Leseprobe Tom Schulz: Das Wunder von Sadagora

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Tom Schulz Eine Polnisch- Ukrainische Reise

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Auf seinen Reisen durch Schlesien, von Krakau über Warschau bis an die Ostsee entdeckt der dichter Tom Schulz ein Land, das ihn in die eigene Geschichte zurück gelangen lässt. Seite für Seite entsteht ein vielschichtiges Mosaik aus Erinnerungen, Erlebnissen und Epiphanien – mit einem feinen Gespür für die Erschütterungen der Gegenwart.

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Tom Schulz

Eine Polnisch-Ukrainische Reise

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Beflügelt vom Verlangen, die Zimtläden zu besuchen, bog ich mehr fliegend als gehend in eine mir wohl bekannte Straße ein, darauf bedacht, nicht vom Weg abzukommen.«

Bruno Schulz

DritterTeil

»

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GALIZIEN

Zwei Mal bin ich durch Ost- und Westgalizien gefahren, das eine Mal per Zug, das andere Mal im Traum. Was ich von den Landschaften

gesehen habe, entspringt den nächtlichen Phasen des Versinkens in einer eigenen Wirklichkeit. War es in einem Nachtzug oder in jenem Traum, als die Hügel, sanft geschnitten, anhoben zu einem Lied? Lied von der Heimat, die jemand besaß und verlor. Beides vermischt sich in der Erinnerung.

In Przemyśl kündeten die Türme von den Weissagern. Wenn weiß schwarz sagt und schwarz weiß, bestehen Grenzen. Grenzen, die ver-wischt werden in den Phasen des Traums. Einer inneren Landkarte gleich, etwa aus den Aufzeichnungen von Manès Sperber. Galizien betrete ich mit verbundenen Augen am Tag, der übergeht in hell erleuchtete Nacht.

Ich überließ mich meinen Gedanken, die mich zurück zu meiner ersten Fahrt nach Galizien führten. Damals kam ich den umgekehrten Weg und es war Tag. Wir waren eine Gruppe von Schriftstellern aus Deutschland, Polen, Norwegen und der Ukraine. Wir saßen in einem Abteil mit offener Tür zusammen und scherzten über die Beschaffen-heit unseres Zuges und der Gleise.

Als wir hielten, der Waggon stehen blieb und die ukrainischen Grenz-polizisten das Kommando übernahmen, meine Gedanken rasch unter-brachen, zeigte die Uhr zwei. Einer von ihnen öffnete die Tür und wollte unsere Papiere sehen. Er schaute streng, blickte tief in die Pässe, blätterte von hinten nach vorn und von vorn nach hinten und nahm sie an sich. Stellte den ukrainischen Mitreisenden Fragen nach dem Grund der Fahrt, die diese in ernster Rede beantworteten. Es waren alles in

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allem in unserem Waggon vier uniformierte bewaffnete Männer und eine Frau, dazu zwei Wachhunde. Einer schnüffelte den Gang entlang, der andere bewachte die Waggontür. Das Licht blieb überall an und allgemeines Warten setzte ein. Nach einer Viertelstunde begann der Wachhund an der Ausgangstür zu winseln, es nützte nichts. Befehl ist Befehl. Alle im Zug hatten auszuharren, bis die fünf oder sechs Grenzer der Ukraine ihren Dienst nach Vorschrift verrichtet hatten. Und das konnte dauern. Eine weitere halbe Stunde ging vorüber, an Schlaf war nicht zu denken, als sich die Tür ruckartig öffnete und einer der Uni-formierten jedem von uns seinen Pass reichte und dabei die Vornamen nannte: Tom, Natascha und Oksana. Noch einmal zehn Minuten später durchsuchte ein weiterer Uniformierter vermutlich unteren Dienstgra-des das winzige Abteil und hielt einen verwinkelten Spiegel an einem Holzstiel in den Unterschrank der Kommode. Weitere zehn Minuten später ruckte der Zug an und blieb nach kurzer Zeit stehen. Wir hatten die polnische Seite erreicht. Die Kontrolle verlief zügig und unaufgeregt. Ein einzelner Grenzpolizist scannte die Pässe und donnerte ohne viel Federlesen einen Stempel hinein. Ein zweiter kam und bat Oksana, die Stumme, die bis dahin kein einziges Wort gesprochen hatte, ihren riesi-gen Koffer zu öffnen. Er blickte stichprobenartig hinein. Nach wenigen Minuten ging das Licht aus und wir alle konnten endlich schlafen. Der Zug rumpelte los wie der Deckel eines Kochtopfs auf der Herdplatte. Ein kurzer Schlaf nur oder allenfalls ein kurzer Traum:

Die Abteiltür fliegt auf, drei Uniformierte laufen strammen Schrit-tes über den Gang. Ihre Gewehre im Anschlag. Sie tragen dunkelbraune Uniformen. Einer mit einem Schäferhund an seiner Seite. Alle Lich-ter gehen an. Dann ein vierter, kleiner als die anderen. Er hält einen schlappohrigen Hund an der Leine. Anstelle einer Uniform trägt er ein Zirkuskostüm. Und auf dem Kopf einen Zylinder. Er schneidet Grimas-sen und redet ohne Punkt und Komma auf mich ein. Nach ein paar Sätzen, sage ich auf Russisch, dass ich ihn nicht verstehe. »English?« Ich nicke. »Good Morning. Welcome in the Ukraine! This is a free country! Do you have weapons or drugs?« Ich wachte schweißgebadet auf. Alles war ruhig, schlief.

Wie sehr ich mich auch bemühte, mir zu versichern, dass alles nur ein Traum sei, so wenig glaubte ich mir, denn längst war der Traum

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nicht einfach nur ein Traum, sondern die Erweiterung der sogenannten Realität. Eine Traumwirklichkeit, in der die Zeitkoordinaten aufgeho-ben sind, jeder Raum sich öffnet von unsichtbarer Hand. Wie genau ich hierhergekommen war, schien fraglich oder zweifelhaft. War dies Ost-galizien?

Ich schloss die Tore einer sanft entschlafenen Stadt auf, deren Namen ich nicht kannte. Kurz zuvor war eine Hängebrücke herunter-gelassen worden. Sie führte über einen breiten Burggraben, auf dem Wasserlinsen schwammen. Die hölzernen Torflügel waren grün gestri-chen und aus massivem Holz. Ein ausgeschnittenes Holz für Jahrhun-derte, schwer beschlagen mit Gottesfurcht. Eine feste Burg mit nächt-lich verlassenen Gassen voller Lichter. Ich musste im Traum, ohne es zu merken, weitergegangen sein. Als ich erwachte, anderentags, war ich schon an jenem Ort.

LEMBERG

Die Zugfahrt von Krakau nach Lemberg dauert beinah zehn Stun-den, aus den bekannten Gründen oder den weniger bekannten. Mit Schwung verabschieden sich Lokomotive und Waggons in eine son-nige Umgebung, die vieles verspricht, nur eines nicht lange: schnelle fließende Bewegungen. Am Grenzbahnhof Przemyśl werden die Wag-gons auf einem Abstellgleis mittels einer Hebebühne angehoben, wozu in einigen Abteilen ein Loch in der Zwischendecke mit einem Haken geöffnet werden muss. Zwischen Polen und der Ukraine tut sich ein schwarzes Loch auf. Unsere Waggons werden auf das nächsthöhere Niveau gehoben. Was dieses höhere Niveau bedeuten könnte, bleibt vorerst noch im Unklaren. Dann liegen wir in den breiten Gleisbetten. Unsere Billets sind noch nicht abgelaufen. Das schwarze Loch wird ge-schlossen mit einem Hydrantenschlüssel. Aus dem scheinbar toten Gleis wird das lebendige Gleis, das uns alle miteinander verbindet: die Teenager in den Liegewagen und die Männer mit Bier auf dem Korridor. Die Mütterchen, dampfend mit ihren Papierosy. Mit den beschlagenen Zwiebeln und Aufschnitt, mit Uhren aus Wäldern, in denen der Kuckuck gerufen hat. Die Schaffner sind freundliche Leute. Sie bringen

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Tee und Geschenke, meistens Kekse. Die Zollbeamten sind weniger freundliche Leute mit riesigen Augen und quadratischen Schädeln. Sie scheinen dem Kampf um eine Ölquelle auf dem Mond entkommen zu sein. Zwei Stunden stehen wir an der Grenze zwischen hellem Tag und hereinbrechender Dunkelheit. Dann fährt der Zug weiter, die ersten Meter auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, und kommt prompt zum Halt.

Wir erreichen Lemberg in der kühlen Frühe des Taus. Diese Fahrt wird uns erzählen als Sonderlinge in einem Land zwischen dem Tag aus Kunsthonig und der Nacht aus Blenden. Wer die Wahl hat, muss mit dem Kaffeelöffel den Zucker umrühren, bis er auf dem Grund ange-kommen ist. Guten Morgen, Lemberg, du Schöne.

HOTEL SPUTNIK

Wir wohnen in einem alten Betonkasten mit Namen Sputnik, einige Kilometer von der Altstadt entfernt: groß angelegte Lobby, mehrere Schalter zum Einchecken. Sicherheitskräfte bewachen den Eingang. Jeden Moment muss der Generalsekretär mit seiner Leibgarde zur Besichtigung der Aquarien eintreffen. Wer sind die Männer an den Tischen vor der Bar? Genosse Goldfisch wartet in der Lobby. In den Gängen stehen Geschäftsleute in sterilen anthrazitfarbenen Anzügen. Blond toupierte junge Damen aus der Kaufgesellschaft stolzieren vor-bei. Ich habe nicht genügend Geld dabei, um sie auf einen grusinischen Tee einzuladen. Ob Stalins Neffe hier vormals wohnte?

Das Hotel Sputnik verwandelt sich nachts in ein Raumschiff und die Gäste träumen von einem Flug zu einem fernen Planeten. Am Tag liegt es hinter einem massiven Kreisverkehr an einem Wohngebiet mitten im ehemaligen sozialistischen Realismus. Zum Frühstück essen wir mit Kraut und Schweinefleisch gefüllte Piroggen. Wie soll man ihn beschreiben, den Realismus? In einer Form von Trauerarbeit. Spann du den Ochsen vor die alte Karre, Freund! Ich spreche mit Bogdan Sławinski, einem skeptisch dreinschauenden Kollegen aus Warschau. Er wirkt müde. Wie ich hat er nur ein paar Stunden geschlafen in einem zu weichen Bett in einem Doppelzimmer, das wir uns teilen. Wir

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sind mit weiteren Gästen der Villa Decius zu Gast beim Buchfestival von Lemberg. Ich trinke schwarzen Kaffee, Bogdan Tee. »Lass uns in die Stadt laufen, wir haben noch eine Stunde Zeit.« Er nickt. Wir begegnen Stalins Enkel in der Lobby, er trägt eine Kette mit einem Kreuz über der breiten Brust. Männer stürzen in die Bar zum Mund ausspülen. Es ist kurz vor zehn Uhr morgens. Die blond gefilmten Damen mit den Auf-spritzungen sind verschwunden, die Männer mit den abwaschbaren Anzügen nicht.

Wir laufen zu Fuß durch den ehemaligen sozialistischen Realis-mus. Er erkennt uns nicht wieder, wir ihn schon. Wir gehen an den Plat-tenbauten vorbei, die sie hier nur »die Schlafstadt« nennen. Kein guter Schlaf, vermuten wir. Die rötlich-braunen Balkone haben es aufgege-ben zu rosten. Auf dem Flachdach einer Garage liegen alte aussortierte Strümpfe, aus dem Fenster geworfene Teller, Zigarettenpackungen, Flaschenscherben. In der Luft ein brenzliger Geruch. Genießen wir den Sonnenschein, sage ich zu Bogdan. Er setzt ein vieldeutiges Lächeln auf, in das sich immer wieder Zweifel mischen. Vor uns ein Outlet Center. Stalins Enkel kauft sich ein Paar Sneakers von Adidas. Wir sehen die Türme von Galizien. Steuern allmählich auf die Altstadt zu. Durchwaten eine aufgerissene Straße voll von Bauschutt und freigelegten Rohren. Sputnik fliegt. Stalins Enkel spielt mit dem Goldkettchen über der be-haarten Brust. Hier trennen sich unsere Wege. Hinter uns der sozialis-tische Realismus, vor uns die neue Zeit. Wir sagen karasho. Setzen uns auf zwei Plastikstühle vor einer Tagesbar. »Kaffee?« »Kaffee!«

VOLLE HÜTTE

Wohin geht man in Lemberg zum Mittag, wenn man wenig Zeit hat und ein nicht gerade üppig gefülltes Portemonnaie?

In die original ukrainische Fastfood-Kette »Volle (Bauch)-Hütte«, unweit der Universität. Hier werden wir in folkloristischem Stil und mit guter Gastlichkeit verwöhnt. Ein wenig Lokalpatriotismus ist ange-bracht, um die einheimischen Speisen wie die meistens vorzügliche Soljanka oder den Borschtsch, die mit Fleisch oder Kraut gefüllten Piroggen gegen die längst eingedrungenen ausländischen Feinde des

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schnellen und fettigen Geschäfts zu verteidigen und die Vorzüge hiesi-ger Hausmannskost zu preisen.

Die Bauch-Hütte ist ein geräumiges Schnellrestaurant, das sich über zwei Ebenen erstreckt. Im Erdgeschoss stehen Holztische und Stühle, alles ist eher rustikal, während in der zweiten Ebene ein großes Eltern-und-Kinderzimmer eingerichtet wurde und Süßigkeiten wie Kuchen und Eis angeboten werden. Man stellt sich in eine Reihe und wählt aus dem reichhaltigen Angebot aus. Bezahlt die Speisen und Ge-tränke bei hübschen Kassiererinnen, die ganz wie in ukrainischen Mär-chen gekleidet sind und ein weißes Kopftuch tragen.

Ich selbst, der ich mehrere Male binnen kurzer Zeit in der »Vollen (Bauch)-Hütte« zu Gast war, schätze neben den ausgezeichneten mari-nierten Pilzen und Suppen vor allem das Bier, das ohne Schaum aus-kommt – und die Kundschaft, die sich neben einfachen Arbeitern und Angestellten auch aus zahlreichen recht jungen Müttern mit ihren hübschen, fast erwachsenen Töchtern zusammensetzt. Wie hunderte, ach was tausende Menschen täglich gehe ich gern in die »Bauch-Hütte« und esse Rübensuppe mit Smetana, trinke ein Bier ohne Schaum und schaue Fußball auf dem großen Flachbildschirm.

Lwiw oder auf Polnisch Lwow, die Hauptstadt von Galizien, muss einer jener zur Genüge zitierten Spiegel gewesen sein, der, einmal zerbro-chen, immer wieder zusammengeklebt wurde – gleich mehrere Male im Lauf der Jahrhunderte. Die zusammengefügten Teile, womöglich Scherben und gröbere Splitter, bewirken, dass der Spiegel das Bild der Epochen nur mehr unvollständig wiedergibt. Wie die Imagination von der langen Schleppe der Habsburger, die ihre Herrschaft zu krönen wussten an einem solchen Platz, deren Reichtum und Geschmack uns heute geläufig vorkommt. Es beschleicht einen schnell die Vorstel-lung, dass auf den alten Monumenten lediglich Pferd und Reiter ausge-tauscht wurden. Statt Habsburgern finden sich auf den Sockeln gewich-tige Männer, klobig und mit dickem Schnauzer. Unter ihnen Dichter, für die das Wort ein Schwert war, glaubt man der postumen Darstellung ihrer Nachfahren. Was im Spiegelbild fehlen muss, ist die abgrundtiefe Trauer – denn Trauer kann niemals an das heranreichen, was sie nährt. Während die Zeit als Nachhut in einem Sprengwagen durch die Straßen

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fährt, wird die Hochzeitstreppe der Kathedrale von einem Mütterchen mit einem Reisigbesen gekehrt: so wie seit eh und je. Hochzeitspaare spielen noch einmal ihr bisheriges Leben nach, ehe sie zusammenge-führt werden. Ein Laienspiel. Die Gegenwart, genau eingestellt auf den Bruchteil der Sekunde, läuft mit einem irren Beschleunigungsfaktor ab, der das Verrinnen der Zeit um ein Vielfaches beschleunigt. Während die vergangene Zeit nicht mehr verrinnen kann, sind Gegenwart und Zukunft bereits vom Ufer losgelöst in einem reißenden Fluss.

MOZART IN LEMBERG

Die rippenförmig starre Federkernmatratze meines Bettes weckte mich sehr früh. Ich spürte es im Kreuz, stand gegen sechs Uhr auf und be-schloss wenig später, durch die Stadt zu spazieren. Als machte ich mich an ein Tagwerk, wanderte ich aus dem Zentrum: ein Stückchen weiter Richtung Peripherie. Die Stadt erwachte gerade und setzte schon ein Bein vor das andere, beschleunigte kurz darauf ihren Schritt, es ging auf acht Uhr zu. Auf meinem Weg, der mich wer weiß wohin führen sollte, kamen mir hunderte Menschen entgegen, es war die Stunde des Auf-bruchs. Alle liefen sie irgendwohin, sie kreuzten die Straßen, kürzten den Weg ab. Wohin des Wegs?

Es war ein Werktag mitten im September, irgendwo mussten sie hingehen. Irgendwohin mussten sie verschwinden, vermeintlich hinter eine Tür, die ächzend nachgab. Sie taten alle etwas, von dem ich leise wusste. Ich wollte das hinter mir lassen: das sinnlose Tun. Die Denkmä-ler auch. Eines bedeutender als das andere. Das Mickiewicz-Denkmal am Prospekt Svobody überragt die Statuen in Krakau und Warszawa bei Weitem. Die Polen reklamieren ihn für sich, die Litauer, die Ukrainer. Papperlapapp. Staaten. Nationen.

Ich fragte mich auf meinem Weg, ob Mozart jemals in Lem-berg gewesen war. Er muss, denn Lemberg klingt an wohlgelitte-nen Stellen, die ins Offene weisen, in manchen Altstadthöfen oder an bestimmten Gabelungen der Parks, nach den langsamen Sätzen seiner Klaviersonaten. Mozart muss also hier gewesen sein und spielte vor den Habsburgern auf dem Pianoforte. So deutlich klingt Mozart nach

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Lemberg und Lemberg nach ihm in einzelnen Momenten oder Passagen, die Gärten zeigen, gefallene Früchte, ihre Süße und manchmal auch die Wehmut. Doch es hängt keine Bitterkeit in den Pflaumen, und sollten in einigen von ihnen Maden hausen, so schmecken auch sie süß wie das junge Fleisch.

Ich sah, als ich weiterlief, Trauben von Jugendlichen vor der Medi-zinischen Fakultät. Sie warteten vor den Gebäuden. Worauf? Sie war-teten auf etwas, von dem ich leise wusste. Ein Klingelzeichen oder den Beginn einer neuen Zeiteinheit. Ich wollte dies hinter mir lassen ein für alle Mal: das sinnlose Tun. Die Gedenktafeln auch, die Orden auf einem Revers. In mir atmete noch der Geruch frisch geschnittener Astern und Hortensien, den ich seit dem Passieren des Blumenmarkts abseits der Kathedrale mit mir trug, als ich den Eingang zum Lychakiv-Friedhof gesucht hatte. Die verschattete Stille, die ich mir nach dem Treiben des morgendlichen Berufsverkehrs von diesem Ort erhofft hatte, wollte sich nicht gleich einstellen. Zu viele Geräusche von der nahen Straße. Erst als ich tiefer in das Areal vordrang, breitete sich Ruhe aus. Präch-tige Jugendstilgruften und kleine Kapellen, Familiengräber, Steine mit eingelassenen Köpfen en face, Frauenabbilder. Verehrung, Pathos und Totenkult, auch Kitsch – alles findet sich hier dicht beieinander. Alles im Übermaß und in einer Größe, die den Erdenmensch um Längen überragt. Hochrangige Generäle, Politiker, Kirchenfürsten, Katechisten ihrer Zeit. Hier liegen sie neben anderen kleineren Häuptern, von denen niemand wissen muss oder jemals wusste. Russen, Ukrainer, Polen, Deutsche. Helden, Sowjetniks, allerlei Patriotengräber, überwiegend gelb und blau bekränzt, oft mit Plastikschmuck und Kunstblumen. So hält sich das Gedenken länger. Große Männer, bedeutende Frauen, wer weiß schon so genau! Herrlich die Stuck- und Marmorengel und Jung-frauen aus geküsstem Basalt. Durch viele Reihen muss man gehen, ehe man sich sattgesehen hat. Ein weihevoller Ort, ein Platz zum Tagträu-men: morbide, leicht verschattet.

Ich schlenderte zurück ins Zentrum von Lwiw. Lief, wie ich merkte, das eine oder andere Mal im Kreis aus Zerstreutheit. Es wurde lang-sam Mittag, recht eigentlich erst später Vormittag. Menschen kreuzten meinen Weg. Sie taten alle etwas, von dem ich nur leise wusste. Doch ich sah. Die Messe ging zu Ende oder sie begann gerade – was machte

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es für einen Unterschied? Einige beteten, blieben auf dem Vorplatz der Kirchen und Kathedralen stehen, weil drinnen kein Platz mehr zu erheischen war oder um schneller zu entweichen. Einige saßen an Imbissbuden, tranken Nescafé. Andere rauchten vor Hauseingängen, Schulen, Instituten für Human- und Veterinärmedizin. Wieder andere bekreuzigten sich im Vorübergehen, es lag darin eine Geste des Verste-hens oder der Hilflosigkeit – was machte das für einen Unterschied? Aus Seitenstraßen drängten Menschen vom Schatten ins Licht und umgekehrt. Es blieb sich gleich. Einige verschwanden in Gebäuden, wurden von Toren oder Türen geschluckt. Alle taten irgendetwas, von dem ich leise wusste. Ich wollte das hinter mir lassen: jenes sinnlose Tun. Und war längst darin angekommen, als ich atmete und schrieb, an einem Kiosk saß. Nescafé trank und eine Frau, weder alt noch jung, mich nach einer Zigarette fragte.

Wie in alten Handelsstädten drängt nun alles zu einer Mitte, bricht sich Bahn mit Vehikeln verschiedener Art. Aus allen Richtungen rollen mit Pferdestärken ausgerüstete geschäftige Städter und Pendler vom Land zu scheinbar demselben Marktplatz, der jedoch nicht ein und der-selbe Platz ist: sondern ein Fluss mit vielen Armen. Reiche Kaufmanns-leute in großen Limousinen, Männer in Bierwägelchen und Kleinbus-sen, Kuchenausfahrer und Handwerker in antiken Karossen. Sie alle brechen auf in das Zentrum der Dinge, die heutzutage mehr denn je Waren verkörpern. Nicht der Dinge im philosophischen Sinn: sondern Waren, Produkte, Apps.

Die schmalen Straßen und gewundenen Gassen sind bevölkert mit überwiegend jungen Menschen. Fußgängern in rasantem Schritt, deren Adoleszenz zumeist in Gruppen auftritt, sich verbindet, und ei-nem Strom gleich in Schulen und Universitätsgebäude drängt. Kurz darauf zieht wie jeden Tag der Antiquitätenmarkt hinter dem Opern-haus seine Stände auf. Stehen die Babuschkas von den ehemaligen Kolchosen, jetzt Kleinunternehmer, am Straßenrand und breiten ihre Waren aus: Gurken, Äpfel, Feldblumen und Kohl. Abseits des tou-ristischen Ausfallwinkels sind die Gesichter ernst und gezeichnet. Mit Furchen versehen. Aus einer alten Zeit, die niemals vorbei sein wird, was auch immer die Reklame einer westlichen Welt den hei-mischen Augen vorgaukeln will. Hier wird der Osten, vor Untiefe

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schlingernd und Leid, immer von einem großen heimlichen Schmerz erfüllt sein, der sich von manchen Tasten- oder Saiteninstrumen-ten ausruft. Wie an einem abseitigen Pfad des Parks, wo der schnauz-bärtige, beleibte Nationaldichter Iwan Franko auf seinem riesigen Monument steht. In all den Aufbruchstimmungen, dem Drängen in ein Kernland, schwingt leise der Untergang mit. Der Untergang in seiner volkstümlichen Melodie. Wohin sich das Schicksal wendet, wenn von Schicksal die Rede ist und sich ein Aberglaube meldet in der inneren Stimme – wohin es sich wendet? Es liegt ein verbrann-tes Feld mit toten Pferden dahinter. Ein Dorfanger mit Erhängten – ein Rain und eine Schneise in den Wald, wo die verschwunden sind, von denen niemand mehr die Namen weiß. Ein alter Schmerz, ein viel älteres Wissen und ein Vergessen.

Wer möchte sich nicht im ersten warmen Laub verlieren, an einem Spätsommertag, in Lwiw, offiziell in der Ukraine? In Lemberg, ehemals Polen, jüdisch geprägt, und tiefer noch im habsburgischen Galizien, der früheren Residenz der österreichisch-ungarischen k. u. k. Monarchie?

Die Mittagssonne stand hoch, als ich zum Marktplatz für einfache Leute schlenderte. In einer kleinen Gaststätte wollte ich eine Suppe essen. Ich fand einen Holzverschlag und konnte mich verständlich machen: rote Rübensuppe mit Brot. Wie viele Scheiben? Dwa. Eingeborene löffelten zufrieden aus ihren Tellern. Auch ich war glücklich. Der Borschtsch kostete fast nichts und schmeckte köstlich, besser als in Polen, musste ich eingestehen. Draußen saßen Pensionäre und Bauarbeiter beim Bier. Ich spazierte weiter, sah die Mütterchen und Söhne am Straßen-rand ihre Feldfrüchte anbieten. Karfiol, Tomaten, Walnüsse, die letzten Zweige voll Johannisbeeren, Mangold oder Spinat, Mais und ein paar Schritte weiter: getrocknete Fische. Was braucht der Mensch in Zeiten eines wild wuchernden Kapitalismus: ordentlichen Apfelmus! Die Kiepen waren voll von gelb und rotbäckigen Äpfeln, alles mehr als er-schwinglich für uns wohlhabende Leute aus Mittel- oder Westeuropa. Große Würste gegen die kalte Progression hingen an Balustraden. Ripp-chen und Kotelett, meistens ungekühlt. So lassen sich Schinken und Speck schneller verzehren: bei Zimmertemperatur, für den, der es sich leisten kann. Die Hochzeitstorten mit rotem Zuckerguss. Die Braut ist

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schon bestellt und wartet vor der »Opera Passage« oder »King Cross Leopolis«, einer exklusiven Mall. Wenn man einen Weg einschlägt in Lwiw, hat man die Wahl: Shopping oder Kirche, Kneipe oder das traute Heim mit Mutter, die an Socken strickt.

Das ist natürlich gelogen! So viele schöne Frauen flanieren jeden Tag durch Lwiw, dass die gängigen Maßstäbe nicht mehr taugen, denn wer nur nach Äußerlichkeiten schaut, ist bald heillos überfordert. Es ist kaum auszuhalten, wie die Schönheit in Lwiw zur Dutzendware wird, rein äußerlich. Daher sind wohl so viele Märchen über die Frauen in der Ukraine im Umlauf, erzählt zumeist von Männern, die in die Jahre gekommen sind: willig seien sie, anspruchslos und sexy. Und dass sie schon am Morgen nackt die Wohnung putzen. Pustekuchen! Die jun-gen Frauen von Lwiw lesen heimlich Liebesromane, die nicht in ihre Sprache übersetzt wurden. Sind sie noch jünger, sitzen sie vor einem McDonald’s und flüstern sich Derrida-Zitate zu, die nicht in ihre Spra-che übersetzt worden sind. Sie trinken dunkles Bier aus der Flasche, ohne dabei zu gluckern. Auf ihren T-Shirts stehen Wörter wie »Female Supervision« oder »Baudrillard Dropkick«. Den Sommerkleidern haben sie die Borte abgeschnitten, manchmal fehlt an ihrer Ferse ein Stück Haut oder Fleisch. Wie im Märchen passt ihnen jeder Hackenschuh. Ge-legentlich bleiben sie am Gehsteig hängen oder stürzen auf den Asphalt und reißen sich die engen Hosen auf. Das macht aber nichts, denn sie haben immer eine beste Freundin an ihrer Seite, die sofort einschreitet und Hilfe leistet.

Ich bin von meinem eigentlichen Thema abgekommen: Ich schlenderte durch die Altstadt, in mir erklang die Sonate »Les Adieux«. Seit ich auf einem Trödelmarkt vor einigen Jahren die LP-Box mit allen 32 Sonaten in der Einspielung von Alfred Brendel gekauft hatte, bin ich nie wieder davon losgekommen. Ich wurde süchtig und habe die meis-ten Sonaten seitdem dutzende Male gehört. Ich fing an, ältere Einspie-lungen zu sammeln von Schnabel und Wilhelm Backhaus. Dann kaufte ich mir die Platten-Box noch einmal in der Einspielung von Wilhelm Kempff. Sie kostete einen kaum erwähnenswerten Betrag. Die anderen, so schien es, hatten aufgehört, den Meister in Gänze zu hören. Ich fing an und es ließ mich nicht mehr los. Ich verdanke diesen einzigartigen Stücken voller Zerrissenheit und Liebeswahn, voller Sehnsucht und

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Verzweiflung, dass ich in den dunkelsten Stunden des Lebens niemals aufgegeben habe. Ich verdanke den Sonaten den Glauben an das Auf-bäumen, als ich am Boden lag. Und, sie haben mich niemals zweifeln lassen, dass Poesie, das Wort – und die Musik – als Sprache zusammen gehören. Deshalb ist diese Musik in mir, und als ich jetzt die kranken Kastanien hinter dem Opernhaus sah, war mir nicht bange. Sie würden absterben, ja – aber Freunde, diese Töne, würden bleiben!

Ich steuerte auf den Kunstmarkt für Antiquitäten und Kitsch zu, der zwei Straßen hinter dem Opernhaus zu finden ist. Herrlich bestickte Tischdecken und Blusen, für die ich leider keinen Bedarf habe, wurden angeboten. Für härter Gesottene darf es hier auch ein Andenken von der Deutschen Wehrmacht sein oder eine Uniform, die Stalins Neffe trug. Eine Handgranate, signiert von Rommel. Mich umgaben jedoch mehr die weicheren Faktoren, alte Postkarten und liebenswerter Krims-kram, Silberlöffel, Eierbecher aus Zinn, Matroschkas. Ich kaufte eine alte Postkarte von 1916 mit den »Hetmanschen Anlagen«, die heute so nicht mehr zu finden sind. Wie vieles ja in seiner Pracht verschwunden ist. Dies zu bedauern, bleibt uns wenigstens, an einem Tag wie diesem. In einer Kiste fand ich eine Postkarte, die im Frühjahr 1917 in Lemberg eingetroffen war, geschrieben von einer Frau an ihren Bruder Walther. Zu jener Zeit, als der österreichische Monarch Franz Joseph I., gerade das Zeitliche gesegnet hatte und die herrliche k. u. k. Monarchie bereits dem Untergang geweiht war. Wie schön muss das habsburgische Por-zellan verklungen sein, es muss geklungen haben wie an einem riesi-gen Polterabend! Ach, einmal die von schwangeren Buchen und Linden befeuchtete Luft der Kaiserzeit in die Nase ziehen, sie wiegen, und dann tief ausatmen! Eines Tages wird das Flüsschen Poltwa, das einst durch Lembergs Prachtstraßen floss und später kanalisiert wurde, wieder sin-gen. Von den Tischgesprächen und vergoldeten Lüstern, von gezwirbel-ten Schnauzbärten und dem verschlossenen Wesen schöner Frauen-zimmer, die noch die Sitten auf Straßen und Plätzen kannten. Einmal wird das Flüsschen wieder rauschen am Opernhaus wie ein Walzer der Sträuße, eines Tages kommt der Kaiser nackt zurück nach Lemberg!

So sind jetzige Zeit und vergangene Zeit vielleicht gegenwärtig in künftiger Zeit. Die vergangene Zeit ist gegenwärtig in der jetzigen Zeit. Wie die jetzige Zeit gegenwärtig sein wird als vergangene Zeit in der

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zukünftigen Zeit, sodass alles Vergangene niemals vergangen sein wird. Wenn also die jetzige Zeit profan ihre Gegenwart behauptet, dann nur in jenem Sinn, dass sie noch nicht vergangene Zeit ist, die gegenwärtig sein wird in der künftigen Zeit. Auf den beiden alten Postkarten konnte ich die vergangene Zeit erkennen, die gegenwärtig ist. Die Imagination einer Zeit, die wahrlich vergangen ist. Einer Zeit, der Hören und Sehen vergangen ist, sie lässt sich ermessen an einem Ort wie Lwiw.

Noch einmal trat ich in die Armenische Kathedrale, in der auf einem Wandfresko drei Mönche, angeführt von einem Heiligen, den Leichnam Gottes davontragen, gefolgt von zwei Knaben in Ministranten-Kleidung.

DIE UNSCHULD VOM LANDE

Auf dem zentralen Bahnhof in Lwiw kommt jeden Tag die Unschuld vom Lande an. Man erkennt sie leicht, denn sie ist adrett gekleidet, preiswert zwar, aber betont. Sie ist noch jung, eher sehr jung und be-lastbar. Um ihre Schultern trägt sie eine schwere Umhängetasche. Manchmal zieht sie einen Trolley hinter sich her, dann kommt die Unschuld zwar vom Lande, ist jedoch nicht völlig mittellos. Vater und Mutter haben sie gut aussehen lassen, doch nur sie selbst weiß, wie sich das Gewisse mit dem Etwas in ihrem Fall verbunden hat. Eine Unschuld nach der anderen kommt täglich auf dem stark befahrenen Bahnhof zu Lemberg an. Eine nach der anderen, die wie oben beschrieben den Bus sucht oder ihn sogar auswendig gelernt hat. Mitunter wird sie von einem bulligen Mann mit kurzen Haaren in Empfang genommen. Zu ihr, der Unschuld vom Lande, gesellt sich das Wort von der einfachen Schönheit, die sich in knallenge Jeans gezwängt hat und ihre zarten Füße in hochhackige Schuhe. Dabei kommt die Unschuld auch als Hoff-nung an. Ihre Eltern haben ihr Geld zugesteckt, das sie sich, wenn nicht vom Munde, so vom Leibe abgespart haben. Dabei gibt es, wo Leben nachwächst, Hoffnung im Überschuss. Und jeder einzelne Mensch kennt das Hoffen seit der frühen Kindheit. Was tut sie, die Unschuld vom Lande, angekommen in der großen Stadt, was wird sie tun? Ihr Haarspray hat sich bereits mit den vier Windrichtungen vermischt, die

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es ihr nicht leichter machen. Sie hat ihr Dorf verlassen, kam mit dem Bummelzug an, fuhr mitten in der Nacht los. Und hübsch ist sie, wenn man sie sich genauer ansieht. Anständig auch. Sie wird studieren in der Stadt oder in die Lehre gehen. Wenn bloß die Hoffnung keine Hausie-rerware wäre und die Unschuld kein Pfand auf dem Heiratsmarkt. Wäh-rend ich darüber nachsinniere, ist sie bereits in einen Bus gestiegen, hat das schwere Gepäck hineingewuchtet, sitzt am Fenster, schaut hinaus. Schon kommt die nächste und die übernächste, sie trägt ein pinkfarbe-nes Shirt mit der Ausschrift NICE GIRL. Sie ist schlank und adrett. Sie wird den Weg über die Stolperstraße finden, auf der Betonbrocken lie-gen und sich die Pflastersteine lösen. Sie wird vorsichtig laufen müs-sen mit ihren hochhackigen Schuhen, in ihren knallengen Jeans, will sie nicht auf die Nase fallen. Dabei hat sie einen schönen Mund und ein hübsches Näschen, ein sehr hübsches! Komm, Hoffnung!

AUF DEN HOCHZEITSTREPPEN

Auf den Hochzeitstreppen an jenem Samstagvormittag waren die Bräute ungeheuer weiß, einige schön, andere schön gemacht, sauber und blendend geputzt. Sollte dies der schönste Tag im Leben zweier Menschen sein, dann war er gut gewählt, denn Gott sieht alles. Er lässt sich die Nase pudern und die Brauen zupfen, dann gibt er der Sonne einen Wink: Komm mal raus!

Wolkenschafe lässt er zu Herden anordnen. Bläue wird dazu drapiert aus seiner Palette. Der schönste Tag im Leben zweier Men-schen, er kommt sehr schnell, er geht sehr schnell vorbei. Dazwischen hält der Bräutigam, die Digitalkameras klacken, zwei weiße Tauben in der Hand. Die er, auch das sieht Gott, zum Flug bereithält. Und die ihm zugetane junge Dame aus einem Vorort, auch sie lächelt wie bestellt. Der Bräutigam denkt insgeheim: Mit der Hochzeit fessele ich sie an mich. Sie wird mir Kinder schenken und das Haus behüten, die Kinder waschen und kleiden. Sie wird den ihr geschenkten Samen so gewinn-bringend einsetzen für mich. Für ihren nun vor Gott, der all dies sieht, auf ewig gebundenen Ehemann. Der hier steht in einem weißen, steif gebügelten Hemd, zwei gefangene Tauben in den Händen. Die alsbald

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Weitere Prosatitel in der edition aZUr

Jan Volker Röhnert: Notes from Sofia. Bulgarische Blätter, ISBN: 978-3-942375-04-7, 148 S., Paperback, 19,80 EUR

Sudabeh Mohafez / Rittiner & Gomez: Kitsune. Drei Mikroromane, ISBN: 978-3-942375-22-1, 132 S., Broschur, durchgehend farbig, 21,90 EUR

Sudabeh Mohafez: Das Zehn-Zeilen-Buch. Zweiundfünfzig ultrakurze Geschichten vom Leben, Lieben und Schreiben. ISBN 978-3-9812804-6-3, 112 S., Klappenbroschur, 17,90 EUR, 2. Auflage

Nancy Hünger: Halt dich fern. Erzählung, ISBN: 978-3-942375-06-1, 84 S., Hardcover, 19,00 EUR

Nancy Hünger: Wir sind golden, wir sind aus Blut. Ein Familienalbum, ISBN: 978-3-942375-14-6, 76 S., gebunden, 19,00 EUR

Katja Thomas: Gehen mit Lou, ISBN: 978-3-942375-18-4, 96 S., Klappenbroschur, 16,90 EUR

Klaus Johannes Thies: Unsichtbare Übungen. 123 Phantasien. Mit einem Nachsatz von Michael Krüger, ISBN: 978-3-942375-19-1, 148 S., Broschur, 19,00 EUR, 3. Auflage

Erstausgabe© edition AZUR, Dresden 2016www.edition-azur.deGestaltung: Frauke Wiechmann, Glenn Vincent KraftKraft plus Wiechmann, Berlin

ISBN: 978-3-942375-26-9