Danaos et dona ferentes)

50 Sprach's, und erhob mit Gewalt die ungeheuere Lanze, Und in die Seit' und den Bauch, den krummgewölbten des Untiers Schwang er hinein. Sie stand und erbebt'; im erschütterten Schoße Tönete hohl ringsher und erscholl mit Gerassel die Höhlung. Und wenn's Göttergeschick, wenn nicht das Herz so verkehrt war, 55 Hätt' er bewegt, sie zu schänden mit Stahl, die argolische Lauer; Troja, du ständest annoch, du dauertest, Priamus Felsburg. Noch ein größerer jetzt und noch graunvollerer Anblick Stellt sich den Elenden dar und verwirrt die erschrockenen Herzen. 200 Priester, gezogen durch Los, war Laokoon dort dem Neptunus,

Dem den gewaltigen Stier an dem Festaltare er weihte. Siehe von Tenedos her, zwiefach durch stille Gewässer Nahn (ich erzähl' es mit Graun) unermeßlich kreisende Schlangen, Über das Meer sich dehnend und eilen zugleich an das Ufer;

205 Denen die Brust, in den Wellen emporgebäumt, und die Mähne Blutrot aus dem Gewog' aufragt; ihr übriger Leib streift Hinten die Flut, und sie rollen unendliche Rücken in Wölbung. Laut mit Geräusch her schäumet die Flut; jetzt drohn sie gelandet, Und, die entflammeten Augen mit Blut durchströmet und Feuer,

210 Zischen sie beid' und umlecken mit regerer Zunge die Mäuler. Alle entfliehn vor der Schau blutlos. Doch sicheren Schwunges Gehn sie Laokoon an; und zuerst zwei schmächtigen Söhnlein Dreht um den Leib ringsher sich das Paar anringelnder Schlangen, Schnüret sie ein, und, – o Jammer – zernagt mit dem Bisse die Glieder.

215 auf ihn selbst, der ein Helfer sich naht und Geschosse daherträgt, Fassen sie schnell und knüpfen die gräßlichen Windungen: und schon Zweimal mitten umher, zweimal um den Hals die beschuppten Rücken geschmiegt, stehn hoch sie mit Haupt und Nacken gerichtet. Jener ringt mit den Händen, hinweg die Umknotungen drängend, 220 Ganz von Eiter die Bind' und schwärzlichem Gifte besudelt; Und graunvolles Geschrei hochauf zu den Sternen erhebt er: So wie Gebrüll auftönt, wann blutend der Stier vom Altare Floh und die wankende Axt dem verwundeten Nacken entschüttelt. Aber sie beid' entrollen zum oberen Tempel, die Schlangen, 225 Schlüpfrigen Gangs, und ereilen die Burg der erzürnten Tritonis, Wo sie unter die Füß' und des Schildes Wölbung sich bergen.

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Quelle 2: Plinius der Ältere, Naturalis Historia(e), Liber XXXVI, 37 Aus: C. Plini Secundi: Naturalis historiae libri XXXVII, Vol 5. Libri 31-37, hg. v. Karl Mayhoff, Teubner-Verlag 1967 Nec deinde multo plurimum fama est, quorundam claritati in operibus eximiis obstante numero artificum, quoniam nec unus occupat gloriam nec plures pariter nuncupari possunt, sicut in Laocoonte, qui est in Titi imperatoris domo, opus omnibus et picturae et statuariae artis praeferendum. ex uno lapide eum ac liberos draconumque mirabiles nexus de consilii sententia fecere summi artifices Hagesander et Polydorus et Athenodorus Rhodii. II. Idealtypen Quelle 3: Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) Aus: Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst , in: Helmut Holtzhauer (Hrsg): Winckelmanns Werke in einem Band, Berlin/Weimar 1969, S. 1-38 [S. 9] Das Gesetz aber, »die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen«, war allezeit das höchste Gesetz, welches die griechischen Künstler über sich erkannten, und setzt notwendig eine Absicht des Meisters auf eine schönere und vollkommenere Natur voraus. [...] [S. 17/18] Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoon, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdeckt und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt, dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singt. Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: sein Elend geht uns bis an die Seele, aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können. Der Ausdruck einer so großen Seele geht weit über die Bildung der schönen Natur: der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer Person und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein. Quelle 4: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon (1766) Aus: Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. in: ders.: Werke, hg. v. Walter Hoyer, 3 Bde., Leipzig.: Deutscher Klassiker Verlag 1956., Bd. 2: Die mittlere Epoche 1760-1770, S. 139-253 Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholter maßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet. Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung

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weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon tot. Quelle 5: Friedrich Schiller: Über das Pathetische (1793) Aus: Schiller, Friedrich: Über das Pathetische, in: Friedrich Schiller: Ausgewählte Schriften zur Dramentheorie, hg. v. Klaus J. Berghahn, Reclam Stuttgart 1987, S. 55-82 (nach: Schiller: Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe, hg. v. E. von der Bellen, Stuttgart/Berlin: Cotta-Verlag 1904/1905) Dadurch nämlich, daß alle bloß der Natur gehorchende Teile, über welche der Wille entweder gar niemals oder wenigstens unter gewissen Umständen nicht disponieren kann, die Gegenwart des Leidens verraten – diejenigen Teile aber, welche der blinden Gewalt des Instinkts entzogen sind und dem Naturgesetz nicht notwendig gehorchen, keine oder nur eine geringe Spur dieses Leidens zeigen, also in einem gewissen Grad frei erscheinen. An dieser Disharmonie nun zwischen denjenigen Zügen, die der animalischen Natur nach dem Gesetz der Notwendigkeit eingeprägt werden, und zwischen denen, die der selbsttätige Geist bestimmt, erkennt man die Gegenwart eines übersinnlichen Prinzips im Menschen, welches den Wirkungen der Natur eine Grenze setzen kann und sich also eben dadurch als von derselben unterschieden kenntlich macht. Der bloß tierische Teil des Menschen folgt dem Naturgesetz und darf daher von der Gewalt des Affekts unterdrückt erscheinen. An diesem Teil also offenbart sich die ganze Stärke des Leidens und dient gleichsam zum Maß, nach welchem der Widerstand geschätzt werden kann; denn man kann die Stärke des Widerstandes oder die moralische Macht in dem Menschen nur nach der Stärke des Angriffs beurteilen. Je entscheidender und gewaltsamer nun der Affekt in dem Gebiet der Tierheit sich äußert, ohne doch im Gebiet der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können, desto mehr wird diese letztere kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto erhabener das Pathos.1In den Bildsäulen der Alten findet man diesen ästhetischen Grundsatz anschaulich gemacht, aber es ist schwer, den Eindruck, den der sinnlich lebendige Anblick macht, unter Begriffe zu bringen und durch Worte anzugeben. Die Gruppe des Laokoon und seiner Kinder ist ohngefähr ein Maß für das, was die bildende Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte. [Es folgt ein längeres Zitat Winckelmanns] Virgil schilderte bekanntlich denselben Auftritt in seiner Äneis; aber es lag nicht in dem Plan des epischen Dichters, sich bei dem Gemütszustand des Laokoon, wie der Bildhauer tun musste, zu verweilen. Bei dem Virgil ist die ganze Erzählung bloß Nebenwerk und die Absicht, wozu sie ihm dienen soll, wird hinlänglich durch die bloße Darstellung des Physischen erreicht, ohne dass er nötig gehabt hätte, uns in die Seele des Leidenden tiefe Blicke tun zu lassen, da er uns nicht sowohl zum Mitleid bewegen als mit Schrecken durchdringen will. Die Pflicht des Dichters war also in dieser Hinsicht bloß negativ, nämlich, die Darstellung der leidenden Natur nicht so weit zu treiben, dass aller Ausdruck der Menschheit oder des moralischen Widerstandes dabei verloren ging, weil sonst Unwille und Abscheu unausbleiblich erfolgen müssten. Er hielt sich daher lieber an Darstellung der Ursache des Leidens und fand für gut, sich umständlicher über die Furchtbarkeit der beiden Schlangen und über die Wut, mit der sie ihr Schlachtopfer anfallen, als über die Empfindungen desselben zu verbreiten. An diesen eilt er nur schnell vorüber, weil ihm daran liegen musste, die Vorstellung eines göttlichen Strafgerichts und den Eindruck des Schreckens ungeschwächt zu erhalten. Hätte er uns hingegen von Laokoons Person so viel wissen lassen, als der Bildhauer, so würde nicht mehr die strafende Gottheit, sondern der leidende Mensch der Held in der Handlung gewesen sein und die Episode ihre Zweckmäßigkeit für das Ganze verloren haben.

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1 Unter dem Gebiet der Tierheit begreife ich das ganze System derjenigen Erscheinungen am Menschen, die unter der blinden Gewalt des Naturtriebes stehen und ohne Voraussetzung einer Freiheit des Willens vollkommen erklärbar sind; unter dem Gebiet der Menschheit aber diejenigen, welche ihre Gesetze von der Freiheit empfangen. Mangelt nun bei einer Darstellung der Affekt im Gebiet der Tierheit, so läßt uns dieselbe kalt; herrscht er hingegen im Gebiet der Menschheit, so ekelt sie uns an und empört. Im Gebiet der Tierheit muß der Affekt jederzeit unaufgelöst bleiben, sonst fehlt das Pathetische; erst im Gebiet der Menschheit darf sich die Auflösung finden. Eine leidende Person, klagend und weinend vorgestellt, wird daher nur schwach rühren, denn Klagen und Tränen lösen den Schmerz schon im Gebiet der Tierheit auf. Weit stärker ergreift uns der verbissene stumme Schmerz, wo wir bei der Natur keine Hülfe finden, sondern zu etwas, das über alle Natur hinausliegt, unsre Zuflucht nehmen müssen; und eben in dieser Hinweisung auf das Übersinnliche liegt das Pathos und die tragische Kraft.

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W. Melchior: Laokoon, HS Bilddidaktik (K. Kiefer), 2007/08 Literarische Quellen _________________________________________________________________________________

Quelle 6: Goethe: Laokoon, veröff. in Friedrich Schiller: Horen (1797), 10. Stück Entnommen: http://www.wissen-im-netz.info/literatur/schiller/horen/1797/10/01.htm Die Phantasie des geistvollen Barbaren ist vielleicht im Stande zur Hoheit des Apollo zu steigen; aber der Ausdruk Laokoon’s kann nur das Werk des kultivirten Verstandes seyn.[...] Laokoon schreiet nicht, weil er nicht mehr schreien kann. Der Streit mit den Ungeheuern beginnt nicht, er endet: kein Seufzen erpreßt sich aus der Brust, es ist der erstikende Schmerz, der die Lippen des Mundes umzieht, und der lezte Lebenshauch scheint darauf fortzuschweben.[...] Nach dieser Hinweisung und Schilderung, von deren Richtigkeit sich jeder durch eigenes Anschauen überzeugen kann, frage ich nun: wo ist hier die Milderung des Ausdrukes? Wer sollte hier nur ein ängstliches und beklemmtes Seufzen erbliken? Wer kann sich die Gewalt des physischen Anstrengens und des körperlichen Leidens stärker denken? Wer hat je gewaltsamere Zukungen in dem ganzen Muskelnspiel des menschlichen Baues wahrgenommen? Wo ist ein Glied in Ruhe?[...] ...wenn diese grossen Meister erst da ihr Kunstwerk anheben, wo die Beschreibung des Dichters aufhört, – denn Virgil mahlet die Szene nicht aus, indem er nach dem Schreien des Hilflosen sogleich in der Erzählung abbricht, der beste Beweis wie mich däucht, daß Virgil weder die Gruppe, noch die Künstler den Dichter nachahmen wollten – sollte es nicht auch mit den Folgerungen ein anderes Bewandtniß haben, welche man aus dem gemilderten Ausdruke, aus dem Seufzen hat ziehen wollen? – [...] Und warum soll Laokoon nur seufzen? – Weil nach Winkelmann die Griechen als die vorzüglichsten Kennzeichen ihrer Kunst – die edle Einfalt und stille Grösse sowohl in der Stellung, als im Ausdruke beobachteten – und nach Leßing, weil das Schreien der Schönheit – die nach ihm das höchste Gesez der bildenden Künste bei den Griechen war – würde entgegen gewesen seyn. Wie aber – wenn der Ausdruk Laokoon’s weder ein Seufzen, noch Schreien wäre? wenn der Künstler dabei weder Reflexion auf die stille Größe, noch auf die – den Ausdruk mildernde – Schönheit genommen, sondern vielmehr den Moment des höchsten Grades von Ausdruk zu seiner Wahl gemacht hätte? [...] IV. Daß, was die Alten unter Vollkommenheit oder Schönheit der Kunst verstanden, nichts anders war, als Karakteristik, das heißt, sie suchten für jeden Gegenstand aus der Natur die körperlichen Formen bedeutend und übereinstimmend auf: sie erfanden oder abstrahierten vielmehr aus der Natur die individuellsten Formen für jedes Alter, für jedes Geschlecht, für jeden Stand, für jede Errichtung – kurz, für jeden individuellsten Karakter. War der Gegenstand Porträt, so geschah die Nachbildung eben so individuell. Quelle 7: Goethe: Über Laokoon (1798) Aus: Goethe, Johann Wolfgang: Über Laokoon, in: ders.: Werke (Hamburger Ausgabe,) 14 Bde., München: dtv 1985-1998, Bd. 12:Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen., S. 56-66 Äußerst wichtig ist dieses Kunstwerk durch die Darstellung des Moments. Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz nachher muß jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein.

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Bild 1: Laokoon-Gruppe ohne nachträgliche Ergänzungen, wie sie wahrscheinlich Lessing vorlag. Quelle: Wilhelm Lübke, Max Semrau: Grundriß der Kunstgeschichte. Paul Neff Verlag, Esslingen, 14. Auflage 1908

Bild 2: Laokoon-Kopie nach der Ergänzung durch Bandellini in Florenz von 1525

Bild 4: Franz Anton Leydensdorff: Studie nach dem Laokoon, nach 1769 Die Zeichnung entstand nach dem 1731 aus Düsseldorf nach Mannheim gebrachten und im Antikensaal aufgestellten Gipsabguss der Marmorgruppe des Laokoon und seiner Söhne (Rom, Vatikanische Museen) mit der alten Ergänzung der Arme aus dem 16. Jahrhundert.(Heidelberg, Kurpfälzisches Museum)

Bild 3: Laokoon-Gruppe im 1. Band , 1. Stück der "Propyläen" Kupferstich von J.Ch.E. Müller (1766-1824) nach einer Zeichnung von K. Horney (1764-1807)

Bild 5: Laokoon-Gruppe Mit allen Ergänzungen, die seit Montorsoli vorgenommen wurden. Hinzugefügt wurden der ausgestreckte Arm Laokoons, die Schlange sowie die Arme der Söhne. So muss sie Winckelmann inspiriert haben.

Bild 6: Laokoon-Gruppe Vatikanisches Museum, heute, mit dem 1905 von Pollak gefundenen und 1957 angefügten zurückgebogenen Arm

Bild 7: Ostfries des Pergamon-Altars: Athene-Gruppe. Athene zieht einen von Schlangen gehaltenen Giganten („Laokoon“?) an den Haaren. “Jetzt haben wir auch einen Laokoon“ (Conze, 1879)

Bild 8: Gefährte des Odysseus in der Grotte von Sperlonga

Bild 9: Grotte von Sperlonga (auch: Grotte des Tiberius)

Bild 10: Laokoon in der Kunst El Greco : Laokoon (um 1610) Quelle: AP

Bild 11: Laokoon als Illustration Titelblatt-Karikatur des SPIEGEL 1999

Bild 12: Laokoon in der modernen Kunst. Matthias Klemm: Laokoon. Collage, Gouache, farbige Tinte 84 x 60 cm Quelle: http://www.matthias-klemm.com/gallery2/d/598-6/043+Laokoon.jpg

Bild 13: Laokoon in der modernen Kunst. Heinrich Heidersberger: Der neue Laokoon. Fotografie Quelle: http://www.kulturserver.de/home/h-heidersberger/laokoon.htm