Lebenslügen und Familien- geheimnisse

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VICTOR CHU Lebens lügen und Familien- geheimnisse

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VICTOR CHU

Lebenslügenund Familien-geheimnisse

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VICTOR CHU

Lebenslügenund Familien-geheimnisse

Auf der Suchenach der Wahrheit

KÖSEL

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Selbsterfahrungs- und Fortbildungsprogramme zum Thema die-ses Buches können angefordert werden bei:

Dr. Victor ChuWiesenbacherstr. 5269151 Neckargemündwww.vchu.de

Meinem FreundHansjörg Baumann gewidmet

2. Auflage 2007Copyright © 2005 Kösel-Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlag: Kaselow Design, MünchenUmschlagfoto: photonica/Kenna LoveDruck und Bindung: Pustet, RegensburgPrinted in GermanyISBN 978-3-466-30678-7

Gedruckt auf umweltfreundlich hergestelltem Werkdruckpapier(säurefrei und chlorfrei gebleicht)

www.koesel.de

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Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Typische Beispiele für Lebenslügen . . . . . . . . . . . . . . . 13

Was ist eine Lebenslüge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Was ist Wahrheit, was Wahrhaftigkeit? . . . . . . . . . . . 29

Wie entstehen Lebenslügen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

Wie Gefühle die Wahrnehmung der Wirklichkeitverzerren können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Angst 59 – Trauma und Ohnmacht 64 – Trauer 72 –Wut 75 – Scham 83 – Schuld 100 – Freude 107

Selbsttäuschung in der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Familiengeheimnisse und Familientabus . . . . . . . . . . . 139

Wenn Lebenskonzepte fehlschlagen und Lebens-träume zerplatzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Kollektive Lebenslügen – die Verleugnung desTodes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Die verwundete Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Die Heilung von Lebenslügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Zusammenstellung der Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

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Vorwort

Dass Sie dieses Buch in die Hand nehmen, ist mutig. Es istein Zeichen innerer Reifung, wenn man sich fragt, ob manin manchen Dingen nicht Selbsttäuschungen und Illusio-nen erlegen ist. Obwohl es kaum jemanden gibt, der sichnicht gelegentlich etwas vormacht, ist es doch für die meis-ten Menschen peinlich, sich mit den eigenen Lebenslügenauseinander zu setzen. Es verlangt Mut, sich selbst gegen-über aufrichtig zu sein.

Ich hätte dieses Buch nicht schreiben können, als ichnoch jünger war. Es bedurfte einer Reihe unangenehmerSelbsterkenntnisse und bitterer Wahrheiten, um zu erken-nen, dass vieles von dem, was ich früher gedacht oder ge-tan habe, auf Halbwahrheiten oder Selbsttäuschungen be-ruhte. Viele Gedanken waren noch vorläufiger Natur, siewaren nicht zu Ende gedacht.

Aber das ist normal. Wenn wir jung sind, brauchen wirnoch unsere Illusionen. Man macht seine ersten Schritteins Leben, probiert dieses und jenes aus, mehr oder weni-ger auf der Basis von »Versuch und Irrtum« oder »Wennnicht heut, dann morgen«. Man sagt sich, ich habe nochZeit, ich kann noch nicht alles wissen, muss noch meineErfahrungen machen. Wenn etwas schief geht, kann derFehler ja leicht korrigiert werden.

Irgendwann merkt man jedoch, dass das so nichtstimmt. Wir können nicht »vorläufig« leben. Das Leben

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findet statt – hier und jetzt. In jedem Augenblick mussman Entscheidungen fällen, kleine und große. Und alleshat seine Konsequenzen. Wie ich mich ernähre, was ichberuflich mache, mit wem ich zusammenlebe, ob ich Kin-der bekomme oder nicht – jeder Schritt zieht den nächstennach sich. Irgendwann entsteht aus einer Reihe unbedach-ter oder vorläufiger Schritte ein Weg, ein Lebensweg. Undwenn wir dann hinter uns schauen, merken wir, dass wirnicht mehr ohne weiteres zurück zum Ausgangspunktkönnen. Wir können dann nicht mehr so tun, als wärenwir immer noch 20. Wir haben in der Art und Weise, wiewir gelebt haben, Tatsachen geschaffen, die nicht mehrrückgängig zu machen sind. Wir haben eine Lebensge-schichte hinter uns und aufgrund dieser Geschichte habenwir die positiven und negativen Folgen unseres Handelnszu tragen.

Gut, dass wir noch nicht am Ende unseres Weges ange-langt sind. Wir haben noch ein Heute, und wir haben, miteiniger Wahrscheinlichkeit, noch ein Morgen. Zwar wissenwir nicht, wie lange dieses Morgen andauern wird – zumGlück weiß keiner genau, wann er sterben wird –, aber unsbleibt eine gewisse Zeit, in der wir unserem Leben eine an-dere Richtung geben können. Da diese Zeit immer begrenztist – irgendwann werden wir sterben –, sollten wir so frühwie möglich damit beginnen. Am besten heute.

Ein alter Freund und Weggenosse ist dieses Jahr plötz-lich umgefallen und war tot. Er war nur ein paar Jahre äl-ter als ich. Ich habe es zufällig von Freunden auf einer Ta-gung erfahren. Da ich dort mit meinem Vortrag beschäf-tigt war, schob ich diese Nachricht beiseite, ließ sie nichtso nahe an mich herankommen. Am nächsten Tag, einemSonntag, fühlte ich mich auf einmal ohne äußeren Anlass

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ganz deprimiert. Ich wusste nicht, weshalb ich so »down«war. Ich stellte mich an die Tür und schaute in den Gartenhinaus. Auf einmal begriff ich: Es war der Schock über dieTodesnachricht.

Ich ging ins Internet und suchte nach der Website desverstorbenen Freundes, von dem ich wusste, dass er einTagungshaus leitete. Die Homepage erschien, ich schautein ein volles Programm und las, was er alles dieses Jahrnoch vorgehabt hatte. Das Ganze trug seine Handschrift –optimistisch, zuversichtlich, kraftvoll. Am Ende des Pro-gramms war dann eine kleine Notiz seiner Mitarbeiter zulesen, dass er, für alle völlig unfassbar, plötzlich verstor-ben sei. Ich weiß nicht, ob er selbst seinen Tod geahnt hat.Wahrscheinlich traf ihn der Schlag genauso unvorbereitetwie seine Umgebung.

... Am besten heute. Jetzt ist der einzig verlässliche Zeit-punkt, um unser Leben zu ändern. Wir wissen nicht, ob unsspäter die Gelegenheit noch gegeben sein wird, Irrtümer zu-rechtzurücken, Fehler zu bedauern, ungelebte Sehnsüchtezu leben. Wir kennen dieses Phänomen: Manche Men-schen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden, sind nacheiner Zeit des Trauerns imstande, ihrem Leben eine neueWendung zu geben. Sie finden in der kurzen Frist, die ihnennoch verbleibt, einen neuen Lebenssinn. Sie ordnen ihreVerhältnisse, suchen alte Freunde auf und begleichen ihreSchulden. Sie begeben sich noch einmal an vertraute Orteihrer Vergangenheit und nehmen Abschied, sie erfüllen sichnoch einen lang gehegten Wunsch. Verena Kast hat dies»abschiedlich leben« genannt.1

Mein verstorbener Freund hat nicht mehr Abschiednehmen können. Als ich es begriff, fragte ich mich, wes-halb ich einen alten Wunsch, den ich seit langem hege, im-

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mer noch vor mich herschiebe. Ich habe immer davongeträumt, mir ein Wohnmobil anzuschaffen und damitloszuziehen. Das Geld habe ich mir schon lange angespart.Aber alle möglichen Bedenken hielten mich zurück: Ist esnicht vermessen, solch eine große Anschaffung zu ma-chen? Wäre es nicht vernünftiger, ein Wohnmobil zu mie-ten statt zu kaufen? Steht das Gefährt nicht die meiste Zeitnur herum und muss gewartet und gepflegt werden? Bis-her endeten diese Grübeleien immer damit, dass ich vonmeinem Wunsch Abstand nahm und mich damit tröstete,ich werde das Projekt verwirklichen, sobald ich in Rentegegangen bin. Dann habe ich endlich Zeit dafür!

An diesem Sonntag war es anders. Nein, sagte ich mir,jetzt oder nie. Ich erfülle mir den Wunsch. Es gibt keineZeit zu verlieren, wo ich doch nicht weiß, ob ich je insRentenalter kommen werde, und wenn, ob ich dann nochgesund und reisefähig sein werde.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich meinen Wunschnicht richtig ernst genommen. Ich hatte ihn vor mir herge-schoben, als sei ich unsterblich, als würde ich immer ge-sund bleiben. Das stimmt aber nicht, es war Selbsttäu-schung, eine Lebenslüge. In den letzten Jahren hat meinKörper mir mehr als einmal signalisiert, dass er nicht mehralles mitmacht. Und der Tod meines Freundes zeigte mir,dass alles irgendwann ein Ende haben wird. Ich kann dieAugen nicht mehr verschließen vor der Wahrheit.

Im Laufe des Schreibens an diesem Buch bin ich öfterauf eigene Halbwahrheiten, Selbsttäuschungen und Le-benslügen gestoßen. Ich entdeckte, wie ich manches nichtzu Ende gedacht habe, weil die Konsequenzen unange-nehm gewesen wären. Ich merkte, wie ich manchen Wahr-heiten nicht ins Gesicht zu schauen wagte, weil ich mich

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ihrer schämte. In vielen Dingen spürte ich meine Trägheitund die Tendenz, alles beim Alten lassen zu wollen. Stattzu schreiben saß ich in solchen Momenten gedankenverlo-ren da oder lief unruhig herum. Das Thema ließ michnicht los. Ich musste, entgegen meiner sonstigen Gepflo-genheit, den Lektor immer wieder um einen Aufschub desAbgabetermins bitten. Erst mit der Zeit erkannte ich, dassich in einen wichtigen inneren Prozess eingetaucht war, indem ich mit meinen eigenen Selbsttäuschungen und Le-benslügen konfrontiert wurde. Ich gab mir daraufhinmehr Zeit. Ich erlaubte mir, an diesem Buch länger zuschreiben als an den früheren Büchern.

Es hat sich gelohnt. Dieses Buch zu schreiben hat mirdie Gelegenheit gegeben, die Themen noch einmal anzu-schauen und zu überprüfen, die ich in meinen bisherigenBüchern bearbeitet habe: Scham und Leidenschaft, Treueund Verrat, Sehnsucht, Erwachsenwerden. Im Laufe desSchreibens ist mir gleichzeitig klar geworden, wie viele Lü-gen uns in Politik und Gesellschaft aufgetischt werden undwie auch wir unseren Teil zu dieser kollektiven Selbsttäu-schung beitragen. Es ist daher auch eine Rückkehr zumThema meines ersten Buches »Psychotherapie nachTschernobyl« vor fast 15 Jahren.

Am Ende habe ich erkannt, dass es beim Thema »Le-benslügen« eigentlich um die Wiederentdeckung alterWerte geht: um Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, Mut undZivilcourage, Demut und Toleranz. Es ist wohltuend,wahrzunehmen, dass es bei aller Widerborstigkeit desThemas im Grunde um die Suche nach innerer Wahrheit,Selbsterkenntnis und dem Sinn im Leben geht.

Es ist fast unvermeidbar, dass wir im Leben Fehler be-gehen und in Sackgassen landen. Ein Freund bemerkte,

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wie befremdet er sich gelegentlich fühlt, wenn er in altenBüchern blättert, die er vor 10 oder 20 Jahren geschätzthat. Manches komme ihm doch recht naiv und unreif vor.Ich habe geantwortet: »Vielleicht kommt es dir nur ausheutiger Sicht so vor, als hättest du dich getäuscht. Aberdamals wusstest du es nicht besser. Du warst überzeugt,auf dem richtigen Weg zu sein.« Wir neigen dazu, unsereVergangenheit zu beurteilen und zu verurteilen, weil wiruns weiterentwickelt haben. Vielleicht ist es notwendig,dass wir Fehler machen, damit wir auf die richtige Fährtekommen. Vielleicht besteht zwischen Wahrheit und Un-wahrheit ein dialektisches Verhältnis: Erst die These undAntithese zusammen ergeben die Synthese. Beim Erkennt-nisprozess befinden wir uns auf einer immer währendenSpirale zwischen gegensätzlichen Polen. Vielleicht kommtes gar nicht so sehr darauf an, dass wir den richtigen Wegfinden, sondern dass wir bereit sind, wenn wir in einerSackgasse landen, unseren Irrtum zu erkennen und umzu-kehren. Vielleicht kommt es auf die Suche an, weniger aufdas Finden. Der Weg ist das Ziel.

Auf meiner Entdeckungsreise haben mich einige Men-schen begleitet. Sie haben mir geholfen, in der Spur zubleiben. Der Austausch mit Freunden und Kollegen überdas Thema war für alle anregend und hilfreich. Das stilleSitzen, wie ich es in der Zen-Meditation kennen gelernthabe, hat mir die Gelassenheit und Geduld geschenkt, dieich auf dieser Reise brauchte.

Ich wünsche Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, eineähnlich anregende Reise.

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Typische Beispiele fürLebenslügen

Persönliche Beispiele

Eine konkrete Antwort auf die Frage, was eine Lebenslügesei, erscheint zunächst gar nicht so einfach. Aber fast je-dem, den man danach fragt, fällt eine Lebenslüge aus sei-nem Leben ein. Hier einige Beispiele:

● »Meine Mutter ist unehelich geboren und wusste langenichts davon. Ihre Mutter brachte sie zur Welt und gabsie gleich an ihre Eltern. Sie selbst ging weit fort und be-suchte das Kind nur gelegentlich. Bei diesen Gelegen-heiten wurde sie als die ›Tante‹ meiner Mutter vorge-stellt. Meine Mutter glaubte bis zu ihrem sechsten Le-bensjahr, ihre Großeltern seien ihre Eltern und ihreleibliche Mutter sei ihre ältere Schwester. Es war für sieein Schock, als sie die Wahrheit erfuhr.« (Genaueres zudiesem Beispiel auf Seite 150 ff.)

● »Ich habe immer geglaubt, mein Vater liebt mich. Dasser es mir nicht zeigen konnte, habe ich meiner Mutterzugeschrieben, weil sie immer gestört hat, wenn ich mitmeinem Vater allein sein wollte. Nun ist meine Muttertot und ich entdecke, dass sich an der Distanz zu mei-nem Vater nichts verändert hat. Ich habe erkennenmüssen, dass er mit mir einfach nichts anfangen kann.Sein Verhältnis zu meinem Bruder ist ganz anders.«

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● »Ich habe immer geglaubt, meine Mutter liebt michnicht. Sie hat nie ein Geburtstagsfest für mich organi-siert, wie es die Mütter meiner Freundinnen getan ha-ben. Als ich mich bei meiner Therapeutin darüber be-klagte, fragte sie mich, ob ich je meine Mutter gebetenhätte, mir ein Geburtstagsfest auszurichten. Ich wäreselbst nie auf die Idee gekommen! Ich habe meine Mut-ter dann gleich gefragt. Sie war über meinen Wunschüberrascht und erfreut und hat mir sofort das nächsteGeburtstagsfest ausgerichtet. Sie hat früher einfachnicht die Zeit gehabt, an so etwas zu denken, weil sieden ganzen Tag zu arbeiten hatte. Und ich habe ge-glaubt, sie liebt mich nicht!«

● »Ich habe geglaubt, dass ich eine glückliche Kindheitgehabt habe, bis meine ältere Schwester mir vor kurzemerzählte, dass sie jahrelang von unserem Vater sexuellmissbraucht wurde. Sie habe immer versucht, mich undunsere jüngere Schwester vor ihm zu schützen. Da istfür mich eine Welt zusammengebrochen.«

● Ein Mann war zeitlebens unzufrieden mit seinem Beruf.Er erkrankte Mitte fünfzig an Krebs. Im Augenblick derDiagnose wurde ihm klar, dass er Künstler hätte wer-den sollen statt Beamter. Sein Vater hatte ihn dazu ge-drängt, sich einen »sicheren« Beruf zu suchen. »Nunwill ich in der wenigen Zeit, die mir noch verbleibt,endlich etwas für mich selbst tun«, sagt er: »Vor lauterPflichterfüllung habe ich die Stimme meines Herzensignoriert.«

● Ein Mann ist kürzlich von seiner Frau verlassen wor-den. Er versteht die Welt nicht mehr: »Ich weiß nicht,was mit ihr los ist. Das ist bestimmt der schlechte Ein-fluss ihrer neuen Freundin! Wir haben doch eine glück-

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liche Ehe! Sie hat ein schönes Haus, genug Geld zumAusgeben und ich gehe nicht fremd. Was will sie dennmehr?«

● »Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Ich habe im-mer geglaubt, ich hätte eine gute Ehe. Mein Mann be-handelt mich und die Kinder anständig. Ich habe nieGrund zu klagen gehabt. Aber durch eine zufällige Be-gegnung mit einem anderen Mann ist mir auf einmalbewusst geworden, was mir bisher alles gefehlt hat: Lie-be und Leidenschaft. Mit dem anderen Mann ist zwaräußerlich nichts passiert. Aber nun bin ich nicht mehrsicher, ob ich bei meinem Mann bleiben oder ob ich ei-nen ganz neuen Anfang wagen soll.«

● »Ich habe neulich einen alten Schulkameraden auf ei-nem Klassentreffen wiedergesehen. Er gestand mir,dass er schon immer in mich verknallt war. Das habeich nie geahnt. Er guckte mich früher immer so böse an,dass ich vor ihm weggelaufen bin!«

● »Ich habe immer geglaubt, ich bin bescheiden. Ich for-dere nichts, stelle mich gerne hintan. Nun bin ich drauf-gekommen, dass ich eigentlich Angst habe, mehr fürmich zu fordern. Wenn ich nicht mehr vom Leben will,als ich bekomme, kann ich nie enttäuscht werden. Ichwüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich meinenTraummann wirklich finden würde. Ich glaube, daswäre mir zu viel!«

● »Ich habe vor zwei Jahren mit einem meiner bestenFreunde ein kleines Geschäft gegründet. Leider mussteich nach einiger Zeit feststellen, dass er mich belog undGeld unterschlug. Jetzt habe ich endlich unseren Ver-trag gekündigt, bin gerade mit einem blauen Auge da-vongekommen. Ich hätte nie geglaubt, dass er zu sol-

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chen Gemeinheiten fähig ist. Ich wusste zwar vorher,dass er sich Ähnliches anderen Menschen gegenüber ge-leistet hat. Aber ich habe fest daran geglaubt, mit mirwürde er so etwas nie machen, wo wir doch so dick be-freundet sind!«

Was ist das Gemeinsame an diesen Beispielen? Die betref-fenden Menschen haben ihr Leben auf einer falschen An-nahme aufgebaut. Sie haben sich etwas vorgemacht undhaben ihr Leben darauf eingerichtet. Die Lüge, die sie sichdabei erzählt haben, erfüllte eine wichtige Funktion in ih-rem Leben. Deshalb hielten sie sich daran fest, selbst wennWidersprüche auftauchten. Manchmal darf eine Lebens-lüge nicht hinterfragt werden, sie wird tabuisiert. Wenndie Wahrheit dann ans Licht kommt, gibt es eine große Er-schütterung. Nicht selten kommt es zu einer Krise beimbetreffenden Menschen und in seinem sozialen System, diedas ganze bisherige Leben in Frage stellt.

Beispiele aus der Gesellschaft

Selbsttäuschungen treffen wir nicht nur bei Einzelperso-nen. Lebenslügen finden wir häufig auch im gesellschaftli-chen Zusammenhang. Sie betreffen unangenehme Tatsa-chen, denen die meisten von uns nicht gerne ins Augeschauen. Auch hierzu einige Beispiele:

● Viele Menschen pflegen heute den Jugendlichkeitskult.Wir möchten bis ins Alter jung bleiben, sogar »das Al-ter besiegen«. Fitness- und Sonnenstudios, Schönheits-farmen und Schönheitschirurgen haben Hochkonjunk-

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tur. Gleichzeitig werden wesentliche Probleme wie Ein-samkeit im Alter, Altersarmut, Pflegenotstand, Überal-terung der Gesellschaft verdrängt oder nicht ernst ge-nommen.

● Dass wir uns seit einigen Jahren in einem von Men-schen mit verursachten Klimawandel befinden, ist all-seits bekannt. Es gibt jedoch nicht wenige Fachleute,die heute immer noch behaupten, der allgemeine Tem-peraturanstieg liege im Rahmen der statistischenSchwankungen; wir bräuchten uns keine Sorgen zu ma-chen.

● Der Aktienboom Ende der 90er-Jahre und der ihm fol-gende Crash haben viele Menschen ihr Vermögen ge-kostet, andere die Alterssicherung. Kaum haben sichdie Kurse etwas erholt, rühren Händler wieder die Wer-betrommel. Mit Hilfe von 10- oder 20-Jahres-Statisti-ken behaupten sie, Aktien seien eine sichere und lukra-tive Geldanlage.

● 1999 wurde die deutsche Öffentlichkeit durch dieCDU-Spendenaffäre aufgeschreckt. Nachdem promi-nente CDU-Politiker die Existenz geheimer Konten zu-gegeben hatten, gestand der ehemalige Parteivorsitzen-de Helmut Kohl, selbst mehrere Millionen Spendengel-der persönlich angenommen zu haben. Die Namen derSpender wollte er aber unter Berufung auf sein »Ehren-wort« nicht nennen. Eine unabhängige Kommissionstellte fest, dass zwei Drittel der Computerdateien imKanzleramt nach der Bundestagswahl 1998 (bei derHelmut Kohl als Bundeskanzler von Gerhard Schröderabgelöst wurde) verschwunden waren, darunter auchdie Akten aus dem Verkauf der ostdeutschen Leu-na-Raffinerie an den französischen Staatsbetrieb Elf

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Aquitaine, bei dem Schmiergelder gezahlt worden seinsollen. Die CDU stürzte in eine tiefe Krise. Die parla-mentarischen Untersuchungen verliefen im Sand. Hel-mut Kohl behauptet noch nach Jahren, die Spendenaf-färe sei ein Versuch seiner Gegner, seine Verdienste als»Kanzler der Einheit« zu schmälern. In der Folgezeitwurden Spendenaffären auch bei der SPD und FDPfestgestellt. – Solche Enthüllungen werfen ein grellesLicht auf das Verständnis der betreffenden Parteien vonEhrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Sie verlangen vomBürger Steuerehrlichkeit, eine Ehrlichkeit, der sie selbstnicht nachkommen. Die Haltung Helmut Kohls zeigteinen erschreckenden Mangel an Schuldbewusstsein.

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Was isteine Lebenslüge?

Nach diesen individuellen und gesellschaftlichen Beispie-len können wir uns nun der Frage zuwenden: Was ist ei-gentlich genau eine Lebenslüge?

Zum besseren Verständnis werde ich im Folgenden diewichtigsten Thesen in Form einiger Grafiken und Tabellendarstellen. Sie werden es uns erleichtern, bei einem derartkomplexen Thema, wo es um Täuschung und Selbsttäu-schung geht, die Übersicht zu behalten. Außerdem könnensich der Leser und die Leserin mit ihrer Hilfe rasch einenÜberblick über das gesamte Gebiet verschaffen.

Was sind also Lebens-lügen? Es sind Lügen,die wir uns selbst er-zählen. Wir machenuns Illusionen – überuns selbst, unsere Be-ziehungen, unsere Um-welt – und diese Illu-sionen machen wir zurGrundlage unseres weiteren Lebens. Sie werden zu tragen-den Pfeilern unseres Glaubenssystems.

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Eine Lebenslüge ist eine Lüge,

● die ich mir selbst erzähle,● an die ich selbst glaube,● auf der ich mein Leben aufbaue.

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Die wesentlichen Merkmalevon Lebenslügen

● Selbsttäuschung: Eine Lebenslüge besteht aus Selbst-täuschungen.

● Lebensgestaltende Kraft: Aber eine Selbsttäuschungmacht alleine noch keine Lebenslüge aus. Zur Lebens-lüge werden Selbsttäuschungen erst, wenn sie dieKraft besitzen, das Leben der betreffenden Personmaßgebend zu bestimmen. Eine Lebenslüge hat gestal-terische Kraft, ja lebensgestaltende Kraft – das machtsie so unheimlich stark. Deshalb halten sich Lebenslü-gen so zäh. Sie schlagen Wurzeln in unserer Seele, ge-ben uns eine Identität, sie liefern uns eine Erklärungder Wirklichkeit, schützen uns vor den Ambivalenzenund Komplexitäten des Lebens, sie geben uns Sicher-heit in einer unsicheren Welt. Lebenslügen sind liebgewonnene Unwahrheiten. Daher halten wir so ver-zweifelt an ihnen fest, selbst wenn alle Welt uns aufunsere Selbsttäuschung aufmerksam macht. Wir ha-ben Angst, dass unsere Welt zusammenbricht, wennwir sie in Frage stellen.

● Grundüberzeugung: Eine Lebenslüge hat in ihremKern einen Glaubenssatz oder eine Grundüberzeu-gung, zum Beispiel: »Die Welt ist schlecht! Alle wollenmir nur Böses!«

● Legendenbildung: Im Lichte dieser Grundüberzeugunginterpretieren wir unsere Lebensgeschichte, die da-durch zur Legende wird. (»Schon bei meiner Geburt ha-ben meine Eltern mich abgelehnt – kein Wunder, dassaus mir nichts geworden ist!«)

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● Lebenskonzept: Daraus erwächst ein Lebenskonzeptoder Lebensskript: Wir beginnen, unser Leben im Sinneunserer Überzeugung zu führen. (»Weil ich sowieso ab-gelehnt werde, brauche ich mich nicht um irgendeineBeziehung zu bemühen!«)

● Falsche Prämissen: Wenn wir nicht fähig sind, die Rea-lität wahrzunehmen, das heißt »als wahr anzuneh-men«, dann denken und handeln wir auf der Grundlagefalscher Prämissen. Eine Lebenslüge ist eine solche fal-sche Prämisse, eine falsche Vorannahme, auf der mansein Leben aufbaut.

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Eine Lebenslüge ist wie .. .

● ein Haus auf Sand gebaut: Wenn wir unser Leben auf einerIllusion aufbauen, können wir noch so ernsthaft und ge-wissenhaft am Bau arbeiten, das Haus wird nicht stehen,weil sein Fundament nicht standhält. Selbst das kunstfer-tigste Haus bricht zusammen, wenn das Fundamentmorsch und schlüpfrig ist.

● eine Mathematikaufgabe mit Hilfe einer falschen Formellösen: Selbst wenn alle unsere Einzelberechnungen richtigsind, kommt am Ende immer ein falsches Ergebnis heraus.

● eine falsch geknöpfte Jacke: Wenn der erste Knopf schonfalsch geknöpft ist, erscheint schließlich die ganze Jackeschief.

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Warum lügen wir uns etwas vor?

Individuelle Gründe

● Sicherheit: Die Wahrheit macht mir Angst – ich schauelieber weg.

● Vereinfachung: Die Wahrheit ist zu kompliziert – ichmache sie mir etwas einfacher. Dann lässt sie sich leich-ter handhaben.

● Trost: Die Wahrheit ist zu grausam – ich baue mir einetröstlichere Welt.

● Schönfärben: Die Wahrheit ist zu hässlich – ich beschö-nige sie lieber.

● Scham: Die Wahrheit beschämt mich – ich decke sie lie-ber zu.

● Betäubung: Die Wahrheit schmerzt zu sehr – ich magnichts mehr empfinden.

● Verleugnung: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.● Sinngebung: Mein Leben hat keinen Sinn mehr, wenn

ich nicht an irgendetwas glaube.● Verantwortung abschieben: Ich will nicht schuldig sein

– also schaue ich lieber weg.● Rollenumkehr: Ich will nicht Opfer sein – lieber bin ich

Täter, dann behalte ich wenigstens die Kontrolle.● Projektion: Ich will nicht Täter sein – jemand anders ist

schuld.● Bequemlichkeit: Ich belasse lieber alles beim Alten.

Veränderungen sind mir zu anstrengend.

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