Leseprobe - Fabian Lacher - Der Schrull von Pölz

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http://romanverlag.com/derschrullvonpoelz-ebook Ein schrulliger Sonderling haust hinten bei der Kühlgrundmühle im Leinachtal in einer Hütte. Er ist leutscheu und eigensinnig. Ist er der Mörder des verschwundenen Mädchens aus dem Bergdorf Pölz? In der Konfrontation seiner Denkwelt mit der Wirklichkeit beginnt für ihn der Aufruhr in der Stille der Einsamkeit. Diese Erzählung schildert den Versuch, aus dem Alltäglichen auszubrechen und sich im Nötigsten einzurichten, dort das gedachte vereinfachte Leben zu verwirklichen. Dabei wird die Ambivalenz des Single-Lebens – Gipfelpunkt des Menschseins einerseits und andererseits höchste soziale Sensibilität – reflektiert.

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--- LESEPROBE ---

Der Schrull von Pölz

Fabian Lacher

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„Mit „Der Schrull von Pölz“ ist Fabian Lacher eine Erzählung gelungen, die sich von der Masse der

Neuveröffentlichungen deutlich abhebt. Inmitten einer Fülle von Wortspielereien taucht der Leser ein in die

Lebensgeschichte und Gedankenwelt des Protagonisten Ix, der seine Umwelt ebenso intensiv und skeptisch beobachtet wie sie

ihn.“

Iris Bachmeier auf Amazon

„Poesie mit selbstkritischer Ironie - so könnte die Kurzform dieses Romans lauten, wobei der ungewöhnliche Erzählstil den Leser überraschen wird.“

G. Kicker auf Amazon

„ Ich beschreibe dieses Buch, das ein unkonventionelles Meisterwerk werden könnte, mit drei einfachen Worten:

Wortgewaltig, Ironisch und humorvoll“

Jasmin B, via E-Mail

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Über das Buch

Ein schrulliger Sonderling haust hinten bei der Kühlgrundmühle im Leinachtal in einer Hütte. Er ist leutscheu und eigensinnig. Ist er der Mörder des verschwundenen Mädchens aus dem Bergdorf Pölz? In der Konfrontation seiner Denkwelt mit der Wirklichkeit beginnt für ihn der Aufruhr in der Stille der Einsamkeit. Diese Erzählung schildert den Versuch, aus dem Alltäglichen auszubrechen und sich im Nötigsten einzurichten, dort das gedachte vereinfachte Leben zu verwirklichen. Dabei wird die Ambivalenz des Single-Lebens – Gipfelpunkt des Menschseins einerseits und andererseits höchste soziale Sensibilität – reflektiert. Die Selbstbetrachtungen erinnern an das literarische Vorbild Jean Paul und sind eine Reminiszenz an den Dichter in dessen 250. Geburtsjahr.

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Roman Verlag 207 Taaffe Place, Office 3A Brooklyn, New York – NY 11205, USA http://www.romanverlag.com © 2013 All rights reserved. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Werkes, oder Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

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Anschlag

Habt ihr schon von dem spinnerten Uhu gehört, der neuerdings hinten beim Tummler haust?

Von wegen erst jetzt, der Waldschrat hat längst einen Bart und das Gesicht ist ihm zugewachsen, wie der kahle Felsen bemoost und bestrüppt ist.

Sag bloß, und das hat keiner mitgekriegt?

Wer heutzutage in Felsenhöhlen lungert, der brütet nichts Gutes aus. Da siehst du ja kaum einen Fuchs, und einen Feldhasen schon gar nimmer. Dem Wurzelfex ist zuzutrauen, dass er hinter dieser Wichtelmaskerade steckt.

Das ist doch kein Verrückter, einfach ein Einzelgänger ist der, der nicht gleich aufs Amt rennt und die Hand aufhält, wenn’s ihm mal schlechter geht, verstehst du. Nicht jeder muss seine Zeit in der sozialen Hängematte verdösen.

Und warum will gerade der die kleine Lisawett entdeckt haben? Das glaubst du doch selber nicht, dass ein Aussteiger sich nicht zu verstecken hätte. Wie einem Einsteiger geht es dem, der was Fremdes sucht, bloß andersherum.

Die Wirtin von der Kühlgrundmühle hat es erzählt, dass der recht gebildet sein muss und dass man sich ganz kurzweilig mit dem unterhalten könne. Und ein sauberes Mannsbild wäre er auch, wenn er täglich eine warme Dusche hätte …

Die Kühlgrundwirtin, die Kühlgrundwirtin – wer weiß nicht, was die mannstolle Witwe sieht, wenn sie sucht.

Die Tagesgespräche beim Dorfbräu und in den Wirtshäusern in Unteroberndorf und Pölz, in Burgstall und in Zehentbronn hatten eine Vorgeschichte, die am besten der Hauptverdächtige selber zusammenfassen kann. Und sie

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hatten einen aktuellen Anlass, wie er in der Zeitung steht. Außerdem haben vom Rande aus nicht wenige gehört und gesehen, was darum herum geschehen sein könnte.

Wann schon heult eine Polizeisirene durchs Leinachtal? Und wer hat vorher schon mal in der Dämmerung das blaue Licht von den kahlen Felswänden blinken sehen? Keiner von den Ureinhausern. Felsen tragen keine Scheinwerfer und haben keine Alarmlichter, sie sind knallhartes Gestein. Deshalb sind die Gaststuben voll von Wissbegierigen, überfüllter als beim Kappenabend im Fasching und beim Bauerntheater der Laienspielgruppe.

Welche Nachwehen dieses außerordentliche Geschehen haben wird, das muss man erst noch sehen. Spüren werden es nicht nur die Betroffenen, sondern vor allem auch der schrullige Waldmensch vom Leinachtal bei Pölz – ob er es nun wirklich ausgelöst hat oder auch nicht. Das wahre Verbrechen erfahren nur die Leser dieser Schilderung.

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Bubibub

Wer sein Haus verlässt,

sieht die Tür –

verschlossen.

1 Knapp daneben hat es angefangen. Neben dem Musikerpavillon legten sich seine urlaubenden Eltern in die Blumenwiese. Die Liebe hatte sie getroffen. Nach neun Monden war sie reif zum Kreißen. Und die Befürchtung war Fleisch geworden. Die Hebamme hat der Winzling mit seinem warmen Strählchen in hohem Bogen getauft. Seine Duftmarke setzte er in Einwegwindeln.

Die Kindheit lag nur wenig neben der Norm: Aufgewachsen in einer Reihenhaussiedlung neben dem aufstrebenden Industriegebiet, aufgezogen nach der Trennung der Eltern bei seiner kinderlosen Großtante. Sozusagen im stillen Kämmerlein probte er den Aufstand: Er durchforstete Zeitungsartikel nach Stilblüten oder suchte Buchstaben, die das Wort so veränderten, dass die Bedeutung knapp neben der ursprünglichen lag. So lange suchte er oft, bis er schließlich Widersinn ausgemacht hatte.

„Ich bin Wort-Drechsler, das ist ein Handwerk!“, wehrte er sich gegen Neckereien der Mitschüler: „Bist du noch nicht ganz dichter?“ Sie gaben durch Gestik und Mimik sehr deutlich zu verstehen, dass sie nicht das Hauptwort, sondern den Komparativ des Adjektivs meinten. Unbeirrt drechselte er allein für sich. Zum Beispiel:

Seine Beichte über die Verunstaltung legte alles offen.

Sie trabten herdenweise an, denn der Einritt war frei.

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Wachset und wehret euch.

Die beleibten Politiker begossen die Eröffnung mit Sekt und den Sekret-ärinnen.

Verabschiebung des Jubilars aus dem Amt für Umweltschmutz.

Die Biker fressen Kilometer um Killometer.

Im Kleintierzuchtverein wurden ausschließlich Nachzuchten von Mitgliedern angeboten.

Die Einwohner treffen sich zum gemütlichen Zusammensein und um bei Bier und Brezeln der Musikkapelle zu lausen.

Bärtige Propheten verhaaren im Gebet.

Wer Stil hat, muss noch lange keinen Stiel halten können.

Wie auf Bestellung produzieren sie Bücher, die Bestellerautoren.

Die Schulzeit hat er auf diese und ähnliche Weisen wacker ausgesessen, das Abitur um zwei Punkte verpasst. Um einen Job scherte er sich dennoch kein einziges Haar. Ist er denn ein Jockey, der von Beschäftigung zu Beschäftigung joggt? Nein, Jobhopper ist er nicht. Er hat niemals bei einem Großvater auf den Knien gesessen und sich „Hoppe, hoppe, Reiter“ anhören müssen.

Sollte er sich ausbeuten lassen? Denn Ausbeutung ist jede Art von Abhängigkeit, das hatte er sich in dreizehn Jahren Schulunterricht als gesicherte Weisheit fürs Leben erarbeitet. Sollte er sich in dieser verkorksten Welt aus seinem Flaschengeist ziehen lassen? In ihr wird der, der seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt als Arbeitnehmer hinabgewertet. Und der, der sie nimmt, um damit ein Vermögen zu erwirtschaften, wird als Arbeitgeber hofiert. Er pfiff auf diese Brothymne, er sang sein eigen Liedchen und unternahm nur das, was ihm gut dünkte. Somit fühlte er sich

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als sein eigener Unternehmer, ein selbstständiger Lebensgestalter.

Der geraffte Lebenslauf, der folgte, diente nicht zur Bewerbung auf irgendeine Ausbeutungsstelle. Es bereitete schlicht und einfach Vergnügen, aus der Distanz von gut zwei Jahrzehnten den erledigten Lebensabschnitt Revue passieren zu lassen.

Beim Bund schoss er knapp daneben, wurde ausgemustert. Da traf ihn der väterliche Zorn wie ein Torpedo, der selbst das geheiligte Tau der Blutsverwandtschaft kappt. Vater war nämlich, so titulierte der Sohn, Majorkapitän der Marine zu Lande a. D. Seit der Scheidung kannte er Vaters Namen sowieso nur noch vom Kontoauszug der Unterhaltsleistung, respektive Unterhaltungsleistung, wie es der Pensionär nicht ganz zu Unrecht titulierte. Er war ein humorvoller Mensch, der dem Sohn jedwede Freiheit ließ, solange sie sich in seinem Fahrwasser abspielte und dieses nicht trübte. Zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ließ der 56-jährige Pensionär einen Witz vom Stapel. Seine bewusst gewollten Belustigungssketche waren von der folgenden Sorte: „Da steht zwar After-Shave drauf, aber es riecht so gut, dass ich es als Rasierwasser fürs Gesicht verwende.“ Als Resümee, das der Sohn überhaupt nicht gerne hörte, dozierte er: „Bub, immer einen flotten Spruch muss man parat haben, Bube!“

Mit Mutter kam Bubi seitdem wöchentlich einmal in der Pizzeria zusammen. Und an der Großtante probte er diplomatisches Geschick und taktische Lebensbewältigungsklugheit mit zunehmend wachsendem Erfolg. Das war quasi seine Sturm-und-Drang-Zeit, in der er sich vorkam wie das Kästner’sche „Riesenspielzeug“. Da sagte er der Mutter des Öfteren die Verse auf: „Ihr wart auf uns nicht eingerichtet, ihr habt uns nur zur Welt gebracht. ... Wir werden von euch ausgehalten und halten das nicht länger aus!“

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Als Repetent hat er das Abitur doch noch geschafft. Und dann ab nach Kassel zum Studium.

Den ewigen Studenten drängten die gespaltenen Elternteile aus zwei Richtungen ins Leben. Er solle endlich zwei Gänge zulegen und aus seinem Schneckenhäuschen ins Ziel spurten.

„Nimm dir ein Vorbild an deinem schnittigen Auto! Oder möchtest du mit der Schneckenpost vors verschlossene Tor kriechen? Bubi – Bub.“ Das klang wie Kleinkind, dieses Bubibub.

Im Schneckentempo verpasse man den Eilzug, und eine Villa baue sich nicht von selbst. Konkretes Streben müsse den Lebenstüchtigen leiten. Die Schleimspuren der Schnecken vertrockneten im Wind der Tage und würden zertreten vom Schritt des Alltags. Er solle sich endlich sputen und den Schritt beschleunigen, auf die Rolltreppe springen und weiter steigen. Wer sich nur hochziehen lasse, werde mit über den Tisch gezogen. Er solle seinen Lebenswandel wandeln, solange sie ihm den Tisch deckten, und vielleicht könne er auch einmal so etwas wie Dank empfinden für Muttis Sorge.

Ganz recht, Emp-findung ist Mutters Für-Sorge. Sie sorgt sich um mich, weil sie für ihren Ruf fürchtet. Ich bin aber kein Pfad-Finder, und mit dem Geigerzähler der Sensibilität kann ich schon gar nicht umgehen. Überhaupt: sensibel, sensitiv! Sensen-tief geht es mir unter die Haut, was sich auch nur im Entferntesten anhört wie das Ausholen des Schnitters. Wenn man bedenkt, dass die natürliche Kante eines Grashalms Papier zerschneiden kann, dann wird man den Schlag erfassen, den ein Sensibelchen treffen muss wie ein Sensenhieb, der den Halm umlegt. Und ihnen werde ich mich gerade noch in den Weg stellen! Also, liebes Muttchen, allen Respekt vor deiner Herzensgüte. Doch lieber habe ich die Güter im Geldbeutel als das Herz in der Hosentasche. Tat-Sache ist der Dauerauftrag. Danke Vati, danke für dein Tat-Wort.

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Er war Philosoph, seit ihn Großvater als solchen apostrophiert hatte. „Du fragst mir Löcher in den Bauch mit deinem bohrenden Warum und Weshalb und Wieso. Warum genügt es dir nicht, zu wissen, wie ein Ding beschaffen ist, warum musst du wissen, warum es so ist?“

Zunächst studierte er das Fach Philosophie an der Universität. Das war nicht unbedingt handfest und zielstrebig, aber es war eine intensive Lebensbeschäftigung. Vielleicht studierte er es auch aus dem letzten Rest an Stolz und Selbstbehauptung heraus, weil die gesamte Verwandtschaft ihn vor der brotlosen Kunst gewarnt hatte. Der Kandidat der Philosophie ging kurz in sich mit dem restlichen Respekt vor dem Über-Ich. Zu essen hatte er bisher noch immer etwas aufgetrieben, aber den Sachen endlich auf den Grund zu gehen, das hatte bisher noch keiner von den ihm Bekannten gewagt. Nun war er eingeschriebener stud. phil., aber am meisten war er Lebensphilosoph: Er studierte das Leben und die Lebenden in ihrem Sosein von Bistro- und Cafétischen aus, während die Kyniker und Peripatetiker das Dasein an sich im Hörsaal hin und her wälzten. Er diskutierte live mit denen, die eine Zigarette von ihm schnorrten und beim Anblick seiner Roth-Händle-Packung ausriefen: „Du frisst wohl auch kleine Kinder?“

„Bewahre, bewahre. Kinder sind die Zukunft der Menschheit, die Würze des Lebens, sind die Säulen der Gesellschaft. Das Kraut, das ich paffe, ist schwächer als deines mit dem gelben Stehaufmännchen und schwächer als das von dem Mann, der New York gegründet haben soll. Naturwissenschaftlich geprüft, hat meine 0,7 mg Nikotin und 11 mg Kondensat. Ich rauche Roth-Händle kastriert, mit Filter und mit dem würzigen Duft der Bodenständigkeit. Bitte, bediene dich und du wirst überzeugt mehr als durch meine Worte. Macht nichts, dass es meine Letzte ist. Du darfst die nächste spendieren.“

„Lass mich wenigstens mal ziehen“, bettelte eine der Schnorrerinnen.

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„Wir mögen zwar die gleiche Marke rauchen, aber an derselben Zigarette müssen wir nicht ziehen“, dozierte der Philosoph und hielt ihr eine neue Packung hin. Vorrat ging bei ihm nicht aus, denn bevor er seine Studentenbude verließ, steckte er eine volle Packung von der Stange ein, wie er den Hausschlüssel in die Hosentasche schob.

In dieser Lebensphase ruhte er in sich. Er sah mit zwei Augen, hörte mit zwei Ohren, deutete oft mit beiden Händen und hätte auch gern aus zwei Mündern gleichzeitig geredet. So schaute er einen an, nahm das Gespräch im Hintergrund wahr, während er der linken Person Auskunft gab und auf eine Frage der rechten mit dem Finger die Richtung wies. Mathematisch ist der Fall offensichtlich: Ein und ein Auge sind zwei Augen, zwei Ohren, zwei Hände. Die Wahrnehmung ist objektiv eine doppelte. Kam der Philosoph in ihm mit seiner Lebensklugheit hinzu: je nach Standpunkt und Blickrichtung. Für den Entgegenkommenden sei die Linkskurve eine Rechtskurve. Das Spezifikum des Menschen sei die distanzierte Zusammenschau. In der Distanz zwischen Augen und Ohren liegt der kritische Geist. Er führt die zwei Blickrichtungen und zwei Hörwinkel zu einem subjektiven Gesamturteil zusammen. Und hätte er einen Januskopf, der Geist bliebe der eine. Ganz klar, pflichtete der Techniker bei, die Fotolinse kann dir nur ein Detail zoomen oder aus der weit entfernten Vogelperspektive ein Gesamtbild vermitteln. Deshalb wird die Linse auch Objektiv genannt. Solcher Art waren seine Studien, bis er an einen Punkt gelangte, der kein geschlossener Kreis oder Ring war, sondern eher einem ausufernden Tintenklecks glich. Das sei nicht die Frage, wandten sich die gelehrten Philosophen. Wir hätten anders zu fragen, erneut müssten wir uns die Frage stellen, und zwar anders. Kaum eine Frage der letzten zweitausend Jahre sei wirklich entscheidend gelöst beziehungsweise beantwortet worden. Immer nur macht sich eine Philosophenschule ihren eigenen Standpunkt mit solcher Inbrunst zu Eigen, dass sie an ihren als den wahren glaubt. Sie suchen nicht die Wahrheit, sondern fliehen in Wahrheit in ihre beschränkte Wirklichkeit.

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Wahr ist das, was ich für wahr halte, schloss er daraus. Falsch wird es erst, wenn du es anzweifelst. O heiliger Philosophus, du bringst mich keinen Schritt weiter als mein Alter. Mein Vater auch, ja, aber ich meine vor allen Dingen mein Alter Ego. Nun denn so lass mich auf meinem Weg bleiben, es ruht sich gemütlich, und du kannst ruhig auf deinem weitergehen.

Und weil er damit immer mehr allein stand, zog er sich immer mehr in sich selbst zurück, wo er allmählich gemächlich ruhte. Er hörte nicht mehr, was um ihn herum passierte, sah an den Rändern des Blickfeldes lediglich Schatten vorbeihuschen. Er hatte sich eingezoomt auf das Subjektive.

Das war auch ein guter Nährboden für das Zusammenwachsen mit einer anderen Art von Schnecken, wie man im Volksmund sagt, nämlich den zweibeinigen. Er widmete sich diesen Schönheiten hingebungsvoll und intensiv, denn das Feld war ertragreich.

„Du wirst dir auch noch zwei Kloschüsseln für Verliebte einbilden und darüber nachgrübeln, ob sie gegenüber oder nebeneinander angeordnet werden sollten. Du mit deinem Liebeswahn“, spöttelte seine Gefährtin, als sie auf ihrem Yin-Yang-Sofa kuschelten.

„Mmh, riechst du fein.“

„Nicht ich rieche. Dein Geburtstagsgeschenk riecht, das Parfüm.“

„Aber es duftet gut. So männlich, weißt du.“

„Nach deinem Geschmack.“

„Der steht dir gut.“

„Es geht nicht ums Stehen. Es geht darum, dass es nicht mein Duft ist, sondern deiner.“

„Es geht darum, ob es angenehm ist.“

„Meinetwegen kannst du recht behalten.“

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„Aber Ruhe gebe ich nicht. Dein Duft zieht mich an.“

Aus, meint sie schon wieder. Mit Sicherheit. Er dachte sich zurück in seine Single-Bude. Ein Anruf war leichter zu verkraften als dieses aufdringliche Beieinandersitzen, dieses Sichineinanderverkriechen. Das Kabel hielt die Gerüche fern. Man klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, mit den Füßen konnte man Schaumwellen schlagen.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, zog ihn die Schnecke schnell und flink wie ein Wiesel ins Badezimmer. Dort erst begann das vom Duft gesprühte Neckspiel vollends. Nach dem Präludium d’Aroma eröffnete sie die Fuge d’Amore in Es-Dur auf der Duftschaukel. Das ging so: In das Badewasser wurde Pfirsicharoma geträufelt, dann stiegen die beiden zusammen Wohnenden in ihr Paar-Bad. Wie bekommt man zwei Körper, vier Arme und vier Beine zur gleichen Zeit in eine Ein-Mann/Frau-Wanne? Man nehme wie bei einem Cordon bleu zwei Scheiben Fleisch und Schinken, lasse dazwischen nach dem Würzen eine Scheibe Schmelzkäse zergehen ... Sie benötigten kein Rezept, auch nicht bei der Premiere. Sie stiegen ein und verschränkten sich ineinander. Sobald die Schaumwellen sie umspülten, flogen sie weit, weit weg. Auf Paarbados landeten sie unter Palmen am Strand.

Gut ein Dutzend Mal im Monat flogen sie nach Paarbados in Urlaub, dann stornierte er die Buchung und verduftete. Zuvor bekam er noch das Postludium mit, denn sie war Gruppendynamikerin. Sie ist so lange dynamisch, bis auch der Letzte in der Gruppe sich nach ihrem Wort verhält. Folglich war sie bei umgekehrter Sachlage nicht mehr zu halten. Wie ein wild gewordenes Rodeopferd schüttelte sie ihr Zaumzeug – und sie trug reichlich Geschmeide –, trat das Badewasser mit Füßen und bäumte sich auf. Aus den Kulleraugen sprühte das Feuer der Wildnis. Das zuckte durch die Schaumwolke, als könne es diese auffressen. Mit gefletschten Zähnen wieherte sie den Aromatisierten an. In ihren Mundwinkeln stand Schaum, aus ihren Nasenlöchern flogen Schaumfetzen. Die

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Hufe scharrten weiter am Wannenboden. Das Wasser schwappte über.

Hier wird keine Exkursion zu amerikanischen Pferdebändigern geschildert. Wir befinden uns noch immer bei der Beschreibung der in außerordentliche Entrüstung geratenen Duft-Dame, die jegliche Fassung verlor und zeigte, was an Naturgewalt eines ungezähmten Westerngauls in ihr steckte. Man könnte auch sagen, sie zeigte, welcher Geist sie reitet. Aber zu diesem Zeitpunkt war ihm noch nicht klar geworden, dass sie von solchem nur wenig geerbt haben dürfte. Fest stand lediglich, dass sie noch nie mit einem echten Pferd auf Tuchfühlung gegangen war. Das Einzige, was auch nur im Entferntesten mit einem Ross und ihr in Verbindung hätte gebracht werden können, war der Pferdeschwanz, den sie als 14-Jährige getragen hatte.

Meine Güte war er erleichtert, als er die Tür zu diesem Stall ins Schloss fallen hörte, und zwar von außen. „Die nächsten vierzehn Monate rühre ich gewiss keinen Duftflakon an. Und um wilde Stuten werde ich einen großen Bogen machen. Zum Rodeoreiten bin ich nun wirklich nicht geboren. Ab in die Abdeckerei mit Paarbados, ich fliege nach Einsamerfjörd, ich ganz allein!“

In seiner weiteren studentischen Anamnese fand sich eine Menge williger Ansätze: angefangen mit gestalterischer Architektur, hinzugefügt lenkende Betriebswirtschaftslehre, bei der legislativen Juristik vorbeigeschaut, abgebrochen die exekutive Politik. Die spontanen, mit Elan geladenen Stegreifsprünge blieben im Sandkasten stecken oder verliefen sich am Strand einer Insel im Urlaubsmeer. Beim Sinn-ieren war er schließlich gelandet. Wo komme ich hin, fragte er sich schwermütig mit gerunzelter Stirn, wenn ich dorthin zurückkehre, wo ich herkomme? Werde ich zur Gesellschaft meines Stiefvaters einen Konzern häufen? Nein, ich werde nicht, denn in diese Welt werde ich mich nicht begeben. Und zur Villa meiner Mutter und zur Datscha bei Petersburg und zur Finca auf Mallorca und zum Chalét im Tessin noch ein

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Kurhotel in Marienbad? Werde ich das Managergeschwür ihres neuen Lovers erben mit der Yacht in Saint Tropez? Kann ich nicht enden wie er, auch ohne sein Erbe? Und wie erst ohne Magengeschwür!

Von dieser Landebahn verscheuchten ihn nun die Er-zeuger. Er aber ließ sich sein Erbe gutschreiben und ernannte sich zum eigenständigen Ur-heber.

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In der Eigentumswohnung, die ihm vom Stiefvater aus Gründen der steuerlichen Abschreibungsmöglichkeit pro forma vermacht worden war, wurde er satt und satter. Seine Erträge teilten sie gemeinsam. Sie – das waren Gesinnungsgenossen und Bettgenossinnen, die er nach der Wochenendorgie höflich, aber entschieden verabschiedete. Seine Ergüsse blieben ungeschrieben, gerieten folglich nicht unter Druck. Als die Maden und Ameisen im Elfenbeinturm nagten und die Schmarotzer von außen in die Fenster kletterten, schüttelte er den Klotz vom Bein und zog in die Wohngemeinschaft einer Künstlerinitiative, die sich in der Arme-Poeten-Stube im subventionierten Backsteinbau einer ausgedienten Produktionshalle für ausgestorbene Wirtschaftsgüter eingenistet hatte.

Nun besaß er alles Lebenswichtige: Obdach und Mehr-samkeit. Doch sie gerieten aneinander. Doch sie rauften sich wieder, riefen sich, spannten sich wieder zusammen. Feuer und Wasser wohnten nebeneinander, getrennt durch Pergamentparavents.

Der Schriftsteller, der mit nüchternem Kopf und nach literarischem Kodex Buchstaben setzte und Worte fasste, der niemals die Mühen vergisst, mit denen er geformt hat. Der Dichter, voll des süffigen Poetlings zu jeder Tages- und Nachtzeit, dem das Gemüt in die Zeilen wallt, das Worte nicht zu fassen vermögen und Vor-Schriften nicht unterdrücken können. Und der philosophische Kandidat hörte den Hymnus aus den gesetzten Sätzen und sang ein Lied dazu, das der Schriftsteller nicht dichten konnte. Denn der Sänger singt nur das, was er empfunden hat. Der Rest tönt lauthals von den Stimmbändern. Aber sie werden das beklatschen, was in ihren Ohren klingt, nicht das, was sie nicht fühlen, was aus ihm singt. Dennoch wird der Künstler das Lied der Muse singen,

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wie der Zimmermann das Lob der flinken Hände pfeift, wenn er hobelt und sägt.

Die ewige Schnecke hörte dem Hymnus der Muße weiter zu und sah die Bilder in der Halle ausgestellt: Wer Wasserfälle bestaunt hat aus nächster Nähe, wird sich nicht sehnen nach dem Knarren der Seilwinde und dem Knirschen des Schöpfeimers am steinernen Rand der Zisterne. Fieberträume nach dem Wasser schütteln den, der das Wasser einst verkostet und dem es nun daran mangelt. Wer täglich dem Kaffeeduft erlag und im Weinfass schwamm, wird sich nicht nach Wasser winden. So zog es die erinnernde Schnecke zum Elfenbein zurück. Sie handelte nach dem Rat und bevorratete sich auf dem Rückzug. Karte, Kompass, Wein und Wasser packte sie in den Rucksack.

Doch die Flaschen brachen, als der Wanderer stolperte über einen Kieselstein, und der Wein verwässerte und das Wasser wein-te. Der süffige Tintensaft kleckste den Rucksack blutig, versickerte im lehmigen Grund. Die Glasscherben zerschnitten sein Ideenbuch, und das trockene Brot saugte sich feucht. Beim Greifen riss er die Finger wund.

Da sah der Philosoph die Wahrheit mit einem Mal: Bevor-rat-ung birgt Gefahr. Bestand hat, was besteht. Und er folgerte daraus die These: Sei auf der Hut auf dem Weg. Lass dich beraten zuvor. Und am Quell trinke, nicht von der Flasche. Und an der Krippe hole Nahrung, nicht im Hamsterbeutel! Suche den Brunnen auf und die Herberge, lass dich bewirten, denn du bist Wanderer und nicht Wirt. Schau den Gastwirt an, der von den Resten der Gäste gerundet, dessen Beine mit Adern verkrampft sind von den kurzen Wegen zwischen Theke und Tisch. Er schaut dem Ziehenden nach ohne Murren und begrüßt die Kommenden mit einem Lächeln. Er kennt ihre Wege nicht und verweist die Fragenden an den Wanderwart am Stammtisch. „Wirt bin ich“, sagt er, „und du bist Wanderer.“

Es kam die Zeit, da war die Steuer-Eigentumswohnung abgeschrieben. Doch ihm fehlte das Kapital, um sie zu erwerben.

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Erneut stieg die Schnecke aus dem engen Haus und fand zurück zum Muße-Nest.

In ihrem verlassenen Gehäuse entdeckte ein Wanderer das Auge, das ihn im Fühlerhörnchen anblinzelte. Nicht die reine, weiße Schutzhaut sucht der Wohnungslose, findet kein Wohl im verwalteten Taubenhaus. Die leere Hülse, außen gebleicht von der Sonne und innen besenrein, lockt den Obdachlosen an. Ihr Auge lud ihn ein. Es hat die Macht der Muße.

Der Schneckenkünstler sah das neue Bild, auf dem sich der Fremde in seine abgestoßene Haut legte, nackt, und fühlte nach dem Schlaf der ersten Nacht die Ruhe, ein Zuhause, sein Daheim. Sehr bald maserten am Gehäuse Marmorzeichen und die Perlmutthaut innen schillerte wieder im Glanz der Edelsteine nach den Farben des Regenbogens und das Haus duftete nach dem neuen Bewohner.

Auf der großen Leinwand im Atelier wanderten alle verlassenen und neu besiedelten Schneckenhäuser in die Sträucher und Hecken des Frühjahrs, ließen die Brösel des Winters rieseln. Als die Reifnächte endgültig zogen und die Taumorgen der Sonne wichen, fiel Fleisch aus den Schalen und wanderte in den Sommer, der es lebhaft glühte.

Und die Erde war trocken und kein Gedanke hing dem Winter nach.

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Ix von Pölz Stille und Ruhe – Die ganze Welt bringen sie wieder ins Lot. (Frei nach Laotse)

1 Des Stürmens und Drängens ist er schließlich müde geworden, er ist auf der Suche nach einem Flucht-Punkt, nach dem absoluten Einsamerfjörd, der Ruhe ausstrahlt. Er lebt nun zwar allein wie ein Single. Aber als solcher möchte er nicht tituliert werden. Das kann man in etwa nachvollziehen, wenn man sich sein bisheriges Wirken noch einmal vergegenwärtigt und auf den nächsten Seiten liest, wie er das Fadenknäuel zu diesem Thema entwirrt. Er breitet seine Notationen und Eindrücke auf dem Tisch vor sich aus. Bis der Magen zu Mittag knurrte, webte er die Schnüre zu einem anseh- und vor allem einsehbaren Teppich zusammen. Nicht selten warf er die Fäden wieder hin und träumte sich einen morgenländischen fliegenden Teppich, der ins Reich von tausendundeiner Nacht entführte. „Namenlos“ dichtete er:

Mein Name ist Ich. Manchmal hab’ ich m-ich vergessen. Da stehe ich lose daneben.

Als es draußen vollends hell war, so könnte man kalauern, da war auch bei ihm endlich die Erleuchtung aufgegangen. Tatsächlich aber legte sich, man konnte es nicht sehen noch

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hören, ein Schleier über sein Denken, wie der Morgennebel ein Tal verhängt. Eines Tages wachte er auf und erschrak über den Gedanken, dass er vom fein gewebten Gespinst sozialer Verstrickungen bedeckt, ja in es hinein verstrickt, verwoben war. Doch gleichzeitig kam er sich nicht mehr vor wie die dritte Person. Er war die erste.

Ins Ich schlüpfe ich, schlüpfe nicht aus wie das Küken. Es geht nicht um die Frage des Ursprungs: Ei oder Henne. Das Küken ist bereits zur Henne erwachsen. So gesehen schlüpfte die Henne in die Henne.

Aber ein anderer, der nicht als Ei der Henne ausgeworfen wurde, sondern aus einem Säugetier veräußert wurde oder eigenmächtig daraus gekrochen ist?

Ich komme nicht voran, muss mich wohl aus der Schale pellen. Ich bin nicht ich, ich bin Ix.

Ganz genau! Eigentlich bin ich Ix. – Ix wie der Buchstabe: x, y, z? Wie x-beliebig? – Auch, aber auch wie ich. – Ein Zwitter wohl? – Eher beides nebeneinander als ineinander.

Das war quasi die Geburtsstunde von Ix.

Satt, übersatt von abgebrochenen Diäten und wiederholtem Heilfasten ging Ix in die steinige Wüste. In das aufgelassene Forstchalét im Trockental bei Pölz zog er sich zurück. Er hatte seinen Einsamerfjörd bei einer ziellosen Wanderung gefunden. Der letzte Forstanwärter war ausgezogen, weil in diese dürftige Idylle keine Försterin zu locken ist. Wo kein Auto hinkommt, da lässt sich schon gar keine Menschin über die Schwelle tragen. Wo kein Forst ist, braucht keiner verwaltet zu werden. Die Wacholderhecken auf den Kalksteinhängen wachsen allein vor sich hin.

Wer mit dem Auto dorthin kommen will, der benötigt einen Geländewagen mit Allradantrieb. Dann könnte er an guten Tagen den schmalen steilen Gang durch die zerklüfteten Felsen schaffen. Eingebettet wie eine Schüssel in einen

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Waschtisch aus den 60er-Jahren, eine tiefe Schüssel allerdings, liegt die Einöde bei Pölz, die Leinacher Senke.

Man kann sich diese Kuhle in den Malm-Beta-Schichten – mit viel Fantasie – aber auch als einen Kescher vorstellen, ein Fischernetz, das auf dem Gesteinsboden liegen geblieben ist, als der letzte Riese das Weite suchte, weil das Land vollkommen austrocknete. Im Laufe der Jahrtausende hat grünes Moos das Netz in Beschlag genommen. Zwischen den Maschen hat sich gelegentlich aus angeflogenem Samen ein Busch durch die Humuslagen gedrängt, eine Wacholderstaude oder eine knorrige, verkümmernde Kiefer. Die Fichten am gegenüber liegenden Hang haben im letzten Jahrhundert ein paar arbeitswütige Untertanen eines Landherzogs gepflanzt, damit er den Zehnt kürzen möge. Wahrscheinlich aber auch in weiser Voraussicht, um ihren Enkeln Holz für den Winter zu bescheren. Aber auch sie kümmerten dahin. Ein mäßig starker Herbststurm entwurzelte sie mit der gleichen Kraft wie das Mütterchen damals die Kerze am Küchentisch ausblies. Dann ragte die Wurzelscheibe mit dem wenigen Erdreich in die Luft. Wie in einer Mondlandschaft lagen die Krater blank, der Kalkstein zeigte sich mit jedem Regen heller. Die Karstlandschaft ragte wie das nackte Oberhaupt aus einem Haarkranz, wenn der Mensch darunter in die gesetzten Jahre gekommen ist.

Ix zog diese Steinöde geradezu magisch an. Ist Ix vielleicht gar kein Mensch?

Doch, doch. Ix entstammt der zunehmenden Schicht der Ix-linge. Am Ursprung – im Pölzer Trockental Zehentbronn geheißen, weil die Altvorderen an dieser Quelle ihre Steuer abzuladen hatten – springen Rehe. Warum sollte davon sein Geist nicht angeregt werden?

Pölz ist ein verschlafenes Nest, das einst Slawen zwischen Tiefen und Höhen auf die Albhochfläche gebettet haben. Die heutigen Bewohner stecken zwar auch noch unter einer Decke, sie wird jedoch nicht selten gelupft und gerupft, weil der eine dorthin pendelt, der andere auszieht, um seinen

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Traum in der Fremde zu verwirklichen wie einst Ix. Einige sind neu unter die Decke geschlüpft, die mittlerweile einem Flickenteppich gleicht. Sie kamen von außen und brachten die weltweite Vernetzung mit, aber die knüpfen sie hinter den renovierten Wänden der günstig erstandenen Bauernhausruine. Ein jeder für sich vor sich hin mit sich und in sich hinein. In ihren Gärten lassen sie die Gurken krumm und die Tomaten runzelig wachsen. Aber wer sich nicht scheut, sie zu kosten, der wird auf den Geschmack kommen, den er bei den augenfälligen, verwässerten Früchten der Angebots-Stillleben in den Kaufmärkten nicht finden kann.

In wehmütigen Minuten gerät Ix mitunter in die Sagen-Fantasterei. Dann kann Ix nicht mehr mit Sicherheit unterscheiden, ob Ix die Geschichte irgendwo gehört, gelesen oder aus irgendeiner fixen Idee heraus selber ersonnen hatte. Von Tummlern hatte Ix allenfalls gelesen. Aber wenn man sich die Talsohle im Frühjahr anschaut, den Bachlauf im Herbst durchwandert, da ist es kein Wunder, wenn auch der menschliche Geist in bunten Farben zu malen beginnt, wie die Blätter an den Heckenrosen und die Buchen und die Herbstzeitlosen. Diese Braun- und Rottöne kann nur ein Meistermaler mischen. Und wer steht ihm Modell? Ganz genau: dieses prächtige Fleckchen Natur! Die Tafelschichten über dem Tummler erinnern ihn an die Schiefertafel, auf der er die ersten Buchstaben zu schreiben gelernt hat. Ix las den Text auf der Tafel am Tummler im Leinachtal:

„Nach der Schneeschmelze im Frühjahr tritt aus dem Felsenloch Karstwasser aus, zeitweise in einer Flut, die den gesamten Talboden des Trockentales bis zur Kühlgrundmühle bedeckt. Dabei sind auch die Steine vor dem Felsenloch heraus gespült worden. Da die Quelle die restliche Zeit des Jahres versiegt, nennt man sie im Volksmund auch Hungerbrunnen. Das Herausquellen großer Wassermengen aus dem Tummler wurde früher als unheilvolles Omen gedeutet. Der große Tummler entspringt aus einer Spalte des Malm Beta, die durch das Auflösen des Kalkes zu einer Quellhöhle erweitert ist. Die Höhle ist 18,50 Meter lang, 2,50 bis 0,40 breit und 0,80 bis

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0,20 hoch. Der kleine Tummler, eine weitere nur im Frühjahr schüttende Karstquelle befindet sich 200 Meter talaufwärts.“

Einem Altphilologen humanistischer Bildung fiele wohl die griechische Amphore ein, um das Refugium im Leinachtal zu deskribieren, jener armtiefe Krug, aus dem bereits die Ägypter den Geist des Weines geschöpft und in den sie das Öl der Oliven gepresst haben. Auch damit kann sich Ix anfreunden. In der Tat schöpft er seit Wochen aus der Stimmung dieses Weinberges seine Seelenlagen. Und die Grundlagen für den Magen hältert Ix hinter der Hütte in einer Erdhöhle. Sie erfüllt für ihn den Zweck eines Kühlschrankes. Papier zur Lagerung seiner Kopfnahrung bringt Ix gelegentlich aus dem Abfallcontainer einer Druckerei von den Stadtgängen mit. Das Literglas mit Tinte von einem Flohmarkt würde noch für die nächsten zwei, drei Jahre reichen. Auch der Zehnerpack Bleistifte aus dem Supermarkt-Schnäppchenangebot ist auf Dauer angelegt. Kerzen und Teelichte darf Ix auf keinen Fall vergessen, wenn er wieder mal in die Bibliothek geht. Ix lebt wirklich ohne Strom. Das Holz, um im Winter den Gussofen zu heizen, liegt massenweise im Wald herum. Man muss sich nur bücken, um es aufzuheben. Auf dem Ofen köchelt im Topf die Suppe vor sich hin.

Und was Ix der Gesellschaft nützt? Als Erstes stellt Ix die rhetorische Gegenfrage: Wie nützt du? Ix redet jeden mit Du an. Und diese Frage schmettert Ix dem Steller heftig ins Gesicht. Im zweiten Anlauf stellt Ix den Bezug zum Kosmos her. Wie die Fliege auf den flüchtigen Blick hin lästig sei und doch ein Glied der Nahrungskette, so könne man die Frage doch auch bei etwas Kopfarbeit selbst beantworten.

Nun wird nicht nur ihm selbst, sondern jedem Hinterfragerjournalisten einleuchten, dass das bloße Anwesendsein eines Menschen Sinn genug ist. Da braucht man keine Philosophen bemühen, die konstatieren: weil sie leben, denken sie und sind sie – und Umkehrschluss. Fange nicht schon wieder an, einzuwenden, das habe doch nichts mit

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dem Zweck zu tun, den man innerhalb der Menschheit erfüllen müsse. Sinn und Zweck sind eins, wird Ix kontern. Die Absicht und Herkunft der Fragesteller sind die einzigen Unterschiede. Oder hast du deine christliche Glaubenslehre, auf der dein Denken beruht, bereits eingemottet?

Ix begab sich an seinen Denkort an der Leinach. Ix saß an derselben Stelle im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Und aus dem Rinnsal rann Sinn. Den hielt Ix in Dreizeilern fest. Ob er beim Wiederlesen noch Sinn macht, lässt Ix dahingestellt sein. So viel ist jedenfalls sicher, in dem Moment der Betrachtung leuchtete er hell-sichtig auf. Die gleiche Sternschnuppe fällt nur einmal aus dem Nachthimmel, und der Sternstunden hat die Menschheit wenige.

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