Legal Tech – eine Schärfung der Konturen€¦ · a) Produktbezogene Einteilung Die Vornahme...

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Rechtsdienstleistungsmarkt Legal Tech – eine Schärfung der Konturen Wie die Digitalisierung das Recht und den Rechtsdienstleistungsmarkt verändert Valeria Podmogilnij, Berlin und Daniel Timmermann, Berlin Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen Gesetzentwurf zur Re- gulierung von Legal Tech vorgelegt. Automatisierte Rechts- dienstleistungen sollen im RDG auch für Nicht-Anwälte mit Sachkunde als registrierte Anbieter freigestellt werden. Die Diskussion läuft also auf Hochtouren. Doch was ist Legal Tech eigentlich? Die vielen Stränge der Diskussion fassen die Autoren zusammen. Sie versuchen die Insellandschaft der Produkte und Geschäftsmodelle neu zu sortieren. Der strukturierte Blick zeigt: Technischer Fortschritt hat Recht und Rechtsrat schon immer verändert. Und Anwältinnen und Anwälte werden nicht überflüssig. Legal Tech, Smart Contracts und Blockchain – diese Marke- tingbegriffe sind auf zahlreichen Konferenzen Thema und Er- gebnis zugleich. Selbst im Koalitionsvertrag findet sich der Begriff „smart contract“ einmal, der von Blockchain sogar sie- benmal – freilich, ohne die Termini zu definieren. Gibt es in Abgrenzung zum Smart Contract auch einen Stupid Con- tract? In einer aktuellen Umfrage befürchten 44 Prozent der Anwälte, dass Nicht-Anwälte unter Zuhilfenahme von Legal Tech-Anwendungen Anwälte aus ihrem typischen Geschäft verdrängen. 1 Der Anwalt ist nach § 3 Abs. 1 BRAO der berufene und unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegen- heiten. Zwar ist die Substituierung des gesamten Anwalts durch Softwarelösungen in allen Rechtsangelegenheiten kein Szenario der näheren Zukunft. Ebendarum kann hier ein pro- aktiver rechtspolitischer Handlungsauftrag erkannt werden. Die gegenwärtigen Geschäftsmodelle treten hingegen nicht mit dem Rechtsanwalt auf dessen Kerntätigkeitsfeld in Kon- kurrenz. Vielmehr werden einzelne Arbeitsschritte technisch unterstützt oder vollständig übernommen. Das ist zunächst keine Kreation der letzten Jahre. Rechenmaschinen existieren seit dem 17. Jahrhundert – sie wurden allerdings nicht als Le- gal Tech bezeichnet. Legal Tech ist technisch betrachtet somit eine Evolution – eine Revolution wird lediglich sprachlich suggeriert. Wenn beispielsweise das Jahr 2014 als der Start- zeitpunkt für Legal Tech in Deutschland ausgemacht wird, 2 gilt das lediglich für die begriffliche Ebene. Gleiches gilt für das „disruptive Potential“, welches oftmals als Eigenschafts- merkmal von Legal Tech ausgemacht wird und auf das „Sta- keholder“ durch ein „change Management“ reagieren sollen. Vorliegender Aufsatz möchte die Konturen der en voguen Begriffe Legal Tech, Smart Contracts und Blockchain schär- fen. Kategorisierungen werden dabei im Hinblick auf Ge- schäftsmodelle und Anwendungsfelder vorgenommen. Der Aufsatz soll hingegen keine Rechtsbegriffe entwickeln. Er kann insofern lediglich einen Diskussionsbeitrag leisten. Zunächst werden Anwendungsbereiche und konkrete Ge- schäftsmodelle analysiert (I). Daraus wird eine Einteilung an- hand rechtspolitischer Gestaltungsaufgaben abgeleitet (II). Die Frage, ob Smart Contracts ein Unterfall von Legal Tech oder ein Aliud darstellen, wird mittels deren Funktion(en) un- tersucht (III). Abschließend soll die Blockchain-Technologie von Legal Tech und Smart Contracts abgegrenzt werden (IV). I. Anwendungsbereiche und Geschäftsmodelle Digitalen Technologien wird das Potential zugesprochen, das Rechtswesen nachhaltig zu verändern. In vielen Bereichen er- weisen sich transformative Technologien als potentielle Er- leichterungen für juristische Aufgaben und Arbeitsprozesse. Es wird ein Wettbewerb unter etablierten großen Unterneh- men, neu gegründeten Start-Ups und Forschungseinrichtun- gen aller Art geführt. Die Orientierung in dieser Legal Tech- Insellandschaft ist aufgrund der schnellen Entwicklung zu- nehmend schwerer geworden. Verzeichnisse und anschauli- che Karten, die einen Überblick der Legal Tech-Unternehmen und ihrer Produkte auf dem deutschen Rechtsmarkt anbieten, sind online verfügbar. 3 Der Begriff „Legal Tech“ setzt sich aus den Komponenten „Legal“ (Recht) und „Tech“ (Technologie) zusammen. Alexan- der Schemmel und Alexandra Dietzen definieren Legal Tech als „Software und Online-Dienste, die juristische Arbeitspro- zesse unterstützen oder gänzlich automatisiert durchführen und das Ziel verfolgen, effizientere Alternativen zu einzelnen Arbeitsschritten oder ganzen Rechtsdienstleistungen zu schaffen.“ 4 Tendenziell noch umfassender definiert Dr. Mi- cha-Manuel Bues den Ausdruck als „den Einsatz von moder- nen, computergestützten, digitalen Technologien, um Rechts- findung, -anwendung, -zugang und -verwaltung durch Inno- vationen zu automatisieren, zu vereinfachen und – so die Hoffnung – zu verbessern.“ 5 Der Marketingbegriff Legal Tech beschreibt gegenwärtig ein inhomogenes Gemenge an Produkten und Geschäftsmodellen. Im Folgenden wird ein Vorschlag für die Sortierung der Insel- landschaft unterbreitet. Das dient als Vorbereitung für künftige Diskussionen über den Rechtsrahmen für Legal Tech. 1. Abstrakte Einteilungsmöglichkeiten Es existieren viele Anbieter, die ähnliche, teilweise identische Geschäftsmodelle verfolgen, sodass sich die Dienstleistungen und Produkte dieser Unternehmen nicht wesentlich vonei- nander unterscheiden. Um die Entwicklung systematisch dar- stellen zu können, soll eine Klassifizierung vorgenommen werden. Legal Tech-Anwendungen und -Produkte können in Kategorien zusammengefasst werden. Aufsätze 436 AnwBl Online 2019 Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilnij/Timmermann 1 Näher Kilian, AnwBl 2018, 160f. 2 Siehe Grupp, AnwBl 2014, 660: „Legal Tech – Impulse für Streitbeilegung und Rechts- dienstleistung“; für 2016 als Startzeitpunkt: Prior, ZAP 2017, 575 (575). 3 Beispiele sind legal-tech-verzeichnis.de; legal-tech-in-deutschland.de; tobschall.de/legal tech/. 4 Schemmel/Dietzen, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg), S. 142. 5 https://legal-tech-blog.de/, zuletzt abgerufen am 14.5.2019. Sämtliche Aufrufe wurden am 14.5.2019 überprüft.

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Legal Tech – eineSchärfung der KonturenWie die Digitalisierung das Recht und denRechtsdienstleistungsmarkt verändertValeria Podmogilnij, Berlin und Daniel Timmermann, Berlin

Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen Gesetzentwurf zur Re-gulierung von Legal Tech vorgelegt. Automatisierte Rechts-dienstleistungen sollen im RDG auch für Nicht-Anwälte mitSachkunde als registrierte Anbieter freigestellt werden. DieDiskussion läuft also auf Hochtouren. Doch was ist LegalTech eigentlich? Die vielen Stränge der Diskussion fassendie Autoren zusammen. Sie versuchen die Insellandschaftder Produkte und Geschäftsmodelle neu zu sortieren. Derstrukturierte Blick zeigt: Technischer Fortschritt hat Rechtund Rechtsrat schon immer verändert. Und Anwältinnenund Anwälte werden nicht überflüssig.

Legal Tech, Smart Contracts und Blockchain – diese Marke-tingbegriffe sind auf zahlreichen Konferenzen Thema und Er-gebnis zugleich. Selbst im Koalitionsvertrag findet sich derBegriff „smart contract“ einmal, der von Blockchain sogar sie-benmal – freilich, ohne die Termini zu definieren. Gibt es inAbgrenzung zum Smart Contract auch einen Stupid Con-tract? In einer aktuellen Umfrage befürchten 44 Prozent derAnwälte, dass Nicht-Anwälte unter Zuhilfenahme von LegalTech-Anwendungen Anwälte aus ihrem typischen Geschäftverdrängen.1

Der Anwalt ist nach § 3 Abs. 1 BRAO der berufene undunabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegen-heiten. Zwar ist die Substituierung des gesamten Anwaltsdurch Softwarelösungen in allen Rechtsangelegenheiten keinSzenario der näheren Zukunft. Ebendarum kann hier ein pro-aktiver rechtspolitischer Handlungsauftrag erkannt werden.Die gegenwärtigen Geschäftsmodelle treten hingegen nichtmit dem Rechtsanwalt auf dessen Kerntätigkeitsfeld in Kon-kurrenz. Vielmehr werden einzelne Arbeitsschritte technischunterstützt oder vollständig übernommen. Das ist zunächstkeine Kreation der letzten Jahre. Rechenmaschinen existierenseit dem 17. Jahrhundert – sie wurden allerdings nicht als Le-gal Tech bezeichnet. Legal Tech ist technisch betrachtet somiteine Evolution – eine Revolution wird lediglich sprachlichsuggeriert. Wenn beispielsweise das Jahr 2014 als der Start-zeitpunkt für Legal Tech in Deutschland ausgemacht wird,2

gilt das lediglich für die begriffliche Ebene. Gleiches gilt fürdas „disruptive Potential“, welches oftmals als Eigenschafts-merkmal von Legal Tech ausgemacht wird und auf das „Sta-keholder“ durch ein „change Management“ reagieren sollen.

Vorliegender Aufsatz möchte die Konturen der en voguenBegriffe Legal Tech, Smart Contracts und Blockchain schär-fen. Kategorisierungen werden dabei im Hinblick auf Ge-schäftsmodelle und Anwendungsfelder vorgenommen. DerAufsatz soll hingegen keine Rechtsbegriffe entwickeln. Erkann insofern lediglich einen Diskussionsbeitrag leisten.

Zunächst werden Anwendungsbereiche und konkrete Ge-schäftsmodelle analysiert (I). Daraus wird eine Einteilung an-hand rechtspolitischer Gestaltungsaufgaben abgeleitet (II).Die Frage, ob Smart Contracts ein Unterfall von Legal Techoder ein Aliud darstellen, wird mittels deren Funktion(en) un-tersucht (III). Abschließend soll die Blockchain-Technologievon Legal Tech und Smart Contracts abgegrenzt werden (IV).

I. Anwendungsbereiche und Geschäftsmodelle

Digitalen Technologien wird das Potential zugesprochen, dasRechtswesen nachhaltig zu verändern. In vielen Bereichen er-weisen sich transformative Technologien als potentielle Er-leichterungen für juristische Aufgaben und Arbeitsprozesse.Es wird ein Wettbewerb unter etablierten großen Unterneh-men, neu gegründeten Start-Ups und Forschungseinrichtun-gen aller Art geführt. Die Orientierung in dieser Legal Tech-Insellandschaft ist aufgrund der schnellen Entwicklung zu-nehmend schwerer geworden. Verzeichnisse und anschauli-che Karten, die einen Überblick der Legal Tech-Unternehmenund ihrer Produkte auf dem deutschen Rechtsmarkt anbieten,sind online verfügbar.3

Der Begriff „Legal Tech“ setzt sich aus den Komponenten„Legal“ (Recht) und „Tech“ (Technologie) zusammen. Alexan-der Schemmel und Alexandra Dietzen definieren Legal Techals „Software und Online-Dienste, die juristische Arbeitspro-zesse unterstützen oder gänzlich automatisiert durchführenund das Ziel verfolgen, effizientere Alternativen zu einzelnenArbeitsschritten oder ganzen Rechtsdienstleistungen zuschaffen.“4 Tendenziell noch umfassender definiert Dr. Mi-cha-Manuel Bues den Ausdruck als „den Einsatz von moder-nen, computergestützten, digitalen Technologien, um Rechts-findung, -anwendung, -zugang und -verwaltung durch Inno-vationen zu automatisieren, zu vereinfachen und – so dieHoffnung – zu verbessern.“5

Der Marketingbegriff Legal Tech beschreibt gegenwärtig eininhomogenes Gemenge an Produkten und Geschäftsmodellen.Im Folgenden wird ein Vorschlag für die Sortierung der Insel-landschaft unterbreitet. Das dient als Vorbereitung für künftigeDiskussionen über den Rechtsrahmen für Legal Tech.

1. Abstrakte Einteilungsmöglichkeiten

Es existieren viele Anbieter, die ähnliche, teilweise identischeGeschäftsmodelle verfolgen, sodass sich die Dienstleistungenund Produkte dieser Unternehmen nicht wesentlich vonei-nander unterscheiden. Um die Entwicklung systematisch dar-stellen zu können, soll eine Klassifizierung vorgenommenwerden. Legal Tech-Anwendungen und -Produkte können inKategorien zusammengefasst werden.

Aufsätze

436 AnwBl Online 2019 Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann

1 Näher Kilian, AnwBl 2018, 160f.

2 Siehe Grupp, AnwBl 2014, 660: „Legal Tech – Impulse für Streitbeilegung und Rechts-dienstleistung“; für 2016 als Startzeitpunkt: Prior, ZAP 2017, 575 (575).

3 Beispiele sind legal-tech-verzeichnis.de; legal-tech-in-deutschland.de; tobschall.de/legaltech/.

4 Schemmel/Dietzen, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg), S. 142.

5 https://legal-tech-blog.de/, zuletzt abgerufen am 14.5.2019. Sämtliche Aufrufe wurdenam 14.5.2019 überprüft.

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a) Produktbezogene Einteilung

Die Vornahme einer produktbezogenen Einteilung ist der ers-te und naheliegende Ansatz zur Schaffung von Konturen. Da-bei sind verschiedene Produktkategorien denkbar: Automati-sierte Rechtsberatungsprodukte, Legal Process Outsourcing,eDiscovery und Technology Assisted Review (TAR), juristi-sche Textanalyse und Dokumentenerstellung, anwaltlicheHilfsmittel, Experten- und Marktplatzportale. Die Angebotekann man in verschiedene Gruppen gliedern: Programmezur Unterstützung der Mandatsarbeit und Kanzleiorganisati-on, Plattformen zur Vernetzung, Kommunikationsinfrastruk-tur und schließlich Software, die Rechtsdienstleistungen imweitesten Sinne selbst erledigen kann.

Diese Aufzählung verdeutlicht, wie groß das Spektrum ist,das durch Legal Tech-Anwendungen und -Produkte abgedecktwird. Eine anschauliche Abgrenzung lässt sich durch die hie-sige Einteilung jedoch nicht erreichen.

b) Einteilung nach (technischen) Entwicklungsgraden

Eine andere mögliche Klassifizierung kann anhand der tech-nischen Entwicklungsstufen vorgenommen werden. Eine Stu-die des Bucerius CLP und BCG geht von den vorhandenenTechnologien aus und teilt diese in drei Gruppen ein.6 DieseGruppen können am besten als unterschiedliche Ebenen(Layer) dargestellt werden: Die unterste Ebene bildet die soge-nannte Enabler-Software – sie umfasst die Infrastruktur derKanzlei in Form von internen und externen Speicherlösungenund Datensicherheitsstandards. Darüber liegt die Ebene dersogenannten Support Process Solutions. Sie intendieren eineEffizienzsteigerung, beispielsweise durch die Dokumenten-und Ordnerverwaltung, einschließlich der Finanzlegung. Aufder obersten Ebene sind die sogenannten Substantive Law So-lutions angesiedelt, mit denen die anwaltliche Leistungser-bringung unmittelbar unterstützt oder ersetzt wird.7 Die hie-sige Anknüpfung an technische Entwicklungsgrade vermagaus juristischer Perspektive nicht zu überzeugen: Entschei-dend ist, welche konkreten Aufgaben durch die einzelnen An-wendungen erfüllt werden und nicht, auf welcher techni-schen Ebene die Ausführungen angesiedelt ist. Aus der ange-wendeten Technologie kann nicht darauf geschlossen werden,ob eine Anwendung als Legal Tech zu bezeichnen ist. Folglichbietet sich dieser Ansatz auch nicht für eine Einteilung vonLegal Tech-Anwendungen an.

c) Tangierte Anwendergruppen

Sektorenspezifisch kann insbesondere nach dem Einsatz derAnwendungen im privaten oder öffentlichen Sektor differen-ziert werden. Im privaten Sektor stellt sich die Frage, wie Le-gal Tech die Arbeit der Rechtsanwälte in Kanzleien verändernkann. Standardisierung als Legal Tech im engeren Sinne wirdunterstützt durch moderne Datenverarbeitungen und Spei-cherlösungen, aber erst die Masse an gleichgelagerten Fällenermöglicht eine ökonomische Nutzung der technischen Vo-raussetzungen. An dieser Stelle sollen zwei Ansätze zur Auto-matisierung der Sachverhaltsermittlung und -auswertung an-hand großer Datenmengen dargestellt werden. Der Kernbe-reich juristischer Tätigkeit beginnt chronologisch mit derSachverhaltsermittlung. Sie ist fester Bestandteil einer jedenanwaltlichen Erstberatung. Hier kann Legal Tech in Formdes sogenannten Information Retrieval oder auch TechnologyAssisted Review (TAR) zum Einsatz kommen. Darunter ver-steht man die Verarbeitung und Verwaltung großer Mengen

an Dokumenten, sowie das Herausfiltern und oftmals Zu-sammenfassen von Informationen aus großen Mengen un-strukturierter Daten. Der juristische Prozess der Suche nachrelevanten Dokumenten wird mithin durch den Einsatz vonTechnologien unterstützt, indem möglicherweise relevantevon eindeutig nicht relevanten Informationen und Dokumen-ten zunächst getrennt und dann sortiert werden.8 Das Systemarbeitet überwiegend mit Wahrscheinlichkeitsprognosen. Da-bei lernt es, dass das Vorkommen bestimmter Begriffe in be-stimmten Abständen, Konstellationen oder Umgebungeneine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Relevanz der Informa-tion indiziert. Nach dem gleichen Prinzip kann das Systemauch bestimmte Klauseln wiedererkennen und bei Vertrags-analysen eingesetzt werden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgtText und Data Mining (TDM): Es stellt mit Hilfe von Algorith-men neue Zusammenhänge in bestehenden Datensätzen be-ziehungsweise Texten her.9 Die Anwendungsgebiete vonTDM sind zahlreich, es kann auch als die Vorstufe für predic-tive analytics gelten.

Im öffentlichen Sektor tangiert Legal Tech die Justiz: Di-rekt, wenn Arbeitsschritte des Gerichts automatisiert vollzo-gen werden und der Schriftwechsel mit Behörden und denParteien elektronisch erfolgt;10 indirekt, wenn Software (ver-meintliche) Ansprüche automatisch durchsetzt und dadurchentweder einen Rechtsstreit vermeidet oder einen solchen da-durch erst provoziert. Legal Tech-Anwendungen können folg-lich zu einer Arbeitsentlastung und -belastung der Justiz füh-ren. Welche Folgen daraus herrühren, zeigt sich im Folgen-den.

Neue technische Anwendungen werden auch die Kommu-nikation der Verfahrensbeteiligten untereinander verändern.Allerdings bedarf es hierfür einer Änderung der Verfahrens-ordnungen. Denkbar ist eine Öffnung der Zivilprozessord-nung für Online-Klageverfahren, sowie eine gleichzeitige Ein-führung eines strukturierten Parteivortrages. Bei der 88. Jus-tizministerkonferenz im Jahre 2017 wurde eine länderoffeneArbeitsgruppe Legal Tech eingerichtet.11 Diese Arbeitsgruppebeschäftigt sich derzeit mit der Entwicklung eines beschleu-nigten Online-Verfahrens für geringfügige Forderungen.12

Auf den Beschluss der 89. Justizministerkonferenz folgteeine Initiative, bei der eine Klageschrift online eingereichtwerden soll.13 Mit dem Projekt soll die Möglichkeit einer Be-schleunigung des Zivilverfahrens untersucht werden.

Aufsätze

Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann AnwBl Online 2019 437

6 Hartung, Legal Tech, Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg), Rn. 21.

7 Wagner, Legal Tech und Legal Robots – Der Wandel im Rechtsmarkt durch neue Tech-nologien und künstliche Intelligenz, Wagner (Hrsg.), S. 7.

8 Wagner, Legal Tech und Legal Robots- Der Wandel im Rechtsmarkt durch neue Techno-logie und künstliche Intelligenz, Wagner (Hrsg.), S. 24.

9 Spindler, Text und Data Mining, GRUR 2016, 1112 (1112).

10 Näher Gaier, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg), S. 189ff.

11 https://jm.rlp.de/, zuletzt abgerufen am 10.11.2018.

12 https://www.justiz.nrw/, zuletzt abgerufen am 10.11.2018.

13 http://www.justiz.nrw.de/, zuletzt abgerufen am 10.11.2018.

AnwaltsW

issen

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Darüber hinaus wird die Justiz zunehmend mit modernerVideokonferenztechnik ausgestattet. In einzelnen Bundeslän-dern verfügen bereits alle Oberlandesgerichte, Landgerichteund Justizvollzugsanstalten über diese Technik. So könnenZeugen, Anwälte, Sachverständige, Dolmetscher und sonstigeVerfahrensbeteiligte einem Prozess per Videokonferenz zuge-schaltet werden.14 Die prozessuale Grundlage für eine münd-liche Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragungnormiert § 128a ZPO. Im Rahmen der künftigen Änderungder StPO wird im § 136 IV die seit Jahren von der Anwalt-schaft geforderte Videovernehmung eingeführt, nach der Be-schuldigtenvernehmungen bei Tötungsdelikten zwingendaufzuzeichnen sind.15 Zwar stellt eine solche Videokonferenz-technik isoliert betrachtet kein Legal Tech dar – vielmehr han-delt es sich um bloßes Tech ohne Legal-Komponente. Die di-gitale Umstrukturierung ebnet jedoch den Weg für künftigeSoftware-Anwendungen mit ausgeprägter Legal-Komponentein der Justiz.

d) Funktionale Einteilung

Die Funktion einer Anwendung wird anhand der von ihrerAusführung tangierten Aufgabenbereiche sichtbar. MatthiasKilian weist zutreffend darauf hin, dass viele sogenannte Le-gal Tech-Angebote mit dem Kern der anwaltlichen Berufstä-tigkeit nichts gemein haben, sondern vielmehr in deren Vor-feld angesiedelt sind, es sich mitunter um ein in ein „digitalesGewand gekleidetes Akquisitionsinstrument“16 handelt. EineVerengung des Legal Tech-Begriffs auf die Übertragung desanalogen anwaltlichen Tätigkeitsfelds in die digitale Sphärewird daher im Marketing nicht vorgenommen – vielmehrkann das freiberufliche Tätigkeitsfeld des Anwalts als LegalTech in engeren Sinne, die unternehmerische Akquise als Le-gal Tech im weitesten Sinne verstanden werden. Auch OliverGoodenough unterteilt Legal Tech-Anwendungen im Hinblickauf ihre Auswirkungen auf das analoge anwaltliche Berufs-bild: LT 1.0-Anwendungen sind danach Unterstützungssoft-ware des Anwalts. LT 2.0-Anwendungen nehmen juristische(Subsumtions)schritte vor, sie haben mithin das Potential Ak-teure zu ersetzen. LT 3.0-Anwendungen wickeln schließlichRechtsdienstleistung vollautomatisiert ab. Sie treten folglichin echte Konkurrenz zur Anwaltschaft, indem sie Menschennicht unterstützen, sondern ersetzen.17 Diese Definitionkann zugleich als ein Differenzierungsansatz verwendet wer-den, die Einteilung orientiert sich mithin an den Auswirkun-gen der Anwendungen auf den verbleibenden analogenmenschlichen Arbeitsbedarf. Dabei haben Legal Tech-Anwen-dungen 3.0 eine stärkere Auswirkung als solche der erstenStufe, die lediglich den Anwalt in seiner Arbeit unterstützensollen. Weiterführend unternimmt Jens Wagner den Versucheiner kartografischen Darstellung, indem er Legal Tech-An-wendungen nach ihrer Nähe zum Kernbereich juristischerTätigkeit sortiert.18 Bei einer funktionalen Betrachtung, beiwelcher der Kernbereich juristischer Aufgaben im Zentrumsteht, ergeben sich drei Kategorien: Hilfsfunktionen, rechtlichrelevante Rahmenbedingungen und schließlich der Einsatz-bereich von Legal Tech-Anwendungen, der im Kernbereichder juristischen Tätigkeit liegt.

Bei den Hilfsfunktionen verortet Jens Wagner die Online-Vermarktung sowie Mandantenakquise (Anwaltsportale,Marktplätze), Online-Recruitment und Legal Process Outsour-cing. Zu den Hilfsfunktionen gehören auch Legal Procure-ment und Spend Management, sowie virtuelle Datenräumeund das Dokumentenmanagement.

Die zweite Ebene tangiert die rechtlich relevanten Parame-ter. Hierunter versteht Jens Wagner solche Einsatzbereiche, indenen Legal Tech die juristische Tätigkeit nur peripher in ei-ner Weise berührt, dass es sich in erster Linie um Rahmenbe-dingungen handelt.19 Dazu gehören gesetzliche Formerleich-terungen und besondere Formvorgaben zur Einführung elekt-ronischer Verfahren, digitaler (Verwaltungs-)Strukturen so-wie zur Beschleunigung von Verfahren. Auch die Bereitstel-lung und Führung von Registern und Bekanntmachungen inelektronischer Form stellen einen Rahmenfaktor dar, genausowie die Aufbereitung und Zurverfügungstellung von Ent-scheidungen der Spruchkörper in maschinenlesbarem For-mat.20 Beispiele für elektronische Register sind bundesanzeiger.de, unternehmensregister.de, justiz.de. Elektronische Re-gister sind nicht nur online einsehbar, sondern werden zumTeil auch elektronisch geführt, so das Handelsregister, Genos-senschafts- und Partnerschaftsregister und das Grundbuch.21

Als Rahmenbedingung ist auch der elektronische Rechts-verkehr bei den Gerichten anzusehen, der in Deutschlandseit dem 1. Januar 2018 flächendeckend eröffnet ist. AlsRechtsverkehr wird im Allgemeinen die Vornahme vonRechtsgeschäften aller Art verstanden. Der Begriff elektron-ischer Rechtsverkehr fokussiert Prozesshandlungen in Gestaltder Übermittlung von Prozesserklärungen und sonstigen Do-kumenten in justizförmlichen Verfahren. Gesetzliche Grund-lagen bilden das Gesetz zur Förderung des elektronischenRechtsverkehrs mit den Gerichten22, das Gesetz zur Einfüh-rung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiterenFörderung des elektronischen Rechtsverkehrs23 und das On-linezugangsgesetz24. Teilnehmer des elektronischen Rechts-verkehrs sind Gerichte, Behörden, Notare und Rechtsanwälte,einschließlich der als Syndikusrechtsanwalt zugelassenenUnternehmensjuristen, aber auch Unternehmen und Privat-personen. Das besondere elektronische Anwaltspostfach istnach § 31a BRAO eine ausschließlich den Rechtsanwältenvorbehaltene Möglichkeit, am elektronischen Rechtsverkehrteilzunehmen.25 Über das beA können Anwälte Dokumentesowohl untereinander als auch an die Gerichte zustellen. Mitdem Start des beA ist auch die Pflicht verbunden, über das ei-gene Postfach Erklärungen entgegennehmen zu müssen. Abdem 3.9.2018 gilt für Anwälte somit eine passive Nutzungs-pflicht, aktiv muss das Postfach hingegen erst mit Inkrafttre-

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438 AnwBl Online 2019 Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann

14 Mitteilung der Rheinland-Pfälzischen Justiz, Beschlüsse der Herbstkonferenz, https://jm.rlp.de/, zuletzt abgerufen am 10.11.2018.

15 https://dip21.bundestag.de/, zuletzt abgerufen am 10.11.2018.

16 Kilian, NJW 2017, 3043 (3048).

17 https://www.huffingtonpost.com/, zuletzt abgerufen am 10.11.2018.

18 Wagner, Legal Tech und Legal Robots – Der Wandel im Rechtsmarkt durch neue Tech-nologien und künstliche Intelligenz, Wagner (Hrsg.) S. 9.

19 Ibid.

20 Etwa bei rechtsprechung-im-internet.de können ausgewählte Entscheidungen desBVerfG, der obersten Gerichtshöfe des Bundes und des Bundespatentgerichts ab demJahr 2010 kostenlos und anonymisiert im xml Format heruntergeladen werden.

21 Gesetz über das elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie dasUnternehmensregister (EHUG) v. 10.11.2006, BGBl. I S. 2553; § 8 Abs. 1 HGB; § 156Abs. 1 GenG; § 126 GBO.

22 Gesetz v. 10.10.2013, BGBl. I S. 3786.

23 Gesetz v. 5.7.2017, BGBl. I S. 2208.

24 Gesetz v. 14.8.2017, BGBl. I S. 3122.

25 Müller, eJustice – Praxishandbuch, Müller (Hrsg.) S. 18.

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ten des § 130d ZPO, der die Einreichung von Schriftsätzen inpapierloser Form regelt, ab dem 1.1.2022 genutzt werden.Prozessual ist das besondere elektronische Postfach nach§ 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO ein sicherer Übermittlungsweg fürelektronische Dokumente. Für die Kommunikation von undmit Notaren und Behörden wurde das besondere elektroni-sche Notarpostfach (beN)26 beziehungsweise das besondereelektronische Behördenpostfach (beBPo)27 als Pendant einge-führt.

Die Pflicht zur elektronischen Kommunikation gilt auchin EU-Vergabeverfahren. Mit dem Vergaberichtlinienpaket2014 wurde die Verpflichtung zur elektronischen Vergabe,insbesondere zur elektronischen Angebotsabgabe, unions-rechtlich verankert.28 Die Richtlinie wurde auf nationaler Ebe-ne 2016 durch die Vergabeverordnung29 umgesetzt. Öffentli-che Auftraggeber dürfen ab dem 19.10.2018 grundsätzlichnur noch Angebote, Teilnahmeanträge und Interessenbestäti-gungen berücksichtigen, die auf elektronischem Wege über-mittelt wurden.30 Zudem sind Auftraggeber und Unterneh-men verpflichtet, im Vergabeverfahren in der Regel nur nochelektronisch miteinander zu kommunizieren.31 Das Vergabe-recht gibt die Mindestanforderungen für die elektronischeKommunikation vor, den öffentlichen Auftraggebern steht esfrei darüber hinaus auch interne Prozesse elektronisch abzu-bilden und die elektronische Unterstützung für weitere Vor-gänge zu nutzen. Der Bereich der vergaberechtlichen Baga-tellverfahren kann durchaus automatisiert werden. Die Be-nutzung elektronischer Vergabeplattformen32 vereinfacht dieVergabe unter gleichzeitiger Steigerung der Effizienz undTransparenz.

Gerichtliche Verfahren eignen sich aufgrund ihrer durchdas Prozessrecht formalisierten Struktur für den Einsatz vonIT. Das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte inden Gerichten schreibt durch zahlreiche Änderungen in denProzess- und Verfahrensordnungen die elektronische Akten-führung für einen Großteil der Sachgebiete ab dem Jahr2026 verbindlich vor.33 Die elektronische Aktenführung sollin zwei Schritten erreicht werden. Dabei wird zunächst eineÜbergangsphase bis zum Ende des Jahres 2025 geschaffen.In dieser können die Landesregierungen für den jeweiligenBereich die elektronische Aktenführung auf einzelne Gerich-te, Staatsanwaltschaften oder Verfahren beschränken.34 Inden Bundesländern laufen derzeit verschiedene Pilotprojektein der jeweiligen Gerichtsbarkeit. Einzelne Länder arbeitenbei der Pilotierung zusammen. Das Land Berlin hat sich fürdie sogenannte Referenzarchitektur I entschieden: Sie siehtfür die Prüfung, Aufbereitung und Weiterleitung von elekt-ronischen Dokumenten eine elektronische Kommunikations-plattform (eKP) und für die Bearbeitung der Dokumente undAkten das elektronische Integrationsportal (eIP) vor. Das eIPwird zusammen mit Bayern und Brandenburg in Zivil- undFamiliensachen pilotiert. Ähnliche Konzepte verfolgen andereLänder mit eigenen eJustice-Projekten, beispielsweise e2A inNRW, Hessen und Niedersachen und eAs in Baden-Württem-berg. Eine gemeinsame Herausforderung dieser Pilotprojekteist die Anbindung an die jeweiligen Fachanwendungen.35 Mit-tel- bis langfristige Intention ist ein einheitlicher eJustice-Ar-beitsplatz.

Der Kernbereich juristischer Tätigkeit kann in drei Phasenunterteilt werden: die Sachverhaltsermittlung, -auswertungund -bewertung. Anwendungen in diesen Bereichen stellenLegal Tech im engeren Sinne dar. Zur Ermittlung des Sach-verhalts eignen sich die unter I. 1. c) beschriebene IT-Lösun-

gen zum Filtern von Informationen aus großen Mengen un-strukturierter Daten. Dokumenten-Management-Systeme er-möglichen im nächsten Schritt eine jederzeitige Dokumen-tenanalyse, sodass nach bestimmten Kriterien und Vertrags-klauseln sortiert werden kann. Anwendungen dieser Art kön-nen Ansprüche, Einwendungen und Einreden visualisierenund Schriftsätze damit verknüpfen; auf dieser Grundlage kön-nen sodann Wahrscheinlichkeits- und Prozessrisikoanalysen36

durchgeführt werden.Auch die Phase der Sachverhaltsbewertung kann tech-

nisch unterstützt werden. Systeme zur automatisierten Doku-mentenerstellung und Rechtsgeneratoren übernehmen dieAufgaben der rechtlichen Beurteilung und Gestaltung. EineVerknüpfung dieser Systeme wird von Wagner mit dem Be-griff legal robots bezeichnet.37

Anhand der dargestellten Einteilungen wird deutlich, dassLegal Tech mehrere Dimensionen besitzt. Es ist die techni-sche Unterstützung rund um die Berufsausübung eines Juris-ten, aber auch die juristische Tätigkeit selbst. Von den darge-stellten Einteilungen erscheinen die letzten beiden vorzugs-würdiger. Das Merkmal der Produktbezogenheit ist zu weit,sodass eine sinnvolle Einteilung nicht gelingen kann. Die Ori-entierung an der zugrundeliegenden technischen Infrastruk-tur als Einteilungskriterium ist wiederum zu eng. Mit derfunktionalen Einteilung wird deutlich, dass Legal Tech nichtnur in der Anwaltschaft zum Einsatz kommt. Die funktionaleEinteilung bietet zudem den Vorteil, dass sie die jeweiligenDimensionen und ihre Tragweite visualisiert. So können An-wendungen im Bereich der Akquise und Online-Vermark-tung allenfalls unter Legal Tech im weitesten Sinne verstan-den werden.

2. Best-Practice Geschäftsmodelle

Im Folgenden sollen die Anwendungen ausgewählter Ge-schäftsmodelle anhand konkreter Beispiele aufgezeigt wer-den. Dabei existieren zwei erfolgreiche Vermarktungsansätzefür Legal Tech-Produkte: Legal Tech-basierte Lösungen fürden Rechtsanwender (Anwälte) und/oder solche für den End-kunden (Verbraucher). Der Rechtsanwender kann digitaleWerkzeuge und Produkte zur direkten Nutzung durch denRechtssuchenden anbieten sowie zur eigenen Effizienzsteige-rung einsetzen. Legal Tech-basierte Lösungen eignen sichzum einen für Massenschäden, insbesondere Streuschäden,sei es für eine Durchsetzung im Wege der Klagehäufungoder für die technische Unterstützung der getrennten Durch-setzung gleichartiger Ansprüche. Zum anderen ist Legal Techfür die Verwaltung und strukturierte Erstellung von Doku-

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Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann AnwBl Online 2019 439

26 § 78n BNotO.

27 U.a. § 130a Abs. 4 Nr. 3 ZPO.

28 RL 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über die öffentliche Auf-tragsvergabe; Götzl, Datenschutz /Legal Tech, Schweighofer/Kummer/Saarenpää/Scha-fer (Hrsg.), 696.

29 Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge (Vergabeverordnung – VgV) v.12.4.2016, BGBl. I S. 624.

30 Vgl. § 81 VgV, § 23 EU VOB/A.

31 § 9 VgV.

32 Z.B.: deutsche-evergabe.de.

33 Entsprechende Regelungen sieht das Gesetz für ZPO, ArbGG, SGG, VwGO, FGO undFamFG vor.

34 Brosch, Elektronische Akte und elektronischer Rechtsverkehr in Strafsachen, JurPCWeb-Dok 1/2018, Abs. 10.

35 Fachverfahren: Gefa, Dabag, AuRegiS.

36 Risse/Morawietz, Prozessrisikoanalyse: Erfolgsaussichten vor Gericht bestimmen, Risse/Morawietz (Hrsg.) S. 102.

37 Wagner, Legal Tech und Legal Robots – Der Wandel im Rechtsmarkt durch neue Tech-nologien und künstliche Intelligenz, Wagner (Hrsg.) S. 32.

AnwaltsW

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Page 5: Legal Tech – eine Schärfung der Konturen€¦ · a) Produktbezogene Einteilung Die Vornahme einer produktbezogenen Einteilung ist der ers-te und naheliegende Ansatz zur Schaffung

menten geeignet. Sowohl beim Rechtsanwender als auchbeim Verbraucher ist eine Vielzahl an ähnlich gelagerten Ab-läufen notwendig, damit der Einsatz von Legal Tech-basiertenLösungen einen monetären Mehrwert zu herkömmlichenMaßnahmen generiert.

Im Bereich der Dokumentenanalyse und -erstellung solldie Software von Riad vorgestellt werden. Riad ist die Abkür-zung für rechtsinformatische Analyse von Dokumenten. Die-se Analysesoftware erleichtert das Arbeiten im Bereich E-Dis-covery: Für einen ersten thematischen Aufschluss wird eineListe mit den wichtigsten Schlagworten des Dokuments er-stellt. Mit Hilfe von individuell erweiterbaren und gruppierba-ren Annotationen kann man in dem Dokument navigieren.Die Annotationen können zudem mit Wissensquellen ver-knüpft werden – das erübrigt das Nachschlagen der Normenund Heraussuchen der zitierten Quellen. Die Ergebnisse derAnalyse sind in Form strukturierter Daten zur Weiterverarbei-tung exportierbar. Eine systematische Informationserschlie-ßung und strategisches Dokumentenmanagement ermöglichtauch die Software-Anwendung von normfall. Das beschriebe-ne Geschäftsmodell kann auf bestimmte Arten von Doku-menten angepasst werden, die Softwareanwendung rfrnz bie-tet zum Beispiel Vertragsanalysen an.

In dem Bereich der Dokumentenverwaltung ist auch dieSoftwareanwendung von Lawlift angesiedelt. Lawlift bietet ei-nen strukturierten Erstellungsprozess über eine document as-sembly-Lösung an. Der Benutzer wird dabei zunächst durcheinen Fragenkatalog geleitet. Anhand der Antworten erstelltdas System sodann unter Verwendung intelligenter Vorlagen,vorprogrammierter Regeln und aus den Datensätzen ange-bundener Datenbanken maßgeschneiderte Dokumente. ImRahmen der webbasierten Textverarbeitung ist auch die An-wendung von smashdocs zu nennen, welche die zuvor genann-te Anwendung implementiert und damit eine webbasierte An-wendung für die kollaborative Weiterverarbeitung von auto-matisiert erstellten Dokumenten ermöglicht.

Der Mehrwert der algorithmischen Dokumentenanalyseund -erstellung liegt in der Erzielung einer hohen Datenquali-tät und damit einer Verbesserung der Ergebnisse – zudemwerden Zeit und damit Kosten eingespart.

Die professionell organisierte Durchsetzung von Massen-schäden mit Hilfe von Legal Tech-Anwendungen kann als au-tomatisierte Dienstleistung mit wirtschaftlichen und rechtli-chen Bezügen umschrieben werden. Anwendungen aus die-sem Bereich stellen den größten Prozentanteil sogenanntenLegal Tech-Geschäftsmodelle dar. Es bestehen zahlreichePlattform- und App-Anbieter (z.B. rechtsmart, pixsy, claimright)mit diversen Modellen der Prozessfinanzierung. Rechtlichstellt sich die Frage, ob dies neue, marktwirtschaftlich entwi-ckelte Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes38 sind undwie diese in die etablierten und teils gesetzlich verankertenInstrumente einsortiert beziehungsweise zu diesen abge-grenzt werden können. Das soll hier dahingestellt bleiben.

II. Rechtliche Einteilung

An dieser Stelle sollen die rechtspolitischen Gestaltungsauf-gaben in Bezug auf Legal Tech eruiert werden, ohne darauskonkrete Rechtsbegriffe abzuleiten. Zu klären gilt mithin, wel-chen Zielen mögliche Regulierungen dienen können (1). So-dann kann der Regulierungsbedarf für die jeweilige LegalTech-Anwendung oder Produktgruppe beurteilt werden (2).

1. Schutzgüter der Legal Tech-Regulierung

Das Rechtsdienstleistungsgesetz39 dient nach § 1 Abs. 1Satz 2 RDG dem Schutz von Rechtssuchenden (vor Rechtsver-lusten), des Rechtsverkehrs und der Rechtsordnung vor un-qualifizierten Rechtsdienstleistungen (Schutzzwecktrias). ImGegensatz zu seinem Vorläufer, dem Rechtsberatungsge-setz40, dient das Rechtsdienstleistungsgesetz nicht demSchutz der Anwaltschaft vor Konkurrenz.41 Beide Gesetzewurden ursprünglich für die analoge Welt konzipiert, einSchutzbedürfnis vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungenbesteht prinzipiell aber auch für die digitale, automatisierteWelt. Eine andere Frage ist, ob die gegenwärtig existierendenLegal Tech-Anwendungen als erlaubnispflichtige Rechts-dienstleistungen oder als erlaubnisfreie bloße Geschäftsbesor-gungen zu qualifizieren sind.42

Die aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzipabgeleitete Rechtsschutzgarantie gebietet „nicht nur, dassüberhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht. Sie ga-rantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes.“43

Gleiches gilt für den in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten effekti-ven Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt. EffektiverRechtsschutz ist nicht mit Kostenlosigkeit des Rechtszugangsgleichzusetzen.44 Transaktionskosten erschweren aber in allerRegel den Zugang zum Recht. Legal Tech bietet die techni-sche Chance eines kostengünstigen Zugangs zum Recht. Da-durch kann die strukturelle Imparität zwischen Unterneh-mern und Verbrauchern verringert werden, mithin wird dieWaffengleichheit der Streitparteien gestärkt. Der regulatori-sche Rahmen sollte folglich einen Beitrag zur Erfüllung desverfassungsrechtlichen Versprechens eines effektiven Rechts-schutzes leisten. Insofern besteht mit dem Schutz vor unqua-lifizierten Rechtsdienstleistungen durch Legal Tech-Regulie-rungen ein Zielkonflikt und Zielgleichlauf zugleich: EineÜberregulierung von Legal Tech würde einen streitwertunab-hängigen Zugang zum Recht mittels Legal Tech verhindern,eine Unterregulierung womöglich aber auch, da zum einendie Gefahr einer „mangelbehafteten Leistung“ als Resultatfehlender aufsichtlicher Kontrolle besteht, und Legal Techzum anderen ökonomisch lukrativ sein muss und somit eine„Legal Tech Gap“45 in Form einer Ausgrenzung der Armendroht.

Schließlich können die hinter den anwaltlichen Grund-pflichten des § 43a BRAO stehenden Schutzgüter auch durchLegal Tech-Anwendungen tangiert werden. Hervorzuhebenist hier ein wirksamer Datenschutz, welcher dem Schutz derinformationellen Selbstbestimmung natürlicher Personen be-ziehungsweise der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsge-heimnissen der Unternehmen sowie dem Vertrauensverhält-nis zwischen Rechtssuchendem und Legal Tech-Anbieterndient. Im Interesse der Rechtssicherheit und nicht zuletztder Investitionssicherheit potentieller Legal Tech-Anbieterwird schließlich ein beständiger, rechtsklarer normativer Rah-men für Legal Tech priorisiert.

Aufsätze

440 AnwBl Online 2019 Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann

38 Kritisch hierzu Meller-Hanich, Gutachten A zum 72. Deutschen Juristentag, S. 65.

39 Rechtsdienstleistungsgesetz v. 12.12.2007, BGBl. I S. 2840.

40 Rechtsberatungsgesetz v. 13.12.1935, RGBl. I S. 1478.

41 Remmertz, RDG Kommentar, Krenzler (Hrsg.), § 1 Rn. 66.

42 Dazu u.a.: Degen/Krahmer, GRUR-Prax 2016, 363ff.; Weberstaedt, AnwBl 2016, 535ff.;Wettlaufer, MMR 2018, 55ff.

43 BVerfGE 88, 118 (123).

44 Schmidt-Aßmann, GG-Kommentar, Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 19 Rn. 242.

45 Braegelmann, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg.), S. 266.

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2. Klassifizierung von Anwendungen anhand desSchutzbedarfs

Die Schutzgüter potentieller Legal Tech-Regulierungen stel-len auf die Komponente „Legal“ und nicht „Tech“ im Sinnevon Technologie ab. Unter regulatorischen Gesichtspunktenerscheint daher eine Sortierung der Legal Tech-Inselland-schaften dahingehend angezeigt, ob bei der jeweiligen An-wendung die technische oder rechtliche Komponente im Vor-dergrund steht. Allerdings sind die Grenzen fließend. LegalTech ist die einerseits erzwungene und andererseits zwingen-de Allianz von Recht und Technologie. Oder mit den Wortenvon Hariolf Wenzler: „Legal Technology ist der Einsatz digita-ler Technologien zur Bewältigung juristischer Aufgaben.“46

Was steht nun im Vordergrund – Recht oder Technik?Hariolf Wenzler bildet zur Annäherung an die Frage drei

Gruppen, namentlich Office Technology, Legal-IT und LegalTech im eigentlichen Sinne.47

Office Technology umfasst alle Anwendungen im Bereichder allgemeinen Bürotätigkeit, beispielsweise Taschenrechnersowie die nichtanwaltsspezifische Software. Hier überwiegtdie technische gegenüber der rechtlichen Komponente.Durch Office Technology werden die Schutzgüter einer po-tentiellen Legal Tech-Regulierung nicht tangiert, folglich be-steht – unter dem Gesichtspunkt Legal Tech – kein Regulie-rungsbedarf.

Legal-IT wird von Hariolf Wenzler als Oberbegriff für an-waltsspezifische Software vorgeschlagen. Bei Legal-IT über-wiegt die rechtliche gegenüber der technischen Komponente.Sofern die Software dem Anwalt nur zuarbeitet, besteht je-doch auch für diese Fallgruppe kein Regulierungsbedarf: DerAnwalt muss sich mögliche Fehler der Software dann als eige-nes Verschulden zurechnen lassen. Nach § 1 Abs. 3 BORA hatder Anwalt seinen Mandanten de lege lata vor Fehlern des Ge-richts zu bewahren. De lege ferenda könnte eine deklaratori-sche Klarstellung dahingehend vorgenommen werden, dassdies auch für Fehlentscheidungen von Algorithmen gilt. Dassetzt freilich voraus, dass der Anwalt den Weg zum vorge-schlagenen Ergebnis nachvollziehen und sich somit zu eigenmachen kann, mithin darf die Software keine „Black-Box“ dar-stellen.48

Legal Tech im eigentlichen Sinne ist hingegen die Soft-ware, die im Kern juristische Fragestellungen löst und sich di-rekt an den Rechtssuchenden als Nutzer wendet. Der Schutz-bedarf richtet sich hier nach dem Gewicht der rechtlichenKomponente der Software. Möglicher Inhalt von Regulierun-gen könnten ein „Algorithmen-TÜV“, spezifische Daten-schutzvorschriften sowie ein Haftungsregime inklusive Be-rufshaftpflichtversicherung sein. Das soll vorliegend nichtvertieft werden.

III. Smart Contract

1. Begriff und Arten von Smart Contracts

Für das Konzept Smart Contract existiert keine allgemein ak-zeptierte Definition. Der Begriff wird dem Computerwissen-schaftler Nick Szabo49 zugeschrieben. Smart Contracts sindnach Szabo computergestützte Transaktionsprotokolle, dievertragliche Regelungen ausführen.50

Diese weite (technische) Definition umfasst – soweit er-sichtlich – alle engeren (juristischen) Definitionsansätze:Zum Beispiel sehen Joachim Schrey und Thomas Thalhofer ineinem Smart Contract „ein Stück Software, das eine rechtlich

relevante Aktivität kontrolliert und/oder dokumentiert odersogar bewirken kann, die von dem Auftreten oder Unterblei-ben eines tatsächlichen Ereignisses (richtig/falsch) abhängt,welches messbar und somit dokumentierbar ist.“51

Eine Studie der Universität Passau52 differenziert zutref-fend zwischen zwei Unterarten, die beide als Smart Contractbezeichnet werden:

Zum einen können Parteien in der analogen Welt einenVertrag schließen. Der Smart Contract soll sodann lediglichdas schuldrechtlich Vereinbarte automatisch umsetzen. DerCode ist dabei vergleichbar mit der deklaratorischen Schrift-form in der analogen Welt – mit dem Unterschied, dass einbeschriebenes Blatt Papier das darauf Vereinbarte nicht um-zusetzen vermag. Dieses Modell wird unter anderem für zeit-lich befristete vertragliche Nutzungsrechte und Lizenzen an-gewendet: So können Streamingdienste für Musik oder Filmenach Ablauf der Vertragslaufzeit nicht länger genutzt werden– ohne dass eine Rückgabe des Nutzungsrechts erforderlichist.

Zum anderen können die Parteien den Programmcode alsVertragssprache zur Kundgabe ihres Willens nutzen. Als Aus-fluss ihrer Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) wählen die Par-teien mithin die Programmiersprache als Vertragssprache.Dem Code kommt hierbei konstitutive Wirkung zu, vergleich-bar mit der konstitutiven Schriftform bei analogen Verträgen.Der Wille wird eben in der Software, nicht auf dem Papier,perpetuiert. Die Software kann sodann Willenserklärungenübermitteln und empfangen. Dem Anschein nach wird hiersomit kein bestehender Vertrag in die Computersprache über-setzt; vielmehr wird der Smart Contract durch den Computer-code erst herbeigeführt. Dimitrios Linardatos weist daher aufden irreführenden Begriff Smart Contract hin.53 Zu denkenist hier zum Beispiel an den (künftigen) Peer-to-Peer-Energie-handel, bei dem der Energieliefervertrag (nach vorgegebenenParametern) durch die Software geschlossen wird. Dabei le-gen Verkäufer und Käufer die essentialia negotii vorab fest,das heißt unter welchen Bedingungen sie Energie verkaufenbeziehungsweise beziehen wollen.

Doch kommt der (erste) Smart Contract bei letzterem Mo-dell tatsächlich erst in Form des konkreten „Matchings“, alsodes Energieliefervertrages, zustande? Da Algorithmen de legelata keine Rechtsfähigkeit besitzen, muss jede Willenserklä-rung einer natürlichen Person zugerechnet werden, die ihrer-seits wiederum eine andere natürliche oder juristische Personvertreten kann. Smart Contracts sind also digitale Abbildun-gen menschlicher Rechtsbeziehungen54 – nicht algorithmi-scher Rechtsbeziehungen. Am Anfang steht daher immerein gewöhnlicher Vertrag zwischen Softwareanbieter und

Aufsätze

Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann AnwBl Online 2019 441

46 Wenzler, Legal Tech, Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), S. 78.

47 Wenzler, Legal Tech, Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), S. 78.

48 Dahingehend auch Kilian, NJW 2017, 3043 (3050).

49 Nick Szabo, Formalizing and Securing Relationships on Public Networks, Peer-ReviewedJournal on the Internet, Vol. 2 No. 9 – 1 September 1997.

50 Mielke/Wolff, Datenschutz /Legal Tech, Schweighofer/Kummer/Saarenpää/Schafer(Hrsg.), S. 140 f.

51 Schrey/Thalhofer, NJW 2017, 1431 (1432).

52 Blockchain und Smart Contracts – Recht und Technik im Überblick, vbw Studie, erstelltvom LS für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht, Universität Passau,S. 15.

53 Linardatos, K&R 2018, 85 (88).

54 So auch Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg.), S. 71.

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Nutzer. Dies kann ein Rahmenvertrag sein. Der Vertrag wirdeine juristische Sekunde später in eine Programmierspracheübersetzt. In diesem Moment entsteht ein Smart Contract,der das vertraglich Vereinbarte automatisch umsetzt. Gegen-stand der Vertragsausführung kann auch die Abgabe einerWillenserklärung sein, wenn dies vertraglich geschuldetwird. Dann kommt durch den Smart Contract ein weiterer ei-genständiger Vertrag (womöglich in Form eines weiterenSmart Contracts) zustande. Den ursprünglichen Smart Con-tract kann man hier als Rahmenvertrag zwischen Softwarean-bieter und Nutzer ansehen. Er kann zum Beispiel ein War-tungsvertrag sein, der automatisch die Willenserklärung fürdas Zustandekommen eines Kaufvertrages über Ersatzteileabgibt. Der Kaufvertrag über die Ersatzteile ist sodann seiner-seits ein normaler Vertrag oder ein Smart Contract, je nach-dem, ob er automatisch vollzogen wird. Die Zurechnung vonWillenserklärungen wird hier – gegenüber der analogen Weltder Vertreter und Boten – freilich zunehmend komplexer.55

2. Intention von Smart Contracts

Die automatische Vertragsausführung kann einem ökonomi-schen und juristischen Ziel dienen.

Oftmals wird primär die ökonomische Senkung vonTransaktionskosten durch die Substitution einer menschli-chen Servicekraft intendiert.

Unter juristischen Aspekten sollen Smart Contracts dasVertrauen der Parteien in die Vertragserfüllung stärken. DieDifferenzierung zwischen schuldrechtlichem und dinglichemGeschäft wird faktisch hinfällig, wenn Smart Contracts dieDurchführung des dinglichen Geschäfts erzwingen. Kennt-nisse über die Leistungsfähigkeit und -willigkeit des Vertrags-partners sind überflüssig, wenn die tatsächliche Vertragsaus-führung von der Software garantiert wird. Während die Ver-tragserfüllung bei einem klassischen Vertrag erst ex post fest-steht, ist sie bei einem Smart Contract ex ante gewährleistet.56

3. Anwendungsfälle und Verhältnis zum Legal Tech-Begriff

Smart Contracts mit dem primären Ziel der Senkung vonTransaktionskosten weisen keinen spezifischen Bezug zu Tä-tigkeiten von Juristen auf. Zu denken ist hier an die seit Deka-den etablierten Bank- oder Kaffeeautomaten. Zukünftig wer-den automatische Vertragsanpassungen an Bedeutung gewin-nen, etwa im Versicherungswesen: Beim sogenannten Pay-as-you-drive-Prinzip ist der Algorithmus so programmiert, dasser die Änderung der Versicherungsprämie automatischdurchführt, wenn er das Vorliegen der Voraussetzungen dafürfestgestellt hat.57 Die Technik des Fahrzeugs ermöglicht dabeizunächst eine Analyse des Fahrverhaltens; dies stellt eine blo-ße technische Dienstleistung des Fahrzeugherstellers dar, sieist kein Bestandteil des Smart Contracts zwischen Versichererund Versicherungsnehmer. Zur Wahrung des Äquivalenzver-hältnisses ändert sich der Vertrag im Falle des Eintritts be-stimmter Bedingungen automatisch in Form einer Anpas-sung der geschuldeten Versicherungsprämie an das neue Ri-siko. Der Smart Contract gleicht nun lediglich die Rechnungs-beträge der Rechtslage mittels einer deklaratorischen Erklä-rung automatisch an, ergo werden bei diesem Arbeitsschrittder Mensch substituiert und Transaktionskosten gesenkt.Aus allen Geschäftsmodellen, die einen Smart Contract zurReduzierung von Transaktionskosten umfassen, können frei-lich rechtliche Fragestellungen resultieren – diese resultierenallerdings nicht aus der Ausgestaltung als Smart Contract,sondern sind vielmehr dem jeweiligen Geschäftsmodell als

solchem immanent. So müssen bei der Ausübung von Gestal-tungsrechten oftmals Formvorschriften beachtet werden, dasgilt gleichermaßen für die Ausübung durch einen Menschenwie durch den Algorithmus. Smart Contracts, die die Sen-kung von Transaktionskosten intendieren, weisen somit kei-nen spezifischen Bezug zur Tätigkeit von Juristen auf undstellen folglich gegenüber Legal Tech ein Aliud dar.

Smart Contracts, die der Stärkung des Vertrauens in dieVertragserfüllung dienen, berühren das Tätigkeitsfeld vonKautelarjuristen, gemeinsamer Nenner ist dabei die Störfall-vorsorge und Störfallvermeidung. Wichtigster Anwendungs-fall sind synallagmatische Verträge, bei denen keine Partei inVorleistung treten möchte. Ein Smart Contract in Form einesTreuhandvertrages (Escrow Contact) kann als kostengünstigerMittelsmann zwischen die Vertragsparteien treten.58 Doch istdies kein neues Phänomen der digitalen Welt. Vielmehr wirdan dieser Stelle lediglich die Ratio bewährter Rechtsinstru-mente aufgegriffen, zu denken ist an die bedingte Siche-rungsübereignung, den Eigentumsvorbehalt, (Grund)pfand-rechte, die Vormerkung, oder den Notar als Treuhänder. DerUnterschied ist insoweit allein begrifflicher Natur – mithinwurden diese Instrumente bisher nicht als Smart Contractsdeklariert. Je nach Ausgestaltung des Rechtsrahmens de legeferenda, treten folglich neue vertrauensstärkende Rechtsinsti-tute zu den bestehenden hinzu oder ersetzen einen Teil vondiesen. Sollte zum Beispiel das Grundbuch de lege ferendain Form einer Blockchain geführt werden, wäre die Vormer-kung in ihrer bestehenden Ausgestaltung überholt: Die relati-ve Unwirksamkeit von Zwischenverfügungen müsste in denCode implementiert werden. An dieser Stelle wird die Tätig-keit von Kautelarjuristen tangiert, mithin hat der Anwalt beider Auswahl des sichersten Weges zukünftig auch SmartContract-Modelle zu berücksichtigen. Wird der Kautelarjuristnun von einer Legal Tech-Anwendung unterstützt oder sub-stituiert, so hat die Legal Tech-Anwendung die existierendenMöglichkeiten von Smart Contracts bei ihrer Entscheidungs-findung zu berücksichtigen. Das ist die (kleine) Schnittstellevon Legal Tech und Smart Contracts.

IV. Begriff Blockchain

Als Blockchain wird ein dezentral geführtes, transparentesTransaktionsregister bezeichnet, in dem das gesamte Netz-werk über Transaktionen von Gütern kollektiv Buch führt.59

Die Datenbanktechnologie verknüpft die Vertragsparteien da-bei direkt miteinander. Es entfällt die zentrale Stelle für Verifi-zierungen von Informationen.

Aufsätze

442 AnwBl Online 2019 Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann

55 Lösungsansätze zusammengefasst: Blockchain und Smart Contracts – Recht und Tech-nik im Überblick, vbw Studie, erstellt vom LS für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht undInternetrecht, Universität Passau, S. 25.

56 Ähnlich Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg.), S. 115.

57 Blockchain und Smart Contracts – Recht und Technik im Überblick, vbw Studie, erstelltvom LS für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht, Universität Passau,S. 41.

58 Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg.), S. 72.

59 Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, Breidenbach/Glatz (Hrsg.), S. 5.

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Die Technik kann zum einen Intermediäre wie Paypalund Western Union ersetzen und somit Transaktionskostensenken. Sofern künftig Juristen als Intermediäre ersetzt wer-den, weist sie eine Schnittmenge zum Legal Tech auf. Zu den-ken ist hier an Notare und das Grundbuchamt.60

Ein wesentliches technisches Merkmal der Blockchain istdie Fälschungssicherheit ihrer Dokumentation.61 Daraus folgteine juristische Beweisfunktion und Rechtssicherheit fürSmart Contracts, die Kautelarjuristen im Rahmen ihrer Bera-tung künftig zu berücksichtigen haben. Die Blockchain er-gänzt als digitales Werkzeug somit die analogen Formmög-lichkeiten. Die Technik stellt somit ein Annex zum SmartContract dar. Für ihre Schnittmenge mit Legal Tech geltenim Übrigen die Ausführungen zu Smart Contracts.

V. Zusammenfassung und Fazit

Der Legal Tech-Begriff wird für eine Vielzahl technischer An-wendungen mit divergierendem juristischem Bezug ge-braucht. In Bezug auf Anwendungsbereiche erscheinen Ein-teilungen nach dem Adressatenkreis (öffentliche oder privateHand, Juristen oder Verbraucher) sowie in funktionaler Hin-sicht vorzugswürdig. In rechtlicher Hinsicht sind Legal Tech-Anwendungen im engeren Sinne im Hinblick auf ihren Be-zug zu den Schutzzielen des Rechtsdienstleistungsgesetzeseinzugrenzen. Anwendungen im Vorfeld der juristischen Tä-tigkeiten werden vom vorherrschenden inflationären LegalTech-Begriffsverständnis umfasst: Etwas „Disruptives“ konn-te bei diesen digitalen, automatisierten Dienstleistungennicht ausgemacht werden. Smart Contracts stellen gegenüberLegal Tech ein Aliud dar. Eine Schnittmenge besteht lediglichbei der Unterstützung beziehungsweise Substitution vonKautelarjuristen. Ähnliches gilt für die Blockchain: Ihre Nut-zung als Beweismittel ist bei Vertragsgestaltungen zu beden-ken. Legal Tech ist folglich eine Entwicklung, die Anpassun-gen erfordert, aber nicht den Untergang der Anwaltschaft ein-läutet.

Aufsätze

Legal Tech – eine Schärfung der Konturen, Podmogilni j/Timmermann AnwBl Online 2019 443

Valeria Podmogilnij, BerlinDie Autorin arbeitet in der 2018 eingerichteten For-schungsstelle Legal Tech des Instituts für Energie- undWettbewerbsrechts in der kommunalen Wirtschaft(EWeRK) an der Humboldt-Universität zu Berlin; www.forschungsstelle-legal-tech.de.

Leserreaktionen an [email protected].

Daniel Timmermann, BerlinDer Autor arbeitet in der 2018 eingerichteten For-schungsstelle Legal Tech des Instituts für Energie- undWettbewerbsrechts in der kommunalen Wirtschaft(EWeRK) an der Humboldt-Universität zu Berlin; www.forschungsstelle-legal-tech.de.

Leserreaktionen an [email protected].

60 Barth, Legal Tech, Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), S. 49.

61 Halbleib, Legal Tech, Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), S. 274.

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