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arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_36|2010 IV arbeitsmarkt J edes Jahr erneut pubertierenden Teenagern erklären, wie Bruchrech- nung funktioniert? Hysterische Eltern über die schlechten Französisch-Kennt- nisse ihrer Blagen informieren? Desin- teresse, Kreideschlachten und kollektive Hausaufgabenverweigerung aushalten? Immer während der Schulferien in den Urlaub fahren? Den Rest des Lebens in diesem deutschen Schulsystem verbrin- gen? – Auch wenn sie noch keine klare Vorstellung von ihrer beruflichen Zukunft haben, eins wissen viele Abiturienten ganz sicher: Lehrer werden wollen sie bestimmt nicht. So auch Andrea Steiner. Weil sie sich bei einem Schüleraustausch nach Argentinien in Land und Leute verliebt hatte, entschied sie sich für ein Latein- amerikanistik-Studium in Berlin. Nach dem Abschluss fand sie nicht direkt eine feste Stelle und jobbte zunächst als Rei- seleiterin in Lateinamerika. Dabei stellte sich für sie schnell heraus: Sie steht ger- ne vor großen Gruppen und hat ein Talent dafür, anderen etwas beizubringen. We- gen der schlechten Arbeitsbedingungen in der freien Wirtschaft sah sie hier aber keine langfristige berufliche Perspektive: Als sie schon zwei Jahre nach dem Stu- dium von den wiederkehrenden Phasen der Arbeitslosigkeit, den unregelmäßigen Arbeitszeiten, der schlechten Bezahlung und den unsicheren Zukunftsperspekti- ven als Freiberuflerin genug hatte, über- dachte sie schließlich ihre „Anti-Pauker- Entscheidung“ – und beschloss, „von der Seite“ in den Lehrerberuf einzusteigen. Jetzt geht Steiner erst mal wieder zur Uni und holt Seminare und Prüfungen nach, um demnächst an Gymnasien Geschichte und Spanisch unterrichten zu dürfen. Die 27-Jährige freut sich auf den Job und hofft, dass sie ihre Schüler für die spanische und lateinamerikanische Kultur begeistern kann. Deshalb hat sie für die nächsten Semesterferien schon eine Reise durch Mittelamerika geplant: Da möchte sie Kontakte mit Schulen knüpfen, die an Austauschprogrammen mit deutschen Schulen interessiert sind. Lehrermangel Wer Talent fürs Unterrichten und ein Händchen für die Arbeit mit Jugendlichen hat, für den bietet der Lehrerberuf trotz vieler Vorurteile durchaus attraktive Pers- pektiven. Dabei ist es nicht immer nötig, wie Steiner das erste Staatsexamen nach- zuholen. Viele gehen nach ersten Berufs- erfahrungen auch ohne Umweg über die Uni an die Schule – um in den Vorberei- tungsdienst oder direkt in den Lehrerbe- ruf einzusteigern. Die Chancen für einen Seiten- oder Quereinstieg in den Lehrer- beruf stehen derzeit gar nicht schlecht – denn obwohl mehr als jeder zehnte Stu- dent ein Lehramt anstrebt, suchen die Schulen händeringend nach Lehrern. Schon jetzt werden in manchen Fächern zwanzig Prozent des Unterrichts von fachfremden Lehrern und Quereinstei- gern ohne Pädagogikstudium bestritten, und der Mangel wird sich Schätzungen zufolge in Zukunft noch verschärfen: Die Hälfte der rund 800.000 Lehrer in Deutschland ist älter als 50 Jahre, in den kommenden fünf Jahren gehen rund 200.000 von ihnen in den Ruhestand; so viele Absolventen werden nicht von den Unis kommen. Zudem wird sich laut Han- delsblatt der Bedarf durch den Aufbau von Ganztagsschulen voraussichtlich weiter erhöhen. Der Lehrerberuf bietet ein sicheres Gehalt und gute Chancen zur beruflichen Selbstverwirklichung. Wer das erst spät erkennt, kann immer noch „von der Seite“ ein- steigen. | Janna Lena Degener © Quelle Studienkreis Seiteneinstieg in den Lehrerberuf SCHULDIENST

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Jedes Jahr erneut pubertierenden Teenagern erklären, wie Bruchrech-nung funktioniert? Hysterische Eltern

über die schlechten Französisch-Kennt-nisse ihrer Blagen informieren? Desin-teresse, Kreideschlachten und kollektive Hausaufgabenverweigerung aushalten? Immer während der Schulferien in den Urlaub fahren? Den Rest des Lebens in diesem deutschen Schulsystem verbrin-gen? – Auch wenn sie noch keine klare Vorstellung von ihrer beruflichen Zukunft haben, eins wissen viele Abiturienten ganz sicher: Lehrer werden wollen sie bestimmt nicht.

So auch Andrea Steiner. Weil sie sich bei einem Schüleraustausch nach

Argentinien in Land und Leute verliebt hatte, entschied sie sich für ein Latein-amerikanistik-Studium in Berlin. Nach dem Abschluss fand sie nicht direkt eine feste Stelle und jobbte zunächst als Rei-seleiterin in Lateinamerika. Dabei stellte sich für sie schnell heraus: Sie steht ger-ne vor großen Gruppen und hat ein Talent dafür, anderen etwas beizubringen. We-gen der schlechten Arbeitsbedingungen in der freien Wirtschaft sah sie hier aber keine langfristige berufliche Perspektive: Als sie schon zwei Jahre nach dem Stu-dium von den wiederkehrenden Phasen der Arbeitslosigkeit, den unregelmäßigen Arbeitszeiten, der schlechten Bezahlung und den unsicheren Zukunftsperspekti-

ven als Freiberuflerin genug hatte, über-dachte sie schließlich ihre „Anti-Pauker-Entscheidung“ – und beschloss, „von der Seite“ in den Lehrerberuf einzusteigen. Jetzt geht Steiner erst mal wieder zur Uni und holt Seminare und Prüfungen nach, um demnächst an Gymnasien Geschichte und Spanisch unterrichten zu dürfen. Die 27-Jährige freut sich auf den Job und hofft, dass sie ihre Schüler für die spanische und lateinamerikanische Kultur begeistern kann. Deshalb hat sie für die nächsten Semesterferien schon eine Reise durch Mittelamerika geplant: Da möchte sie Kontakte mit Schulen knüpfen, die an Austauschprogrammen mit deutschen Schulen interessiert sind.

Lehrermangel

Wer Talent fürs Unterrichten und ein Händchen für die Arbeit mit Jugendlichen hat, für den bietet der Lehrerberuf trotz vieler Vorurteile durchaus attraktive Pers-pektiven. Dabei ist es nicht immer nötig, wie Steiner das erste Staatsexamen nach-zuholen. Viele gehen nach ersten Berufs-erfahrungen auch ohne Umweg über die Uni an die Schule – um in den Vorberei-tungsdienst oder direkt in den Lehrerbe-ruf einzusteigern. Die Chancen für einen Seiten- oder Quereinstieg in den Lehrer-beruf stehen derzeit gar nicht schlecht – denn obwohl mehr als jeder zehnte Stu-dent ein Lehramt anstrebt, suchen die Schulen händeringend nach Lehrern. Schon jetzt werden in manchen Fächern zwanzig Prozent des Unterrichts von fachfremden Lehrern und Quereinstei-gern ohne Pädagogikstudium bestritten, und der Mangel wird sich Schätzungen zufolge in Zukunft noch verschärfen: Die Hälfte der rund 800.000 Lehrer in Deutschland ist älter als 50 Jahre, in den kommenden fünf Jahren gehen rund 200.000 von ihnen in den Ruhestand; so viele Absolventen werden nicht von den Unis kommen. Zudem wird sich laut Han-delsblatt der Bedarf durch den Aufbau von Ganztagsschulen voraussichtlich weiter erhöhen.

Der Lehrerberuf bietet ein sicheres Gehalt und gute Chancen zur beruflichen Selbstverwirklichung. Wer das erst spät erkennt, kann immer noch „von der Seite“ ein-steigen. | Janna Lena Degener

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Obwohl die so genannten MINT-Fä-cher (Mathematik, Informatik, Naturwis-senschaften und Technik) als klassische Mangelfächer gelten, haben auch Geis-tes- und Sozialwissenschaftler in einigen Bundesländern gute Chancen auf einen Quereinstieg in den Lehrerberuf: Allein für den Einsatz an allgemeinbildenden Gymnasien werden auf der Webseite der Bundesagentur für Arbeit von Bundeslän-dern gezielt Quereinsteiger für die Fächer Chinesisch, Französisch, Japanisch, Kunst, Latein, Musik, Religion und Spanisch ge-sucht. Besonders gut stehen die Chancen für berufliche Fächer im Sekundarbereich II und an beruflichen Schulen. Neben In-genieuren werden hier Experten für Wirt-schaft, Verwaltung und Recht gesucht. In diesen Mangelfächern reicht häufig nach einem Fachstudium eine zusätzliche pädagogische Ausbildung während des Vorbereitungsdienstes, um in den Schul-dienst übernommen zu werden. Und wer sogar bereit ist, fehlende Fach- oder Pä-dagogikscheine für das Lehramtsstudium und das Staatsexamen nachzuholen, hat auch mit anderen Fächern gute Chancen. (www.abi.de/arbeitsmarkt, www.karriere-mit-zukunft.de).

Auf Umwegen zum Glück

Dass das Lehrerdasein neben einem ge-regelten Arbeitsalltag und einem sicheren

Gehalt auch durchaus attraktive Möglich-keiten der beruflichen Selbstverwirkli-chung bietet, zeigen die Biografien von Georg Pelzer und Jürgen Weisser, die ihr Glück im Lehrerberuf auch erst auf Um-wegen entdeckten:

Die katholische Religion und das Ge-meindeleben hatten schon immer eine wichtige Rolle in Pelzers Leben gespielt. Erst nach einer abgeschlossenen Aus-bildung zum Elektriker entschied er sich aber, auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen und Theologie zu studieren, um in der Gemeinde- oder Jugendarbeit tätig zu werden. Als er dann als Diplom-Theologe nach dem Studium keine Stelle fand, begann er als Religionslehrer an verschiedenen Be-rufsfachschulen zu arbeiten. Inzwischen doziert er parallel dazu als Referent eines Erwachsenenbildungswerks über theo-logische Themen, verfasst Bücher über die Berufschancen für Theologinnen und Theologen (vgl. Heft 32/10 „Beruf(ung) Religion“) und betreibt nebenher ein Carsharing-Unternehmen. Mit dieser Kombination hat Pelzer eine Möglichkeit gefunden, verschiedene Interessen und attraktive Arbeitsbedingungen unter ei-nen Hut zu bringen.

Auch Jürgen Weissers berufliche Biografie macht Mut für einen zweiten Anfang: Der Musiker hatte zwar das erste Staatsexamen in Musik bereits

in der Tasche, arbeitete dann aber erst einmal fünfzehn Jahre lang an Theatern als Opern- und Orchesterdirigent. Um die Kinderbetreuung mit seiner Frau besser organisieren zu können, entschied er sich erst dann, das Referendariat nachzuholen und als Musiklehrer zu arbeiten. Weil ein Gymnasium ihn unbedingt einstellen wollte, konnte er im Vorstellungsgespräch jede Menge Forderungen stellen: 15.000 Euro hat die Schule für neue Instrumente investiert, außerdem hat jeder Musiksaal einen Beamer bekommen und durch die Eingliederung in den Stundenplan wurden die Chorproben attraktiver für in-teressierte Schüler. Heute singen in den Chören 400 Stimmen mit, Weisser leitet sie und ein Symphonieorchester neben dem regulären Musikunterricht. Außer-halb der Schule kann er sogar weiterhin als Dirigent arbeiten. Seine Arbeitsbedin-gungen bezeichnet er als „blendend“.

Einstellungsverfahren

Während die Lateinamerikanistin Andrea Steiner an der Uni fachliche und pädago-gische Seminare belegen muss, bevor sie als Spanisch- und Geschichtslehrerin an die Schule darf, arbeitete der Theologe Georg Pelzer zunächst ein Jahr lang ohne zusätzliche Ausbildung als Religionslehrer an beruflichen Schulen, bevor er ein zweijähriges religionspädagogisches Se-

Jürgen Weisser bei einer Chorprobe mit seinen Schülern © Jürgen Weisser

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und Arbeitsbedingungen in Erwägung zu ziehen.

Hier noch weitere Tipps für alle, die einen Quer- oder Seiteneinstieg in den Lehrerberuf in Erwägung ziehen: Die offenbar überschaubaren Arbeits-zeiten allein sind kein Grund für einen Quer- oder Seiteneinstieg in den Leh-rerjob.„Lehrer haben vormittags recht und nach-mittags frei“, lautet ein gängiges Klischee des Lehrerberufs. Wer seine Entschei-dung für den Lehrerberuf vor allem mit den überschaubaren Arbeitszeiten be-gründet, ist laut dem geschäftsführenden Leiter des Zentrums für Lehrerbildung an der Universität Bielefeld aber „nicht in der Wirklichkeit von Schule heute angekom-men“. Nicht nur Berufsanfänger brauchen viel Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Dazu kommen Konferenzen, Elternge-spräche, Korrekturen, Ausflüge, Notenver-gaben und Ähnliches. „Ein großer Teil der Arbeit hat nur noch indirekt mit Unterricht zu tun und erfordert häufig Präsenz in der Schule auch außerhalb der Unterrichts-

zeiten“, so Möhle. Schulprogramment-wicklung, Evaluation und Qualitätsanalyse seien Stichwörter für die geänderten Anforderungen an die Arbeit und die Ar-beitszeitverteilung von Lehrern.

Wer kein Händchen für Schüler hat oder ungern unterrichtet, wird als Leh-rer unglücklich. „Als Lehrer muss man mit Jugendlichen umgehen können und authentisch sein – denn Autorität lässt sich nicht vortäu-schen“, meint Jürgen Weisser. Außerdem müsse man sich natürlich zutrauen, vor dreißig Leuten zu stehen. Für ihn als Diri-genten sei das selbstverständlich, anders als beispielsweise für einen Klavierlehrer, der sich am liebsten in sein Kämmerchen vergrabe. Wer unsicher ist, sollte in Prak-tika oder als Vertretungslehrer testen, ob der Job zu ihm passt. Schätzen Sie die Erfahrungen Ihrer Kollegen und Vorgesetzten und su-chen Sie sich gerade in der ersten Zeit die Hilfen, die sie brauchen! Arroganz oder Neid kann zu Konflikten zwischen „alten Hasen“ und neuen Quer- oder Seiteneinsteigern führen. Wer sich eine gute Beziehung zu seinen Kol-legen wünscht und eventuell auch von deren didaktischen und methodischen Erfahrung profitieren möchte, sollte diese zunächst einmal wertschätzen. Andrea Steiner nutzte beispielsweise ihre Schulpraktika, um bei Hospitationen ver-schiedene Lehrstile kennenzulernen und konkrete Rückmeldungen bei ihren Lehr-versuchen zu bekommen. Und Georg Pelzer, der als Diplom-Theologe zunächst großen Respekt vor den methodischen und didaktischen Anforderungen eines Berufsschullehrers hatte, war dankbar, dass er in der ersten Zeit vom Bamberger Bistum einen Seminarleiter für berufliche Schulen zur Seite gestellt bekommen hat, mit dem er sich austauschen konnte und der ihm auch regelmäßig ein Feedback gab. Eine weitere Möglichkeit für Neu-linge im Lehrerberuf bietet natürlich die Teilnahme an Fort- und Weiterbildungen. Jürgen Weisser beispielsweise besuchte Fortbildungen über den Aufbau von Mo-dellklassen mit einem Schwerpunkt auf Gesang, den er jetzt an seiner Schule mit großer Begeisterung umsetzt. Improvisieren Sie! Anders als ihre Lehrer-Kollegen, die von

minar als „eine Art abgespecktes“ Refe-rendariat des Erzbistums Bamberg absol-vierte. Jürgen Weisser konnte in Rhein-land-Pfalz viele Jahre nach dem ersten Staatsexamen ohne Referendariat in den Schuldienst einsteigen, während er in Baden-Württemberg zurück an die Uni geschickt worden wäre. Wie diese Beispiele zeigen, hängen die Voraussetzungen und Verfahren für die Einstellung als Seiten- oder Quereinstei-ger nicht nur vom Fach ab, sondern sie sind auch in jedem Bundesland anders geregelt. Auch Berufserfahrungen und der gewünschte Schultyp können aus-schlaggebend dafür sein, ob Bewerber zunächst bestimmte Qualifikationen an der Uni oder im Referendariat nachholen müssen und ob sie als angestellter Lehrer auch die Möglichkeit einer Verbeamtung bekommen können. Nicht selten ist ein Direkteinstieg möglich, während eine Verbeamtung jedoch an entsprechende Fort- und Weiterbildungen geknüpft ist. Wer einen Quer- oder Seiteneinstieg plant, sollte sich also genau über die Ein-

stellungsbedingungen informieren und ruhig auch einmal über den Tellerrand des eigenen Bundeslandes hinausschau-en, um gegebenenfalls das Pendeln oder einen Umzug für bessere Einstellungs-

Wer ein Händchen fürs Unterrichten hat, ... Quelle Studienkreis

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wie Kunst, Musik und Sport häufig einen Mangel. Hier gibt es zwar meist genü-gend Studieninteressenten, viele beste-hen aber die Aufnahmeprüfungen nicht, die sich nicht am Bedarf der Schulen, sondern an den Niveaus der Kunst-, Mu-sik- und Sporthochschulen bzw. der ent-sprechenden Fachbereiche an den leh-rerausbildenden Universitäten orientie-ren. Die Bedarfe sind für die verschiede-nen Schulformen, aber auch regional sehr unterschiedlich.

Wovon hängt in Nordrhein-Westfalen ab, ob Seiten- oder Quereinsteiger noch einmal an die Uni müssen?Das entscheidet das Schulministerium als Arbeitgeber. Wer ein einschlägiges min-destens achtsemestriges Studium absol-viert hat und ein Mangelfach unterrichten möchte, kann sich direkt in den Schul-dienst bewerben. Wenn das Fach aner-kannt wird, muss er einen berufsbeglei-tenden Vorbereitungsdienst und das zweite Staatsexamen absolvieren und wird dann in den Schuldienst übernom-men. Wer andere Fächer mit Bezug zu ei-nem Unterrichtsfach, beispielsweise Ger-manistik und Anglistik, studiert hat, kann bei der zuständigen Bezirksregierung ei-nen Antrag auf Anerkennung dieses Studi-ums als Teil einer ersten Staatsprüfung stellen. Das wird meist mit der Auflage anerkannt, bestimmte didaktische und unterrichtspraktische Anteile und eventu-ell ein zweites Fach und Erziehungswis-

senschaften oder auch nur Fachdidaktik und Teile der Erziehungswissenschaften nachzuholen. Diese Leute kommen dann als Seiteneinsteiger zu uns an die Uni.

Welche persönlichen Qualifikationen sollte man mitbringen, wenn man den späten Einstieg in den Lehrerberuf in Erwägung zieht?Das ist eine schwierige Frage, weil per-sönliche Kompetenzen gar nicht durch gesetzliche Vorgaben für die beiden Staatsprüfungen erfasst werden. Hier muss individuelle Beratung ansetzen. Wir führen in Bielefeld seit Jahren ein so ge-nanntes EignungsFeedback durch, bei dem wir in Zusammenarbeit mit der In-ternetplattform Career Counselling for Teachers (CCT) eine ganze Reihe von psychologisch erprobten Testverfahren einsetzen. Interessenten, die Lehrerinnen oder Lehrer werden wollen, haben nicht selten unrealistische Vorstellungen von dem Beruf. Oft herrscht die Vorstellung vor, es handle sich um eine Art Halbtags-job mit viel Ferien, der berufliche Sicher-heit und einen Beamtenstatus verleiht, ein gutes Auskommen sichert, sich gut mit familiären Planungen vereinbaren lässt und so weiter. Wir versuchen die In-teressenten von Anfang mit den Anforde-rungen des Berufs vertraut zu machen. Das sind Persönlichkeitsanforderungen wie Belastbarkeit, die Bereitschaft mit anderen zusammenzuarbeiten und vor allem Offenheit für die Lebenswelten von Jugendlichen und Kindern.

Wie werden die Studierenden an Ihrer Universität auf den Lehrerberuf vorbe-reitet? Wir gehen davon aus, dass keiner für den Beruf geboren wird, sondern dass man sich notwendige Kompetenzen - auch Sozialkompetenzen – aneignen kann, wenn man sich über die Anforderungen und die eigenen Qualifikationen im Kla-ren ist. Deshalb führen wir von Beginn des Studiums bis hin zum Übergang in den Vorbereitungsdienst Stärkenanaly-sen durch. Dabei sehen die Studenten,

der Uni direkt wieder in die Schule zu-rückgehen, sind die meisten Quer- oder Seiteneinsteiger mit den ungeschrie-benen Gesetzen und Rollenfestschrei-bungen im System Schule nicht mehr vertraut. Wer bereits erste Berufserfah-rungen außerhalb der Schule gesammelt hat oder womöglich viele Jahre in der freien Wirtschaft tätig war, muss sich zwar im Schulsystem erst wieder einfinden. Dafür bringt er aber „frischen Wind“ in den Schulalltag und kann seinen Unter-richt besonders praxisnah gestalten. Und auch das nötige Selbstbewusstsein und Improvisationstalent sollte man „drau-ßen“ erworben haben.

Interview mit Volker Möhle, Leiter des Zentrums für Lehrerbildung an der Universität Bielefeld

arbeitsmarkt: Für welche Fächer be-steht derzeit Bedarf an Seiten- oder Quereinsteigern?Volker Möhle: Aktuelle Zahlen von Seiten des Schulministeriums NRW liegen uns derzeit nicht vor, unabhängig von der ak-tuellen Situation lassen sich aber be-stimmte Trends festmachen. So gibt es fast durchgängig einen Mangel in den MINT-Fächern. In einigen anderen – auch sozial- und geisteswissenschaftlichen – Fächern gibt es immer wieder einen peri-odischen Mangel, beispielsweise in La-tein und den Sozialwissenschaften. Und schließlich gibt es in Neigungsfächern

... wird viel Aufmerksamkeit erfahren. Quelle Studienkreis

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in welchen Bereichen sie den Anforde-rungen des Lehrerberufs gewachsen sind und in welchen Gebieten sie noch an sich arbeiten müssen. Wir führen dann verschiedene Verfahren durch: In Diskussionen von Studierenden unterei-nander mit wechselseitiger Beobachtung werden beispielsweise Klassenreisen geplant, Elternberatungen durchgeführt, Bewertungen geübt und so weiter. Ne-ben dem theoretischen Rüstzeug wer-den auch beispielsweise Peerberatun-gen, Einzelberatungen und Portfolios zur

Dokumentation der eigenen Entwicklung eingesetzt.

Wie hat sich an Ihrer Universität die Situation für Seiteneinsteiger verbes-sert, seitdem die Lehrerbildung im Bachelor-Master-System organisiert ist?Unsere Studierenden müssen sich nicht zu Studienbeginn für oder gegen den Lehrerberuf entscheiden. Sie können zu-nächst ihre Lieblingsfächer studieren und sich die Option des Lehrerberufs offen-halten, müssen sich dann aber im Laufe des Studiums nach und nach immer mehr festlegen. Bei der Entscheidung für oder gegen den Lehrerberuf, bei der Su-che nach Alternativen, bei der Wahl der Schulform und Änlichem stehen wir den Studenten zur Seite. Um den Wechsel in andere Studiengänge zu ermöglichen, wird das Studium der für die meisten Lehramtsabschlüsse obligatorischen zwei Unterrichtsfächer und der Erziehungswis-senschaften auf Bachelor und Master aufgeteilt. Man kann also beispielsweise beide Unterrichtsfächer im Bachelor und Erziehungswissenschaften im Master stu-dieren oder ein Fach und Erziehungswis-senschaften im Bachelor und das andere

Fach im Master. Das ist optimal für Quer- oder Seiteneinsteiger, die in unser Ba-chelor-Mastersystem integriert werden. Wurde - wie meistens - ein Fach aner-kannt, wird bei uns im Bachelor das zwei-te Unterrichtsfach und Erziehungswissen-schaften studiert. Wer zwei Fächer oder ein Fach und Erziehungswissenschaften anerkannt bekommen hat, erfüllt die Zu-gangsvoraussetzungen für den Master.

Bereiten Sie Seitensteiger darauf vor, sich nach einer längeren Zeit wieder im System Schule einzufinden? Solche Probleme werden bei uns durch die individuelle Studienberatung abge-fangen, ein differenziertes Studienange-bot können wir an der Uni dazu nicht an-bieten. Das ist die Aufgabe der Schulen und der Studienseminare während des Vorbereitungsdienstes. Auch nach dem zweiten Staatsexamen können Lehrer natürlich noch Beratungsstellen in den Universitäten aufsuchen, beispielsweise an den Zentren für Lehrerbildung. An-sonsten sollte man auch bei den zustän-digen Ministerien anfragen und sich über Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten, aber auch über aktuelle Informationen zur Arbeitsmarktlage informieren.

ZUR AUTORIN

Janna Lena Degener arbeitet als freie Journalistin in Köln. Themen rund um Bildung, Berufsorientie-rung, Studium, Wissenschaft und Karriere gehören zu ihren themati-schen Schwerpunktinteressen.

QUELLEN UND LINKS

Career Counselling for Teachers (CCT): www.cct-germany.de/

Einstellungspraxis für Gymnasiallehrer:www.abi.de/arbeitsmarkt/arbeitsmarktberichte/la/arbeitsmarkt_gymnasiallehrer_einst04577.htm

Für wen ist der Lehrerberuf das Richti-ge? www.studienwahl.de Studium/Studienfächer/Lehrämter

Informationen über die Einstellungsvo-raussetzungen in verschiedenen Bun-desländern: www.bildungsserver.de/zeigen.html?seite=1573

Kostenlose private Jobvermittlung für Lehrer: www.lehrcare.de

Kirstin von Elm: Lehrermangel. Quer-einsteiger bekommen nichts ge-schenkt. www.handelsblatt.com/karriere/lehrermangel-quereinsteiger-bekommen-nichts-geschenkt;2330251

Michael Czelinski-Uesbeck: Einstieg von der Seite. Aus der Schule des Le-bens ins Leben der Schule, in: bildungSPEZIAL. Das Magazin für ler-nen, unterrichten, erziehen. 1/10

Standards für die Lehrerbildung: Bil-dungswissenschaften, Beschluss der Kultusministerkonferenz 16.12.2004 unter www.kmk.org

Zentrum für Lehrerbildung an der Uni-versität Bielefeld: http:// www.zfl.uni-bielefeld.de/

Wer Lehrer werden möchte, sollte sich auf

die Lebenswelten von Kindern und Jugend-

lichen einlassen können.

Quelle Studienkreis