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Leseprobe aus: Antibiotika-Overkill von Martin Blaser.

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Martin J. Blaser

Antibiotika- Overkill

So entstehen die modernen Seuchen

Aus dem Englischen von Ulrich Magin

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Missing Microbes. How the overuse of Antibiotics is fueling our modern plagues« bei

Henry Holt, New York © 2014 by Martin J. Blaser

Umschlaggestaltung: Verlag HerderUmschlagmotiv: Mykhailo Bokovan, shutterstock

Satz: Carsten Klein, MünchenHerstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN: 978-3-451-60023-4

www.fsc.org

MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

FSC® C083411

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Für meine Kinder und für künftige Kinder mit einer herrlichen Zukunft

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»Wir leben im Zeitalter der Bakterien (so war es, so ist es, so wird es immer sein, bis zum Ende der Welt) …«

Stephen Jay Gould, Cambridge, Massachusetts, 1993

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Inhalt

1. Moderne Seuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Unser mikrobieller Planet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

3. Das Mikrobiom des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

4. Der Aufstieg der Pathogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

5. Das Allheilmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

6. Der übermäßige Einsatz von Antibiotika . . . . . . . . . . 92

7. Die moderne Viehwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

8. Mutter und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

9. Eine vergessene Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

10. Sodbrennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

11. Atembeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

12. Größer … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

13. … und dicker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

14. Wiedersehen mit den modernen Seuchen . . . . . . . . 221

15. Der antibiotische Winter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

16. Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

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1.

Moderne Seuchen

Zwei der Schwestern meines Vaters lernte ich nie kennen. In dem kleinen Dorf, in dem sie Anfang des vergangenen Jahrhunderts zur Welt kamen, erlebten sie ihren zweiten Geburtstag nicht. Sie litten an hohem Fieber und vielen anderen Symptomen. Es war so schlimm, dass mein Vater ins Gebethaus ging und die Namen der Töchter änderte, damit der Engel des Todes sie nicht finden konnte. Er tat dies bei beiden Mädchen. Es half nichts.

1850 starb eines von vier amerikanischen Babys vor seinem ersten Geburtstag. Tödliche Epidemien wüteten in den übervöl-kerten Städten, die Menschen saßen in finsteren und schmutzigen Räumen mit stickiger Luft, aber ohne fließendes Wasser fest. Cho-lera, Lungenentzündung, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten, Tuberkulose und Pocken waren nur allzu wohl vertraute Gäste.

Heute stirbt in den Vereinigten Staaten nur noch eines von tausend Neugeborenen, bevor es das erste Lebensjahr vollendet – das ist ein erstaunlicher Fortschritt. Im Laufe der vergangenen an-derthalb Jahrhunderte sind meine Nation und die anderen Staa-ten der Ersten Welt gesünder geworden.1 Das ist, unterm Strich, das Verdienst verbesserter hygienischer Zustände, von Rattengift, sauberem Trinkwasser, pasteurisierter Milch, Kinderimpfungen, modernen medizinischen Verfahren wie der Anästhesie und – na-türlich – auch von siebzig Jahren Antibiotika.

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Heute wachsen Kinder ohne verkrümmte Knochen auf, die das Ergebnis eines Vitamin-D-Mangels sind, und ohne Nasen-nebenhöhlenentzündungen. Achtzigjährige, die man früher auf die Veranda verbannte, spielen heute dank künstlicher Hüftgelenke Tennis.

Und doch ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten, allen me-dizinischen Fortschritten zum Trotz, irgendetwas ganz schrecklich falsch gelaufen. In vielerlei Hinsicht werden wir wieder kränker. Man liest es jeden Tag in den Schlagzeilen. Wir leiden an einem ganzen Spektrum von dem, was ich »moderne Seuchen« nenne: Adipositas, Diabetes bei Kindern, Asthma, Heuschnupfen, Nah-rungsmittelallergien, Ösophagusreflux sowie Krebs, Zöliakie, Mor-bus Crohn, Colitis ulcerosa, Autismus und Neurodermitis. Ver-mutlich ist jemand in Ihrer Familie, jemand, den Sie kennen, oder sogar Sie selbst daran erkrankt. Anders als die tödlichen Seuchen der Vergangenheit, die schnell und hart zuschlugen, mindern die-se chronischen Krankheiten die Lebensqualität der Opfer oft über Jahrzehnte.

Die sichtbarste dieser Seuchen ist die Adipositas.2 Sie wird über den Body-Mass-Index (BMI) definiert, der das Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße erfasst. Menschen mit einem gesun-den Körpergewicht haben einen BMI zwischen 20 und 25. Wer einen BMI zwischen 25 und 30 aufweist, ist übergewichtig. Jeder mit einem BMI über 30 ist adipös. Barack Obamas BMI liegt etwa bei 23. Der BMI der meisten US-Präsidenten lag unter 27, mit Ausnahme von William Howard Taft, der einmal in der Bade-wanne des Weißen Hauses feststeckte. Er hatte einen BMI von 42.

1990 waren rund zwölf Prozent aller Amerikaner adipös. 2010 lag der Schnitt landesweit bei dreißig Prozent. Wenn Sie das nächste Mal am Flughafen oder im Supermarkt sind, schauen Sie sich einfach mal um und überzeugen Sie sich selbst. Die Seuche der Adipositas ist kein reines Problem der Vereinigten Staaten,

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1. Moderne Seuchen | 13

sondern ein weltweites. Im Jahre 2008 waren nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund anderthalb Milliar-den Menschen übergewichtig, davon galten über 200 Millionen Männer und fast 300 Millionen Frauen als adipös. Viele davon le-ben in den Entwicklungsländern, die man generell eher mit Hun-gersnöten als mit Fettleibigkeit in Verbindung bringt.

Das sind alarmierende Zahlen. Weitaus schockierender aber finde ich die Tatsache, dass es zu dieser Zunahme an menschli-chem Körperfett nicht im Lauf von Jahrhunderten, sondern in den vergangenen beiden Jahrzehnten gekommen ist. Die fett- und zuckerreichen Nahrungsmittel, denen man gern die Schuld an den zusätzlichen Pfunden zuschiebt, gibt es jedoch  – zumin-dest in den Industrieländern – schon sehr viel länger. Auch ha-ben die übergewichtigen Menschen in den Entwicklungsländern nicht urplötzlich ihre Ernährung auf KFC-Hähnchen umge-stellt. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass eine hohe Kalorienaufnahme, auch wenn sie sicherlich nicht gut ist, doch nicht ausreicht, den Verlauf und die Verbreitung der weltweiten Adipositas- Seuche zu erklären.

Gleichzeitig verdoppelt sich die autoimmune Form der Dia-betes, die bereits in der Kindheit beginnt und die Insulinspritzen erfordert (juveniler oder Diabetes Typ 1), in den Industrieländern in seiner Inzidenz alle zwanzig Jahre. In Finnland, wo es eine vorzügliche Aktenlage gibt, stellte man seit 1950 einen Anstieg um 550 Prozent fest.3 Das kommt nicht daher, dass wir Diabe-tes Typ 1 heute besser und eindeutiger erkennen können. Vor der Entdeckung des Insulins in den 1920ern verlief die Krankheit ausnahmslos tödlich. Heute überleben die meisten Kinder, wenn sie richtig behandelt werden. Die Krankheit selbst hat sich nicht verändert, bei uns hat sich etwas geändert. Immer mehr sehr junge Kinder sind von Diabetes Typ 1 betroffen. Man diagnostizierte die Krankheit früher im Schnitt im Alter von neun Jahren. Heute

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liegt das Alter bei sechs Jahren, manche Kinder erkranken schon im Alter von drei Jahren an Diabetes.

Der jüngste Anstieg bei Asthma, einer chronischen Entzün-dung der Atemwege, ist ähnlich alarmierend. Einer unter zwölf (rund 25 Millionen oder acht Prozent der US-Bevölkerung) hatte 2009 Asthma – verglichen mit einem unter vierzehn noch vor einem Jahrzehnt. Zehn Prozent der amerikanischen Kinder leiden unter Keuchen, Atemlosigkeit, Brustdrücken und Husten. Schwarze Kinder sind am stärksten betroffen, eines von sechs ist daran erkrankt. Ihre Rate erhöhte sich von 2001 bis 2009 um fünfzig Prozent. Und dieser Anstieg beim Asthma verschont kei-ne Ethnie. Früher unterschieden sich die Anstiegsraten je nach Bevölkerungsgruppe, aber alle steigen an.

Asthma wird oft von Umweltfaktoren ausgelöst, etwa Tabak-rauch, Schimmel, Luftverschmutzung, dem Kot der Küchenscha-be, einer Erkältung oder einer Grippe. Bei einem schweren An-fall schnappt der Asthmatiker nach Luft und muss, hat er keine Medikamente zur Hand, sofort in die Notaufnahme. Selbst bei bester Behandlung kann er sterben – wie der Sohn eines Kollegen von mir, der selbst Arzt ist. Asthma verschont keine wirtschaftli-che oder gesellschaftliche Schicht.

Nahrungsmittelallergien sind alltäglich geworden. Noch vor einer Generation gab es kaum eine Erdnussunverträglichkeit. Heute findet man in jedem Kindergarten Plakate, die ihn zur »erdnussfreien Zone« erklären. Immer mehr Kinder reagieren allergisch auf Proteine in ihren Nahrungsmitteln, nicht nur in Erdnüssen, sondern auch in der Milch, in Eiern, Soja, Fisch oder Obst  – woran Sie auch denken, jemand ist allergisch dagegen. Zöliakie, die Allergie gegen Gluten, das Haupteiweiß in Weizen-mehl, greift um sich. Zehn Prozent unserer Kinder leiden unter Heuschnupfen. Neurodermitis, eine chronische Entzündung der Haut, betrifft mehr als 15 Prozent unserer Kinder und zwei Pro-

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zent der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten. In den Indust-riestaaten hat sich die Zahl der Kinder mit Ekzemen in den ver-gangenen dreißig Jahren verdreifacht.

Diese Krankheiten legen nahe, dass unsere Kinder in noch nie gekanntem Maße an Störungen des Immunsystems leiden, und dazu noch an Krankheiten wie Autismus. Auf diese viel disku-tierte moderne Seuche konzentrieren wir uns gerade in meinem Labor. Aber auch Erwachsene haben ihren Anteil an den moder-nen Seuchen. Die Inzidenz von chronisch-entzündlichen Darm-erkrankungen, darunter Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, steigt, wo immer wir auch hinsehen.

Als ich Medizin studierte, galt Ösophagusreflux, der Verursa-cher des Sodbrennens, noch als selten. Aber in den vergangenen vierzig Jahren hat sich die Krankheit explosionsartig verbreitet, ebenso wie der Krebs, den sie auslöst. Ein Adenokarzinom der Speiseröhre ist die sich am schnellsten verbreitende Krebsart in den Vereinigten Staaten und überall dort, wo solche Aufzeich-nungen gemacht werden. Besonders für weiße Männer stellt es ein ernsthaftes Problem dar.

Warum nehmen diese Übel gleichzeitig in allen Industriestaaten zu – und in den verwestlichten Entwicklungsländern ebenfalls? Ist alles reiner Zufall? Da wir von zehn modernen Seuchen spre-chen – gibt es dafür zehn verschiedene Ursachen? Das erscheint eher unwahrscheinlich.

Oder gibt es einen einzigen Verursacher, der für diese paralle-len Anstiege verantwortlich ist? Eine einzige Ursache wäre leichter greifbar, sie ist einfacher und voraussetzungsärmer. Aber welche Ursache könnte so allgemein sein, dass sie unter anderem Asthma, Adipositas, Ösophagusreflux, juvenile Diabetes und spezifische

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Nahrungsmittelallergien auslöst? Die übermäßige Kalorienauf-nahme vermag Adipositas zu erklären, nicht aber das Asthma. Viele Kinder, die an Asthma erkranken, sind schlank. Luftver-schmutzung vermag Asthma zu erklären, wohl aber kaum Nah-rungsmittelallergien.

Für jede dieser Erkrankungen ist eine Vielzahl an Ursachen diskutiert worden: Schlafmangel macht uns fett, Impfungen füh-ren zum Autismus, genetisch veränderter Weizen ist Gift für den Darm des Menschen … und so weiter.

Die populärste Hypothese zur Erklärung des Anstiegs von Kindererkrankungen ist die sogenannte Hygienehypothese. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass unsere Welt heute so blitzsauber ist, dass sie die modernen Seuchen auslöst. Sie schläfert das Immun-system der Kinder ein, es reagiert deshalb mit falschem Alarm und Beschuss der eigenen Truppen. Viele Eltern versuchen bereits, das Immunsystem ihrer Kinder zu stärken, indem sie ihnen Haus-tiere schenken, sie mit auf den Bauernhof nehmen – oder indem sie zulassen, dass sie Erde essen.

Da lege ich mein Veto ein: Diese »Stärkung der Immunabwehr« wirkt sich gar nicht auf unsere Gesundheit aus. Die Mikroben im Sand haben sich dem Leben im Erdboden angepasst, nicht dem Leben in uns. Die Mikroben in Haus- und Nutztieren sind eben-falls nicht in unserer menschlichen Evolution verwurzelt. Man hat die Hygienehypothese, wie ich noch zeigen werde, falsch gedeutet.

Wir müssen nämlich vor allem die Mikroorganismen betrach-ten, die in und auf unserem Körper leben. Das ist eine Riesenbe-völkerung von kooperierenden und miteinander in Wettbewerb stehenden Mikroben, deren Gesamtheit man Mikrobiom nennt. In der Ökologie spricht man vom Biom, dem Organismenkollek-tiv aus Pflanzen und Tieren, die ein Biotop wie einen Dschungel, einen Wald oder ein Korallenriff bewohnt. Es handelt sich um eine unfassbare Vielfalt von Spezies, klein und groß, die komplex

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interagieren und sich gegenseitig stützen. Wird eine wichtige Spe-zies ausgerottet, gefährdet das das gesamte Ökosystem. Es kann sogar zusammenbrechen.

Wir alle beherbergen in uns ein vergleichbar vielfältiges Ökosystem an Mikroben, dass sich im Laufe von Millionen Jah-ren gemeinsam mit uns entwickelt hat. Mikroben gedeihen in unserem Mund, im Darm, in der Nase, in den Ohren und auf der Haut. Sie überziehen die Vagina der Frauen. Die Mikroben, die unser Mikrobiom ergeben, erwerben wir im Allgemeinen früh in unserem Leben. Es mag überraschen, aber im Alter von drei Jahren ist die Zusammensetzung bereits dieselbe wie bei Erwach-senen.4 Diese Mikroben, unsere Körperflora, spielen eine äußerst wichtige Rolle in unserem Immunsystem und bei der Abwehr von Krankheiten. Auf den Punkt gebracht: Unser Mikrobiom hält uns gesund. Aber wir rotten Teile davon aus.

Die Ursachen dieser Katastrophe finden wir überall: Exzessi-ver Gebrauch von Antibiotika bei Mensch und Tier, Kaiserschnit-te und der weit verbreitete Einsatz von Desinfektionsmitteln und Antiseptika gehören dazu. Resistenz gegen Antibiotika ist ein großes Problem – längst besiegt geglaubte Killer wie die Tuber-kulose kehren gerade zurück – und sie betrifft auch neue Arten wie die Geißel Clostridium difficile (C. diff), ein Bakterium des Ver-dauungstraktes, das resistent gegen ein ganzes Spektrum von An-tibiotika ist und eine Gefahr in Krankenhäusern darstellt, sowie ein sich ausbreitendes Pathogen, der Methicillin-resistente Staphy-lococcus aureus (MRSA), den man sich überall einfangen kann. Weil Antibiotika einen Selektionsdruck ausüben, nimmt ihre Zahl zu.

So schrecklich diese resistenten Pathogene auch sein mögen, so ist der Verlust der Artenvielfalt in unserem Mikrobiom eine viel schlimmere Gefahr. Er verändert nämlich unsere Entwicklung, unseren Metabolismus, unser Immunsystem und unsere kogniti-ven Fähigkeiten.

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Ich habe in diesem Zusammenhang von den »verschwinden-den Mikrobiota« gesprochen.5 Der Begriff klingt seltsam und kommt nicht so leicht über die Zunge, aber ich glaube, dass er zutrifft. Aus vielerlei Gründen verlieren wir unsere uralten Mikro-ben. Und um dieses Dilemma geht es in diesem Buch. Der Verlust der mikrobiellen Vielfalt in und auf unserem Körper fordert von uns einen schrecklichen Preis. Und ich wage vorauszusagen, dass es sich in Zukunft noch verschlimmern wird. Wie der Verbren-nungsmotor, die Atomkraft und die Pestizide unvorhergesehene Folgen hatten, so wird es auch beim Missbrauch der Antibioti-ka und andere medizinischer und quasi-medizinischer Praktiken (zum Beispiel Desinfektionsmittel) sein.

Ein Schreckensszenario wird sich kaum vermeiden lassen, wenn wir nicht grundlegend etwas ändern. Es sind finstere Aus-sichten wie bei einem Blizzard, der über eine erstarrte Landschaft fegt. Ich spreche vom »mikrobiellen Winter«. Ich will nicht, dass die Babys der Zukunft so jämmerlich sterben müssen wie meine Tanten. Deshalb schlage ich Alarm.

Mein eigener Weg zu der Einsicht und Erkenntnis, dass unsere Mikroben bedroht sind, begann am 9. Juli 1977. Ich erinnere mich an diesen Tag, weil ich damals zum ersten Mal von einer Mi-krobe hörte, Campylobacter, die mein ganzes Forscherleben antrieb. Ich war gerade Dozent für Infektionskrankheiten und Mitglied des Lehrkörpers des University of Colorado Medical Center in Denver geworden.

Man bat mich, nach einem 33-jährigen Patienten zu sehen, der ein paar Tage zuvor eingeliefert worden war. Er litt unter hohem Fieber und war orientierungslos. Eine Lumbalpunktion bestätig-te, dass er an Meningitis erkrankt war, einer schweren Entzün-

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dung des Nervensystems. Die Ärzte sandten Blut- und Rücken-marksflüssigkeitsproben zur Untersuchung ein, um festzustellen, ob es sich beim Verursacher um eine Bakterieninfektion handel-te – und wenn ja, um welches Bakterium. Während die Ärzte auf die Ergebnisse warteten, gaben sie dem Patienten vorsichtshalber Antibiotika, weil es ihm schlecht ging. Sie glaubten, dass ihn nur hohe Dosen Antibiotika vor dem Tode bewahren könnten. Sie behielten recht.

Die Testergebnisse wiesen ein langsam wachsendes Bakterium nach, den Campylobacter fetus, einen Organismus, von dem niemand in dem Krankenhaus je zuvor gehört hatte. Deshalb verständigte man mich. Ich war erst seit neun Tagen da, aber ich sollte eine Lösung finden.

Campylobacter sind eine Gattung spiralförmiger Bakterien. Wie bei einem winzigen Korkenzieher ermöglicht ihnen ihre Spi-ralform, den gelatineartigen Schleim zu durchdringen, der den Gastro intestinaltrakt auskleidet. Weshalb trägt die Spezies den seltsamen Namen fetus? (Bei der biologischen Nomenklatur trägt jedes Lebewesen zuerst einen Gattungsnamen, in diesem Fall Campylobacter, und danach, kleingeschrieben, den Namen der Spe-zies, hier also fetus. Zu jeder Gattung gehören normalerweise viele Spezies und Subspezies. Der Mensch heißt Homo sapiens: Er gehört zur Gattung Homo und zur Spezies sapiens.) Ich vertiefte mich in die medizinische Fachliteratur und fand heraus, dass die Mikrobe diesen eigentümlichen Namen erhalten hatte, weil sie bei träch-tigen Schafen und Rindern zu Fehlgeburten führte. Nur selten befiel sie Menschen. Wo sich unser Patient angesteckt hatte, blieb ein Geheimnis. Er war ein Stadtmensch, ein Musiker.

Als wir den Organismus identifiziert hatten, konnten wir ein entsprechendes Antibiotikapaket zusammenstellen. Der Patient erholte sich binnen weniger Wochen. Kurz darauf sollte ich auf einer Konferenz einen Vortrag halten und entschloss mich, über

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Campylobacter zu sprechen. Was gibt es Besseres, als über eine sel-tene Infektion zu informieren, mit der die meisten noch nicht vertraut sind? Keiner würde merken, wie wenig Ahnung ich selbst hatte.

Als ich mich über Campylobacter fetus schlau machte, erfuhr ich bald, dass er einen Cousin hatte, Campylobacter jejuni. (Das Jejunum, der Leerdarm, gehört zum Dünndarm.) Die ziemlich spärliche Literatur ging davon aus, dass Menschen mit C. fetus gemeinhin im Blut infiziert waren, solche mit C. jejuni aber zu Durchfall-erkrankungen neigten. Es waren also zwei sehr ähnliche Orga-nismen mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen auf unseren Körper. Warum blieb ein Campylobacter im Darm gefangen, wo er auch hingehörte, und der andere kämpfte sich wie ein Ninja bis ins Blut vor? Das musste ich unbedingt wissen.

Im Laufe der nächsten Jahre hatte ich wechselweise Stellen an Universitäten (University of Colorado und Vanderbilt) und bei der Seuchenschutzbehörde inne. Ich wurde zu einer Art Experte für C. fetus, meinem »Lieblingsbakterium«. Ich entdeckte einige der Geheimnisse dieses Zauber- und Trickkünstlers.

Deshalb spielte C. fetus schon früh eine Rolle, als ich meine Hypothese von den verschwindenden Mikrobiota entwickelte. Es lehrte mich einige grundlegende Tatsachen darüber, wie ein Bak-terium in seinem Wirt überlebt. Natürlich verursachen Bakterien Krankheiten, aber  – und das lernte ich erst später wirklich zu schätzen – es leben auch Bakterien in uns, die unserem Immun-system dank einer Reihe einander ähnelnder Taktiken ausweichen können. Sie schaden uns gemeinhin nicht, sie schützen uns viel-mehr. Ich erfuhr, dass Bakterien unzählige Tricks einsetzen, das Ergebnis von Millionen Jahren von Versuch und Irrtum, um ihrer Funktion nachzugehen, die für ihren Wirt je nach den Umstän-den entweder nützlich oder schädlich ist. Ich werde später noch darauf kommen.

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