Leonardo da Vinci: Das Auge der Welt. Eine Biographie · 2018. 8. 28. · Versöhnungsriten, für...

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17 Der unbekannte Leonardo weise ausgesehen und die Welt gesehen haben. Je weniger man sich eines Ausnahmekünstlers sicher ist, desto fassbarer muss er gemacht werden. Auf diese Weise entstand im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert auch ein durch nichts begründeter Kult um das angebliche Geburtshaus Leonardos in Sichtweite der Mauern von Vinci. Beliebt sind auch Versuche, das Ausnahmegenie, dem das meiste Menschliche fremd zu sein scheint, in die sicher eingehegten Bezirke der Normalität heimzuholen. Auf diese Weise kommt es regelmäßig zur Wie- derzusammenführung von Sohn und Mutter und ähnlich anheimelnden Versöhnungsriten, für die es keine Belege gibt. Doch Leonardo war nicht versöhnt, nicht mit seinen Mitmenschen, nicht mit seiner Familie und erst recht nicht mit der Natur. In dieser Biographie soll deshalb ganz anders verfahren werden. Auf 1 Angebliches Selbstporträt Leonardo da Vincis um 1515; erst seit den 1840 er-Jahren bekannt, wahrscheinlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden. Turin, Biblioteca Reale

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  • 17Der unbekannte Leonardo

    weise ausgesehen und die Welt gesehen haben. Je weniger man sich eines

    Ausnahmekünstlers sicher ist, desto fassbarer muss er gemacht werden.

    Auf diese Weise entstand im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert

    auch ein durch nichts begründeter Kult um das angebliche Geburtshaus

    Leonardos in Sichtweite der Mauern von Vinci.

    Beliebt sind auch Versuche, das Ausnahmegenie, dem das meiste

    Menschliche fremd zu sein scheint, in die sicher eingehegten Bezirke der

    Normalität heimzuholen. Auf diese Weise kommt es regelmäßig zur Wie-

    derzusammenführung von Sohn und Mutter und ähnlich anheimelnden

    Versöhnungsriten, für die es keine Belege gibt. Doch Leonardo war nicht

    versöhnt, nicht mit seinen Mitmenschen, nicht mit seiner Familie und erst

    recht nicht mit der Natur.

    In dieser Biographie soll deshalb ganz anders verfahren werden. Auf

    1 Angebliches Selbstporträt

    Leonardo da Vincis um 1515;

    erst seit den 1840 er-Jahren

    bekannt, wahrscheinlich zu

    Beginn des 19. Jahrhunderts

    entstanden. Turin,

    Biblio teca Reale

  • 29In der bottega Verrocchios

    aufgestütztem Kopf vor einem Baum, die deshalb sogar gelegentlich als

    Selbstbild deklariert wird. Doch das ist erhabene Fiktion; in der bottega

    Verrocchios und als Chef einer eigenen Werkstatt lebte Leonardo nicht

    allein, sondern stets in munterer Gesellschaft – männlicher Gesellschaft.

    Verrocchio war nicht verheiratet. Laut Vasari, dem Denunzianten aus Lei-

    denschaft, war er seinem Schüler Lorenzo di Credi besonders zugetan,

    doch für die damit suggerierte homosexuelle Beziehung gibt es keine

    Belege. Wahrscheinlich spielt diese Unterstellung auch auf Leonardo an,

    dessen sexuelle Präferenzen zu Gerüchten und Diskussionen Anlass gaben,

    nicht nur hinter vorgehaltener Hand.

    Am 9. April 1476 ging bei den Uiciali della Notte, der Sittenpolizei von

    Florenz, eine anonyme Anzeige ein: «Ich teile Ihnen hiermit folgende

    wahre Nachricht mit: Jacopo Saltarelli, der zusammen mit seinem Bruder

    Giovanni Saltarelli beim Goldschmied in der Via Vacchereccia gegen-

    über dem Brief kasten für Denunziationen wohnt, siebzehn Jahre alt und

    2 Sitzender Greis vor strömendem Wasser, um 1513. Windsor Castle, Royal Library

  • 35In der bottega Verrocchios

    Anekdote wirkt wie aus späteren Versatzstücken  – Leonardos Natur-

    studien, seinen Erindungen höischer Bühnenapparate und seinen maka-

    bren Späßen mit organischen Überresten – zusammengesetzt und wirft

    zugleich ein eigenartiges Licht auf das Verhältnis von Vater und Sohn.

    War das Präsent, so es denn überhaupt existierte, ein Wink mit dem Zaun-

    pfahl? Betrachtete Leonardo seinen Vater als abschreckendes Monstrum?

    Und war diesem sein begabter Sohn so gleichgültig, dass er maximalen

    Proit aus dessen Talent zu ziehen versuchte? Auch der Preis, den der hab-

    gierige Notar in Florenz für den Schild erzielt haben soll, stimmt nach-

    5 Taufe Christi, um 1473–1475. Florenz, Uizien

  • 36 Vinci und Florenz

    denklich – von dieser Summe konnte ein Handwerkerhaushalt zwei Jahre

    lang leben –, vom dreimal höheren Erlös in Mailand ganz zu schweigen.

    Von solchen Honoraren konnte ein junger Künstler nur träumen.

    Warum erzählt Vasari diese Geschichte, die im modernen Druckbild

    immerhin eine von insgesamt fünfzehn Seiten zu Leonardos Lebens-

    geschichte einnimmt? Vasari hatte nicht allzu viel an gesicherten Fakten

    zu seinem Antihelden zu berichten; gerade deshalb ist die unfreundliche

    6 Madonna mit der Nelke, um 1475–1477. München, Alte Pinakothek

  • 8 Benois-Madonna, um 1478–1480. Sankt Petersburg, Eremitage

  • 80 Die heilige Anna selbdritt, um 1508 bis letzte Lebenszeit.

    Paris, Louvre