Lewis R. Binford - Die Vorzeit War Ganz Anders

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Originalnaher Scan

vitzli 20020416

Lewis R. Binford gilt als der herausragende Vertreter der Neuen Archäologie. Durch seine Arbeiten übte er einen größeren Einfl uß auf das archäologische Denken unserer Tage aus als jeder andere Autor dieses Jahrhunderts, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Licht in das Dunkel der Menschheits-Urgeschichte zu bringen. Das vorliegende Buch ist gleichsam der für jeden Interessierten gedach-te Bericht, den der Forscher über einige seiner wichtigsten Untersuchungen er-stattet: über das Leben unserer frühesten Vorfahren, darüber, wie die archäologi-sche Hinterlassenschaft des Neandertalers zu deuten ist, und warum der Mensch zu seßhafter Lebensweise überging und Stadtkulturen entstanden.

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Lewis R. Binford Vorwort von Rudolf Pörtner

DIEVORZEIT WAR GANZ ANDERSMethoden und Ergebnisse der Neuen Archäologie

Mit 147 Abbildungen

HARNACK

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Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dr. Joachim Rehork

Dieses Buch ist der Erinnerung an François Bordes gewidmet.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Binford, Lewis R.:Die Vorzeit war ganz anders: Methoden u.

Ergebnisse d. neuen Archäologie / Lewis R.Binford. Vorw. von Rudolf Pörtner.

[Aus d. Amerikan. übers. von Joachim Rehork]. – München: Harnack, 1984.Einheitssacht.: In pursuit of the past (dt. )

ISBN 3-88966-008-8

Copyright der deutschen Ausgabe © Harnack Verlag, München 1984

Titel der englischen Originalausgabe: »In Pursuit of the Past«Zuerst erschienen bei Thames & Hudson, London 1983

© 1983 Lewis R. BinfordVorwort © 1983 Colin Renfrew

-Umschlaggestaltung: Manfred LimmrothGesamtherstellung: Appl, Wemding

Printed in GermanyISBN 3-88966-008-8

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Inhalt

Vorwort von Rudolf Pörtner 7

Vorwort von Colin Renfrew zur englischen Ausgabe 9

1 Das Übersetzen des archäologischen Befundes 12Wissenschaft Archäologie 12 Gegenwart im Dienste der Vergangenheit 16 Die großen Fragen der Archäologie 20

TEIL I WIE SAH ES AUS? 25

2 Der Mensch – ein gewaltiger Jäger? 28Der Mensch – ein blutdürstiger Killer? Die Ansichten Darts 28 Zweifel an Dart 32 Leakeys Alternative 34 Die Auffassung Brains 40 Untersuchungen neuzeitlichen Materials als Hilfsmittel 48 Zurück ins Pleistozän 53

3 Leben und Tod an der Wasserstelle 58Wo aßen und schliefen die Frühmenschen? 58 Was heutige Wasserstellen lehren 61 Forschungen an einer alten Wasserstelle 70 Auf der Suche nach plausiblen Argumenten 73 Die gegenwärtige Forschung 74

TEIL II WAS BEDEUTET ES? 77

4 Die Herausforderung des Moustérien 80Die Periode der »Relikte und Monumente« 81 Die Periode der »Artefakte und Assemblagen« 86 Der Lebensbaum 90 Die Gegenwart: ein Meinungskonfl ikt 94

5 Kreuz und quer durch die Archäologie 98Die Entdeckung der Vergangenheit 98 Tatsachen sprechen nicht für sich selbst 101 Gibt es eine Lösung in der heutigen Welt? 104 Unfug und Neue Archäologie 108 Endziele 111

6 Jäger in freier Wildbahn 112Eine dynamische Landschaft im Lichte ethnoarchäologischer Stätten 112 Die Landnutzung und ihre Größenordnung 114 Landnutzung und Lebenszyklen 117 Der Komplex von Anavik Springs 120 Komplexe am Tulugak-See 130 Wie man eines zum anderen fügt 136 Plätze für besondere Zwecke 136 Wohnplätze und ihr Aufbau 143 Die Herausforderung an unsere Methodologie 146

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7 Menschen in ihrem Lebensraum 149Fundstätten-Struktur: eine Herausforderung an die archäologische Interpretationskunst 149 Arbeiten am Herd 156 Innen- und Außenherde 163 Schlafzonen 168 Frühstück im Bett 172 Zonen extensiver Aktivität 174 Fundstätten-Struktur – eine Kombination von Merkmalen 184 In Palanganas Haus 187 Rund um ein Eskimo-Haus 196 Sachzwänge und Raumnutzung: Wärme und Licht 191 Fertigungsraten 199 Bewältigung größerer Massen 200 So wird saubergemacht 201 Auf dem Wege zu einer Theorie der Fundstätten-Struktur 203

TEIL III WARUM GESCHAH ES? 205

8 Die Ursprünge der Landwirtschaft 208Bisherige Ansätze 208 Beweglichkeit als Sicherheitsgarantie für Jäger und Sammler 217 Bevölkerungswachstum und Ernährungsmöglichkeiten bei Jägern und Sammlern 222

9 Wege zur Komplexität 229Monopolisten, Altruisten und große Männer 230 Intensivierung und Spezialisierung 237 Firlefanz und Handelsgüter 245 Wege zur Komplexität 246

Nachwort des Verfassers 251

Danksagung des Verfassers 255

Anmerkungen 257

Bibliographie 269

Personen- und Sachregister 278

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Die Archäologie ist nicht als fertige Wissenschaft in die Welt getreten. Sie hat einen langen, steinigen Weg hinter sich. Ihre Verfahren, Fragen und Probleme haben sich ständig geändert.Für die frühen Archäologen war die Welt ein Schatzacker, der konsequentes, hartnäckiges Suchen mit reichen Funden lohnte: mit Münzen, Gold und Silber-barren, Helmen und Schwertern, Kunstwerken aller Art, Reliquien von Heiligen und was sonst der Schoß der Erde hergab. Das alles zu entdecken und als gleich-sam herrenloses Gut in Besitz zu nehmen, hat Generationen von Archäologen mobilisiert und befähigt, ein Höchstmaß an Gefahren und Strapazen auf sich zu nehmen. Ihre Enkel und Urenkel wollen mehr. Ihr Ehrgeiz ist darauf gerichtet, aus den im Boden verborgenen und mühselig geborgenen materiellen Hinter-lassenschaften das Leben von einst zu rekonstruieren: bis zurück in die Zeit der Menschwerdung. Sie wollen Geschichte schreiben, die Geschichte von Jahrmilli-onen menschlichen Daseins, Denkens und Schaffens, und haben sich damit eine ebenso komplizierte wie komplexe Aufgabe gesetzt, die kaum eine Chance hat, ihrem selbstgestellten Anspruch je hundertprozentig gerecht zu werden. Denn die Auswahl der materiellen Hinterlassenschaften, an denen die Archäologen ihren Scharfsinn wetzen, hat der Zufall besorgt – und eine derart willkürlich getroffene Auswahl verschafft auch der Willkür des Auslegens extremen Raum, sich zu entfalten und zu tummeln. Die Gefahren sind bekannt. Um nur zwei zu nennen: die Kirchenväter der Archäologie haben sich, bei all ihrer Bildung und Quellenkenntnis, allzusehr von ihrer Phantasie lenken lassen, Erklärungen und Deutungen gingen ihnen meist schneller von der Hand, als dem harten Gesetz der Wissenschaft angemessen; und auch die Ideologen – die Rassisten, Marxis-ten, Materialisten, Strukturalisten, Soziostruktura-listen und wie sonst sie sich nannten und nennen – haben zeitweise verheerende Wirkungen ausgeübt, in-dem sie die Bodenforschung weltanschaulich unterfütterten und archäologische Befunde als Vehikel vorgefaßter Meinungen nutzten. Die Reaktion auf derartige Verirrungen blieb nicht aus. Die Archäologengeneration, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Kommando übernahm, zog sich in der Mehrheit auf die Position nüchternen Sammelns, Registrierens und Inventarisierens zurück. Die Kunst des Deutens und Folgerns blieb dabei zwar nicht auf der Strecke, wurde aber mit äußerster Behutsamkeit, mit Vorsicht und Zurückhaltung ausgeübt, gleichsam defensiv, mit schlechtem Gewissen, als tue man etwas Ungehöriges.

Vorwort

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Aber auch hier ist inzwischen ein vernehmliches Contra gesprochen. Wortfüh-rer der Neuen Archäologie, die vornehmlich in den angelsächsischen Ländern ihre Propheten und Jünger gefunden hat, ist der Autor dieses Buches, der Amerikaner Lewis R. Binford. ein engagierter Bodenforscher und Anthropo-loge, der erstmals in dem 1968 erschienenen Buch NEW PERSPECTIVES IN ARCHAEOLOGY seine Kollegen in aller Welt aufgefordert hat, ihre Verfahren zu überdenken, aus den traditionsgeheiligten Methoden auszubrechen und – derart gerüstet – den Mut zur Aussage wieder zu kräftigen. Die vorliegende Publikation vertieft und ergänzt das damals begründete Programm.Auch Binford, der heute zumindest in den angelsächsischen Ländern als radi-kaler Neuerer seiner Disziplin gilt, ist sich über die prinzipielle Schwierigkeit jeglichen archäologischen Forschens klar: aus »statischem Material« Rück-schlüsse »auf die Dynamik« vergangener Epochen zu ziehen. Aber er ist auch zu dem Ergebnis gelangt, daß die petrifi zierten Methoden der konventionellen Archäologie zumindest für die Erhellung der frühmenschlichen Horizonte nicht mehr ausreichen, ja, daß sich die konventionelle Archäologie allzu lange auf ihren Lorbeeren ausgeruht hat. Binford stellt also in Frage – und er exer-ziert dieses Infragestellen mit angelsächsischer Unbefangenheit (und gelegent-lich einem Schuß beherzter Frechheit und Hemdsärmligkeit, die auch diesem, seinem neuesten Buch recht gut bekommen ist) durch, indem er die Methoden der konventionellen Archäologie einer kritischen Prüfung unterzieht und dabei auch vor längst tabuisierten Lehren nicht haltmacht. Er bestreitet zum Beispiel, daß archäologisches Material eine eigene, gewissermaßen genuine Aussagekraft besitzt. Nach seiner Meinung bedarf es dazu entweder zusätz-licher Informationsquellen (wie schriftlicher Zeugnisse im weiten Bereich der »historischen« Archäologie), oder es lebt (wie in der »prähistorischen« Archäologie) von dem Sinn, den man ihm beilegt. Um zu verhindern, daß es bei mehr oder weniger eigenmächtigen Sinnzuweisungen bleibt, fordert er die Entwicklung neuer archäologiespezifi scher Erkenntnismethoden.Er schlägt etwa vor, mehr als bisher über die Prozesse nachzudenken, die die Bildung von Fundstätten bewirkten. Er stellt zusätzlich Fragen nach der Ent-stehung von Fundzusammenhängen. Er riskiert, die bisherigen Deutungen sol-cher »Fundas-semblagen« anzuzweifeln, und kommt zu Ergebnissen, die den Schluß nahelegen, daß die herkömmliche Identifi zierung von Urmensch und Jäger keineswegs sicher ist. War dieser Urmensch nicht vielleicht selbst der Gejagte? Oder war er vielleicht weder Jäger noch Gejagter, sondern einfach ein Aasfresser, der seine magere pfl anzliche Kost mit dem Mark aus den Knochen verendeter Tiere anreicherte? Binford plädiert auch dafür, mehr als bisher von den Möglichkeiten der experimentellen Archäologie sowie der Ethnoarchä-ologie Gebrauch zu machen, und exerziert diese Möglichkeiten konsequent durch, indem er etwa die Ergebnisse seiner Forschungen bei den Nunamiut-Eskimos auf die Moustérien-Kultur des Neandertalers anwendet. Mit diesen seinen ethnoarchäologischen Erfahrungen geht er dann ein Thema an, das ihm besonders am Herzen liegt: die Entstehung der Landwirtschaft, und auch

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in diesem Fall gelangt er zu einer radikal veränderten Fragestellung. Waren Seß-haftigkeit und Ackerbau vielleicht Resultate räumlichen Mangels? Machte der Mensch – wie häufi g in seiner Geschichte – aus der Not eine Tugend? Und weiter: hat der Handel bei der Herausbildung komplexer Gesellschaften wirklich eine derart stimulierende Rolle gespielt, wie meist angenommen wird? So formuliert er eine Reihe von Gegenthesen, die durchweg sehr eingängig und in jedem Fall wert sind, auf Gehalt und Qualität geprüft zu werden. Fraglos bereitet es dem gelehrten Autor ausgesprochenes Vergnügen, die große Zahl »immunisierter«, gleichsam in Erz gegossener Thesen, die das konventionelle Lehrgebäude der Archäologie tragen, anzukratzen oder gar anzusägen, doch nimmt er für seine eigenen Theorien keine Ewigkeitswerte in Anspruch. Er versieht auch seine eige-nen Deutungsversuche, mögen sie noch so plausibel sein, mit einem unüberseh-baren Fragezeichen. Wenn etwas einleuchtet, gibt er zu bedenken, »bedeutet das lediglich, daß eine bestimmte Linie, die man verfolgt, ihre logische Berechtigung hat« – macht sie aber »noch lange nicht zutreffend«.Diese selbstkritische Haltung ist nicht nur sympathisch, sie verschafft dem Buch auch seinen hohen wissenschaftlichen Rang. Denn Wissenschaft ist ihrem in-nersten Wesen nach ein kontinuierlicher, nie endender Prozess, der durch die Bereitschaft, auch die eigenen Gedanken, Erfahrungen und Ergebnisse immer wieder einem hochnotpeinlichen Gericht zu unterwerfen, in Gang gehalten wird. Nicht von ungefähr hat Binford die Neue Archäologie eine prozessuale Archäo-logie genannt. Sie als ständigen Prozess des Fragens, Zweifeins und Vermutens begreifl ich zu machen, ist ihm großartig gelungen. Sein Buch ist also nicht nur ein Leseabenteuer, sondern auch ein Führer und Verführer zu wissenschaftli-chem Denken.

Rudolf Pörtner

Vorwort zur englischen AusgabeLewis Binford weist sich durch seine Arbeiten als der herausragende archäologische Denker unserer Zeit aus. Als Wissenschaftler von hohen Graden und als intellektuell un-abhängiger Vertreter jener geistigen Strömungen und Entwicklungen der sechziger Jah-re, die schließlich unter der Bezeichnung »Neue Archäologie« zusammengefaßt wurden, übte er nachweislich einen größeren Einfl uß auf das archäologische Denken unserer Tage aus als jeder andere Autor unseres Jahrhunderts, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Licht in das Dunkel der Menschheits-Urgeschichte zu bringen.Als dem Verfasser dieses Vorwortes ist es mir darzulegen vergönnt, warum die in diesem Buch geäußerten Gedanken für die Entwicklung der modernen »prozessua-len Archäologie« so wichtig sind: eröffnen sie doch die Möglichkeit, sehr viel präziser den Standort des Menschen in der Welt zu bestimmen. Für so manchen besteht das Erre-gende an der Archäologie vor allem in der Lust des Entdeckens. In der Tat besitzt das

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Abenteuer, in fernen Ländern Schätze vergangener Zeiten freizulegen, durchaus seinen Reiz. Doch steht es nur ganz am Anfang der Archäologie und ist, wie Bin-ford hier überzeugend darlegt, weder der wichtigste noch der wirklich faszinie-rende Teil archäologischen Forschens. Denn die primäre Aufgabe des Archäolo-gen besteht ja nicht einfach darin, »die Vergangenheit zusammenzusetzen« – als ob sich die kleinen oder größeren Fragmente der materiellen Hinterlassenschaft vergangener Zeiten, erst einmal aufgedeckt, so ohne weiteres zu einem geschlos-senen, in sich stimmigen Bilde zusammenfügen ließen!Nein, im Gegenteil! Erste Aufgabe des Archäologen ist es vielmehr, das archäo-logische Fundmaterial in angemessener, sachgerechter Weise zu interpretieren. Was Archäologie intellektuell so reizvoll macht, andererseits aber den Archä-ologen nicht selten zur Verzweifl ung bringt, ist das Mißverhältnis zwischen dem reichlich vorhandenen Belegmaterial und der Schwierigkeit, aus ihm wis-senschaftlich hieb- und stichfeste Folgerungen zu ziehen. Dieses intellektuelle Abenteuer bringt letztlich mehr Befriedigung als die Suche nach immer neuen Funden mittels immer neuer Ausgrabungen.Ich halte dieses Buch für ungeheuer wichtig. Verdeutlicht es doch klarer als jedes andere Buch zuvor: das Ringen um Sinn-Findung war und ist stets die fundamentale Herausforderung der Archäologie. Nur wenn man sich dieser He-rausforderung nicht entzieht, lernt man die Vergangenheit des Menschen zu be-greifen, lernt man jene Prozesse zu verstehen, die Vergangenheit zur Gegenwart werden ließen. Darüber hinaus aber besitzt das Buch einen weiteren Vorzug: Man liest es mit Spannung.Lewis Binford ist mit ganzem Herzen Archäologe. Archäologie ist sein Leben-sinhalt, und er geht in seiner Wissenschaft auf. Archäologie aber ist durchaus nicht nur Denken, sondern auch Handeln. Ist dieses archäologische Handeln nicht nur Ausgrabung, sondern darüber hinaus Ethnoarchäologie, so ergibt sich reichlich Gelegenheit zu abenteuerlichen Erlebnissen und zum Sammeln reicher Erfahrung. Ich erinnere mich noch sehr gut an den ersten Besuch des Autors im »akademischen England«. Anlaß war ein im Dezember 1971 in Sheffi eld ab-gehaltener Archäologenkongreß. Gegenstand des von Binford geleiteten Semi-nars war die Interpretation des Moustérien-Fundmaterials aus Frankreich. Wie lebhaft vertrat er damals seine Auffassungen, wenn auch bisweilen mit Absicht sehr weit in technische Details gehend! Doch an den Abenden vor dem Archä-ologentreffen saßen wir zu viert am Tisch und unterhielten uns. Die zu Beginn des Abendessens entzündeten Kerzen brannten immer tiefer, und Lew erzählte von seinen Erlebnissen bei den Nunamiut-Eskimos. Niemand dachte auch nur daran, sich zurückzuziehen, bis gegen drei Uhr morgens eine Kerze nach der anderen erlosch und wir gewahr wurden: Aus dem späten Abend war ein früher Morgen geworden.Lebhaft und gern erinnere ich mich noch immer an diese langen Abende, hatten sie doch etwas von persönlich erfahrener, erlebter Archäologie und zeigten sie gleichzeitig, wie Vorstellungen von der Vergangenheit durch Felderfahrung ver-ändert wurden. Gewiß – ein derartiges Gefühl der Unmittelbarkeit, des Dabeige-

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wesenseins, wird am besten durch das gesprochene Wort vermittelt, doch meine ich, daß viele Kapitel des vorliegenden Buches etwas von dieser Atmosphäre aus-strahlen. Die Bedeutung des Buches liegt nicht in erster Linie in der fesselnden Darstellung, die sein Verfasser von seinen eigenen Forschungsvorhaben gibt. Vielmehr besteht sie in der Neuformulierung und Erhärtung einiger Grundsätze der »Neuen Archäologie«, die Binford seit 1962 unablässig verfi cht und die auf manche seitdem geleistete Arbeit nachhaltigen Einfl uß hatten.Das Wichtigste an dieser »Neuen Archäologie« – oder besser »prozessualen Ar-chäologie«, da sich die »Neuheit« schließlich abschleift – ist: Sie begann mit einer Reihe von Fragen nach der Vergangenheit des Menschen und befi ndet sich noch immer weitgehend im Fragestadium. Sie tischte nicht irgendeine fertige Theorie auf – was ihr oft unterstellt wurde –, und erst allmählich ist man mit größter Mühe und Behutsamkeit im Begriff, ein theoretisches System zu schaffen. Im Grunde geht die »prozessuale Archäologie« von der offener als von allen ande-ren Schulen eingestandenen Erkenntnis aus, daß es keine einfache Methode gibt, nach der sich wissenschaftlich tragfähige Erkenntnisse über die Vergangenheit gewinnen lassen. Mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit legt Binford klar: Alles, was wir über die Vergangenheit wissen oder vielmehr zu wissen glauben, beruht auf bloßen Schlußfolgerungen. Zwar haben auch frühere Forscher (von den Archäologiepionieren wie General Pitt-Rivers und Oscar Montelius bis hin zu Gordon Childe und Walter Taylor in unseren Tagen) das Ihre zur Theorie der Archäologie beigetragen. Viele von ihnen erweckten allerdings den Eindruck, als sei es ihnen gelungen, eine stichhaltige Methode, ein System »goldener Regeln« zu fi nden, die man nur anzuwenden brauche, um Archäologie »betreiben« und die Vergangenheit rekonstruieren zu können. Binford dagegen betont unermüd-lich, daß uns solche »goldenen Regeln« noch immer fehlen. Regeln, die es uns ermöglichen, uns vom archäologischen Befund – der selbstverständlich existiert und heute, in der Gegenwart, ausgewertet wird – gleichsam zu lösen, und zwar mittels einwandfreier, stichhaltiger Schlußfolgerungen, die uns zu verbindli-chen, unumstößlichen Aussagen über die Vergangenheit führen.Einfach so in den Raum gestellt, nimmt sich dieser Grundgedanke durchaus nicht wie eine umwerfende Offenbarung aus. Und doch handelt es sich um den fundamentalen Gedanken der »Neuen« Archäologie. Brillant hat Binford ihn im Kapitel 2 ausgeführt, das – eine Zusammenfassung seines jüngsten Bu-ches Bones: Ancient Men and Modern Myths – für die Sicht unserer frühesten Vorfahren Perspektiven eröffnet, die sich wesentlich von der herkömmlichen Betrachtungsweise unterscheiden. Mit außergewöhnlicher Klarheit und innerer Folgerichtigkeit legt er seine Gedanken dar, so daß der vorliegende Band wie kein zweiter Einblicke in jene geistige Auseinandersetzung vermittelt, die das wirkliche Drama der heutigen Archäologie darstellt.

Colin Renfrew

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1Das Übersetzen

des archäologischen Befundes

Wissenschaft Archäologie

Vor nicht langer Zeit fragte mich in einem Bus mein Gegenüber, ein sogenannter älterer Herr, nach meinem Beruf. Ich erwiderte, ich sei Archäologe. »Das muß wunderbar sein«, entgegnete er, »da brauchen Sie nur Glück, und schon sind Sie ein gemachter Mann!« Es dauerte einige Zeit, ihn zu überzeugen, daß ich eine etwas andere Auffassung von Archäologie hatte. Er hing der weitverbreiteten Vor-stellung an, ein Archäologe »grabe die Vergangenheit aus«, erfolgreich sei er dann, wenn er etwas entdeckt habe, das noch niemandes Augen erblickt hätten, und alle Archäologen verbrächten ihr Leben damit, im Gelände herumzulaufen und auf Entdeckungen dieser Art zu warten. Mag sein, daß diese Vorstellung auf das 19. Jahrhundert zutrifft, doch dem, was Archäologie heute ist, wird sie nicht gerecht. In diesem Kapitel möchte ich erklären, warum ich glaube, daß Archäologen mehr sind als nur Entdecker.Wie viele andere irrte sich jener ältere Herr im Bus sehr, wenn er meinte, der Archäo-loge »entdecke die Vergangenheit«. Nein – das archäologische Belegmaterial befi ndet sich hier bei uns in der Gegenwart. Es liegt irgendwo da draußen, irgendwo unter der Erde, und die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, daß man beim Bau einer neuen Straße darauf stößt. Es gehört ganz und gar zu unserer heutigen Welt, und was wir an ihm beobachten, beobachten wir hier und heute. Direkte Aussagen über die Vergangen-heit (so wie etwa ein Historiker Aufzeichnungen aus dem 15. Jahrhundert benutzt, die Beobachtungen wiedergeben, die ihr Verfasser im 15. Jahrhundert machte) gibt es für den Archäologen nicht. Denn da alles, was man archäologischem Material entnehmen kann, der Gegenwart angehört, kann – zumindest zunächst – von ei-ner unmittelbaren Information über die Vergangenheit keine Rede sein. Der archä-ologische Befund – das sind keine Symbole, Wörter oder Begriffe, sondern ma-terielle Dinge, bzw. Anordnungen von Materie. Die einzige Möglichkeit, sich einen

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Begriff von diesen Dingen zu machen, ist, etwas darüber in Erfahrung zu brin-gen, wie diese aus Materie bestehenden Dinge entstanden, wie man ihre Form und Beschaffenheit veränderte und wie sie schließlich die Gestalt annahmen, in der wir sie heute erblicken. Dies setzt ebenso Kenntnis menschlichen Tuns (dy-namischer Aspekt) als auch des Materials und der Spuren voraus, die Aktivitäten an diesem Material hinterließen (statischer Aspekt). Tatsächlich kann man sich all das, was der Archäologe vorfi ndet, als eine Art nicht übersetzter Sprache vor-stellen, die man erst entschlüsseln muß, um von einfachen Aussagen über Mate-rial und Anordnung der Objekte zu Aussagen über das Verhalten der Menschen vergangener Zeiten zu gelangen.Die Herausforderung der Archäologie besteht darin, Beobachtungen an stati-schen, materiellen Gegenständen durchzuführen und diese in Aussagen über die Dynamik früherer Lebensweisen umzusetzen, jener Gesellschaften, die all das schufen, was wir heute vor uns sehen. Diese Herausforderung – viele Archä-ologen empfi nden das so – ist enorm, und es ist nicht leicht, sich ihr zu stellen. Verlangt sie doch von uns, daß wir uns mehr über unser Verhältnis zur Welt der Materie klarwerden. In der Tat achten wir kaum darauf, wie wir durch unser Ver-halten unsere materielle Umwelt verändern und Spuren unseres Alltagsverhal-tens hinterlassen. Der Archäologe dagegen muß sich üben, dies zu tun. Er muß sich über ganz triviale Dinge Gedanken machen wie zum Beispiel: Wie beseiti-gen Leute ihren Müll? Wie entscheiden sie, daß ein Gerät für sie unbrauchbar geworden ist und sie ein neues erstehen müssen? Wann entschließen sie sich, irgendeinen Gegenstand nicht mehr für nützlich zu halten, so daß man ihn aus-einandernehmen und die Teile für andere Zwecke verwenden kann? Erkenntnis-se über Entscheidungen dieser Art – Entscheidungen, die Form und Anordnung der Gegenstände verändern – sind besonders wichtig, wenn Archäologen den archäologischen Befund »übersetzen« und »lesen« wollen, um zu erfahren, was ihnen an der Vergangenheit wichtig erscheint.Wie kann man dieser Herausforderung begegnen? Können wir unser Ziel errei-chen, indem wir einfach mehr Ausgrabungen durchführen und Neues entdecken, wie jener ältere Herr im Bus vermutete? Meine Antwort ist ein klares »Nein«. Wenn (wie ich vermute) die meisten dies überraschend fi nden, liegt dies an dem weitverbreiteten Irrtum, daß Archäologen nichts tun, als auszugraben. Meist ahnt man nicht, welche Forschungsarbeit zu leisten ist, um Grabungsstätten und Aus-grabungsfunde zu entschlüsseln. Doch wer hilft uns aus der Verlegenheit? Lassen sich die Probleme des Archäologen mit den Methoden des Historikers, des Natur-wissenschaftlers oder irgendwelcher anderer Disziplinen bewältigen?Als erstes sollten wir den Gedanken zurückweisen, Archäologen seien eine Abart des Historikers mit einem Handikap: nämlich Historiker ohne schrift-liche Quellen. Wer dieser Ansicht huldigt, sollte sich klarmachen, wie grund-verschieden die Informationsquellen beider Wissenschaftszweige sind. Der Historiker arbeitet mit der einen oder anderen Form schriftlicher Aufzeich-nungen: mit Chroniken, Briefen, Tagebüchern oder anderen Schriftstücken aus vergangener Zeit, die jeweils von irgend jemandem verfaßt wurden, um

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an jemand anderen irgendwelche Mitteilungen weiterzugeben. Doch wir alle wissen: Briefe, die man nach Hause schickt, enthalten oft Schönfärberei, Tage-buchautoren schreiben oft für ein unbekanntes, künftiges Publikum, behördli-che Urkunden können um irgendwelcher persönlicher Vorteile willen gefälscht (oder wenigstens verfälscht) werden. Menschen sind nun einmal nicht ehrlich, und dies stellt den Historiker vor das Problem, sich mit den verschiedenen Beweggründen zu befassen, die jemand gehabt haben kann, als er seine Auf-zeichnungen anfertigte.Archäologen dagegen sehen sich – zumindest auf einer ganz bestimmten Ebene – diesem speziellen Problem nicht gegenüber. Findet man beispielsweise bei einer Ausgrabung einen Herd neben einem Areal, das Müll enthält, wäre die Vor-stellung schon sehr seltsam, daß jemand einst absichtlich diese kleine Ansamm-lung archäologischen Materials manipuliert haben sollte, um irgendeinen Zweck zu erreichen, oder daß er das, was er wegwarf, in irgendeiner Form veränderte, um damit späteren Artgenossen eine Mitteilung zu hinterlassen.Das heißt natürlich nicht, daß man nicht auch materielle Gegenstände benutzt, um anderen etwas mitzuteilen. So zeugen Kleidung und Schmuck vom Status ihres Trägers, und ob jemand bei der Polizei oder bei der Feuerwehr ist, verrät seine Uniform, die sehr spezielle Informationen über die Zugehörigkeit zu den betreffenden Berufen sowie über den Rang enthält, den ihr Träger einnimmt. Also auch materielle Dinge übermitteln in verschlüsselter Form bestimmte In-formationen, doch bedient man sich ihrer »Sprache« in der Regel seltener, um jemanden zu betrügen. Der Archäologe hat es also mit grundsätzlich anderem Material zu tun als der Historiker – zumindest vom Standpunkt der Systeme aus betrachtet, die den Menschen dazu dienen, anderen eine Mitteilung zukommen zu lassen.Manche Historiker erklären Einfühlungsvermögen für die beste Methode, um sich über die Vergangenheit klarzuwerden1 – man brauche also nur seine Phan-tasie zu bemühen, um sich auszumalen, welche Handlungen oder Umstände es zu dem Sachverhalt kommen ließen, den wir heute vorfi nden. Finde ich bei-spielsweise einen mit Steinen umsetzten Herd, darauf Holzkohle und daneben zerbrochene Knochen und Steinbrocken, brauche ich mir nur zu sagen: »Ich bin genauso ein Mensch wie jene, die einst an diesem Herd saßen. Hätte ich damals hier gesessen, was hätte ich tun müssen, damit das herauskommt, was ich jetzt vor mir sehe?« Mag sein, daß mir dabei in Hülle und Fülle Gedanken über die Vergangenheit zufl ögen. Doch derartige Ideen sind ja nur ein erster Schritt, ge-gründet nicht nur auf unsere Vorstellungskraft, sondern auch auf unser wach-sendes Verständnis für die Zusammenhänge zwischen menschlichem Verhalten und materiellen Gegenständen. Weit wichtiger ist, welchen Wert dergleichen Ideen haben. Wissen wir denn, ob es nicht einst vielleicht doch noch andere Umstände gab, die zu einer gleichen Beschaffenheit der Fundstätte und des an ihr erhaltenen Materials geführt haben könnten? Wenn wir nicht Methoden fi n-den, um das, was wir uns vorstellen, auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen, steht es uns zwar frei, jede Menge von Geschichten über die Vergangenheit in die Welt

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zu setzen, doch überprüfen können wir nie, ob auch auch nur eine davon zutrifft oder nicht.Besteht die beste Methode, der Herausforderung zu begegnen, etwa darin – wie wiederum andere Archäologen vorgeschlagen haben –, einfach den Fußspuren anderer zu folgen, die uns auf dem Wege zur Erkenntnis vorangeschritten sind? Sollen wir also beispielweise einfach die Methoden der Sozialwissenschaften übernehmen? Dieser Vorschlag scheint manches für sich zu haben. Doch verges-sen wir nicht: Die Sozialwissenschaften wurden entwickelt, um sich mit Dynamik zu befassen, d. h. mit Wechselbeziehungen zwischen lebenden Einzelwesen im Rahmen ihres Zusammenlebens. Archäologen dagegen haben es nicht mit Ge-gebenheiten des menschlichen Zusammenlebens zu tun. Vielmehr untersuchen sie materielle Dinge, Gegenstände, die, so wie sie sich gegenwärtig dem Blick darbieten, mit ihrem heutigen Finder zeitgleich sind. Daher ist die Art und Wei-se, wie die Sozialwissenschaft vorgeht, auf die Archäologie unübertragbar. Nein – der Archäologe darf nie die Augen davor verschließen, mit welchem Material er es zu tun hat und welch besonderer Herausforderung er sich gegenübersieht: nämlich die Brücke vom Heute zum Gestern zu schlagen. Erforderlich ist daher eine Wissenschaft vom archäologischen Befund, die die ganz speziellen Probleme erfaßt, denen wir Archäologen uns gegenübersehen, wenn wir versuchen, uns Informationen über die Vergangenheit zu verschaffen. Wenn Archäologen nun aber weder Historiker noch Sozialwissenschaftler sind – wie steht es dann mit den Methoden der Naturwissenschaften? Diese liegen in der Tat näher, denn kein Naturwissenschaftler wird erwarten, daß die von ihm beobachteten Tatsachen »für sich sprechen«. Kein Physiker, Chemiker, Biologe und dergleichen bildet sich ein, die Bedeutung der von ihm beobachteten Bezie-hungen zwischen den Dingen läge auf der Hand. Vielmehr ist er unablässig da-mit beschäftigt, den Sinn dessen, was er beobachtet, zu fi nden, und anschließend zu überprüfen, wie tragfähig und stichhaltig die von ihm gefundene Sinngebung ist. Genau in derselben Lage befi ndet sich auch immer wieder der Archäologe: nach der Bedeutung des von ihm gefundenen archäologischen Materials zu suchen und prüfend abzuwägen, wie sehr sein Bild der Vergangenheit mit der Wirklichkeit übereinstimmen könnte. Aus diesem und keinem anderen Grunde habe ich immer wieder einer Übernahme naturwissenschaftlicher Verfahren in die archäologische Forschung das Wort geredet.2 Es sind, soweit ich sehen kann, die einzigen Methoden, die dem Archäologen aus seinem Dilemma zu helfen vermögen, das darin besteht, daß er lediglich in der Gegenwart imstande ist, materielle Dinge zu beobachten, die aber aus längstvergangener Zeit stammen – einer Zeit, die sich der Beobachtung entzieht. Was bedeutet dies für unser Vorgehen bei der Ausgrabung einer archäologi-schen Stätte? Müssen wir uns denn schon den Kopf darüber zerbrechen, was archäologische Befunde möglicherweise bedeuten, bevor wir tatsächlich mit der Grabungsarbeit beginnen? Und wenn es so ist – beeinfl ußt dies die Grabungser-gebnisse? Zweifellos muß sich jeder Archäologe, insofern er ja auch Entdecker ist, mit derartigen Fragen auseinandersetzen. Oft hört man Archäologen sagen,

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X sei ein »Theoretiker«, Y dagegen ein »felderfahrener Praktiker«. Bisweilen wird auch kritisiert, Herr Z führe zwar äußerst saubere Ausgrabungen durch, sei aber außerstande, das, was er zutage fördere, zu interpretieren. Ich verfechte die Notwendigkeit einer ausgewogenen Entwicklung sowohl der Techniken, die uns zu verläßlichen Erkenntnissen über die Vergangenheit verhelfen, als auch der archäologischen Untersuchungen »im Felde«, denen wir das Rohmaterial verdanken, das unseren Deutungen zugrunde liegt. Beispielsweise glaube ich nicht, daß man eine Ausgrabung – entsprechend heutigen Maßstäben – wirk-lich gut durchführen kann, wenn man nicht weiß, was die ans Licht gebrachten Gegenstände für Erkenntnisse zu vermitteln imstande sind. Ohne Kenntnis der Radiokarbondatierung3 beispielsweise sähe ich kaum einen Grund, bei einer Grabung geborgene Holzkohle aufzubewahren. Erst wenn ich weiß, daß die Ana-lyse unverschmutzter Holzkohlenproben eine unabhängige Messung der seit dem Fällen des betreffenden Baumes verstrichenen Zeit ermöglicht, begreife ich, wie notwendig es ist, Material dieser Art zu sammeln und genau darüber Buch zu führen. Kurz: Gute Ausgrabungstechnik beruht darauf, daß man sich darüber klar ist, was welche Möglichkeiten bietet, Aufschlüsse über die Vergangenheit zu gewinnen. Doch stellen uns die Ausgrabungstechniken vor immer neue Proble-me der Methodenforschung, weil wir immer wieder auf Dinge stoßen, die wir nicht verstehen, die aber unsere Neugier erregen – Dinge, die weiteres Nachfor-schen erforderlich machen, bis wir in der Lage sind, mit ihrer Hilfe unser Wissen über die Vergangenheit zu erweitern.Archäologie ist also eine auf lebendigen Wechselbeziehungen beruhende Wis-senschaft, die ohne Ausgewogenheit zwischen ihren theoretischen und prak-tischen Anliegen keine gedeihlichen Ergebnisse zu erbringen verspricht. Vor allem können Archäologen nicht auf ständige Selbstkritik verzichten. Selbstkri-tik führt zu Veränderungen, ist jedoch ihrerseits eine Herausforderung, die die Archäologie vielleicht nur mit wenigen Wissenschaften wie etwa der Paläonto-logie gemein hat, deren Ziel gleichfalls darin besteht, auf der Grundlage heutiger Funde zu Aussagen über das Gesten, ja Vorgestern zu gelangen. Archäologie also kann die Vergangenheit ebensowenig unmittelbar untersuchen, wie sie nur von Entdeckungen lebt (was der Mann im Bus ihr unterstellte). Im Gegenteil: Bei uns dreht sich alles um Erkenntnisse über die Vergangenheit auf der Grundlage heu-tiger Funde. Leider sprechen archäologische Daten nicht für sich selbst. Täten sie es – um wieviel leichter wäre unsere Arbeit dann.

Gegenwart im Dienste der Vergangenheit

Wir alle kennen das Klischee, der Archäologe untersuche die Vergangenheit, um mehr über die Gegenwart zu erfahren. Kann sein, daß uns der Gedanke viel weniger behagt, die Gegenwart zu erforschen, um die Vergangenheit verstehen zu lernen. Zumindest viele unserer Zeitgenossen nehmen es nur widerwillig hin, wenn Archäologen bei australischen Ureinwohnern leben4 oder !Kung-Busch-

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männer auf ihren Jagdzügen begleiten.5 Denn das erwartet man am allerwenigs-ten von einem Archäologen. Ja, in den USA, im heutigen Tucson (Arizona), läuft sogar ein Projekt, bei dem es um die Müll-Wegwerf-Gewohnheiten der dortigen (heutigen) Stadtbewohner geht.6 Archäologen begleiten hier die Wagen der Müllabfuhr! Daß man derartiges tut, betrachte ich als Zeichen dafür, daß die Ar-chäologie ihren Wirkungskreis ausdehnt und gleichzeitig vielschichtiger wird. Im Endeffekt könnte sie der Welt ein aufregenderes Bild der Vergangenheit ver-mitteln, als sie es bisher anhand des herkömmlichen archäologischen Materials vermochte. Was wir fi nden, gehört – ich bemerkte es bereits – der Gegenwart an, und die Beobachtungen, die wir an diesem Material durchführen, sind alles andere als historisch. Zwar benötigen wir Fundstätten, die für uns Material, das aus der Vergangenheit stammt, bewahren, desgleichen aber brauchen wir das theoretische Rüstzeug, um den Dingen, die wir fi nden, einen Sinn beizumessen (bzw. ihre Bedeutung zu erkennen). Ein Beispiel: Sehr häufi g trifft der Archäologe Steinwerkzeuge an. Wenn wir besser verstehen wollen, unter welchen Bedingungen Menschen Steinwerkzeu-ge schufen, benutzten und wieder wegwarfen, ist es sicher von großem Nutzen, Völker aufzusuchen, die noch immer Steinwerkzeuge verwenden. Eben aus diesem Grunde ging ich vor einigen Jahren in die Wüste Zentralaustraliens, um mich dort mit Menschen zu beschäftigen, die noch Steinwerkzeuge kannten und benutzten. Ich erhoffte mir davon Erkenntnisse über das Verhalten dieser Menschen (dynamischer Aspekt) und die Auswirkungen dieses Verhaltens auf die Verbreitung, Formgebung und Gestalt- veränderung der Steinwerkzeuge (statischer Aspekt). Einen Teil meiner dortigen Ar- beit schildere ich kurz in Kapitel 7. Meine Absicht war es, bei heute noch lebenden Völkern die Zusam-menhänge zwischen statischem und dynamischen Aspekt zu untersuchen. Hätten wir diese erst einmal begriffen, so hätten wir damit eine Art »Stein von Rosette«*: eine Möglichkeit nämlich, die Sprache der statischen Steinwerkzeuge einer archäologischen Stätte gleichsam in die pulsierende Dynamik des Lebens jener Menschengruppe zu »übersetzen«, von denen die betreffende steinerne Hinterlassenschaft stammt.Die Verbindungen des Materials, das wir vorfi nden, mit den Lebensbedingun-gen, denen unsere Funde ihre Gestalt und Beschaffenheit verdanken, lassen sich nur an lebenden Völkern und ihrer Kultur studieren. Ich habe darüber bei den Nunamiut, einer Gruppe Karibus jagender Eskimos in Alaska,7 sowie bei den Navajos, indianischen Schafzüchtern im Südwesten der USA, 8 Untersuchungen angestellt, und mehrere meiner Studenten arbeiten bei den !Kung-Buschmännern in Südafrika. All diese Untersuchungen dienen dazu, die Beziehungen zwischen dem Material, auf das wir als völkerkundlich orientierte Archäologen stoßen, und den Verhaltensweisen zu erhellen, die zur Herstellung, Formveränderung und schließlich zur Beseitigung der betreffenden Gegenstände führen. 9

* 1799 in Rosette (im Nildelta) gefundene Basaltplatte mit inhaltlich übereinstimmenden Inschriften in Hieroglyphisch, Demotisch und Griechisch. Sie ermöglichte die Entzifferung der Hieroglyphen

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Ein weiterer Bereich, bei dem die Gegenwart im Dienste der Vergangenheit steht, ist die experimentelle Archäologie. 10 Ziel ist auch in diesem Falle die Gewinnung von Einsichten, die eine exakte Deutung des archäologischen Materials ermögli-chen. Bedeutende Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete man in England. Hier-zu gehört die experimentelle Herbeiführung von Ereignissen oder Prozessen, von denen wir wissen, daß sie sich einst abgespielt haben müssen. All dies unternimmt man, um festzustellen, wie es schließlich zu dem kommt, was der Archäologe vor-fi ndet. Wenn beispielsweise ein Haus niederbrennt11 und seine Trümmer längere Zeit Wind und Wetter ausgesetzt sind – was bleibt dann für den Archäologen? Wie verändern Brand und Verwitterung das ursprüngliche Bauwerk und seine Ein-richtung? Derartige Fragen lassen sich mit Hilfe von Experimenten beantworten. Forschungen dieser Art ermöglichen die Feststellung, in welchem Grade das, worauf wir bei Ausgrabungen stoßen, noch seine einstige, ursprüngliche Form bewahrt oder inwieweit spätere Prozesse das Bild verzerrt haben. Eine wichtige Rolle bei derartigen Experimenten spielen auch Versuche, alte handwerkliche Fertigkeiten wiederzubeleben, beispielsweise Steinwerkzeuge, 12 aber auch Ton-ware und andere Erzeugnisse vorgeschichtlicher Fertigungstechniken herzustel-len und die wiedererworbenen Fertigkeiten in Problemsituationen anzuwenden. Meines Erachtens kann man guten Gewissens prophezeien, daß Archäologen diese experimentellen Methoden schon bald sehr viel häufi ger anwenden werden als bisher – dies, je mehr ihnen klar wird, daß bloßes Freilegen archäologischer Neufunde wenig bringt, wenn man das ans Eicht gebrachte Material nicht zu deu-ten weiß.Geschichtliche Urkunden (Geschichtsdarstellungen, völkerkundliche Schilde-rungen, Reiseberichte) bilden eine weitere bedeutende Informationsquelle, die Ethno-archäologen gerade erst zu nutzen beginnen. Ziel des Ethnoarchäologen

l Geographische Verteilung einiger im Text erwähnter Völkerschaften.

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ist es, sich einen möglichst klaren Begriff vom Zustandekommen archäologi-scher Ensembles zu machen. Indem er sich an einer Siedlungsstätte (die auch ein einfacher Lagerplatz sein kann) aufhält und die Aktivitäten ihrer Bewohner beo-bachtet, hofft er, gewisse für ihn als Archäologen wichtige Muster nachweisen zu können. Doch genügt es nicht, einfach da zu sein und zuzusehen, denn es gibt ja auch eine Fülle schriftlicher Darstellungen dessen, was sich früher abspielte. Oft lassen sich historische Schilderungen nicht nur heranziehen, um den Nachweis zu führen, daß eine heutige archäologische Stätte ein ganz bestimmter früherer Wohnplatz war, sondern sie berichten auch, was dort einst vor sich ging (bei-spielsweise welchen Stand handwerklicher Spezialisierung man erreicht hatte oder wie die Gesellschaftsordnung der Bewohner des Platzes aussah). Mit Wis-sen dieser Art gerüstet, sind wir imstande, nunmehr den ehemaligen Wohnplatz auszugraben und das, was wir fi nden, mit den uns vorliegenden Beschreibungen zu vergleichen. Diese Art, sich historischer Darstellungen zu bedienen, um die eigenen Beobachtungen am archäologischen Material zu überprüfen, als hätte man sich experimenteller Verfahren bedient, steckt bei der Ethnoarchäologie allerdings noch in den Kinderschuhen, doch dürfen wir noch beachtliche Fort-schritte in diesem Bereich erwarten. 13

Außer Frage steht, daß die Zahl der Menschen, die noch immer steinerne Jagd-waffen herstellen und nicht seßhaft sind, von Tag zu Tag zurückgeht. Künftige Archäologengenerationen werden nur sehr begrenzt über die Möglichkeit ver-fügen, leibhaftige »Steinzeitmenschen« zu studieren, wie mir es noch vergönnt war. Solange wir aber wenigstens über historische Aufzeichnungen verfügen, die festhalten, was Augenzeugen über die Dynamik des Lebens an einst bewohnten Plätzen zu berichten wußten, haben wir immerhin die Chance, derartige Plätze auszugraben, dabei gleichsam geführt von einer einst dort anwesenden Persön-lichkeit. Selbstverständlich ist das geschriebene Wort nicht die einzige Art historischer Belege, die wir besitzen. Glücklicherweise gibt es – zumindest für das letzte Jahrhundert – auch Fotos. Eine Fülle von Aufnahmen entstand um die Jahr-hundertwende. Damals lebten sehr viel mehr Menschen als heute, die noch nichts von moderner Technik gehört hatten. Wie können wir ihre Fotos in für den Archäologen brauchbare Informationen umsetzen? Meine eigenen Bemühungen in dieser Richtung lehren mich: Dergleichen ist ganz und gar nicht leicht! Man muß eine Fülle von Einzelheiten kennen – beispielsweise die Brennweite des Kamera-Objektivs –, um eine Schrägaufsicht (wie etwa bei einer Landschaftsaufnahme aus freier Hand) in einen Grundriß bzw. in einen Lageplan umzuwandeln, wie ihn etwa ein Archäologe anfertigt, wenn er eine Grabung durchführt. Sind aber diese technischen Probleme erst einmal gelöst, werden wir von den Zehntausenden völkerkundlicher Fotos, die erst vor rela-tiv kurzer Zeit aufgenommen wurden, umfassend Gebrauch machen können.Fotos haben etwas herrlich Unmittelbares: Man sieht einen leibhaftigen Men-schen aus vergangenen Tagen vor sich, der gerade irgend etwas tut. Aufgrund dessen gewinnt man Erkenntnisse über die räumlichen Beziehungen von

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Menschen zu Feuerstätten, von Häusern zu Menschen sowie von Feuerstät-ten zu Häusern – alles mit der Möglichkeit, Verbindungen zum Verhalten der Menschen herzustellen, die sich selbst bei Heranziehung schriftlicher Schilderungen so nie ergeben. Durch Fotos gewinnt man Einblicke in das Leben von einst, gleichzeitig eine Art Lageplan – ein enormer Vorteil, aus dem Archäologen künftig wissenschaftliches Kapital schlagen werden. Dies also sind drei Bereiche von besonderer Bedeutung: die Erforschung noch lebender prähistorischer Völkerschaften, die experimentelle Schaffung archä-ologischer Sachverhalte, um die Wirkung absichtlich herbeigeführter Verhält-nisse auf die Fundstättenbildung zu untersuchen, und die Verwendung histo-rischer Dokumente verschiedener Art. Die heutige, völkerkundlich orientierte Vorgeschichtsarchäologie hat eben erst begonnen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Je mehr sie an Bedeutung gewinnen, desto mehr wird sich das Bild des Archäologen ändern. Man wird in ihm immer seltener den Mann mit dem Tropenhelm sehen, der schon wieder ein neues Grab entdeckt, sondern einen Gelehrten, der aus einem breiten Angebot wissenschaftlicher Möglichkeiten seine Auswahl trifft und seine Nase überall dorthin steckt, wo Menschen lebten, tätig waren und entsprechende Spuren hinterließen.

Die großen Fragen der Archäologie

Was wir über die Vergangenheit zu erfahren wünschen, hat starken Einfl uß dar-auf, wie Ausgrabungen durchgeführt werden und wie man das archäologische Material untersucht. Haben Archäologen keine klaren Zielvorstellungen, wissen sie nicht recht mit ihren Funden und Befunden umzugehen. Sie wissen auch nicht, welche Methoden sie anzuwenden haben, um das ans Licht Gebrachte zu deuten. Mit anderen Worten: Was wir von der Vergangenheit halten und von ihr erwarten, bestimmt die Richtung der archäologischen Forschung, ja die Ent-wicklung der Archäologie insgesamt. Daher ist es nützlich, im folgenden nicht etwa zu erörtern, was wir schon von der Vergangenheit wissen, sondern was wir anhand unseres archäologischen Materials gern von ihr in Erfahrung bringen möchten. Welche Fragen – um nur einige der wichtigsten zu nennen – können wir mit Hilfe archäologischer Forschung beantworten?Machen wir es, wie es sich für Archäologen gehört: Beginnen wir mit dem Anfang! Mir scheint es außerordentlich wichtig, eine Vorstellung von den typischen Verhal-tensmerkmalen unserer frühesten Vorfahren zu gewinnen. Wir besitzen Knochen von ihnen – Fossilien teils drei bis sechs Millionen Jahre alter Frühmenschen. Doch wann zeigten sich erstmals typisch menschliche Verhaltensweisen, wie sie auch für uns noch immer charakteristisch sind? Die schlichte Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Wir haben herausgefunden, wann unser Gehirn größer wurde, desgleichen, wann unsere Körpergröße und wie die Form unseres Beckens sich änderten. Doch können wir noch keineswegs sicher sagen, wann der Mensch zu sprechen begann,

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wann er anfi ng, in kleinen Familien monogam zu leben, oder wann die erwachse-nen Exemplare der Gattung Mensch dazu übergingen, ihre Nahrung miteinander zu teilen. Und doch sind es schließlich diese Charakterzüge, die uns von allen anderen Tieren unterscheiden. Wie alt ist dieses typisch menschliche Verhalten, das wir alle als so selbstverständlich hinnehmen? Wie waren, wie verhielten sich unsere frühestefn Vorfahren wirklich? Dies scheinen mir außerordentlich wichti-ge Fragen zu sein, die die Archäologie zu beantworten versuchen sollte.Zur Zeit tobt zwischen Vorgeschichtlern ein erbitterter Streit, ob der Mensch schon vor zwei Millionen Jahren jagte, regelmäßig Fleisch aß, seine Nahrung mit Artgenossen teilte und in Basislagern hauste.14 Die Bedeutung derartiger Verhal-tensmerkmale erkennt man am deutlichsten vor dem Hintergrund des Allgemein-verhaltens tierischer Primaten. Beispielsweise schlafen nichtmenschliche Prima-ten in der Regel eher auf Bäumen als auf dem Erdboden, und sie verzehren ihre Nahrung meist dort, wo sie sie fi nden, nicht – wie der Mensch – dort, wo sie auch zu schlafen pfl egen. Wann also begannen unsere Vorfahren, auf dem Erdboden zu leben, zu jagen und ihre Nahrung mit Artgenossen zu teilen? War es die Jagd oder irgendeine andere Verhaltensweise, die zur Entstehung der Sprache führte? Was verursachte all diese Veränderungen, und wie haben wir sie zu erklären? Erst wenn wir festgestellt haben, was in der Vergangenheit wirklich vor sich ging, können wir zu fragen anfangen, warum es sich ereignete. Und nur die Vorgeschichtsar-chäologie kann meines Erachtens Licht auf diese zentralen Probleme werfen. Ver-gleichende biologische Untersuchungen menschlicher Fossilien allein vermögen unsere Fragen nicht zu beantworten. Vielmehr ergeben sich die Antworten aus der Gesamtauswertung eines breiten Spektrums unterschiedlicher archäologischer Fakten – nicht einfach aus Informationen über die Anatomie unserer Urahnen, sondern aus dem Verhältnis der Position ihrer Skelettüberreste zur Lage ihrer Steinwerkzeuge und der Abfälle ihrer Mahlzeiten. Bisher geäußerte Vermutungen über die hier angeschnittenen Probleme und ihre Lösung standen jedenfalls nicht selten auf tönernen Füßen. Beispielsweise fi ndet man in den meisten Vorgeschichts-Handbüchern Früh-menschen als Jäger dargestellt. Dies beruht darauf, daß an Fundstätten wie der Olduwai-Schlucht in Tansania (Ostafrika), wo man die ältesten Menschenüber-reste in Fundvergesellschaftung mit Steinwerkzeugen entdeckte, auch Tierkno-chen in Hülle und Fülle zum Vorschein kamen. Und wegen dieser sogenannten Vergesellschaftung von Steinwerkzeugen und Tierknochen nahm man an, man habe es mit Speiseresten von Frühmenschen zu tun. Dies muß aber nicht sein. Denn wir fi nden diese sehr alten Steingeräte in geologischen Schichten, die Naturkräften, nicht etwa menschlichem Wirken ihre Entstehung verdanken. Es gab ganz einfach bereits Menschen, als die natürlichen Prozesse abliefen, die die heutigen Fundstätten im dortigen Gebiet entstehen ließen. Großes Aufsehen erregte ein weiterer Fund, der anderswo in Ostafrika glückte: Es handelt sich um Fußabdrücke von Hominiden in einer mehr als drei Millionen Jahre alten Felsplatte.15 Doch waren es nicht die einzigen Fußabdrücke in der betreffenden Schicht. Vielmehr fand man auch Fußspuren von Elefanten, Giraffen, Perlhüh-

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nern, ja sogar Spuren winziger Würmer. Gewiß wäre es ziemlich absurd, aus der Vergesellschaftung von Hominiden- und Elefantenfußabdrücken folgern zu wollen, Frühmenschen hätten Elefanten gezüchtet. Und doch bedienen sich die Vorgeschichtler der gleichen Logik, wenn sie aus dem Beieinander von Stein-werkzeugen und Giraffenknochen in einer und derselben Schicht schließen, der Mensch müsse die Giraffe getötet haben. In Wirklichkeit könnte die Giraffe einfach verendet sein, und die Steinwerkzeuge wurden vielleicht erst Jahr-hunderte später benutzt und liegengelassen. Vielleicht schnitt man mit ihnen Pfl anzen. Wenn Vorgeschichtsarchäologen die Vergangenheit richtig verstehen wollen, müssen sie lernen, die unterschiedlichen Prozesse und Verhaltenswei-sen auseinanderzuhalten, die zur Bildung archäologischer Schichten führten. Ich werde in den Kapiteln 2 und 3 ausführlicher hierauf eingehen.Weiterhin streitet man sich, ob all die Charakterzüge, die man als typisch für das Wesen des Menschen ansieht, auf einmal zum Durchbruch kamen. Oder ergaben sie sich einfach von Fall zu Fall, so daß das eine menschliche Wesensmerkmal als Reaktion auf bestimmte Lebensbedingungen anzusehen ist, ein anderes da-gegen als Antwort auf (bzw. Anpassung an) andere? Ging die Evolution dessen, was den Menschen ausmacht, als eine Art »Quantensprung« vor sich – oder war sie ein allmählicher Wachstumsprozeß? Abermals: Wir wissen es – noch – nicht. Beispielsweise betrachtet man die Hinwendung des Menschen zum aufrechten Gang als einen regelrechten Entwicklungssprung. Der aufrechte Gang habe die Hände zur Arbeit freigegeben. Der freie Gebrauch der Hände aber habe das Hantieren mit Werkzeugen ermöglicht, dies wiederum habe zum Entstehen der Sprache geführt, und die Sprache schließlich habe den Weg zu zahlreichen Ände-rungen der bisherigen Form des Zusammenlebens gewiesen, beispielsweise zu Nahrungsteilung und sozialem, mitmenschlichem Verhalten.Allerdings zweifl e ich sehr, ob die Entwicklung diesen Weg gegangen ist. Viel-mehr ist meine ganz persönliche Meinung, man solle nicht unterschätzen, wie-viel Planung bereits frühe Jägerhorden benötigten. Galt es doch beispielsweise das Problem zu lösen, was man während der Trockenzeit aß, wenn es keine Pfl anzenkost gab! Vielleicht begann auf der Jägerstufe unserer Vorfahren das Speichern und Verarbeiten von Informationen eine wichtigere Rolle zu spielen als bei allen anderen Primaten. Doch wie es auch gewesen sei – es geht mir hier nur darum, zu betonen: Die Herausforderung der Vorgeschichtsforschung an uns besteht darin, Wege zu fi nden, die uns die Unterscheidung ermöglichen, ob derartige Behauptungen zutreffen oder nicht.Zu den wichtigsten Problemen, die wir vielleicht eines Tages mit Hilfe archäolo-gischer Untersuchungen zu lösen vermögen, gehört also die Frage: Wann legte der Mensch erstmals jene Verhaltensmerkmale an den Tag, die ihn von anderen Lebewesen unterscheiden, und wie kam es dazu? Ein zweiter, damit verwandter Problemkomplex bleibt – aus verständlichen Gründen – nicht nur Gegenstand der Faszination und Spekulation für Archäologen. Hierbei geht es um die Ur-sprünge der Landwirtschaft und um jene Lebensbedingungen, die den Menschen weit-aus seßhafter werden ließen, als er es in seiner bewegten Vergangenheit als Wildbeuter

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(Jäger und Sammler) je war. Warum hörte er auf, umherzuziehen, warum wurde er seßhaft und begann in immer kürzeren Zeitabständen immer intensiver Nah-rungsmittelproduktion zu betreiben? Denn was bedeutet Landwirtschaft sonst? Und warum spielte sich diese Wende, wie es scheint, an so vielen verschiedenen Plätzen der Alten und Neuen Welt ab? Warum ereignete sie sich schließlich in der vom Standpunkt der Vorgeschichtsarchäologie aus so knapp bemessenen Periode von etwa 2 000 Jahren?Im Kapitel 8 werde ich mich eingehender dazu äußern, welchen Weg man mei-ner Ansicht nach gehen sollte, um Antworten auf diese Fragen zu erhalten. Denn wenn wir von all dem auch nur ein wenig begriffen, begännen wir, so glaube ich, zu verstehen, wie es um unser Anpassungsvermögen an die Umwelt schlechthin bestellt ist und was es mit unserer ganz speziellen Lebensweise sowie mit unserer »Nische« innerhalb der Tierwelt auf sich hat. Ich sage dies, weil die Hinwendung zu Landwirtschaft und seßhafter Lebensweise einen bedeutenden Anpassungs-schritt einer Spezies von Lebewesen darstellt, ohne daß diese Spezies, soweit sich sehen läßt, bedeutendere biologische Veränderungen erfuhr. Selbstverständlich liegen über diesen zweiten größeren Problemkomplex vorgeschichtsarchäologi-scher Forschung so gut wie keinerlei schriftliche Informationen vor, die hilfreich sein könnten. Auch der dritte Problemkomplex ist außerordentlich faszinierend: die Ursprünge der Hochkultur. Die politischen Systeme, in die wir fast ausnahmslos eingebun-den sind, und das Stadtbewohnerdasein, das die meisten von uns führen, sind noch viel weiter von der Phase der Nichtseßhaftigkeit sowie des Wildbeutertums entfernt, in der sich unsere biologische Beschaffenheit herausbildete. Wie aber kam es zu diesem Lebensstil? Was veranlaßte bäuerliche Bevölkerungen, sich immer kompliziertere politische und bürokratische Organisationsformen zuzu-legen? Was führte zu der erschreckenden Spezialisierung – sei es im handwerkli-chen, sei es im gesellschaftlichen Bereich oder bei der Lösung welcher Aufgaben auch immer –, die das Leben in einer modernen Stadt (aber auch schon in den Städten der Antike) kennzeichnet? Dies ist zwangsläufi g ein Feld, wo Archäologie und Geschichte, Gesellschaftsphi-losophie und viele andere Sozialwissenschaften ineinanderzugreifen beginnen. Wir sehen ja, wie sich in Randgebieten der modernen Welt, die noch nicht von der industriellen Revolution berührt wurden, die betreffenden Prozesse noch immer abspielen. Der Archäologe kann also hier seine Informationen einbrin-gen, um Probleme zu lösen, vor die er sich nicht allein gestellt sieht, sondern um deren Lösung sich auch Vertreter anderer Gesellschaftswissenschaften bemü-hen. Es war für mich sehr aufschlußreich daß bei jedem der drei internationalen Kongresse, an denen ich 1981 teilnahm, das Werden der komplexen Gesell-schaftssysteme im Mittelpunkt stand. Man diskutierte, welche Rolle der Handel dabei spielte und in welchem Um-lange Produktionsmonopole das Niveau der politischen Entwicklung bestimmten (meine eigenen Ansichten hierüber werde ich – wenigstens teilweise – im 9. Kapitel darlegen). Das Interessante daran aber war, daß in den betreffenden Diskussionen fast ausschließlich Archäologen das Wort führ-

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ten. Fragen dieser Art wurden früher zweifellos von Historikern, Gesellschafts-wissenschaftlern und den Vertretern so mancher anderen Disziplin angegangen. Nunmehr jedoch greift die Archäologie ebenbürtig in die Diskussion ein.So beginnt Archäologie mit der Untersuchung grauester Vorzeit unmittelbar am Anfang unserer biologischen Existenz – einer Zeit, aus der wir über menschliches Verhalten so gut wie nichts wissen, und sie führt uns bis in die Vielschichtigkeit der modernen Welt, denn auch zum Verständnis ihrer Problematik haben archä-ologische Fragestellungen mancherlei beizutragen. So groß ist die Spannweite der Archäologie. Allerdings müssen wir fragen: Bieten Archäologen spezifi sch archäologische Perspektiven, die sich von der Betrachtungsweise anderer Wis-senschaften unterscheiden, wenn es beispielsweise um die Ursprünge seßhafter Lebensweise oder um das Auftauchen komplexerer politischer Systeme geht? Meines Erachtens ist dies eindeutig zu bejahen. Archäologen gehen von materi-ellen Gegenständen aus und nehmen daher zwangsläufi g einen materialbezoge-nen, materialorientierten und insofern »materialistischen« Standpunkt ein. Oft bringen sie eher pragmatische Argumente vor, wo man im allgemeinen psycho-logisch oder im Sinne irgendeiner Art von Motivforschung zu argumentieren pfl egt. Und was sie zu sagen haben, kann außerordentlich nützlich sein, wenn auch nur als solide Basis manch hochgestochener Debatten, wie man sie heute zu führen beliebt. Bisher habe ich drei wesentliche Fragen nur kurz angedeutet. In den folgenden Kapiteln gehe ich näher auf sie ein. Es gibt heute sehr viel mehr Archäologen als noch vor 50 Jahren. Infolgedessen stoßen sie in viel mehr Forschungsberei-che vor, die keine Luftschlösser sind, sondern sich die Auseinandersetzung mit handfesten Problemen zum Ziel gesetzt haben, die man systematisch angehen und methodisch lösen kann. Statt vager Gemeinplätze über unsere Vergangen-heit können wir verläßliche Detailinformationen erhoffen. Doch die oben aufge-worfenen Fragen lassen sich nicht durch Kleinarbeit vor der eigenen Tür beant-worten. Vielmehr erfordern sie eine Forschung auf breiter Basis, eine Forschung großen Stils, die ungeheure Zeiträume und ebensolche geographischen Weiten umspannt. So bezieht die Gemeinschaft derer, die im archäologischen Feld forschen, immer mehr Nationen ein, und die archäologische Literatur umfaßt immer mehr Sprachen. Wirklich erregende Arbeiten sind bereits im Gange. Die Lösung unserer Hauptprobleme ist nicht mehr allzu weit entfernt, ja in gewissen Fällen liegt sie bereits in Griffweite.

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Teil I Wie sah es aus?

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Wie sah die Vergangenheit aus? Wie lebten die Menschen einst? Wie verstanden sie es, sich veränderten Bedingungen anzupassen? Fragen dieser Art werden wohl von Fachleuten ebenso wie von Laien am häufi gsten gestellt und am ehesten begriffen. Ja – sie führten dazu, daß man in der einschlägigen Literatur die »Rekonstruktion der Vergangenheit« geradezu zu einem der Ziele archä-ologischer Forschung erhob. Doch wenn wir dieses Ziel auch nur annähernd erreichen wollen, gilt es, genaue Methoden für die Deutung archäologischer Überreste zu entwickeln. Im nachstehenden ersten Teil dieses Buches möchte ich klarlegen, wie dringend erforderlich archäologiespezifi sche Deutungsverfahren sind. Und zwar möchte ich anhand von Beispielen einige der Probleme erläutern, die sich erheben, wenn wir der Frage nachgehen, wie es vor etwa einer Million Jahren aussah, als Hominiden, unsere frühen Vorfahren, die Erde bevölkerten. Früher hatte man das Ziel, die Vergangenheit zu rekonstruieren, nicht selten mit den provokativen Forderungen in Verbindung gebracht, die 19481 der amerika-nische Archäologe Walter Taylor erhoben hatte.2 Taylor ging es um das Wieder-erstehen einstiger »Kulturzusammenhänge«, die er als »Geisteszustände« oder »geistige Konstellationen« ansah:»Ich glaube«, so äußerte er seinerzeit, »es gäbe viel weniger Unsicherheit …, wenn die Archäologen ihr Material etwa unter den Gesichtspunkten betrachtet hätten, die wir in der vorliegenden Untersuchung zur Geltung zu bringen su-chen, wenn sie Kulturspuren als Ideen und nicht als materielle Objekte, sowie kulturelles Verhalten als Mittler zwischen Ideen und materiellen Objekten an-gesehen hätten – kurz: wenn sie den Unterschied zwischen ihren eigenen empi-rischen, rein beschreibenden Anordnungen und den kulturellen Anschauungen der Menschen erkannt hätten, denen ihr Forschen gilt.«Wie dieses Zitat zeigt, trat Taylor durchaus nicht dafür ein, archäologische Überreste im Lichte jener mechanischen Prozesse sowie jenes menschlichen Verhaltens zu untersuchen, denen sie ihre Formgebung und ihre Einbettung in größere Zusammenhänge verdanken, sondern er plädierte dafür, sie als Teil jener Geisteswelt zu betrachten, innerhalb derer sie einst ihre Funktion erfüllt hatten. Ganz unzweideutig dachte er an »geistige Schablonen«, die die »Ideen hinter den Artefakten« repräsentierten.4

In dem folgenden Kapitel versuche ich darzulegen, daß wir oft genug Dinge über die Vergangenheit in Erfahrung zu bringen suchen, die nur wenig mit Ideen, geistigen Konstellationen oder Kultur im strengen Sinne zu tun haben. Um be-stimmte Verhaltensweisen zu untersuchen, ist es keineswegs erforderlich, die Ideen aufzuzeigen, die den einzelnen Artefakten oder bestimmten Anordnungen des archäologischen Materials zugrunde liegen. Bisweilen bedeutet unsere Frage, wie es in der Vergangenheit aussah, nichts anderes, als daß wir uns über die Rol-len Klarheit verschaffen, die unsere Vorfahren in ihrer Umwelt spielten: Wir su-chen also Informationen über Verhaltensweisen und Umweltbedingungen, nicht über Ideen. Mir scheint es wichtig, mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen,

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daß Archäologen sich nicht stets dem Zwang ausgesetzt sehen, eine »Technico-lor-Fassung« sämtlicher Lebensaspekte des Frühmenschen zu liefern. Eine voll-ständige Rekonstruktion der Vergangenheit wäre vielmehr ein unrealistisches Forschungsziel. Gelehrte, die ihm nachstreben, richten ihre Augen wohl mehr auf besonders aufsehenerregende Fundstätten mit besonders gut erhaltenen Funden – kleine »Pompejis«, wo dank besonders günstiger Umstände gleichsam die Zeit stehenblieb.5 Und gerade diese Gelehrten vertreten die Auffassung, Art und Beschaffenheit des archäologischen Materials setze den Interpretationen und Rekonstruktionen, die einem Archäologen möglich sind, Grenzen. Dies gilt besonders, wenn die Ziele dieser »Rekonstruktionisten« mit einer streng empi-rischen, nur vom Befund ausgehenden, deduktiven Erkenntnistheorie verknüpft waren, die lediglich über jene Abschnitte der Vergangenheit allgemeine Aussa-gen erlaubt, die unmittelbar greifbare Spuren hinterlassen haben.Obwohl sein Ansatz mehr oder weniger idealistisch war, erkannte Taylor immer-hin, daß die Rekonstruktion der Vergangenheit aus archäologischem Material Erkenntnisvorgänge voraussetzte. Außerdem spürte er, daß Archäologen, wenn sie über das, was er als fruchtlose Beschreibung archäologischen Materials ge-ringschätzte, hinauskommen und zu wirklich interessanten Aussagen über die Vergangenheit gelangen wollten, Schlußfolgerungen zu ziehen hätten. Taylor bezeichnete dieses Vorgehen als conjunctive approach (etwa: »Kombinationsme-thode«) – als Kombination empirischer Beobachtungen anhand des archäolo-gischen Materials mit »Phänomenen …, die erschlossenermaßen für die unter-suchte Kultur und deren Träger von Belang waren«.6 Derartige Gedanken waren nicht völlig neu. Schon vordem hatten Gelehrte geäußert, die Vergangenheit wer-de aufgrund heutiger Beobachtungen von Archäologen gleichsam »geschaffen« und sei anhand von Daten erschlossen oder rekonstruiert, die Archäologen für aussagekräftig hielten. Im Gegensatz dazu vertraten Forscher, die sich nur bei empirischer Beobachtung sicher fühlten, die Ansicht, Folgerungen seien gänz-lich zu verwerfen. Ihnen trat Taylor entgegen und richtete an die Archäologen einen mitreißenden Appell, über ihr Material hinauszugehen. Doch leider zeigte er keinerlei Leitlinien für die Praxis auf. Weder untersuchte er Methoden, um zu schlüssigen Erkenntnissen zu gelangen, noch solche, um derartige Erkenntnisse zu bewerten und zu prüfen.7 Gleichviel – Archäologen haben bisher noch stets Schlußfolgerungen angestellt, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, egal ob die Methoden, die ihren Folgerungen zugrunde lagen, etwas taugten oder nicht. In diesem Teil will ich einen kurzen Abriß der Geschichte einiger wichtiger Forschungen über die Frühzeit des Menschen geben und dabei aufzeigen, wie Archäologen – ich selbst eingeschlossen – heute Methoden zu entwickeln ver-suchen, um zu verläßlicheren Erkenntnissen zu gelangen als früher. Wenn sie dabei Erfolg haben, werden wir eines Tages vielleicht wirklich wissen, wie die Vergangenheit aussah …

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2Der Mensch –

ein gewaltiger Jäger?

Was für Geschöpfe waren unsere frühen Vorfahren, die vor etwa zwei Millionen Jahren die afrikanischen Savannen bevölkerten? Erst seit relativ kurzer Zeit wissen wir überhaupt etwas von diesen Wesen, den Vorfahren des heutigen Menschen wissen wir, wo sie lebten und wie sie aussahen. Somit ist auch die Herausforderung an die Fachwelt erst neuen Datums, geeignete Methoden zu entwickeln, um etwas über ihr Verhalten in Erfahrung zu bringen. Das Altpaläo-lithikum (die ältere Altsteinzeit) ist eine Art Prüffeld archäologischer Verfahren: Wie weit vermögen sie uns über eine Zeit zu informieren, die dermaßen weit zurückliegt, daß wir uns, von unseren heutigen Erfahrungen ausgehend, kaum eine Vorstellung von ihr machen können? Im nachstehenden Kapitel versuche ich zu zeigen, wie sich heute unsere Einstellung zu diesen Dingen geändert hat. Gleichzeitig möchte ich eine Art Rahmen für eine Analyse vorschlagen, die uns vielleicht weiter voranbringt.

Der Mensch – ein blutdürstiger Killer? Die Ansichten Darts1

Vor etwa 60 Jahren hielt ein Johannesburger Anatomieprofessor namens Ray-mond Dart, der sich lebhaft für Urgeschichte interessierte, seine Studenten an, das Land ringsum nach Versteinerungen und Knochenfragmenten zu durch-streifen, um an ihnen ihr neuerworbenes Wissen zu erproben. Auch sollten sie ihm Felsstücke schicken, die Versteinerungen zu enthalten schienen. Eine sei-ner Schülerinnen berichtete von einem interessanten Knochenfund, der ihr in einem Kalksteinbruch bei Taung, etwa 130 km nördlich der Diamantenminen-stadt Kimberley (nördliche Kapprovinz) geglückt war. Dart setzte sich darauf-hin mit Geologen in Verbindung und ließ sich einige Kisten mit Felsgestein aus dem fraglichen Steinbruch kommen. Schon die zweite dieser Kisten bescherte ihm eine bedeutende Entdeckung. Später noch erinnerte sich Dart, wie es ihm

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heiß und kalt über den Rücken lief, als er erstmals die Schädelüberreste des sogenannten »Taung-Babys« erblickte – eines noch kindlichen Vertreters (der Schädel zeigte noch das Milchgebiß) einer sehr frühen Form menschlicher We-sen. Heute wissen wir: Das Taung-Baby (oder der »Knabe von Taungs«, wie das Fossil auch genannt wird) muß vor mehr als 2,7 Millionen Jahren gelebt haben. Seinerzeit aber wußte niemand, wie alt der Fund war. Ja niemand schien auch wohl so recht glauben zu wollen, daß irgendeiner unserer Vorfahren so ausge-sehen haben könnte wie Darts Baby. Dart freilich war von Anfang an überzeugt, daß dem fossilen Schädel aus Taung ein wichtiger Platz im Stammbaum des Menschen zukomme, doch die ersten anatomischen Beschreibungen, die er veröffentlichte, veranlaßten zahlreiche seiner europäischen Fachkollegen, sei-ner Zuordnung des Schädels zur menschlichen Ahnenreihe zu widersprechen und den Schädel einem Schimpansen, Gorilla oder irgendeiner den heutigen Menschenaffen nahestehenden, ausgestorbenen Affenart zuzuschreiben. Dart begab sich, seine Versteinerung im Reisegepäck, nach England und in andere Länder Europas, wo man den Taung-Schädel untersuchte, und nun entbrannte erst recht ein erbitterter Streit, ob es sich um den Schädel eines unserer Vor-fahren handelte oder nicht.Für Dart lag es auf der Hand: Es gab keine verbindliche anatomische Grundla-ge, die eine eindeutige Entscheidung ermöglicht hätte. Seine Versteinerung, die neben großen Teilen des echten Schädelskeletts auch noch einen natürlichen Ausguß des Hirnschädels umfaßte, fi el dermaßen aus dem Rahmen, daß es kei-nerlei eindeutige Anhaltspunkte dafür gab, ob sie wirklich von einem fossilen Menschen stammte. Es war in England, wo Dart anfi ng, das Problem von einer ganz anderen Seite her zu sehen. Der Frage »War es ein Mensch?« ließ sich nicht nur vom anatomischen Standpunkt aus beikommen, vielmehr gab wohl das Ver-halten des umstrittenen Lebewesens den Ausschlag! Menschen sind die einzigen Primaten, so überlegte Dart, die regelmäßig Fleisch verzehren. Wenn man also eindeutige Hinweise darauf fände, daß das Lebewesen von Taung Tiere tötete, um sie zu verspeisen, wäre dies ein wichtiger Anhaltspunkt dafür, daß es sich um einen Menschen (oder zumindest um einen unmittelbaren Vorfahren des Menschen) handelte. Wenn wir darüber hinaus noch das Glück hätten, weitere Skelettüberreste zu fi nden, könnten wir uns allmählich ein Bild davon machen, wie besagter Frühmensch anatomisch beschaffen war. Außerdem verstehen nur Menschen, Feuer zu entzünden und zu nutzen. Fände man also im Zusammen-hang mit Fossilien Brandspuren, wüßte man: Hier hat es Menschen gegeben. Entsprechendes gilt für die Herstellung von Werkzeugen durch Menschenhand. Dart bediente sich außerdem noch anderer Kriterien, doch diese drei waren die wichtigsten – defi nierten sie doch den Menschen nicht anatomisch, sondern aufgrund seines Verhaltens.Seine Überlegungen führten Dart zu einer Art von Spurensuche, die sich von den damals in der Paläanthropologie angewandten Methoden ganz und gar unterschied. Anatomen hatten bisher durch die Untersuchung anatomischer Gegebenheiten Einzelheiten über die früheste Urgeschichte des Menschen in

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Erfahrung zu bringen gesucht, Archäologen verfolgten das gleiche Ziel, indem sie sich von Menschenhand gefertigter Steinwerkzeuge annahmen. Doch nun kam Dart und erklärte: Der Mensch ist einzigartig, was sein Verhalten angeht. Und er fragte: Welche Spuren hinterläßt dieses so einzigartige Verhalten? Fände man Knochen in Verbindung mit Verhaltensspuren, so wie man sie erwarten dürfte, wäre dies eine Möglichkeit, mehr über das Auftreten, ja sogar das kör-perliche Erscheinungsbild des Menschen so früher Zeit herauszubekommen. Hieran schieden sich die Geister. Dart untersuchte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg sehr gründlich die riesigen Mengen nicht zum Primatenstamm ge-hörender Tierknochen an verschiedenen Fundorten in Südafrika, besonders in den Kalkbrüchen von Makapansgat (bei Potgietersrus [Zentral-Trans-vaal]). Er hoffte, eines Tages den Nachweis führen zu können, daß der Frühmensch für die-se Anhäufung von Knochen verantwortlich war, sofern es sich dabei tatsächlich um Knochenabfälle irgendwelcher Mahlzeiten bzw. um Knochenüberreste von Tieren handelte, die irgendein Lebewesen verspeist hatte.Eines Tages wird sich herausstellen, glaube ich, daß Dart sich von seiner Be-geisterung mitreißen ließ. Beispielsweise beobachtete er in knochenführenden Schichten einer anderen Fundstätte gewisse dunkle Flecken, die er als Feuer-spuren deutete und aus denen er schloß, daß sich an der betreffenden Stelle mit Sicherheit Menschen aufgehalten haben müßten. Infolgedessen gab er dem später in Makapansgat gefundenen fossilen Wesen den wenig glücklichen Na-men Australopithecus prometheus (frei übersetzt: »Feuer benutzender südlicher Affenmensch«).2 Falls (aber nur falls) Darts Deutung zuträfe, daß es sich bei den fraglichen, dunkel eingefärbten Partien um Spuren ehemaliger Feuerstellen handelte, wäre damit eines der von Dart angenommenen Verhaltensmerkmale bestätigt und gleichzeitig seine Ansicht bekräftigt, daß die fossilen Affenmen-schen jener archäologischen Schichten Vorfahren des Menschen waren. Doch war dies nicht das einzige Ergebnis der Knochenuntersuchungen. Vielmehr erkannte Dart, was vorher noch niemandem aufgefallen war: Die Anzahl der in den Schichten tatsächlich vorhandenen Einzelknochen stimmte nicht mit der Menge von Knochen überein, die an sich hätte vorhanden sein müssen, wenn man vom Knochenbau heutiger Tiere ausgeht.3 Selbstverständlich wissen wir, wie viele Knochen zum Skelett einer Giraffe oder eines Löwen gehören, denn es gibt diese Tierarten ja noch, und wir können ohne weiteres die Skelette erlegter oder auf natürliche Weise verendeter Einzelexemplare auszählen. Somit dür-fen wir mit ganz bestimmten Erwartungen an Fundstätten herangehen, deren Tierknochenmaterial aus vollständigen Skeletten besteht, an denen niemand etwas verändert hat. In den von Dart untersuchten Knochenschichten indessen stimmte das Zahlenverhältnis der einzelnen Skelettüberreste zueinander nicht. Beispielsweise gab es jede Menge von Schädeln, Unterkiefern sowie Vorder- und Hintergliedmaßen, doch auffallend wenige Rippen, Rückenwirbel und Becken-knochen. Wie ließ sich dies erklären?Dart machte vom wichtigsten aller Hilfsmittel Gebrauch, über das der Mensch verfügt: seiner schöpferischen Phantasie. So gelangte er zu der Folgerung, das

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unterschiedlich häufi ge Vorkommen der einzelnen Skelett-Teile müsse folgende Ursache haben: Irgendein Vorfahr des Menschen habe Tiere gejagt und sie – in größerer oder kleinerer Entfernung von seinem Wohnplatz – erlegt Gewisse Teile der erlegten Tiere habe er dann an der kill site (dem Platz des Tötens und Zerlegens) zurückgelassen, andere dagegen in sein Wohnlager gebracht, um sie dort zu verspeisen, gewisse Tierknochen aber auch, um sie als Werkzeuge zu benutzen. So ergab sich ganz plötzlich ein völlig neues Bild des Frühmenschen. Denn wenn Darts Vision, die auf seinen Beobachtungen beruhte, tatsächlich zutraf, dann benahmen sich die Menschen in jenem weit zurückliegenden Abschnitt der Vergangenheit kaum anders als unsereiner. Sie gingen auf die Jagd (wobei es bisweilen außerordentlich grausam zuging), sie hatten ihr festes Zuhause, schliefen durchaus nicht nur einmal an einem und demselben Platz, brachten die Nahrungsmit-tel dorthin, wo sie auch die Nacht verbrachten, und wohnten sogar in einer Art Haus – alles eindeutige Verhaltensmerkmale, durch die sich der Mensch von anderen Pri-maten unterscheidet. Eine Kombination aus Beobachtung und Einfallsreichtum hatte ein Bild einer sehr frühen Form des Menschen ergeben, ja dazu geführt, daß man diese unsere Urahnen als gewaltige Jäger, als »überführte Killer« betrachtete:4

Die Vorfahren des Menschen … fi elen gewaltsam über ihre lebende Jagdbeute her, knüppelten sie nieder, rissen ihr ein Glied nach dem anderen aus, löschten voller Gier ihren Durst mit dem warmen Blut ihrer Opfer und verschlangen gefräßig das noch zuckende Fleisch.5

2 Unser Erbe? Jäger am Übergang zwischen Pliozän und Pleistozän. Das Bild zeigt »gewaltige Jäger«, die Tiere erlegen und Teile des Fleisches sowie Knochen (um diese später als Werk-zeuge zu benutzen) zu einer »Heimatbasis« (in einer Höhle oder Felsspalte) schleppen Dieses Szenarium setzt strenge Arbeitsteilung voraus: Die »aggressiven« männlichen Individuen gehen der Tätigkeit der Nahrungssuche nach, während die weiblichen Mitglieder der Gruppe mit den Kindern warten, daß ihre männlichen Versorger zurückkehren. (Bleistiftzeichnung von Iva Ellen Morris)

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Hinzu gesellte sich eine weitere denkbare Ursache für die Veränderungen der Zah-lenverhältnisse des Knochenmaterials, die Darts Ansicht zu bestätigen schien. So wie Dart die Dinge betrachtete, war es nur allzu verständlich, daß der Mensch mit dem Material experimentierte, das er zur Hand hatte. Und wenn unsere zierlich gewachsenen frühen Vorfahren wirklich räuberische Schlagetots waren, standen ihnen für Experimente vor allem die Knochen ihrer getöteten Beutetiere zur Verfü-gung. Für Dart waren die ältesten Werkzeuge des Menschen Keulen, Knüppel und Sägen aus Knochen – haben Tierknochen doch bestimmte Eigenschaften, die sie ohne weiteres in der von ihm vermuteten Weise verwendbar machen. So läßt sich der Unterkiefer einer Antilope ohne weiteres als Säge verwenden, und ihre festen Oberschenkelknochen ergeben, wenn man sie zerbricht, hervorragende Dolche, denn sie brechen spiralförmig, so daß sich eine scharfe Spitze ergibt. Mußte sich die Fertigung derartiger Knochengeräte unseren frühmenschlichen Vorfahren, wenn sie tatsächlich so gewaltige Jäger waren, wie man es ihnen nachsagte, nicht förmlich aufdrängen?

Zweifel an Dart

Zwar tauchte das oben umrissene Bild immer wieder in der Literatur der fünfziger Jahre auf,5 breiteren Kreisen jedoch blieb es zunächst unbekannt. Für seine Ver-breitung und Popularisierung sorgte erst der Schriftsteller Robert Ardrey. Dessen erstes Buch African Genesis (1961), das unsere Vorfahren in grellen Farben als blutdürstige Killer schildert, wurde ein Bestseller und in mehrere Sprachen über-setzt. Unter anderem kam 1967 unter dem Titel Adam kam aus Afrika in Wien auch eine deutschsprachige Fassung heraus.7 Sehr stark zeigten sich Verhaltensforscher wie beispielsweise Konrad Lorenz, dessen Werk über die menschliche Aggression seinerseits in den sechziger Jahren großes Aufsehen erregte,8 von Darts Vorstel-lungen unserer frühesten Vergangenheit beeindruckt. Andererseits fehlte es nicht an Kritikern, die ernste Zweifel an den von Dart behaupteten Verhaltensweisen der Urmenschen anmeldeten. Doch erst später ging man dazu über, systematische Forschungen mit dem Ziel durchzuführen, Darts Aussagen entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Wie ich eingangs bereits sagte: Unsere Vorstellungen vom Frühmenschen entwickeln sich hier und heute und sind ganz und gar ein Ergebnis unserer Zeit … Eine der ersten offenen Kampfansagen an Dart kam, wie zu er-warten, von den Humanbiologen. Wie war es denn möglich, so fragten sie, daß der Australopithecus, ein graziles, zierliches Lebewesen von ganzen 45 Kilogramm Le-bendgewicht, ein so gewaltiger Jäger war, daß er es fertigbrachte, all die zahllosen Knochen aufzuhäufen, die Dart gefunden und untersucht hatte. Ja S. L. Washburn vertrat in einem 1957 erschienenen Aufsatz9 sogar die Ansicht, der Australopithe-cus sei auf gar keinen Fall der Jäger, sondern vielmehr der Gejagte gewesen. Afri-kanische Tüpfelhyänen hätten ihn als willkommene Beute betrachtet, und Hyänen, nicht Menschen, seien die Urheber besagter Knochenanhäufungen. Dies war ein

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außerordentlich interessanter Ansatz, der zu einer ganzen Reihe ergiebiger For-schungsarbeiten Anstoß gab. Wenn man behauptet, Hyänen hätten die Knochen zusammengeschleppt, braucht man nur zu prüfen, ob Hyänen je dergleichen taten und ob sie es möglicherweise noch heute tun. Daher hob A. R. Hughes, ein Kol-lege Darts, in einer Hyänenüberreste enthaltenden Schicht im südafrikanischen Krüger-Nationalpark Gruben aus. Doch vom Skelett einer einzigen Schildkröte abgesehen, fand er dort keinerlei Beutetierknochen. Seine Folgerung: Hyänen tra-gen keine Knochen zusammen. Einwände gegen Dart, die sich auf diese Annahme stützten, seien daher nicht berechtigt.10 Andererseits gab es eine umfangreiche paläontologische Literatur, die von Hyänen genau das Gegenteil behauptete.Beispielsweise hatte man zahlreiche Knochendeponien an pleistozänen Fundstät-ten in England als »Hyänenschichten« interpretiert. Ja sogar römische Feldherrn hatten sich schon darüber beklagt, daß Hyänen die Leichen römischer Soldaten ausgruben und verzehrten.11 Einige der Gegner Darts merkten bald, daß Hughes‘ Arbeit nicht ausreichte, um die Angelegenheit im einen oder anderen Sinne zu entscheiden. Also begannen sie, sich eingehender über das Verhalten von Hyänen zu informieren.12 Dabei stellte es sich heraus, daß unter ganz bestimmten Voraus-setzungen (und auch dann durchaus nicht immer) Hyänen in der Tat Knochen zu-sammentrugen, und zwar galt das für die Tüpfelhyäne sehr viel häufi ger als für die Schabrackenhyäne. Je nach Umfeld und Lebenssituation (so z.B. je nachdem, wie sehr sie sich gegen Löwen zu behaupten haben) verhalten sich die Tiere ganz un-

3 Verteilung einiger wichtiger Stellen in Afrika, auf die sich die Erforschung früher Homi-niden konzentriert.

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terschiedlich. Vor allem mit Knochen verfahren Hyänen, Leoparden und Löwen je nach Umständen sehr verschieden. Keine Frage: Es war unumgänglich, mehr über diese Tiere in Erfahrung zu bringen, wenn wir Klarheit darüber erhalten wollten, welche Rolle die Tiere für die Entstehung archäologischer Schichten spielten, die unter anderem auch Men-schenüberreste enthielten.Im allgemeinen erwartet man von Vorgeschichtsarchäologen nicht, daß sie sich sonderlich den Kopf über das Verhalten von Hyänen zerbrechen. Und doch wa-ren es gerade Archäologen, die einen erheblichen Beitrag zu den gegen Ende der fünfziger Jahre begonnenen Untersuchungen tierischen Verhaltens leisteten. Ihre Forschungsarbeiten hatten sie unmittelbar mit diesem Problem konfron-tiert. Insbesondere galt dies für die Frage: Welche Prozesse ließen einst die archäologischen Schichten entstehen, die wir heute vorfi nden? Gewiß verfügte man über archäologische Beobachtungen. Es gab Konstellationen des archäo-logischen Materials, die auf gewisse Gesetzmäßigkeiten der Fundschichtentste-hung hindeuteten, und wenn man seiner Phantasie ein wenig freien Lauf ließ, konnte man sich sogar vorstellen, welcher Art diese Gesetzmäßigkeiten waren. Doch gab es keinerlei Methode, um sich zu vergewissern, wie hieb- und stichfest derartige Vorstellungen waren. Erst vor wenigen Jahrzehnten trat die Archäolo-gie Afrikas (wie übrigens anderswo auch) in eine neue Phase ein, in der sich die Forschung Techniken zuwandte, die zu überprüfen erlaubten, wie wirklichkeits-nah das Bild war, das man sich von der Vergangenheit machte.13

Leakeys Alternative

Etwa zur selben Zeit, als dieses Interesse an den Methoden der Archäologie er-wachte, begann ein anderer Forscher fündig zu werden, dessen Entdeckungen für unsere Kenntnis des frühen Hominiden außerordentliche Bedeutung erlangen sollten. Louis Leakey hatte viel Energie aufgebracht, um dem Frühmenschen auf die Spur zu kommen. Dennoch entdeckte er dreißig Jahre lang kaum fossiles Material, das der Rede wert gewesen wäre. Dabei hatte er in den dreißiger Jahren ausgedehnte Sondierungen in der Olduwai-Schlucht (in Tansania [Ostafrika]) durchgeführt und während der vierziger Jahre in großem Maßstab das Gelände der bedeutenden mittelpaläolithischen Grabungsstätte Olorgesailie (gleichfalls in Ostafrika) durchforscht – italienische Kriegsgefangene dienten ihm damals als zusätzliche Grabungsgehilfen. Nach Kriegsende hatte Leakey seine Arbeit erneut aufgenommen, stets seinem Traum nachjagend, eines Tages Fossilien zu fi nden, die bedeutende Aufschlüsse über die Evolution des frühen Menschen erbrächten.1959 erfüllte sich sein Traum. Leakeys Frau Mary bemerkte an der offenliegen-den Kante einer sehr alten Schicht in der Olduwai-Schlucht ein Knochenfrag-ment, das sie als den Zahnbogen eines menschenähnlichen Wesens identifi zier-te, der mit der Oberseite nach unten am Boden lag.14 Fast unmittelbar danach gruben die Leakeys an der betreffenden Stelle weiter, und zum Vorschein kam der außergewöhnliche Schädel eines fossilen Geschöpfes, dem Leakey den Na-

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men Zinjanthropus gab. Schon vorn ersten Augenblick an stand fest: Zinjanthro-pus unterschied sich offenbar nicht unerheblich vom Australopithecus, den Dart beschrieben hatte. Darts Australo-pithecus war verhältnismäßig klein und eher zierlich als robust. Auch sein Kiefer war von bescheidener Größe. Um so statt-licher nahm sich demgegenüber der neugefundene Kiefer aus: Die Kaufl äche seines »Weisheitszahnes« (des dritten Kau- bzw. Backenzahnes) war beinahe so groß wie ein deutsches Markstück (Durchmesser: 23,50 mm). Die Kaumuskeln dieses Lebewesens müssen enorm gewesen sein, denn die Schädeldecke allein reichte zu ihrer Befestigung nicht aus, sondern es war dazu – wie etwa bei einem Hunde- oder Gorillaschädel – ein knöcherner »Scheitelkamm« erforderlich. In dieser und so manch anderer Hinsicht glich der Zinjanthropus dem heutigen Menschen überhaupt nicht. Anderseits gab es keinerlei Zweifel: Er ging aufrecht, war Zweibeiner und besaß eine beachtliche Schädelkapazität. Allerdings machte die Entdeckung dieses robusten Typs in Olduwai die ohnehin schon kompli-zierte Argumentation, die von der Anatomie des Frühmenschen ausging, noch schwieriger. Schon vorher hatte man in Südafrika ähnliche Formen gefunden, doch war nicht klar, in welchem zeitlichen Verhältnis sie zueinander standen. Waren die einen Vorfahren (bzw. Nachkommen) der anderen oder lebten sie alle gleichzeitig nebeneinander?Wichtig war jedoch: Der fossile Zinjanthropus-Schädel lag in einer Schicht zu-sammen mit unverkennbaren Steingeräten. Anders als bei Darts Knochengeräten

4 Olduwai-Schlucht in Tansania (Ostafrika), erste Bruchkante. (Mit freundlicher Genehmigung von Diane Gifford)

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bedurfte es hier keiner Phantasie. Die Archäologen kannten bereits eine Reihe untrüglicher Merkmale, die es ihnen ermöglichten, von Menschenhand produzierte Steingeräte von Natursteinen zu unterscheiden. Und die meisten Experten waren sich darin einig, daß die Steingeräte in der Schicht des Zinjanthropus -Schädels wirklich Menschenwerk und keine Zufallsprodukte der Natur waren. So gab es kaum noch Zweifel, daß hier zumindest eines der von Dart für den Menschen pos-tulierten Verhaltensmerkmale vorlag. Außerdem bot sich hier eine Chance, nach-zuprüfen, ob Darts Auffassung zutraf, der Prühmensch sei ein »gewaltiger Jäger« gewesen, denn die fraglichen Schichten enthielten neben Hominidenüberreste nicht nur Steingeräte, sondern auch eine Fülle von Knochen anderer Lebewesen. In seinen ersten Schilderungen, die Leakey 1959 der Presse gab, berichtete er von einer Vergesellschaftung der Zinjanthropusreste mit Vogelknochen, Vogeleiern, Schildkröteneiern und Ferkelknochen.15 Dies erweckte den Eindruck, der Früh-mensch habe sich zwar im wesentlichen von Pfl anzenkost ernährt, hin und wieder jedoch auch tierische Produkte (wie Eier) und Fleisch als Zukost nicht verschmäht. Geriet er an ein Vogelnest, stahl er die Eier, trat er zufällig auf eine Eidechse, aß er sie vermutlich gleich auf. Kam ihm eine Wildsau über den Weg, die kurz zuvor geferkelt hatte, machte er sich über die Jungtiere her. Washburn und Howell be-merkten:

»Die außergewöhnlichen Entdeckungen halfen uns, einige … wichtige Fragen zu beantworten, die das Verhalten der Australopithecinen betreffen. So verdanken wir ihnen klare Hinweise darauf, daß diese primitiven Hominiden bis zu einem gewissen Grade Fleischfresser und Wildbeuter waren, die ihre pfl anzliche Grundnahrung mit Fleisch anreicherten, insbesondere mit dem Fleisch kleinerer Tiere oder der Jungtiere größerer Arten. Sehr unwahrscheinlich ist es, daß die früheren und kleinwüchsigeren Australopithecinen sehr viele Tiere umbrachten, wogegen die späteren, größeren Formen, die vermutlich an ihre Stelle traten, wohl schon mit Klein- und Jungtieren fertig wurden. Daß diese Wesen es als Jäger aber auch mit den für das Pleistozän Afrikas so charakteristischen pfl anzenfressenden Großtieren aufnehmen konnten, dafür fehlt jeder Anhaltspunkt.«16

Allerdings lagen dieser Deutung lediglich die Grabungsergebnisse eines winzigen Areals von 4 x 6 m Grundfl äche zugrunde! Angesichts des enormen Aufsehens, das diese Funde erregten, beschloß die National Geographic Society der USA, Leakeys Arbeiten in der Olduwai-Schlucht langfristig zu unterstützen. Rings um das ursprünglich so winzige Ausgrabungsgelände (FLK22)17 wurde weiteres Terrain ausgegraben. Erstaunlich war der Erhaltungszustand dessen, was zum Vorschein kam: Selbst die Überreste kleiner Nagetiere, ja Insekten und Insek-tenausgüsse ließen sich nachweisen. Doch am überraschendsten war – zumal in Anbetracht der früheren Ansichten Leakeys – die Anzahl und Vielfalt der auf so beschränktem Raum vertretenen Arten. In einem Grabungsabschnitt fand man die Knochen eines Okapi (einer »Kurzhals-« oder »Waldgiraffe«), anderswo die fragmentarischen Überreste pleisto-zäner Schweine, Pferde sowie verschiedener afrikanischer Antilopen. Auch Reste exotischer Tiere tauchten auf: Welsköpfe,

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Nagetiere, Chamäleons und Knochen anderer Schildkröten als der sonst üblichen Landschildkröten. Doch wie dem auch sei – nachdem die Ausgrabungen vorüber waren, umfaßte der Fundbestand auch zahlreiche Arten von Großsäugern. Dies alles erinnerte stark an die üblichen Bilder vom Zusammenleben der Menschen und Tiere im Garten Eden.Es schien also, als ob die Resultate dieser neuen Ausgrabung Darts ursprünglicheAnsichten über den Frühmenschen zu bestätigen anfi ngen. Auf jeden Fall paßte einSzenarium mit Jägern, die es verstanden, mit Pferden, großen Antilopen, Okapisund anderen Tieren dieser Größenordnung fertigzuwerden, schlecht zu Leakeys anfänglichen Vorstellungen von einem scheuen Pfl anzenfresser, der nur bei Gelegen-heit zusätzlich Vogeleier naschte und um Entschuldigung bat, wenn er auf eine Eidechse trat!Das Material aus Olduwai schien unzweideutig. Die meisten Forscher waren geneigt, das Beieinander von Geräten und Knochen als »Wohnplätze« zu deuten, die ihr Entstehenden Aktivitäten früher Hominiden verdankten. Im GrabungsabschnittFLK NN 3 beispielsweise schien es sicher, daß Leakey auf ein altes Niveau gestoßenwar, das kaum durch spätere Eingriffe der Natur oder des Menschen Veränderungenerfahren hatte. Auf dem Boden lagen die intakten Überreste einer Anzahl vonLandschildkröten, deren einzelnen Knochen sich noch mehr oder weniger in ihrerursprünglichen, anatomisch richtigen Lage befanden. Unweit davon stieß man aufdie Rückenwirbel und Rippen einer einzelnen afrikanischen Antilope, um die ringsherum Steingeräte verstreut waren. Zwar betrachtete man viele Fundplätze als nichtganz so leicht deutbar wie diesen, dennoch betrachtete man sie als Wohnlager, daKnochen mit Steinwerkzeugen vergesellschaftet waren. All diese, wie man meinte»für sich selbst sprechenden« Funde standen in keinerlei Widerspruch zu dem Bilde, das man sich vom Menschen als »gewaltigen Jäger« machte. Beispielsweise legteMary Leakey18 in dem als FLK bezeichneten Grabungsabschnitt eine Schicht frei,die Überreste eines Dinotheriums barg. Dieses seltsame fossile (plio- bis pleistozäne)Rüsseltier hatte riesige Stoßzähne, ähnlich denen eines Elefanten. Sie ragten jedochaus dem Unterkiefer hervor, waren rückwärts gebogen und eigneten sich hervorra-gend dazu, Sümpfe nach pfl anzlicher Nahrung zu durchpfl ügen. Eines dieser riesi-gen Tiere lag – teilweise zerstückelt – im Abschnitt FLK, und in unmittelbarer Nähefanden sich unbezweifelbare Steinwerkzeuge. Kein Wunder, daß diejenigen nunverstummten, die sich bisher nur schwer hatten dazu durchringen können, denFrühmenschen als Jäger zu betrachten.Leider starb Leakey 1972, als er sich gerade bemühte, neue Geldmittel für seine Forschungen aufzutreiben. Seine Frau Mary und sein Sohn Richard führten sei-ne Arbeit an anderen Grabungsstätten weiter. Doch dient Leakeys Material aus Olduwai noch immer als Grundlage der gängigen Ansichten über das Verhalten des frühen Menschen – Ansichten, wie man sie noch immer in nahezu allen heu-tigen Handbüchern und dergleichen fi ndet. Zwar fand man keinerlei Spuren der Verwendung von Feuer in den Oldo-wan-Schichten (den ältesten Schichten mit Spuren menschlicher Aktivität in Olduwai, die bisher zum Vorschein kamen), und Schichten mit Steingeräten

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enthielten keinerlei eindeutige Beweise für das Vorhandensein der von Dart an-genommenen Knochenwerkzeuge. Somit entfi elen zwei der von Dart vorausge-setzten Verhaltensmerkmale, und man konnte Dart zumindest in diesen beiden Punkten widersprechen. Doch was er über Steingeräte und über das Verhältnis Mensch/Tier gesagt hatte, schien vielen unwiderlegbar.Deutlich kommt die neue Lehrmeinung in zahlreichen Schriften von Glynn Isaac, einem der führenden Experten für afrikanische Vorgeschichte,19 zum Aus-druck. Welches Bild der Vergangenheit er entwirft, zeigt beispielsweise folgende Passage:

»Könnte jemand eine Zeitreise unternehmen … Was sähe er?… Weit hinten auf der Ebene nähert sich eine Gruppe von 4 oder 5 Männern … Während sie herbeikommen, bemerkt der Beobachter andere Primaten unter sich. Eine Gruppe dieser Wesen lagert im Schatten eines Baumes im Sand. Ringsum spielen die Jungen. Sobald die Männer sich nähern, erheben sich diese Ge-schöpfe, und es stellt sich heraus, daß sie zweifüßig gehen. Sie scheinen weib-

5 Unser Erbe? Gesellige, auch auf das Wohl ihrer Artgenossen bedachte Wesen an der Grenze zwischen Plio- und Pleistozän. Das Bild stellt eine durch enge Familienbande zusammengehal-tene Gruppe fossiler Hominiden dar Das Paar rechts zeigt, daß sie die Nahrung miteinander teilten. Die links sitzende Gruppe von Erwachsenen und einem Kind deutet auf Unterweisung in der Geräteherstellung hin. Voller Neugier wendet man sich zwei Männern zu, die von der Nahrungssuche heimkehren. Was bringen sie in ihre »Heimfl ur« mit? Kommen sie mit pfl anz-licher Kost oder mit dem Fleisch gejagter, vielleicht aber auch verendeter Tiere? (Feder- und Bleistiftzeichnung von Iva Ellen Morris)

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lichen Geschlechts zu sein und stoßen aufgeregte Laute aus, während einige der Jung-Individuen der immer näher herankommenden kleinen Schar ent-gegenlaufen … Was die Ankommenden herbeitragen, ist der Kadaver einer Impala-Antilope, um den die Gruppe sich nun in höchster Erregung schart. Man stößt sich, schubst sich, hier und da kommt es zu Temperamentsausbrü-chen, und Drohgebärden werden sichtbar. Doch dann nimmt eines der größ-ten männlichen Gruppenmitglieder zwei Gegenstände von einem Haufen am Fuß des Baumes. Er hockt sich hin, und mit hartem, scharfem ›Klippklapp‹ schlägt er beide Objekte immer wieder gegeneinander. Die anderen Wesen balgen sich herum und lesen die kleinen, scharfen Bruchstücke auf, die von den Steinen abgesplittert sind. Sobald ihm ein kleines Häufchen derartiger Steinabschläge zu Füßen liegt, wirft der, der die Steine bearbeitet hat, die bei-den übriggebliebenen Klumpen fort, wühlt in den Bruchstücken herum und wählt zwei oder drei davon aus. Dann wendet sich das führende männliche Gruppenmitglied wieder dem toten Tier zu und beginnt, den Tierkörper zu zerlegen … jedes erwachsene männliche Gruppenmitglied erhält einen Teil des Fleisches und zieht sich in einen Winkel der Lichtung zurück, mit ihm eine oder zwei Frauen und die zugehörigen Kinder. Hier sitzen sie, kauen, schneiden das Fleisch, und die Bissen gehen von Hand zu Hand … Eines der männlichen Wesen erhebt sich, streckt die Arme aus und kratzt sich unter den Achselhöhlen. Dann setzt es sich wieder. Es sitzt an den Baum gelehnt, stößt hörbar auf und klopft auf seinen Bauch …«20

6 Die »Flußpferd-Fundstätte« (Abschnitt FxJj 3) in Koobi Fora während der Ausgrabung durch Glynn Isaac. (Mit freundlicher Genehmigung von Diane Gifford)

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Auf der Basis allgemein akzeptierter Deutungen des Materials bekannter pleistozäner Fundstätten behauptete Isaac also, schon vor rund zwei Mil-lionen Jahren sei der Mensch ein Jäger gewesen, der seine erlegte Beute zu dem Ort brachte, wo er auch schlief (die Gelehrten sprechen von seiner »Heimfl ur«), und sein Mahl mit anderen männlichen wie weiblichen Artge-nossen teilte (denn er lebte in Familiengruppen mit geschlechtsbedingter Arbeitsteilung). Kurz, Isaac setzt nichts anderes voraus, als daß bestimmte typisch menschliche Verhaltensmerkmale schon auf einer überraschend frühen Stufe der Hominiden-Evolution ausgeprägt waren. Wir dürfen mit Recht fragen, wie Isaac dazu kam, seine zweifellos farbige Schilderung aus den Fundschichten einer dermaßen fernen Zeit herzuleiten.

Die Auffassung Brains

Die Entdeckungen in der Olduwai-Schlucht brachten so manchen Wis-senschaftler zum Verstummen, der sich vorher mit Darts Ansichten über unsere frühen Vorfahren schwergetan hatte. Ein betretenes Schweigen folgte mehrere Jahre auf die Auseinandersetzung, ob der Mensch einst tatsächlich ein »gewaltiger Jäger« war. Heute indessen liegen nicht nur die Ergebnisse neuer Ausgrabungen in Afrika vor, sondern es wurden

7 C. K. Brain (rechts) bei der Untersuchung in Swartkrans ausgegrabener Knochen (August 1981).

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auch theoretische Forschungen geleistet, die den in Afrika und anderswo angewandten archäologischen Methoden galten. Wir beginnen heute, mit ganz anderen Voraussetzungen an die Deutung der Befunde heranzugehen und so, wie ich meine, die Grundlage für eine weit wirklichkeitsnähere Betrachtung dieses frühen Materials zu schaffen. Viele Impulse dazu verdankt die Wis-senschaft den Arbeiten des südafrikanischen Gelehrten C. K. Brain.21

Brain begann Mitte der sechziger Jahre damit, in Südafrika Deponien zu untersu-chen, die denen ähnelten, welche Dart zu seinen Ansichten über die Verwendung von Steingeräten und die Rolle der Jagd bei den Australopithecinen veranlaßt hat ten. Es gibt – dies ließ ich bisher unerwähnt – in Südafrika auch noch andere bedeutende Fundstätten, die faunale (von Tieren stammende) Überreste in Ver-gesellschaftung mit Überresten von Australopithecinen enthalten. Einer der füh-renden Köpfe bei den Untersuchungen etwa in Sterkfontein sowie an anderen Plätzen dort war R- Broom. Zusammen mit G. Schepers vertrat er die Ansicht, die Knochenanhäufungen seien eher das Werk von Hyänen als »Heimfl uren« blut-dürstiger, raubtierhafter Frühmenschen. Tatsächlich hatte sich – bevor Leakey in der Zinjanthropus-Schicht Werkzeuge entdeckte – bei zahlreichen bedeutenden Forschern22 die Ansicht gebildet, man habe das Material an südafrikanischen Fundstätten anderen Tieren oder einem eher aasfresserhaften Verhalten unserer frühen Ahnen zuzuschreiben. Leakeys Funde fügten sich allerdings schlecht in den Rahmen derartiger Vorstellungen ein.

8 Blick über die Ausgrabungen von Swartkrans m Richtung Sterkfontein (August 1981). Man beachte die Bäume neben den Spalten im Kalksteinboden (links).

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Die Frage, die Brain zuerst stellte, lautete: Wie waren die Deponien, die Dart so viele Jahre lang untersucht hatte, überhaupt entstanden? Welche Schicht-Bil-dungsprozesse hatten sich hier abgespielt? Man hatte es mit »Taschen« voller Tierknochen zu tun, in denen sich sporadisch auch Überreste früher Hominiden fanden. Brain nahm – mit Recht – an: Wenn man erst besser über die Vorgänge Bescheid wüßte, die derartige Schichten entstehen ließen, ließe sich auch die Interpretation des Inhalts dieser Schichten auf solidere Grundlagen stellen. Al-lerdings waren es eher Zufallsbeobachtungen, die ihn den Weg wiesen. In der Umgebung einiger südafrikanischer Fundstätten war ihm aufgefallen: Es han-delte sich um die klassische afrikanische Savanne mit niedrigem Gebüsch, stel-lenweise mit wüstenartigen Partien vermischt. Doch in der Nähe der Fundstät-ten waren die Bäume keineswegs – wie sonst – verkümmert und weit verstreut, sondern sie standen verhältnismäßig dicht und erreichten bisweilen beträchtli-che Höhe. Brain fand heraus, daß die Ursache in der geologischen Beschaffenheit der betreffenden Plätze lag. Das Kalkgestein des Felsgrundes war ausgewaschen worden, und im Boden waren Höhlungen entstanden – natürliche Staubecken, in denen sich Grundwasser oder von der Oberfl äche her eingedrungenes Sicker-wasser staute. Da es an diesen Stellen unterirdische Wasservorräte gab, konnten Bäume hier Wurzeln schlagen, obwohl die Landschaft ringsum eher durch Dürre gekennzeichnet war. Also fragten sich Brain – und andere mit ihm –, ob die von Dart untersuchten Ablagerungen vielleicht gar nicht aus einstigen Höhlen oder ehemaligen Abris (»Halbhöhlen«, Nischen unter Felsvorsprüngen bzw. Felsü-berhängen) stammten, sondern aus tiefen Spalten, in die die Knochen gespült worden oder in die gelegentlich auch lebende Tiere gestürzt waren.Schon als sich seine Forschungen noch im Anfangsstadium befanden, konnte Brain seiner Beobachtung eine zweite hinzufügen: Wenn Leoparden von ande-ren Raubtieren gestört werden, neigen sie dazu, ihre Beute auf Baumkronen in Sicherheit zu bringen.23 Sogar Dart hatte bereits in Erwägung gezogen, daß die-se Verhaltensweise zur Entstehung mancher Fundschicht geführt haben könn-te.24 Außerdem hatte er darauf hingewiesen, daß die Gewohnheit von Leopar-den, in Felsspalten zu hausen, besonders dann, wenn ein Leopardenweibchen Junge hat, ihrerseits bei der Schichtenbildung eine Rolle gespielt haben könnte. Doch reichten Informationen dieser Art aus, um einen umfassenden, über-zeugenden Begriff von den Prozessen zu geben, die einst, als diese Schichten zustande kamen, am Werk waren? Brain benötigte detailliertere Aufschlüsse, ehe er sich an die Deutung seiner Beobachtungen und Befunde wagen konnte. Sein nächster Schritt bestand darin, sich völlige Klarheit über das Verhalten von Leoparden zu verschaffen. Dabei stellte er fest: Bei einer unmittelbaren Konfrontation können die meisten Raubtiere Afrikas einen Leoparden leicht aus dem Felde schlagen. Der Leopard hat jedoch ein entsprechendes Anpas-sungsverhalten entwickelt. Er fl ieht und schleppt dabei seine Beute auf einen Baum, wo er vor Konkurrenten (insbesondere vor Hyänen) relativ sicher ist. Dort legt er das geschlagene Tier auf einem Ast ab, so daß dessen Gliedma-ßen beiderseits herabhängen. Beginnt der Leopard dann, das tote Tier entlang

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9 C. K. Brain bei seinen Ausgrabungen in Swartkrans (August 1981)

der Körperlängsachse zu verspeisen, fallen Teile des Kadavers zu Boden. Wie es scheint, sind von allen afrikanischen Raubtieren Leoparden die einzigen, die sich so verhalten. Vergleichende Untersuchungen von Knochen, die als Reste von Leopardenmahlzeiten unter den Bäumen und rings um die Felsspalten herum lagen, erbrachten recht nützliche Ergebnisse. Um nur ein Beispiel anzuführen: Die Schädelknochen wiesen zahlreiche typische Brüche und Bißstellen auf. Im Gegensatz zu dem Eindruck, den Tarzanfi lme vermitteln, töten Großkatzen, wann immer es möglich ist, indem sie ihren Fang über dem Maul ihres Beute-tieres schließen und geschlossen halten, bis der Erstickungstod eintritt. Dabei verhält sich das Beutetier wie hypnotisiert und hegt still, ohne mit den Läufen zu schlagen (was für das Raubtier gefährlich werden könnte, könnten ihm doch die umherschlagenden Hufe den Bauch aufschlitzen). Dieses Verhalten führt zu ganz bestimmten Zahnabdruckmustern im Beutetierschädel, die man nur mit der Distanz der Reißzähne eines Leopardengebisses zu vergleichen braucht.25

Gerüstet mit den unterschiedlichsten anatomischen Beobachtungen dieser und ähnlicher Art, die er rezentem faunalem Material verdankte, untersuchte Brain die fossilen Knochen von Swartkrans erneut und vermochte zu zeigen: Auch hier waren die Bruchstellen an den Schädeln wahrscheinlich nicht (wie Dart angenommen hatte) das Ergebnis von Menschenhand geführter Keulenschläge, sondern der soeben geschilderten Tötungsart durch Raubtiere. Desgleichen ließ sich bei den Funden aus Makapansgat das Mißverhältnis zwischen intak-

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ten Gliedmaßen und nahezu völlig fehlenden Rückenwirbeln auf die typische Art zurückführen, in der Leoparden ihre Beute verzehren. Tatsächlich gab es praktisch keinerlei Unterschiede zwischen den dortigen Knochenbruchmus-tern und entsprechenden Mustern, die Brain bei seinen Untersuchungen des Verhaltens heutiger Leoparden angetroffen hatte. Es war eine wirklich aufre-gende Situation. Die geologische Beschaffenheit der von Brain untersuchten Plätze bewirkte, daß es dort einen verhältnismäßig dichten Baumbestand gab, der in einer sonst offenen Landschaft Schatten und Schutz bot. Dies war der natürliche Zufl uchtsort, den eine der großen Raubkatzen brauchte, um in aller Ruhe ihre Beute verzehren zu können. Die Freßgewohnheiten dieser Raubkat-ze aber führten wiederum zu der Knochenanhäufung unmittelbar am Rande natürlicher Felsspalten. Alles griff ineinander. Alles paßte zueinander, und dies brachte Brain zu der Überzeugung, daß ebendieselben Prozesse hier seit Jahr-millionen am Werk gewesen seien und zur Bildung jener paläontologischen Schichten geführt hatten, die man damals in Südafrika ausgrub.

10 Rekonstruktion einer Szene, bei der ein Leopard einen frühen Hominiden in einem Baum über einer Spalte im Kalksteinboden frißt. (Federzeichnung von Mary Coombes, mit freundlicher Genehmigung aus South African Museum Bulletin No. 9, 1968)

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Dennoch beschränkte Brain seine Untersuchungen nicht auf das Verhalten von Leoparden. Beispielsweise befaßte er sich auch mit dem afrikanischen Stachelschwein, das gleichfalls dafür bekannt ist, daß es in seinem Bau Kno-chen anhäuft. Außerdem untersuchte er die Nist- und Schlafgewohnheiten von Eulen – steuerten doch Eulen gewiß beträchtliche Mengen von Kleintierknochen zu den

11 Schematische Darstellung des Entstehens sudafrikanischer Hominidenfundstätten: Frühstufen. Am Anfang steht die Bildung eines unterirdischen Hohlraums durch Aufl ösung des Dolomit-gesteins unterhalb des Grundwasserspiegels (A). Langfristige Erosionsvorgänge führen dazu, daß sich Flüsse immer tiefer in die Landschaft einfressen. Damit sinkt der Grundwasserspiegel, und aus der ursprünglich ganz mit Wasser gefüllten Kaverne wird eine vergleichsweise trocke-ne Höhle im Felsgestein, die nun hoch über dem abgesunkenen Grundwasserspiegel liegt. In ihr beginnt (B) die Bildung kalkiger Abscheidungen durch vom Erdboden aus eindringendes Sickerwasser, und die Sickerspalten, die in die Höhle hinein, aber auch aus ihr wieder her-ausführen, werden immer weiter ausgewaschen. Im Bereich des abgesunkenen Grundwassers können unter der ersten Höhle weitere Kavernen entstehen, in die Sickerwasser nachfl ießt. Vom Höhlendach abgelöste mächtige Blöcke verändern das ursprüngliche Höhleninnere und beeinträchtigen auch den Fluß des Sickerwassers.

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12 Schematische Darstellung des Entstehens südafrikanischer Hominidenfundstätten: Spätere Phasen. Kleinere Spalten bilden sich (1), die die Erdoberfl äche mit dem unterirdischen Hohlraum verbinden. Bäume wachsen an den Rändern dieser Sickerlöcher, und die Öffnun-gen der Spalten bieten zahlreichen Tieren Unterschlupf: Eulen und Fledermäuse hausen in ihnen, und unmittelbar an den Eingängen schlafende Primaten (einschließlich Hominiden) locken jagende Leoparden und aassuchende Hyänen herbei. Die Wechselbeziehungen zwi-schen diesen Tieren – den Jägern und Gejagten – bestimmen weitgehend den Inhalt der allmählich anwachsenden Ablagerungen von Knochen, die das eindringende Wasser ins Höhleninnere hinabspült (Element I). Mit der Zeit werden die Spalten durch Erosion immer breiter (2). Auch aus der Höhle fl ießt immer mehr Wasser ab und bricht sich durch die ange-häuften Knochenschichten Bahn. Das Aufbrechen derartiger Abfl ußkanäle beschleunigt wie-derum die Bodenerosion an der Erdoberfl äche und führt zu beträchtlichen Größen- sowie Formveränderungen der Spalten und des sie unmittelbar umgebenden Geländes.In Phasen stärkerer Erosion kommen Felsstücke und Erdreich ins Rutschen und verstopfen einige Öffnungen. Andere Öffnungen dagegen erweitern sich – besonders wo die Spalten einen Winkel bilden und erst waagrecht verlaufen, bevor sie abknicken und senkrecht in die Tiefe führen –, so daß Abris (Halbhöhlen unter Felsüberhängen) oder gar höhlenartige Eingänge entstehen (3). Infolgedessen ändert sich die Eignung des Platzes für verschiedene Tierart-

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Schichten in den Kalksteinhöhlen bei. Schließlich interessierte er sich für das Verhalten von Hyänen und erkannte (im Gegensatz zu Dart), daß nicht zuletzt gewisse Gewohnheiten dieser Tiere den Knochenschichten der frühen »Affen-menschen«-Fundstätten ihr Gepräge gegeben haben könnten. Bei all diesen Studien vernachlässigte er keineswegs seine Ausgrabungen und Forschungen an der bedeutenden Grabungsstätte Swartkrans. Die Einsichten, die wir Brains me-thodologischer Forschung verdanken, ermöglichen es uns heute, ein Bild jener Vorgänge zu entwerfen, auf die die Entstehung gewisser Schichten südafrika-nischer Fundstätten zurückzuführen ist. Unsere Abbildungen 11 und 12 zeigen – in vereinfachter Form und die Verhältnisse von Swartkrans verallgemeinernd –, wie die fraglichen Deponien im Zusammenwirken mit geologischen Prozes-sen Gestalt annahmen. In Wahrheit verhalten sich die Dinge natürlich weitaus komplizierter. Doch die Hauptsache dürfte damit klarwerden: Die Ablagerungen sind das Ergebnis einer Vielzahl von Vorgängen, und diese lassen sich ihrerseits auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Ursachen zurückführen, die unter stän-dig veränderten Bedingungen ihre Wirkung entfalteten. Zwar können durchaus Beweise für menschliche Aktivitäten, ja sogar menschliche Skelettüberreste vor-handen sein, doch was diese Schichten bergen, ist eher auf das Zusammenwirken sämtlicher Kräfte eines vollständigen Ökosystems als – wie Dart noch annahm – auf ein ganz bestimmtes Verhalten einer einzigen Art zurückzuführen! Indem er die schichtenbildenden Faktoren und Prozesse genauestens unter die Lupe nahm, entwickelte Brain also Methoden, die zu ganz neuartigen Erkenntnissen verhalfen, indem sie es ermöglichen, für eine Fundschicht die ihr angemessene »Diagnose« zu stellen und das, was sie birgt, den Wirkkräften und Vorgängen zuzuordnen, die für ihr Vorhandensein verantwortlich waren.An diesem entscheidenden Punkt seien einige Spekulationen gestattet. Wenn es sich bei den Knochenablagerungen in Höhlen und Felsspalten Südafrikas um Knochenanhäufungen handelt, die unter den Umweltbedingungen vergangener Zeitalter von ebenso zahlreichen wie vielfältigen Prozessen geschaffen wurden,

kombinationen (einschließlich der Hominiden). Wenn sich beispielsweise sogar weniger fl in-ke Tiere wie Hyänen Zugang zu den einst so sicheren Höhlenöffnungen verschaffen können, bieten diese immer weniger Schutz und eignen sich nicht mehr als Schlafplätze für Primaten. Leoparden fi nden bei ihren nächtlichen Streifzügen folglich weit weniger Primaten als Beute vor, begegnen dafür aber immer mehr ernstzunehmenden Rivalen. Bei dieser Lage der Dinge tragen vor allem Hyänen und vielleicht noch andere Fleischfresser zur Bildung der Schichten in der Unterirdischen Kaverne bei (Element II). Allerdings deuten in Swartkrans sporadische Funde von Überresten fossiler Hominiden und ihrer Werkzeuge in den Schichten des Elements II darauf hin, das gelegentlich noch Angehörige der Hominidenfamilie den Höhleneingang aufsuchten. Schließlich wird die Ablagerung relativ stabil (4). Doch können weitere Erosion sowie das Hinzukommen weiteren Materials in neuerer Zeit im Endergebnis zu einem Komplex mit sehr verworrener Stratigraphie führen.

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könnte dann nicht Gleiches auch für die Freilandfundstätten in Ostafrika gelten? Wie und woran könnten wir dies erkennen? Welche ersten Schritte könnten wir – ähnlich wie Brain – tun, um dem Verständnis des ostafrikanischen Materials nä-herzukommen? Wenn die Vergesellschaftung von Artefakten und Knochen nicht klar genug ist und die Skelettreste nicht als Zeugnis der Eßgewohnheiten des Früh-menschen »für sich selbst sprechen«, kann es durchaus sein, daß sich die frühen Hominiden ganz anders verhielten, als es die in Ostafrika tätigen Forscher bisher anzunehmen und ihren Rekonstruktionen zugrunde zu legen pfl egten.

Untersuchungen neuzeitlichen Materials als Hilfsmittel

Es sei an Darts Beobachtung erinnert, daß in Makapansgat die Anzahl der vor-gefundenen Huftierknochen nicht den normalen Verhältnissen bei lebenden Exemplaren entspricht. Darts Ansicht nach war dieses verschobene Mengen-verhältnis darauf zurückzuführen, daß die Australopithecinen bestimmte Teile der betreffenden Tierkörper als Nahrung, bestimmte Teile des Tierskeletts wiederum als Werkzeuge bevorzugten. Brain dagegen hatte aufgrund seiner Kenntnis der Freßgewohnheiten von Leoparden darauf hingewiesen, welche Teile Leoparden besonders gern aßen und welch andere nicht nur sie, sondern sogar aasfressende Hyänen zu verschmähen pfl egten. Diese Beobachtungen ga-ben zwar zu denken, aber die meisten Materialproben Brains waren nicht sehr umfangreich, und Brain war keineswegs davon überzeugt, die Ursachen des von Dart festgestellten Phänomens zu kennen. Um zusätzliche Aufschlüsse zu ge-winnen, begann er mit einer ethnoarchäologischen Untersuchung einer Gruppe heute lebender Hottentotten-Viehzüchter in Namibia.26 Die Hottentotten halten Ziegenherden, und sie schlachten und verzehren die Tiere in ihren Dörfern. Da sie weder innerhalb noch außerhalb dieser Dörfer mit Fleisch handeln, müßten dort also – zumindest theoretisch – sämtliche Knochen der geschlachteten und verzehrten Tiere vorhanden sein. Brain war gespannt, ob die unter solchen Be-dingungen wieder eingesammelten Schlachtviehknochen korrekte Zahlenver-hältnisse ergäben. Doch die Hottentotten halten auch zahlreiche Hunde, die frei herumlaufen, ungehindert an alle Abfälle herankommen – und, wie man weiß, Hunde sind auf Knochen scharf! So stellte Brain in seiner Sammlung mehrerer tausend Knochen aus mehreren Dörfern eine erhebliche Verschiebung der Zah-lenverhältnisse fest. Unterkiefer und distale (von der Körpermitte entfernte) Enden der meisten Gliedmaßen waren sehr viel häufi ger vorhanden als Rü-ckenwirbel, Rippen sowie proximale (der Körpermitte nahe) Knochenenden. Da es auch in längstvergangener Zeit aasfressende Tiere gab, überraschte es Brain kaum, daß zwischen der Häufi gkeit des Auftretens einzelner Skelett-Teile in den Hottentottendörfern und den Australopithecus-Schichten von Makapansgat weitgehende Übereinstimmungen bestehen.All das vorgenannte Beweismaterial, dem teilweise Beobachtungen heutigen Menschen- und Tierverhaltens zugrunde liegen, gab Brain die Gewißheit, daß

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pleistozäne Leoparden und andere Tiere, keineswegs aber Menschen für die Entstehung der fraglichen Schichten verantwortlich waren. Nach Brains neuer Überzeugung mußte der Australopithecus nicht notwendigerweise auch dort gewohnt haben, wo man seine Knochen fand – er wurde dort nur aufgefressen! Bei den heutigen Fundstätten handelt es sich nicht um ehemalige »Heimfl uren«, sondern um von der Natur geschaffene Fallen, in die der Frühmensch hinein-tappte, oder um Schlafplätze, wo er von Raubtieren überfallen wurde.Es kann außerordentlich erregend sein, wenn man entdeckt, daß zwei Völker, die buchstäblich durch die halbe Welt voneinander getrennt sind und jeweils vom Tun und Lassen des anderen nichts wissen, sich in ihrem Denken und Handeln auf völlig gleichen Pfaden bewegen. Als Brain bei den Hottentotten hinter Leoparden und Ziegenknochen her war, hatte ich noch keine Ahnung, wer er war und was er trieb. Doch rein zufällig ergab es sich: Einige ethnoar-chäologische Studien, die ich selbst anstellte (und zwar eigentlich mehr am

13 Ein mächtiger Baum in Swartkrans, 1981 aus einer der Spalten im dortigen Kalksteinboden aufgenommen. Einen ähnlichen Anblick könnten Frühmenschen von ihren Schlafstätten aus gehabt haben.

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Rande völkerkundlicher Untersuchungen bei den Navajo-Indianern Neumexi-kos) führten genau in dieselbe Richtung.27 Ganz zufällig war mir bei meinen dortigen Arbeiten aufgefallen, daß sich die Häufi gkeitsverhältnisse der Kno-chen in den Müllablagen der Navajo-Winterlager allem Anschein nach erheb-lich von denen der Sommerlager unterschieden. Da ich mir der Interpretations-probleme bewußt war, die sich aus den Schwankungen des Zahlenverhältnisses einzelner Skelett-Teile innerhalb der südafrikanischen Knochenschichten aus dem Altpleistozän ergaben, entschloß ich mich, meine Studenten in wenn auch begrenztem Umfang überprüfen zu lassen, ob mein erster Eindruck richtig war und – wenn ja – was die betreffenden Unterschiede bewirkt haben könnte. Wir arbeiteten in einem abgelegenen Teil der Navajo-Reservation und hatten kei-nerlei Schwierigkeiten, an brauchbares Material heranzukommen. Ja die Indi-aner forderten den verrückten Professor und seine Schüler sogar lachend auf, ihnen auch noch die Vorgärten sauberzumachen! Wir sammelten die Knochen an Plätzen, von denen wir wußten, wer dort gelebt hatte, wie lange sie bewohnt gewesen waren, in welcher Jahreszeit man sich dort aufgehalten hatte und der-gleichen mehr. Ich hatte mir eingebildet, die Navajos schlachteten und verspeis-ten ganz einfach Schafe und Ziegen, und dies werde sich in den vorhandenen Knochenabfällen spiegeln. Doch unsere Untersuchung ergab: Zwischen den am häufi gsten erhaltenen Tierskelett-Teilen in den Sommer- und Winterlagern

14 Navajofrau beim Schafschlachten. (Aufnahme mit freundlicher Genehmigung von J. Chis-holm)

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der Navajos bestand ein erheblicher Unterschied.Nachdem wir diesen Unterschied erst einmal festgestellt hatten, begannen wir, uns darüber den Kopf zu zerbrechen, was ihn wohl hervorgerufen haben könne. Die fraglichen Navajo-Wohnplätze befanden sich in einem hochgelegenen Wüs-tengebiet mit strengen Wintern. Im Januar ist nicht selten alles unter einer di-cken Schneedecke begraben, und die Nachttemperaturen sinken bis -18° Celsius ab. Infolgedessen erfrieren im Winter viele der erst im Frühling zuvor geborenen Lämmer, aber auch eine beträchtliche Zahl von Alttieren kommt durch Frost um. Die Navajos verspeisen die erfrorenen Tiere entweder selbst oder verfüttern sie (zumal wenn es sich um noch kleine Lämmer handelt, die nur Haut und Knochen sind) an ihre Hunde. Deshalb weist das faunale archäologische Material in Win-terlagern ein gegenüber den Sommerlagern stark verschobenes Altersverhältnis auf. In Sommerlagern wählt man vor allem fette Schafe bester Fleischqualität zum Verzehr aus. In beiden Fällen haben die Hunde ungehindert Zugang zu den Abfällen, und offensichtlich reizen die Knochen alter Mutterschafe sie mehr als die noch weichen Skelettreste der kleinen Jährlinge. Laboruntersuchungen des Verhältnisses zwischen Knochenfestigkeit und Altersstufe ermöglichten es uns, Tabellen aufzustellen, wie altersbedingte Härteveränderungen der einzelnen Bestandteile des Tierskeletts deren Aussichten beeinfl ußten, erhalten zu bleiben. Auf diese Weise ließ sich demonstrieren, daß beim Einwirken gleicher Zerstö-rungskräfte deutlich ausgeprägte Knochen-Häufi gkeitsunterschiede die Folge sein mußten. Resultat: Die unterschiedliche Häufi gkeit einzelner Skelettbestandteile

15 Studenten bei einem Experiment: Schafe werden geschlachtet, um zu prüfen, wie sich mit fortschreitendem Alter die Eigenschaften ihrer Knochen ändern (Albuquerque 1973).

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innerhalb einer und derselben Navajo-Wohnstätte hing von der unterschiedli-chen Haltbarkeit der einzelnen Skelettbestandteile bei Schafen verschiedener Altersstufen ab. Die entsprechenden Differenzen zwischen den einzelnen Plät-zen dagegen hatten mit der unterschiedlichen Altersstruktur der Schafe zu tun, deren Knochen von Hunden benagt oder gefressen wurden.Der nächste logische Schritt bestand darin, zu überprüfen, ob sich auch das unterschiedlich häufi ge Vorkommen einzelner Teile der tierischen Anatomie an archäologischen Stätten wie Makapansgat so simpel durch Unterschiede des Knochenhärtegrades erklären ließ. Was man dort an tierischen Knochenüber-resten fand, stammt meist von Antilopen – von Antilopen, die zum Teil kleiner sind als Schafe und auch seltener Junge gebären. Dennoch müßten die gleichen Prozesse am Werk gewesen sein, wenn wir es in Makapansgat tatsächlich mit der Hinterlassenschaft von Raubtieren, etwa von Leoparden, zu tun hätten, die mit Vorliebe sehr junge und sehr alte Beutetiere erlegten. Tatsächlich stellten wir eine augenfällige Übereinstimmung zwischen der Häufi gkeit des Vorkom-mens bestimmter Knochen an heutigen Navajo-Wohnplätzen und der Erhaltung der Knochen in Makapansgat fest. Dies bekräftigte Brains frühere Folgerung, daß das unterschiedliche Vorkommen von Huftierknochen eher auf die unter-schiedliche Fähigkeit dieser Knochen zurückzuführen sei, der zerstörerischen Wirkung von Raubtierbissen und Wassererosion Widerstand zu leisten, als auf die Tätigkeit jagender Australopithecinen.Für Brain und mich diente die Untersuchung dynamischer Prozesse in der Ge-genwart als Grundlage zur Entwicklung von Methoden, die zu Erkenntnissen über statisches Material aus weit zurückliegender Zeit führen sollten. Beide wuß-ten wir sehr gut, daß Archäologen erst die Wirkkräfte kennen müssen, die eine Schicht entstehen ließen, ehe sie sich an die Interpretation des Schichtinhaltes wagen dürfen. Als ich mich bei den Nunamiut-Eskimos, Karibujägern im nörd-lichen Alaska (vgl. Kapitel 6),28 aufhielt, bot sich mir eine weitere Möglichkeit, gleichfalls mitten in der Gegenwart aus dem Umgang mit Knochen überprüfbare Erkenntnisse über den Gegensatz zwischen jagenden Menschen und Raubtieren zu gewinnen – Erkenntnisse, die, wenn man Vergleiche anstellt, auch auf unsere früheste Vergangenheit anwendbar sind. Beispielsweise hatte ich Gelegenheit, 36 Plätze zu untersuchen, wo Wölfe ihre Opfer getötet hatten, und später noch ein-mal zu 24 dieser Plätze zurückzukehren (die anderen waren inzwischen durch Grizzlybären zerstört worden oder einfach verschwunden, weil das Eis des Sees, auf dem sie sich befanden, geschmolzen war). Außerdem untersuchte ich eine Anzahl von Wolfshöhlen und hielt die Zusammensetzung der dort vorhandenen Tierüberreste fest, wobei ich gleichzeitig die Bruchstellen und Verbißmuster an den einzelnen Knochen erforschte.29 Nur wenig später kam mir zu Ohren: Der britische Gelehrte Andrew Hill30 führte an unter freiem Himmel gelegenen kill sites in Uganda und Süd-Äthiopien, wo Löwen und Hyänen am Werk gewesen waren, ganz ähnliche Untersuchungen durch. Dabei war es ihm gelungen, ebenso umfang- wie aufschlußreiche Informationen zu sammeln. Allerdings fehlten Hill entsprechende Erkenntnisse über Tierhöhlen (bzw. Tierbauten), und was ich in

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dieser Hinsicht aufzuweisen hatte, bildete noch keine hinreichende Grundlage für Aussagen darüber, was Tiere mit Knochen anstellen, wenn sie sie zu ihren Schlafplätzen schleppen. Glücklicherweise konnte diese Lücke bis zu einem ge-wissen Grade geschlossen werden, denn der Archäologe Richard Klein31 besaß detaillierte Aufzeichnungen über das umfangreiche Knochenmaterial aus seiner Ausgrabung eines Hyänenbaues in Südafrika. Aneinandergefügt und miteinan-der verglichen, ergab all dieses Informationsmaterial – Hills Raubtier-kill sites, Kleins Hyänenschichten sowie meine eigenen Wolfshöhlen und -tötungsplätze – immer wieder das gleiche Muster. Wölfe, Hyänen und Großkatzen, so scheint es, verhalten sich außerordentlich ähnlich und rufen nahezu gleiche Knochen-ansammlungen hervor, so verschieden die Umweltbedingungen, unter denen sie leben, auch sein mögen. Der Hauptunterschied liegt in der Häufi gkeit, mit der die einzelnen Arten Beutetierknochen an ihren Schlafplätzen zu regelrechten Knochenschichten zusammentragen. Löwen scheinen dergleichen nie zu tun, Hyänen dagegen tun es stets, und erst recht Wölfe verhalten sich wie Hamster und schleppen nach Hause, was immer sie nur können. Ansonsten sind es nicht so sehr die Typen der Knochen, die vom Jagen und Verzehren der Beute als Ab-fälle zurückbleiben, sondern die Menge dieser Knochenabfälle, durch die sich die einzelnen Raubtierarten voneinander unterscheiden. So ermöglichte es die Kombination verschiedener Arten von Informationen, ein wirklichkeitsnahes Bild der Entstehung und Beschaffenheit von Ansammlungen zu zeichnen, die Ergebnis des Verhaltens von Raubtieren sind.

Zurück ins Pleistozän

Wie helfen Informationen dieser Art dem Vorgeschichtler, Aufschlüsse über das Verhalten von Menschen zu gewinnen, die vor mehr als zwei Millionen Jahren lebten? Meine Überlegungen gehen in die folgende Richtung: Wo in archäologi-schen oder paläontologischen Komplexen unterschiedliche Faktoren zur Entste-hung der Fundschichten beigetragen haben, gilt es Mittel und Wege zu fi nden, um bereits bekannte oder leicht wiederzuerkennende Elemente auszusondern, bis schließlich eine »unbekannte Größe« zurückbleibt, die sich der Einwirkung des Menschen zuschreiben läßt.Als bekannt betrachte ich die Art der unter den verschiedenen Umweltbedin-gungen von Raubtieren und Aasfressern Unterlassenen Knochenansammlun-gen, als unbekannt dagegen die von der Familie Leakey in der Olduwai-Schlucht ausgegrabenen Knochenschichten. Mit Hilfe statistischer Methoden versuchte ich festzustellen, bis zu welchem Umfang das Verhalten von Raubtieren auch für die Entstehung dieser Schichten verantwortlich gemacht werden könnte und wieviel dann als ungeklärter Rest übrigbliebe. Diese Untersuchung erbrachte erregende Resultate. Ich hatte erwartet, daß sämtliche Varianten des faunalen Materials aus dem Oldowan (den ältesten Schichten mit menschlichen Kultur-überresten in der Olduwai-Schlucht) auf Raubtiere und Aasfresser zurückzu-

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führen seien und es Zinjanthropus-Überreste dort nur gegeben habe, weil auch diese Form des Frühmenschen Raubtieren zum Opfer gefallen sei. Doch als die Ergebnisse vor mir lagen, fi el mir auf, daß es an Plätzen, wo Steinwerkzeuge besonders reichlich vertreten waren, immer wieder eine deutlich ins Auge fal-lende Menge von Knochenüberresten gab, die sich nicht mit dem in Einklang bringen ließen, was wir über afrikanische Raubtiere wissen. Unterkieferknochen und kleinere Schädelfragmente waren nur in unbedeutend größeren Mengen vertreten, die wirklichen Unterschiede lagen in der regelmäßig anzutreffenden Fülle von Gliedmaßenüberresten, insbesondere mittelfußnahen (metatarsalen), körperfernen (distalen) Enden von Schienbeinknochen (tibiae). Was in aller Welt konnten unsere pleistozänen Vorfahren nur getan haben, so daß es zu einer Häufung dieser Knochen kam? Schließlich befi ndet sich an derartigen Knochen kaum Fleisch. Allenfalls das Mark in ihnen besitzt Nährwert.Dies stimmt nachdenklich. Afrikanische Raubtiere und Aasfresser konkurrie-ren miteinander wegen des Fleisches. In der Hauptsache sind es Jungtiere von knochenbenagenden Wildhunden und Hyänen, die Knochenmark verzehren. Bei eng miteinander zusammenlebenden Tierarten ist es ein bekanntes Anpas-sungsphänomen, daß eine Art von den Abfallprodukten der anderen lebt – An-tilopenherden beispielsweise werden stets von einer Schar Mistkäfer begleitet. Eine Art, die dabei ist, sich eine »Nische« im auch allen anderen gemeinsamen Lebensraum zu schaffen, legt es fast nie auf direkte Konfrontation mit bereits das Feld behauptenden Konkurrenten an. Sie testet vielmehr die Randbereiche, um Mittel und Wege zu fi nden, sich das nutzbar zu machen, was ihre bereits auf der Bildfl äche vorhandenen Mit-Wettbewerber übriglassen. Könnte dies die Ur-sache für die ungeklärte Häufi gkeit besagter Knochen sein? Das letzte bißchen Nahrung, das in der Regel auch dann noch an den Tötungsplätzen von Raub-tieren übrigbleibt, selbst wenn sich schon Aasfresser wie die Hyänen aus dem Staube gemacht haben, ist das in den Knochengehäusen wohlverborgene Mark. Dieses hätte der frühe Mensch verspeisen können, ohne mit den Raubtieren in seinem Umfeld in Konfl ikt zu geraten. Ohnehin habe ich mich beim Gedanken an die vermeintliche rohe Männlichkeit der zierlichen, ganze 45 Kilo schweren Australopithecinen nie sehr wohl gefühlt, die es angeblich mit 175 Kilo schweren Löwinnen aufgenommen haben sollen!Das Interessante an diesen Analysen faunaler Knochenüberreste ist nicht nur, daß bei dem (rein gedanklichen) Aussondern von Material, das auf tierisches Verhalten zurückführbar ist, immer wieder deutlich erkennbare Muster übrigbleiben, sondern daß sich diese Muster von Fall zu Fall ziem-lich gleichen. Ich stieß auf ein immer wieder zu beobachtendes »Restmus-ter«, das dann Sinn gab, wenn man es mit Aasfresserverhalten in Verbindung brachte. Darüber hinaus entsprach es seiner Größenordnung nach in den einzelnen Schichten weitgehend der Menge der dort gefundenen Steingeräte – und dies konnte auf keinen Fall das Ergebnis der von mir durchgeführten Knochenanalysen sein! Trotz so mancher Diskussion ist nicht zu leugnen, daß die ältesten Oldowan-Werkzeuge ganz roh zugehauene Steinklumpen

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sind, die wohl nur als Hämmer, Keulen oder Spalter dienten. Die Abschläge, die man von ihnen gewann, wurden im allgemeinen noch nicht verwendet. In den untersten Oldowan-Schichten sind Schneidewerkzeuge sehr selten, und ihrer Form nach et-was kompliziertere Werkzeuge (wie beispielsweise Kratzer) fehlen gänzlich. Diese Beobachtungen muß man mit dem Schichtenbild in Olduwai in Ver-bindung bringen. Die Ausgrabungen, die dort unternommen wurden, führte man in Erdschichten durch, deren Entstehung die extrem lange Spanne von etwa 1,2 Millionen Jahren umfaßte. Sie reichen von den untersten Schich-ten aus der Zeit von vor ungefähr 1,8 Millionen Jahren bis zu den obers-ten ausgegrabenen Deponien im »Bett-II«, die aus der Zeit von vor etwa 600 000 Jahren stammen. Doch im Gegensatz zu dem, was man eigentlich erwartet, ist das Material in den untersten, ältesten »Betten« am besten erhalten. Die frühen Schichten zeugen vom Leben und Treiben am Ufereines Sees, der sich nach und nach immer weiter zurückzog. Die oberen Schich-ten dagegen sind sehr viel stärker durch Wassererosion zerstört. Das Wasser wusch die inzwischen entstandenen Hänge aus und bildete an deren Fuß neue Ablagerungen voller Kies und Geröll. Arbeitete man sich an irgendeinem Punkt

16 Unser Erbe? Wählerische Nahrungssucher am Übergang zwischen Plio- und Pleistozan. Eine nach Nahrung suchende Frühmenschengruppe (neben männlichen und weiblichen Exempla-ren auch Kinder) trifft unweit einer Wasserstelle auf einen frischen Tierkadaver und beginnt, das Aas zu verzehren, während andere Frühmenschen herbeieilen, um auch noch etwas von der Mahlzeit zu erhalten. Die Darstellung deutet an, daß Tiere verschiedenster Art diesen Platz häufi g aufsuchen Weder die Existenz von »Heimfl uren« wird hier vorausgesetzt noch Arbeits-teilung. Ebenso fehlt, daß der Frühmensch seine Nahrung zu dem Platz brachte, wo er schlief, und auch Nahrungsteilung gab es, diesem Szenarium zufolge, nicht (Feder- und Bleistiftzeich-nung von Iva Ellen Morris)

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durch die »Betten« von Olduwai aus der Tiefe nach oben, hätte man einen deutlichen Wechsel von Seerandablagerungen bis hin zu tief eingefressenen Wasserrunsen und entsprechenden Deponien ganz anderen Charakters zu kon-statieren. Gleichzeitig zeichnen sich entsprechende Veränderungen der erhalten gebliebenen Tierüberreste ab, insbesondere ein Wechsel von großen Knochen-mengen bei vergleichsweise wenigen Zähnen in den unteren hin zu massenhaft vorhandenen Zähnen, dafür aber nur wenig Knochen in den oberen Schichten. Natürlich ist Zahnschmelz der härteste Bestandteil des tierischen Organismus und leistet der Zerstörung durch mechanische Kräfte ebenso wie der Aufl ösung durch im Boden enthaltene Säuren am meisten Widerstand. Daher ist die in den Schichten von Olduwai zu beobachtende Tendenz des Zahn-Knochenverhältnis-ses eine deutliche Warnung, die Rate der Knochenzerstörung oder des Abtrans-portes von Knochen durch Wasser als eine jederzeit gleichbleibende Größe zu betrachten.Wo eine Verlagerung des Materials durch Wasser erfolgte – wie in den oberen Schichten von Olduwai –, kann man eine gewisse natürliche Auslese der durch Menschenhand gefertigten Steinwerkzeuge nach ihrer Größenordnung erwar-ten. Von ihr hängt es ab, wie häufi g die fraglichen Geräte anzutreffen sind. Je heftiger das Wasser strömte, um so mehr kleine Steinwerkzeuge riß es mit sich, während lediglich die ganz großen Steinklumpen übrigblieben. Nach allem, was wir über die Entstehung geologischer Schichten wissen, müßten wir daher Un-mengen kleiner Abschlaggeräte in den untersten Ablagerungen, in den obersten dagegen ebensoviele große, schwere Geräte erwarten. Doch das Gegenteil trifft zu! Erosionsvorgänge können also nicht die Hauptursache der sich verändern-den Steingerätetypen sein. Wir haben also allen Anlaß zu vermuten, daß im Laufe der Zeit die Zahl der Geräte mit scharfen Schnittkanten zunahm – ein schwacher Refl ex offensichtlich bedeutender Veränderungen frühmenschlichen Verhaltens, die in enormen Zeiträumen vor sich gingen.Diese Vermutung läßt sich durch eine weitere eindrucksvolle Verhältniszahl bekräftigen. Im gleichen Maße, wie sich die Zahl der Abschläge und Abschlags-werkzeuge erhöht, erhöht sich auch die ausgesprochener Großtierüberreste. Die oberen Schichten enthalten eine vergleichsweise hohe Ziffer von Flußpferden, Giraffen, Elefanten, Nashörnern (alle in der Regel freilich nur durch ihre Zähne belegt). Dies entspricht im wesentlichen dem, was wir bei der Erosion durch Was-ser erwarten dürfen. Dabei werden Kleintierzähne gänzlich fortgespült, so daß sich eine Verschiebung zugunsten von Großtierzähnen ergibt. Doch wenn wir in den unteren Schichten allein Überreste haben, die darauf hindeuten, daß der Mensch als Besucher von Raubtiertötungsplätzen oder Plätzen, wo ein Tier ver-endet war, das Knochenmark der Kadaver verzehrte, sich im Laufe der Zeit aber eine allmähliche Verschiebung zugunsten von Schneidewerkzeugen ergeben hat, dann muß man vermuten, daß der Aasfresser Mensch zum Konkurrenzkampf um das Fleisch überging und sich nicht mehr mit Knochenmark begnügte. Und wenn es sich tatsächlich so verhielt, darf man weiterhin annehmen, daß er sich dabei mehr und mehr auf Großtiere konzentrierte. Wenn ein Löwe eine Grant-

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gazelle frißt, bleibt nichts übrig. Bei einem Elefantenkadaver bleibt selbst dann, wenn alle Marabut-Kropfstörche der Umgebung ihre Arbeit getan und sämtliche Hyänen der engeren und weiteren Nachbarschaft sich die Bäuche vollgeschlagen haben, für einen Aasfresser noch immer genug Eßbares, wenn er nur rechtzeitig zur Stelle ist. Rein statistisch kommen Aasfresser viel öfter auf ihre Kosten, wenn sie sich mehr an Tiere mit bedeutenderen Körpermaßen heranmachen.Wie weit dieses Bild zutrifft, vermögen wir noch nicht mit Sicherheit zu sagen. Noch immer müssen wir mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß etwa zwei Dutzend archäologischer Niveaus, die rund l,2 Millionen Jahre umspan-nen und immer mehr Zerstörungen aufweisen, je jünger sie sind, den größten Teil des Materials darstellen, auf das wir uns berufen können und das unseren Vorstellungen vom Tun und Lassen unserer frühesten Vorfahren im Pleistozän zugrunde liegt. Immerhin zeichnen sich in den uns vorliegenden Informati-onen gewisse Linien ab. Ein Teil kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur als Denkanstoß dienen. Die immer wieder anzutreffende Regelmäßigkeit, mit der in den unteren Schichten gewisse Skelettbestandteile häufi ger anzutreffen sind als andere, macht mich sehr viel sicherer. Hier handelt es sich um Belege dafür, daß Frühmenschen Knochemark verzehrten – eine Nahrung, die lediglich einen winzigen Bruchteil ihrer Gesamtnahrung ausgemacht haben kann. Was dies bedeutet, dürfte klar sein: Weit davon entfernt, ein gewaltiger Jäger zu sein, war der Frühmensch allem Anschein nach der letzte, am meisten benachteiligte aller damaligen Aasfresser.

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3 Leben und Tod an der Wasserstelle

Wo aßen und schliefen die Frühmenschen?

Kapitel 2 zeigte uns, wie Brains Untersuchungen noch heute ablaufender Prozes-se nach und nach zu Erkenntnlssen führten, die es möglich machten, die Schich-ten südafrikanischer Höhlen aus der Dynamik ihres Entstehens zu interpretie-ren. Eine derartige Interpretation vermittelt uns ihrerseits einen Begriff von der Rolle, die der Frühmensch innerhalb der Ökosysteme spielte, deren Aufbau sich in der Zusammensetzung der Schichten spiegelt. Beispielsweise gewinnt man den Eindruck, daß Hominiden – ebenso wie heute etwa Paviane – während der kühleren Monate geschützte Schlafplätze suchten.1 Nicht minder zu denken gibt das Fehlen jedes Beweises, daß sie zu diesen Schlafplätzen auch Speise brachten und dort verzehrten. Wenn es an diesen Plätzen Lebewesen gab, die etwas ver-speisten, waren es Raubtiere, insbesondere Leoparden, die über die schlafenden Primaten herfi elen … Nun sind die südafrikanischen Fundstätten, von denen im Kapitel 2 die Rede war, ungefähr gleich alt wie die berühmten fl oors (»Böden«) in der Olduwai-Schlucht, desgleichen wie site 5 (»Fundstätte 5«),2 eine weitere wichtige Ausgrabungsstätte in Ostafrika. In Ostafrika tätige Vorgeschichtsar-chäologen behaupten immer wieder, die dortigen Hominiden hätten in soge-nannten »Heimfl uren« gelebt, dorthin ihre Nahrung gebracht, diese dort verteilt und schließlich im Kreise kleiner Familiengruppen verzehrt. Im Gegensatz dazu belegen die südafrikanischen Schichten, daß zumindest eine Hominidenform damals noch nicht an einem und demselben Platz schlief und aß. Somit besteht ein offener Widerspruch zu den Schlußfolgerungen aus dem südafrikanischen Material. Worauf gründet sich überhaupt die Ansicht der Ostafrikaforscher, Ho-miniden hätten sich bereits vor mehr als einer Million Jahre genauso wie heutige Menschen verhalten – zumindest, was die räumliche Verknüpfung von Schlafen und Essen angeht?Wenn wir uns dieser Frage stellen, so zeigt sich: Die Gelehrten stützen sich auf

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eine Reihe blindlings übernommener herkömmlicher Meinungen.3 Damit su-chen sie zu »beweisen«, die sogenannten »Heimfl uren« seien tatsächlich echte Wohnstätten gewesen. Glynn Isaac äußert,4 die Gewohnheit, an bestimmten Stellen dichte Häufungen von Nahrungsmittelrückständen sowie eine Fülle von Artefakten zu hinterlassen, sei auf Verhaltensgrundmuster zurückzuführen, durch die sich der Mensch von anderen Primaten unterscheide. Dies aber läuft auf nichts anderes hinaus als auf die bloße Unterstellung, daß es Wohnstätten gegeben haben müsse, wo der Mensch mit Werkzeugen gearbeitet, seine Nah-rung zu sich genommen und zu guter Letzt auch noch geschlafen habe. Man hat sich daran gewöhnt, den Fundzusammenhang von Steingeräten mit Tierkno-chen als Hinweis auf »Heimfl uren« zu deuten. Andere Gelehrte gingen, wie man Isaac entnehmen kann, sogar noch weiter. Ihnen zufolge hat man Unterschiede im Zahlenverhältnis der Knochen und Artefakte als Hinweis auf Plätze unter-schiedlichen Typs, bzw. unterschiedlicher Funktion zu werten. Beispielsweise deute eine hohe Knochendichte bei geringem Werkzeugvorkommen auf einen Tötungs- oder Schlachtplatz hin, eine hohe Dichte sowohl der Geräte- als auch der Knochenverteilung lasse dagegen einen Wohnplatz vermuten. Weitere Ver-suche Isaacs und seiner Mitarbeiter, diese 1971 publizierten »Regeln« noch aus-zufeilen, führten indessen nur zu derselben Ansicht wie schon zuvor:5 Knochen- und Gerätefundstätten gelten als »Heimfl uren«, als Plätze, wohin Hominiden

17 Paviane auf einem geschützten Felsvorsprung in Gilgil (Kenia). Geschützte Felsspalten oder andere schwer zugängliche Plätze wie dieser dienen ihnen oft als Schlafplätze (vgl. Brain 1981, 271-273 [Aufnahme Barbara Smuts, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung durch Anthro-Photo, Cambridge, Massachusetts]).

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Nahrung brachten, um sie dort von Mitgliedern der Gruppe, zu der sie gehörten, gemeinsam verspeisen zu lassen. Diese Auffassung wird wie folgt begründet:1. Knochen sowie von Menschenhand geschaffene Waffen bzw. Geräte aus Stein

gibt es an den betreffenden Fundstätten angeblich in »abnorm hohen Kon-zentrationen«.

2. Die den Knochen zugefügten Verletzungen gelten als Folge menschlichen Verhaltens.

3. Die Zusammensetzung des vorhandenen Knochenmaterials sei zumindest mit der Folgerung »nicht unvereinbar«, daß Hominiden die Knochenan-sammlungen verursacht haben könnten.6

Es klingt wie Ironie, daß diese Argumentation sich im wesentlichen auf die glei-chen Kriterien stützt, die Dart zur Rechtfertigung seiner Behauptung dienten, daß Hominiden für die Anhäufung von Knochen in südafrikanischen Höhlen verantwortlich seien! Mir scheint – und dies gilt auch für die Argumente Darts –, daß wir schlecht beraten sind, der Linie Isaacs und seiner Mitstreiter zu fol-gen, solange wir nichts Näheres über die schichtenbildenden Kräfte und Vor-gänge wissen, die in Ostafrika am Werk waren. Und ich meine, den wichtigsten Schlüssel zur Lösung des Problems bereits erwähnt zu haben, daß nämlich das südafrikanische Material offenkundig mit der Vorstellung unvereinbar ist, frü-

18 Tabelle zur Klassifi kation der Fundstättenfunktion unter Zugrundelegung der Angaben Isaacs über die jeweiligen Artefakt- und Knochenvorkommen (nach Isaac 1971, Abb. 10a, Seite 285).

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he Hominiden hätten bereits einen gemeinsamen Schlaf- und Eßplatz gekannt.Genau von dieser Annahme aber gehen die Ostafrika-Archäologen aus, und eben dadurch gelangen sie zwangsläufi g zu ihrer Deutung der Knochen- und Werkzeugkonzentrationen als »Heimfl uren«. Doch wie können wir Beobachtun-gen, die wir in der Gegenwart machen, auf die Vergangenheit anwenden, um zu hieb- und stichfesten Aussagen über das Verhalten unserer zeitlich so weit von uns entfernten frühen Vorfahren zu gelangen? Welche Möglichkeit haben wir, herauszufi nden, wie es vor so langer Zeit aussah?

Was heutige Wasserstellen lehren

Wie Brain bei seinen Untersuchungen der Abläufe, die zur Schichtenbildung im Inneren südafrikanischer Höhlen führten, müssen auch wir damit beginnen, die Wechselbeziehungen innerhalb des Ökosystems kennenzulernen. Dabei haben wir uns auf Wasserstellen, Flußbetten oder Seerandzonen in sonst meist ziemlich trockenem Gelände zu konzentrieren. Denn gerade unter Umweltbe-dingungen dieser Art entstanden einst jene Freilandstätten, die man heute als »Heimfl uren« zu deuten pfl egt. Den meisten von uns fällt es sicher schwer, sich die

19 Das Trockenbett des Nossob-»Riviers« in der südlichen Kalahari-Wüste (zur Lage siehe Abb. 3). Als »Riviere« bezeichnet man im südlichen Afrika nur zeitweise wasserführende Flüs-se.

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klassische Savanne und die Steppen im Inneren Afrikas zu vergegenwärtigen, wo es noch immer Wild in unvorstellbaren Mengen gibt. Es ist eine ungeheuer weite Landschaft, gleichsam gesprenkelt mit Baum- und Buschgruppen. Diese fi ndet man nicht selten in nur zeitweise wasserführenden Flußläufen (sogenannten »Rivieren«) oder rings um Wasserlöcher.Meine erste Begegnung mit einer derartigen Landschaft7 fand eines Morgens statt. Ich wanderte durch ein trockenes Flußbett. Hinter jeder Flußkrümmung drängten sich neue Huftierscharen um Wasserlachen, die im sonst ausgetrock-neten Flußbettgrund übriggeblieben waren. Ganze Herden blauschwarzer Weiß-schwanzgnus ruhten im Schatten der Bäume. Zehn, fünfundzwanzig, ja vierzig Exemplare auf einmal waren keine Seltenheit. Wenn meine Begleiter und ich uns ihnen näherten, erhob sich vielleicht der eine oder andere Bulle, schüttelte sich und senkte dann, von einer Staubwolke umnebelt, leicht sein mächtiges Haupt, um in unsere Richtung zu sichern. Strauße kreuzten unseren Weg. Springböcke, allgegenwärtig, beäugten uns, zogen dann äsend weiter das Tal entlang – immer auf der Suche nach Schatten oder Flecken gelbbraunen Grases. Kein Zweifel – dieses Tal mit seinen Wasserstellen – war ein wahres Huftierparadies.Der erste Hinweis darauf, daß es in diesem Paradies auch Gewalt und Tod gab, waren Geier – bald hier und da auf Baumwipfeln aufgeblockt, bald hoch über uns ihre Kreise ziehend, um schließlich einzufallen und sich der einen oder anderen Gruppe gefi ederter Räuber hinzuzugesellen, die sich an einem Aas gütlich taten. Doch man braucht sich nur ein wenig genauer umzusehen, um überall Tierka-

20 Ein Weißschwanzgnu-Bulle und Oryxantilopen.

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daver oder Teile von ihnen zu erblicken – stumme Zeugen blutiger Tragödien. Sie bilden einen festen Bestandteil der Landschaft rings um die von der Natur geschaffenen Tränken. Und verweilt man länger, dann erkennt man: Der schein-bar so gelassene Lebensrhythmus dieses Landes trügt. Zwar sind die Huftiere in der Tat Herren dieser Wasserlöcher – dies aber nur um die Tagesmitte. Nähert sich die Sonne dem westlichen Horizont, steigen sie auf die weiter entfernten Dünen und verlassen das »Rivier«. Es ist verblüffend, wie diese Tiere plötzlich aus dem Gebiet verschwunden sind, das tagsüber ihre unbestrittene Domäne war, und wie sie, weit verteilt in der welligen Landschaft ringsum, fernab jeder Wasserstelle untertauchen. Denn mit dem schräg einfallenden Licht der sinken-den Sonne kommen die Raubtiere, nehmen die Wasserstellen in Besitz und sind nun die Herrscher des Landes, das tagsüber den Huftieren gehörte.Gewöhnlich erscheinen die Hyänen zuerst. Sie schleichen langsam zur Wasser-stelle, vorbei an alten Kadavern früher gerissener oder einfach in Wassernähe verendeter Tiere. Manchmal nagen die Hyänen noch ein wenig an den trocke-nen Knochen, doch schließlich gehen sie zur Tränke, denn sie stillen stets ihren Durst, bevor sie sich auf Jagd begeben. Dabei kann es durchaus vorkommen, daß sie sich viel Zeit nehmen und erst zu später Stunde zu jagen beginnen. Es ist also nichts Ungewöhnliches, wenn sie sich noch lange in unmittelbarer Nähe des Wasserlochs aufhalten, Knochen benagen, Kadaverteile hin und her zerren und auf ihre Weise »der Geselligkeit pfl egen«. Nach Einbruch der Dunkelheit ge-ben einige der Tiere ihr charakteristisches Geheul (oder vielmehr »Gelächter«)

21 Äsende Springböcke im Nossob-»Rivier«

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22 Eine Tüpfelhyäne nähert sich unmittelbar vor Sonnenuntergang einer Wasserstelle Man beachte die Weißschwanzgnu-Herde, die sich im Hintergrund von der Wasserstelle entfernt (Aufnahme mit freundlicher Genehmigung von John Parkington).

23 Kadaver eines Weißschwanzgnus, das unweit einer Wasserstelle verendete.

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24 Von Hyänen am Abend des 14. Juli 1981 zusammengetragene Kadaverüberreste. Man erkennt Teile von Elenantilopen Weißschwanzgnus und Oryxantilopen.

25 Oryxantilopen bei Morgenlicht unweit eines Wasserlochs.

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von sich. Später ziehen die Hyänen meist von selbst ab, um Beutetiere zu töten und sich mit Frischfl eisch zu versorgen. Auch Löwen und Leoparden suchen zu nächtlicher Stunde die Wasserstelle auf, denn auch sie müssen trinken, wenn sie jagen. So vernimmt man zwischen zehn Uhr abends und zwei Uhr morgens immer wieder das Gebrüll von Löwen, die weite Entfernungen zurücklegen und dabei den am Wege liegenden Wasserlöchern Besuche abstatten, um zu trinken, bevor sie sich ihrerseits auf Pirsch begeben und Beute machen.Zwischen etwa zwei und vier Uhr morgens wird es spürbar ruhiger. Zumindest hört man von den Raubtieren nichts mehr, und Stille breitet sich aus. Unmittel-bar vor Sonnenaufgang ertönt wieder häufi ger Löwengebrüll. Raubtiere neigen dazu, ausgetretenen Pfaden zu folgen, die häufi g durch Wasser oder zum Wasser hin führen. Breitet sich dann endlich das volle Sonnenlicht über die Landschaft, ziehen wieder Geier in der Luft ihre Kreise und suchen nach dem, was vom Blut-bad der vergangenen Nacht für sie übrig geblieben ist. Und wenn schließlich nach und nach die Wärme des neuen Tages das Flußtal erfüllt, kehren auch die Huftiere zu ihren Wasserstellen zurück Der Kreislauf beginnt von neuem.Primaten – und damit auch wir – sind für das Leben bei Tageslicht geschaffen. Unsere Augen sind auf die Helligkeit des Tages eingestellt, und wir eignen uns schlecht für nächtliches Töten, nächtliche Nahrungssuche, ja vermögen uns während der Nacht nicht einmal sonderlich gut zu schützen. Man möchte wirk-lich nur zu gerne wissen, wie derart schlecht für das Leben im Dunkeln gerüstete Kreaturen es fertiggebracht haben sollen, in einer Landschaft wie der von mir soeben beschriebenen unmittelbar an Wasserstellen sichere Schlafplätze zu fi nden. Es überrascht mich keineswegs, daß heutige Jäger und Sammler, die in relativ abgelegenen Gebieten Afrikas hausen, in der Regel nie unmittelbar an Wasserstellen nächtigen. Dabei entzünden sie noch Feuer, um Raubzeug fern-zuhalten, und haben die Möglichkeit, sich im Notfall mit sehr viel wirkungsvol-leren Waffen zu wehren, als frühe Hominiden sie besaßen. Ich jedenfalls würde, wenn ich in der afrikanischen Savanne im Freien übernachten müßte, mein Lager nie an einem Wasserloch aufschlagen! Und doch wollen Archäologen uns weismachen, unsere Ahnen hätten genau dort ihre »Heimfl uren« gehabt. Spätes-tens an dieser Stelle muß man sich fragen, ob die drei oben angeführten Kriteri-en, anhand derer die in Ostafrika tätigen Prähistoriker »Heimfl uren« erkennen zu können glauben, überhaupt ein zuverlässiges Erkennen frühmenschlicher Wohnplätze ermöglichen.Gehen wir zunächst davon aus, daß die vorgefundenen Steingeräte wirklich das sind, wofür man sie hält – Objekte, von Menschenhand geschaffen und von Men-schenhand benutzt. Von Interesse aber ist in jedem Fall zunächst, ob und wie weit ihr Gebrauch (und das diesem zugrunde liegende menschliche Verhalten) mit der Entstehung der Schichten zu tun hatte, in denen man sie schließlich zusammen mit den Knochen fand. Meine Beobachtungen an afrikanischen Was-serstellen machen einiges klar, was auch für diese Frage von Bedeutung ist:

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l Nicht selten sterben Tiere unweit derartiger Wasserstellen eines natürlichen To des.

2. Auch Raubtiere reißen dort ihre Beute.3. Hyänen, die in Wasserlochnähe Knochen bereits vertrockneter Tierkadaver

bena gen, können Knochen aus den toten Körpern unterschiedlichster Tierarten ver mischen.

4. Bis zu 100m vom Wasserloch entfernt können sich beträchtliche Knochenmen- gen anhäufen.

In der Umgebung natürlicher Wasservorräte hat man also in aller Regel beträchtli che Mengen von Knochen zu erwarten. Wie groß diese Menge in absoluten Zahlen ist, hängt vom Tempo der Verwehung bzw. Zuschüttung des Geländes sowie der Verläßlichkeit und Zugänglichkeit der Wasservorräte in der betreffenden Region ab. Weiterhin schleppen Löwen ihre Beute nicht selten in den Schatten, um sie zu fres sen, und es kommt auch recht häufi g vor, daß sie sich bereits tagsüber in relativ gro ßen Gruppen unter Bäumen in Wassernähe versammeln. Infolgedessen könnten auch kleine Knochenfragmente, die von ihnen ausgespien wurden oder in ihren Darminhalt gelangten, erheblich zur Bil-dung einer Knochenschicht beigetragen ha ben. Dies gilt ganz besonders, wenn sich das Knochenmaterial über eine längere Reihe von Jahren anhäufen konnte, bevor es zugeweht oder auf die eine oder ande re Weise von Sand oder Erdreich bedeckt wurde.8 All dies stimmt nachdenklich, und es scheint durchaus möglich, daß man im Umkreis von Wasserstellen auch dann Knochen erwarten darf, wenn Homimden nicht den geringsten Anteil an der Bildung derartiger Knochenschichten

26 Heutiges Buschmannlager in der Gauscha-Pfanne, Namibia (1976). Dieser Lagerplatz ist nahe-zu 1,5 km von der nächsten Wasserstelle entfernt. (Mit freundlicher Genehmigung des Südafri-kanischen Museums in Kapstadt)

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27 Von Hyänen benagte und zerbrochene Elenantilopenknochen an einer Wasserstelle Die Kno-chen stammen von einem eingetrockneten Kadaver, wie man ihn auf Abbildung 23 erblickt, und wurden von Hyänen fortgeschleppt (Aufnahme mit freundlicher Geneh migung von John Landham).

28 Vom Autor in Löwenkot gesammelte Knochenfragmente Ganz ähnliche Knochenstückchen von Löwen ausgeschieden oder ausgespien, können sich an Plätzen ansammeln, wo Löwen tagsüber der Ruhe pfl egen.

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hatten. Auch benötigen wir den Beweis, daß es schon in der Vergangenheit »natürli-che« Knochenablagerungen dieser Art gab.

29 Vom Wind freigelegte Knochen in Elandsfontein (zur Lage des Fundplatzes s. Abb. 3).

30 In Elandsfontein zum Vorschein gekommener Faustkeil.

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Forschungen an einer alten Wasserstelle

Als ich jüngst in Südafrika war, hatte ich Gelegenheit, die aufsehenerregende Fundstätte Elandsfontein zu besuchen, deren Deponien wahrscheinlich aus der Zeit von vor etwa 200 000 bis 400 000 Jahren stammen.9 Zwar ist die Interpreta-tion dieser Stätte keineswegs sicher, aber es geht mir auch in erster Linie um die dort beobachteten Fundzusammenhänge. Die meisten Gelehrten stimmen darin überein, daß die Schichten im Bereich einer Quelle und der mit ihr verbunde-nen Wasserreserven eines veränderlichen Abfl ußsystems entstanden. Heute gibt es dort eine Reihe rasch wandernder Sanddünen. Doch gibt es Gründe für die Annahme, daß diese erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit in Bewegung geraten sind.Unter den vom Winde abgetragenen sowie um und um gewirbelten Sandmas-sen kam eine bemerkenswerte Ansammlung fossiler Tierknochen zum Vor-schein. Hier und da scheint man es mit den Überresten eines einzelnen Tieres zu tun zu haben. In diesen Fällen sind die Knochen nur unerheblich verstreut,

31 Graphische Darstellung der Artefaktenverteilung im »Schnitt 10« in Elandsfontein (nach Angaben von Singer und Wyner 1968).

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so wie es auch heute bei einem von Aasfressern auseinandergezerrten Tier-kadaver, vielleicht aber auch nur infolge natürlicher Zerfallsprozesse der Fall wäre. Dann wieder stößt man bei einem noch klar identifi zierbaren Tierkada-ver auf einen Faustkeil oder gar auf ganze Ansammlungen derartiger Geräte. In der Mehrzahl der Fälle liegt kein zwingender Beweis für die Anwesenheit von Menschen vor. Beispielsweise entdeckte ich an einem Nachmittag, als ich all die wichtigeren Punkte dieser Fundstätte in Augenschein nahm, nur eine einzige Knochenansammlung (sie stammte wahrscheinlich von einem einzigen Tier), bei der es gewisse Anhaltspunkte dafür gab, daß man die größeren Röhren-knochen durch Hämmern oder Aufschlagen zerbrochen hatte, um daraus das Knochenmark zu gewinnen. Der einzige damit archäologisch vergesellschaftete Gegenstand war ein Manuport (wörtlich: »von Händen getragen«) – ein einzel-ner Stein, den einst Menschen dorthin befördert haben könnten. An manchen Stellen! gibt es Knochenanhäufungen, die* durch das Einwirken von Naturkräf-ten oder Tieren zustande gekommen sein könnten. An anderen Stellen wie-derum gibt es Belege für das Vorhandensein einstiger Raubtier-Schlupfwinkel.

32 Verteilung der Knochenfunde im »Schnitt 10«, Elandsfontein (nach Singer und Wymer 1968).

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Insbesondere zeigten sich Koprolithe (versteinerter Kot) von Hyänen, und es gab auch kleine Knochensplitter und benagte Knochenfragmente, wie man sie in der Umgebung von Hyänenschlupfl öchern fi ndet, und zwar sowohl bei den Bauten der Tüpfel- als auch der Schabrackenhyäne.Neben all diesen vielfältigen Vorkommen tierischer Überreste gibt es auch Fund-plätze, die beträchtliche Konzentrationen von Knochen wie auch von Artefakten enthalten.10 An einer Grabungsstätte, dem »Schnitt 10«, läßt sich der Nachweis führen, daß mehrere unterschiedliche Kräfte an der Schichtenbildung beteiligt gewesen sein müssen. Doch aus dem Blickwinkel der in Ostafrika tätigen For-scher (und entsprechend ihrer Art zu argumentieren) müßte der Schichtzusam-menhang von Geräten und Knochen zwangsläufi g zu der Folgerung führen, daß es sich hier um eine »Heimfl ur«, ein »Basislager« unserer pleistozänen Vorfah-ren handelte. Daß man hier auf verhältnismäßig engem Raum Konzentrationen von Werkzeugen fi ndet, die ringsum von reichen und in ihrer Zusammensetzung sehr wechselnden Tierknochenanhäufungen umgeben sind, besagt nicht sehr viel. Denn man kann sich kaum vorstellen, daß es an dieser Fundstätte auch nur ein Stück Boden gab, wo man Geräte liegenlassen konnte, ohne daß gleichzeitig massenhaft Tierknochen vorhanden waren.Man kann die Fundstätte Elandsfontein als eine Art paläontologischen Vorspiels zu weiteren Entdeckungen dieser Art betrachten, das gleichzeitig zur Besinnung ruft. Hier würden sich ausgedehnte Forschungen lohnen, um die Vielfalt der Tierknochen-Verteilungsmuster unter besonderer Berücksichtigung der Bedin-gungen zu untersuchen, unter denen Überreste tierischer Herkunft besonders gut erhalten bleiben. Der nächste Schritt wäre, festzustellen, ob sich besondere Muster abzeichnen – beispielsweise Mischungsmuster der Überreste verschie-dener Tierarten oder Häufi gkeitsmuster des Vorkommens bestimmter Teile der tierischen Anatomie –, die in einem Wechselverhältnis mit dem Vorkommen klar identifi zierter menschlicher Werkzeuge stehen.Ließe sich an einer so günstigen Stätte wie Elandsfontein tatsächlich eine derar-tige Wechselbeziehung zwischen Tierrest-Ansammlungen und Artefakten beob-achten, könnte dies zu allgemeinen Aussagen über das Entstehen von Knochen-schichten führen, in denen man gleichzeitig Werkzeuge fi ndet. Dadurch wäre es möglich, die Fundzusammenhänge zu analysieren, die man an Plätzen antrifft, wo Frühmenschen tätig waren.Zumindest dies lehrt uns Elandsfontein, daß man in der Nähe von Wasservorrä-ten eine Vielzahl unterschiedlicher Tierknochenanhäufungen zu erwarten hat. Dies gilt für die Vergangenheit ebenso wie für die Gegenwart. Allerdings ist das Belegmaterial für Menschen (bzw. Hominiden) im Vergleich zu der Fülle wohl-erhaltener Tierknochen spärlich. Doch kann man von vornherein erwarten, an den wenigen Stellen, wo Steingeräte vorkommen, auch beträchtliche Mengen tie-rischer Überreste zu fi nden. Wenn es also Knochen an Wasserstellen gibt – ganz gleich, ob je Menschen dort wohnten oder nicht —, haben wir uns zu fragen, unter welchen Bedingungen Hominiden an derartigen Plätzen ihre Werkzeuge hinterließen.

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Auf der Suche nach plausiblen Argumenten

Seit ich mich mit der archäologischen Erforschung des Frühmenschen beschäf-tige, verblüffen mich immer wieder gewisse Beobachtungen:l Zahlreiche Stätten des Acheuleén (einer Kulturstufe des Altpaläolithikums) erbrachten große Mengen von Stein Werkzeugen.11

2. In den meisten Fällen weisen diese Geräte kaum oder nur minimale Abnut zungsspuren auf.3. Unsere Vorfahren im Mittleren Pleistozän scheinen nur selten Höhlen oder Abris als Wohnstätten benutzt zu haben. Die ältesten bekannten Beispiele für ihre Benutzung fi nden sich in der Regel in gemäßigten Klimaten.4. Die meisten Örtlichkeiten, die die Archäologen als »Wohnstätten«, »Heim fl uren« und dergleichen bezeichnen, befi nden sich in unmittelbarer Nähe von Wasservorkommen.Die meisten Archäologen stimmen darin überein, daß die sogenannten Wohn-plätze dieser Periode mit ihren bedeutenden Anhäufungen von Steingeräten gleichsam Aufzeichnungen von Geräteanordnungen sind, die sich im Laufe zahl-reicher, voneinander unabhängiger Nutzungsperioden anhäuften. Wenn dem so ist, kann man sich nur schwer vorstellen, weshalb man einst die beträchtlichen Mengen am Boden herumliegender Werkzeuge ignorierte. Man muß wohl davon ausgehen, daß diejenigen, die sich einst an den betreffenden Plätzen aufhiel-ten, trotz der Masse des dort bereits vorhandenen Steingerätematerials immer wieder neue Geräte mitbrachten und sie nach nur kurzem Gebrauch wieder wegwarfen. Dies scheint mir aber mit der Vorstellung unvereinbar, daß es eine Gruppe frühmenschlicher Wesen gegeben haben soll, die dort lebte und zugleich Werkzeuge benötigte.12 Schließlich, was ist wohl wahrscheinlicher: daß (A) die Bewohner eines solchen Platzes zunächst diesen selbst oder seine unmittelbare Umgebung nach geeignetem Werkzeug und/oder Rohmaterial durchsuchten oder (B) daß sie sich um die dort in Hülle und Fülle herumliegenden, kaum benutzten Geräte überhaupt nicht kümmerten, sondern anderswo hinzogen, um sich dort mit gänzlich neuem Rohmaterial einzudecken und damit (oder mit bereits fertigen, neuen Werkzeugen) zurückzukommen? An Plätzen, die durch die oben angeführten vier Merkmale charakterisiert sind,13 scheinen sich viel-mehr die Höhe- und Schlußpunkte sehr kurzer Episoden abgespielt zu haben, die allerdings der Vorausplanung bedurften. Etwa folgendes mag geschehen sein: Hominiden verließen ihren Schlafplatz und begannen, in dessen Umge-bung nach Nahrung zu suchen. Sie fertigten (im voraus) Werkzeuge an, die sich für das Ausweiden von Tierkadavern eigneten, und trugen sie bei sich, bis ihre Nahrungssuche Erfolg hatte. Am meisten Erfolg aber versprach die Nähe einer Wasserstelle, wo man größere Tierkadavermengen erwarten durfte. Nachdem die mitgebrachten Werkzeuge ihren Zweck erfüllt hatten, aus den Tierleichen herauszuschneiden, was eßbar war, warf man sie einfach weg und verzehrte sein Mahl entweder sofort an Ort und Stelle oder brachte einzelne Portionen zum Schlaf- oder Wohnplatz, vielleicht auch direkt hin zum Wasserloch, wo man die

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Nahrung verspeiste. Kadaverteile an Wohnplätze mitzunehmen war vermutlich ein typisches Verhaltensmerkmal der Früh- und Altmenschen vom jüngeren Acheuleén bis hinein ins Mittelpaläolithikum Afrikas (bzw. des Moustériens Europas).14 In welchem Umfang unsere frühmenschlichen Vorfahren ein sol-ches Verhalten aber auch schon in früheren Phasen der Menschheitsgeschichte an den Tag legten – das ist es, was wir zu ermitteln haben. Die ausgesprochene Häufi gkeit bearbeiteter Geräte, andererseits das Fehlen jeglichen Hinweises auf deren öftere Benutzung, schließlich die Konzentration von Werkzeugen in der Nähe von Wasserstellen, wo es Tierleichen gab, die der Frühmensch ausschlach-ten konnte … aus all dem ergibt sich: Diese Plätze müssen eher Ausweid-Plätze gewesen sein, wo man sich mit dem Fleisch tierischer Kadaver eindeckte und dieses Fleisch sowie das Knochenmark gleich verzehrte, kaum aber Wohnstätten, wo Menschen in »Heimfl uren« lebten und sich die Beute ihrer Jagd teilten.15

Freilich – das damit umrissene Szenarium mag plausibel erscheinen. Es läßt sich vielleicht sogar für die Erklärung von weit mehr Fakten heranziehen als die bis-her geläufi ge Interpretation derartiger Örtlichkeiten als »Wohnplätze«. Daß aber ein Deutungsversuch plausibel ist, macht ihn noch lange nicht wahr. Es zeigt höchstens, daß es nützlich sein könnte, den damit aufgezeigten Möglichkeiten weiter nachzugehen. Mit meinen Argumenten, die ich oben vorgebracht habe, stehe ich zur Zeit genau dort, wo seinerzeit Brain stand, als er Darts Interpre-tationen in Frage stellte und seinerseits andere Möglichkeiten als Diskussions-grundlage vorschlug. Die bloße Tatsache, daß die neuen Deutungsvorschläge ei-nen Sinn ergeben, macht sie noch lange nicht zutreffend. Wenn etwas einleuchtet, bedeutet dies lediglich, daß eine bestimmte Einie, die man verfolgt, ihre logische Berechtigung hat. Forschungen, denen derartige plausible Argumente vorliegen, sollten – das kann man nur hoffen – im Endergebnis zu Methoden führen, die uns zu hieb- und stichfesten Schlußfolgerungen verhelfen. Wenn wir das Ver-halten unserer frühmenschlichen Vorfahren untersuchen, die so lange vor uns lebten, müssen wir Kriterien entwickeln, die über einfache Konventionen (wie beispielsweise die »Bedeutung«, die man dem Fundzusammenhang von Arte-fakt- und Knochenkonzentrationen beimaß) hinausgehen.

Die gegenwärtige Forschung

Forschungen, wie sie zur Zeit an Plätzen mit den Überresten von Frühmenschen in Ostafrika durchgeführt werden, erinnern mich an meine eigenen Arbeiten aus der Zeit zwischen 1966 und 1969, die dem in den folgenden Kapiteln (4 und 5) erörterten »Moustérien-Problem« galten. Aus den zahlreichen For-schungsberichten, welche die Mitglieder des Forschungsteams herausgeben, das die bedeutenden Fundstätten im Gebiet von Koobi Fora untersucht,16 geht hervor: Ein Mitarbeiter ist offensichtlich für Schlachtspuren und Knochen-bruchmuster an tierischen Überresten zuständig. Ein anderer beschäftigt sich mit den Stufen der Steingeräteherstellung und versucht, Abschläge und

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Abschlagkerne wieder aneinanderzupassen, um hinter die Abfolge des Kern-abschlagens zu kommen. Ein Dritter untersucht vermutlich die Verteilungs-muster dieser Knochen und Werkzeuge, und ich bin sicher, weitere Spezialisten nehmen dieses Material auch noch nach anderen Gesichtspunkten gründlich unter die Lupe. Jeder einzelnen Untersuchung dieser Art verdanken wir neu-es Faktenwissen über die betreffende Fundstätte, doch in samtlichen Fallen handelt es sich ausschließlich um Aussagen über den archäologischen Befund.In Ermangelung brauchbarer Methoden, die zu weitergehenden Erkenntnissen verhelfen, kann man nur Sachverhalt um Sachverhalt zusammentragen, ohne zu wissen, was die einzelnen Fakten vielleicht vom Verhalten der Menschen zu be-richten vermögen, die einst dort lebten. Gewöhnlich hilft man sich mit der Me-thode der »multiplen Arbeitshypothesen«. Unverblümter gesagt: Man erkennt aufgrund seiner Erfahrung, die Dinge könnten sich so oder so verhalten haben, und fällt sein Urteil nach dem Grade der Plausibilität.17 Nur in höchst seltenen Fällen haben wir Methoden entwickelt, Folgerungen, die wir ziehen, objektiv zu erhärten. Eine dieser Ausnahmen ist die Erkenntnis von Lawrence Keely,18 daß man einst Abschlaggeräte ebenso zum Fleischschneiden wie zum Schneiden bestimmten Pfl anzenmaterials verwendete. Hinter dieser Erkenntnis steht eine anerkannte Methode, den Gebrauch derartiger Werkzeuge exakt festzustellen – eine Methode, die unabhängig überprüft wurde und auf zwingenden natur-wissenschaftlichen Argumenten beruht. Welche Forschung wird die Interpretationen bestätigen,19 die man aus den neuge wonnenen Kenntnissen über Verteilungsmuster, Schnitt- und Bißstellen an Kno-chen, Artenhäufi gkeit und dergleichen ableiten wird? So mancher Archäologe scheint sich noch nicht mit dem Gedanken befreunden zu können, daß Unter-suchungen archäologischer Befunde Forschungen in der Gegenwart anregen können, die ihrerseits wieder unsere Beobachtungen aufgrund des archäologi-schen Materials in verbindliche Aussagen über die Vergangenheit umzuwandeln vermögen. Noch immer setzen zahlreiche Archäologen ausschließlich auf Ent-deckungen, von denen sie »für sich selbst sprechende« Enthüllungen über die Vergangenheit erwarten. Die Vorstellung hat zwar etwas Ermutigendes, daß sich die Vergangenheit denen er schließt, die mit größter Sorgfalt von ihrer Beobach-tungsgabe Gebrauch machen – doch leider trifft dies nicht zu! jedenfalls müssen die Forscher, die in Ostafrika den Spuren unserer frühesten Vorfahren nachge-hen, endlich die nächste wichtige Frage stellen: »Was bedeutet es?«

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Teil II Was bedeutet es?

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Im Teil I ging es um tierische oder menschliche Verhaltensweisen in ferner Ver-gangenheit, die uns veranlaßten, den archäologischen Befund auf entsprechende Hinweise zu untersuchen. Im Gegensatz dazu befaßt sich der folgende Abschnitt mit Problemen, die sich aus der Häufung detaillierter Beobachtungen ergeben und überhaupt erst sichtbar werden, nachdem bereits intensive Untersuchungen des archäologischen Materials vorliegen. Führt ein Archäologe Forschungsar-beiten durch, die bestimmte augenfällige Muster ans Tageslicht bringen, so er-hebt sich die Frage, was derartige Muster bedeuten.Den meisten dürfte klar sein, daß wir uns nicht irgendwelche Forschungsme-thoden einfallen lassen können, um sie an den archäologischen Befund her-anzutragen. Ganz im Gegenteil: Wir entwickeln Methoden zur Untersuchung des archäologischen Befundes, weil wir von vornherein davon ausgehen, daß sie uns Aufschlüsse über bestimmte Eigentümlichkeiten der Vergangenheit zu geben vermögen, über die wir gern Näheres wissen möchten. Charakteristi-scherweise sind Archäologen darauf verfallen, ihr Material zu klassifi zieren, und sie bedienen sich unterschiedlicher Konventionen, um für die festgestellten Objektklassen Erklärungen zu fi nden. Diese Klassifi kation (man spricht auch von Taxonomie) wirkt sich wiederum auf ihre Beobachtungen der Verteilung des archäologischen Materials in Zeit und Raum aus. Ja, Archäologen hegen sogar bestimmte Erwartungen hinsichtlich der Arten von Mustern, denen ihre Untersuchung gilt. Ich habe den Begriff »Konvention« gewählt, denn mir scheint, daß sich die archäologische Theorie in der Tat einer Reihe von Konventionen bedient, um archäologische Beobachtungen sinnvoll erscheinen zu lassen. Diese Konventionen verhindern, daß empirisches Material mit geltenden Lehrmei-nungen in Konfl ikt gerät. Deshalb sei hervorgehoben: Es ist einfach unmöglich, auf der Basis einer Reihe von Mutmaßungen zu einer Folgerung zu gelangen, die den zugrundeliegenden Annahmen widerspricht. Oder, wie Popper es ausdrückt: »weder ein deduktiver noch ein induktiver Schluß kann je von in sich stimmigen Voraussetzungen zu einer Folgerung führen, die formal den Prämissen wider-spricht, von denen man ausging.«1

Nicht selten zerbrechen sich Archäologen darüber den Kopf, wodurch die heuti-ge Form und Verteilung archäologischen Materials bedingt sind. Beispielsweise ist man allgemein der Ansicht, Kulturen seien in sich homogen und kraft der Gedanken und Wertvorstellungen ihrer Träger jeweils ein in hohem Maße ge-schlossenes Ganzes. Hier zeigt es sich ganz deutlich, welche Erwartungen, welche vorgefaßten Meinungen man an die Formung des archäologischen Befundes, so wie er sich uns hier und heute darstellt, heranträgt: »… zumindest innerhalb ge-

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wisser Grenzen sind innerhalb einer und derselben Kultur in einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Region Objekttypen und Proportionen stabil und konstant.«2 Einfacher ausgedrückt: Wir müßten demnach feststellen, daß sich Fundstätten und ihr Inhalt um so mehr ähneln, je näher sie zeitlich und räum-lich einander sind. Erfüllt die Realität derartige Erwartungen nicht, so stellt man endlose Hilfs-hypothesen auf, um die Beobachtungen dennoch der Theorie an-zugleichen. Tatsächlich haben Archäologen stets für alle Fälle Zusatzargumente parat, die –»falls sie zutreffen« – geeignet sind, auseinanderklaffende Theorie und Wirklichkeit wieder in Einklang zu bringen. Popper3 bezeichnet ein solches Vorgehen als »Immunisierung« einer Theorie gegen ihre Überprüfung. Archä-ologen machen sich eines solchen Vergehens schuldig. Ihre Versuche, einmal aufgestellte Thesen auf diese Weise zu »immunisieren«, wurden in ihrer Sicht zur »Rekonstruktion der Vergangenheit«. Gelingt es ihnen beispielsweise einmal nicht, in einer Schichtenfolge ununterbrochene Übereinstimmung festzustellen, so »sichern« sie ihre Theorie der Kulturweitergabe gegen diese Tatsache ab, indem sie eine Einwanderung neuer Bewohner postulieren. Diese rein hypo-thetische Wanderung wird anschließend fester Bestandteil der »wahren« Ver-gangenheitsrekonstruktion, um die es den Archäologen angeblich geht. »Eine behutsame, kleine Anpassung der Bedingungen macht fast jede Hypothese mit den [beobachteten] Phänomenen vereinbar. Dies schmeichelt unserer Phantasie, bringt uns aber in unserem Wissen nicht voran.«4

Archäologen sind ganz besonders in Gefahr, in diese Art philosophischer und methodologischer Fallen zu stolpern, da all ihre Aussagen über die Vergangen-heit zwangsläufi g Folgerungen sind und die Methoden, mit deren Hilfe sie ihre Schlüsse zu rechtfertigen suchen, sich mithin einer Überprüfung entziehen. An-ders ausgedrückt: Man kann sich – umgekehrt – auch nie auf die ja nur erschlos-sene Vergangenheit berufen, um die Tragfähigkeit der Grundannahmen zu tes-ten, von denen man ausgeht. Kein Wunder also, daß es die meisten Archäologen vorziehen, sich ungefragt überkommener Folgerungsmethoden zu bedienen, und lieber über archäologische Daten als über die Hieb- und Stichfestigkeit eben dieser Methoden diskutieren. Nur selten reicht unser Durchblick weit genug, so daß uns eine Ahnung dämmert, unsere Methoden könnten vielleicht mangelhaft sein. Wann immer dies der Fall ist, kann die methodologische Suche nach einem besseren Verständnis der dynamischen Bedingungen beginnen, die die archäo-logischen Muster hervorriefen. Wenn wir erst einmal die Frage »Was bedeutet es?« zu beantworten vermögen, können wir ganz bewußt mit Forschungen be-ginnen, durch die wir zu erfahren hoffen: »Wie könnte es gewesen sein?«

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4Die Herausforderung des Moustérien

Nicht selten beschimpfen Geschäftsleute, Politiker und andere Zeitgenossen ihre Konkurrenten, Gegner und sonstigen Widersacher als »Neandertaler«. Die meisten von uns stellen sich unter einem Neandertaler ein grobschlächtiges, behaartes Wesen mit niedriger, fl iehender Stirn, plumpen Gesichtszügen und einer Art »Schamtuch« aus Fell vor. Und es fehlt nicht an Darstellungen, die dieses Geschöpf zeigen, wie es, umgeben von den Überresten seiner blutigen Fleischmahlzeiten, verdutzt aus einem Höhleneingang in eine verwirrende, befremdende Welt starrt. Der Neandertaler steht in dem Rufe, ein dumpf dahin-vegetierender, ungehobelter, kulturloser Geselle gewesen zu sein, der nichts im Kopf hatte als Nahrung, Sex und ein bequemes Leben, soweit seine bescheidenen Verhältnisse es ihm gestatteten. Im Gegensatz zu dieser weit verbreiteten volks-tümlichen Auffassung weist die archäologische Fachliteratur dem Neandertaler eine wichtige Neuererrolle innerhalb der Menschheits-Urgeschichte zu. Immer wieder fi ndet man hervorgehoben: Die Neandertaler waren die ersten unter un-seren Vorfahren, die Farbstoffe verwendeten,1 ihre Toten regelrecht bestatteten2 und vielleicht auch gewisse kultische Rituale praktizierten, bei denen Höhlenbä-ren eine wichtige Rolle spielten.3

Früher, als die Wissenschaftler dazu neigten, die Menschheitsgeschichte als Hohes-lied des Aufstiegs vom Tierhaften zum Menschentum zu begreifen, be-trachtete man die Neandertaler als Wesen, in denen erstmals der Funke eines Gefühls für Dinge aufglomm, die uns heute – Kunst und Religion beweisen es – wert und teuer sind. Damit gestand man den Neandertalern Verhaltens-weisen zu, die weit über das hinausgehen, was für ihre und unsere tierischen Vorfahren charakteristisch war. Besonders neuere Schilderungen aus der Feder mehr biologisch orientierter Anthropologen und Vorgeschichtler stellen die Neandertaler als bloße Variante des bereits voll entwickelten Jetztzeitmenschen

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hin. Nicht selten begegnet man heute der Auffassung, daß die Neandertaler uns in ihrem Verhalten bereits weitgehend ähnelten, zumal man die Entwicklung so typisch menschlicher Verhaltensweisen wie des Sprechens und der Heraus-bildung regelrechter Sprachsysteme vielfach noch vor ihrem Auftritt auf der Bühne der Menschheits-Urgeschichte ansetzt. In Anbetracht dieser neuen Pers-pektive konzentrieren sich Spekulationen über unsere Entwicklungsgeschichte nunmehr in der Regel auf Bereiche vor dem Mittelpaläolithikum (der Mittleren Altsteinzeit, der Stufe des Neandertalers). Zwar trifft es zu, daß es unterschied-liche Ansichten über das Verhalten des Neandertalers gab. Doch waren es eigentlich nicht diese Meinungsverschiedenheiten, die jene Auseinandersetzun-gen anheizten und jenen Forschungen Ansporn gaben, von denen nunmehr die Rede sein soll. Mir geht es hier um das Problem des Moustérien (der etwa 125 000 bis 30 000 Jahre zurückliegenden Kulturstufe, die man mit dem Neanderta-ler in Verbindung zu bringen pfl egt) – ein Problem von bedeutender Tragweite im Hinblick auf die Methoden der Archäologie. Die Auseinandersetzung geht hierbei ganz andere Wege als im Teil I. Die Kapitel 2 und 3 befaßten sich mit der Frage, ob der Frühmensch ein Jäger war, in Basislagern bzw. »Heimfl uren« hauste und das Prinzip der Nahrungsteilung kannte. Dies alles erörterten wir anhand des Fundmaterials bestimmter Grabungsstätten, das die Frage aufwarf, ob seine Anhäufung einzig und allein auf das Verhalten früher Hominiden zu-rückzuführen sei. War diese Hürde erst einmal genommen, blieb wenig, was sich im Hinblick auf die Methodenlehre der Archäologie auswerten ließ.Kernpunkt unserer Untersuchungen über den Frühmenschen war: Wie ist es möglich, Erkenntnisse über die Vergangenheit zu gewinnen? Die Debatte über den Neandertaler dagegen hat ganz andere historische Wurzeln, ergab sie sich doch im Laufe einer langen Phase prähistorisch-archäologischen Forschens. Darüber hinaus aber sind auch die Voraussetzungen völlig verschieden. Beim Frühmenschen lag der Schwerpunkt auf der verhaltensbezogenen Interpre-tation einer an wenigen Fundstätten zu verzeichnenden Vergesellschaftung zahlreicher Objekte. Beim Moustérien-Problem dagegen geht es um die Bedeu-tung formaler Varianten einzelner Objekttypen, die an einer ganzen Reihe von Fundstätten zum Vorschein kamen. Mehr noch: Das Problem ergab sich, weil man erkannte, daß die einzelnen Typenklassen im Mittelpaläolithikum (der Mittleren Altsteinzeit) immer komplexere Formen bildeten.

Die Periode der »Relikte und Monumente«

Seit den frühesten Anfängen der Archäologie sehen sich Archäologen zwei Grundfragen gegenüber:1. Wie beschreiben wir unter formalen Gesichtspunkten die Veränderungen, de-

nen Gegenstände aus der Vergangenheit unterlagen?2. Wie verteilen sich die beobachteten Veränderungen in zeitlicher und geogra-

phischer Hinsicht?

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In der Frühzeit der Archäologie legte man den Schwerpunkt auf das Sammeln ausgegrabener Gegenstände, doch um den Zusammenhang der geborgenen Funde mit anderen Funden, um die Schichten, in denen sie zum Vorschein gekommen waren und dergleichen mehr kümmerte man sich so gut wie über-haupt nicht. Doch konnten die Archäologen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Artefakten und Artefakten, Bauten und Bauten, also zwischen An-ordnungen von Materie entdecken, die sich klar als Werke von Menschenhand auswiesen. Man faßte all diese Dinge in der Formel »Relikte und Monumente« zusammen. Hierzu gehörten Faustkeile und Bronzespeere ebenso wie die ge-waltige Anlage von Stonehenge, das aufsehenerregende Ganggrab bei New-grange in Irland und dergleichen mehr. Als die Archäologen begannen, sich über die Verteilung der verschiedenen Fundklassen den Kopf zu zerbrechen, fi el ihnen auf: Wenn man von bestimmten Eigenschaften des ihnen vorliegen-den Materials ausging, zeigten sich deutlich bestimmte Muster. In anderen Fäl-len jedoch wiederum nicht, wie weit man mit den Forschungen auch vorange-kommen war. So kam beispielsweise der dänische Gelehrte Christian Jürgensen Thomsen (1788-1865), als er das 1819 eröffnete Dänische Nationalmuseum in Kopenhagen aufbaute, wenn auch nicht ganz ohne Vorgänger auf ein chrono-logisches Verteilungsmuster der von ihm sortierten Objekte nach der Art ihres Werkstoffs: Stein, Bronze oder Eisen. Damit war der Grund für das sogenannte »Dreiperiodensystem« (die Einteilung der Vor- und Frühgeschichte in Stein-, Bronze- und Eisenzeit) gelegt.4

Später stellte sich bei der Erforschung der Altsteinzeit heraus, daß auch die Formgebung von Werkzeugen aus einem und demselben Rohmaterial ein Indiz für eine unterschiedliche zeitliche und geographische Verteilung der betreffen-den Gegenstände (oder genauer: der betreffenden Typvarianten) sein kann. So kamen beispielsweise Faustkeile offensichtlich nur in geologischen Schichten ganz bestimmten Typs sowie in enger Verbindung mit den Überresten be-stimmter Tierarten vor. Retuschierte Steingeräte dagegen, wie man sie bei-spielsweise in Solutré (Dep. Saone-et-Loire/Frankreich) entdeckte, fanden sich in sehr unterschiedlichen geologischen und faunalen Zusammenhängen.Also griff man sich Merkmale heraus, die chronologische und/oder geogra-phische Verteilungsmuster ergaben, um anhand derselben das Fundmaterial zeitlich und räumlich einzuordnen. Dabei standen die nicht zu übersehenden Erfolge der Geologie und Paläontologie Pate. Es hatte sich nämlich gezeigt, daß bestimmte Leitfossilien bestimmte Zeitalter, ja ganze Ären der Erdge-schichte kennzeichneten. Eng gekoppelt mit der Vorstellung, daß typologische (taxonomische) Untersuchungen zwangsläufi g zur Erkenntnis einer gleichsam natürlichen Ordnung im Bereich des archäologischen Datenmaterials führen müßten, war ein ausgeprägter Fortschrittsglaube. Man hielt die Geschichte der Menschheit für eine Geschichte menschlichen Fortschritts. Am stärksten spricht dieses Fortschrittsdenken vielleicht aus den Schriften des Generals Pitt-Rivers (1827-1900), eines der »Väter« der Archäologie (zumindest gilt dies für die eng-lischsprachige Welt):

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»Wir stehen vor der Aufgabe, der Abfolge von Ideen … nachzugehen, durch die sich der menschliche Geist vom Simplen zum Komplexen, vom Homogenen zum Heterogenen entwickelt hat, Schritt für Schritt das Gesetz der Kontinuität … herauszuarbeiten, mit der der Geist von einfachen … Bewußtseinsstadien zur Ideenverknüpfung und zu immer breiteren Verallgemeinerungen voranschritt.«5

Den meisten Archäologen schien anfangs die Abfolge der menschlichen Ent-wicklungsschritte bis hin zur Hochkultur zugleich logisch, progressiv und evo-lutiv. Sie stellte sich ihnen als logische Kette von Erkenntnissen dar, in der eine Erkenntnis die nächste bedingte. Bei General Pitt-Rivers zeigt sich diese Auffas-sung in sehr komprimierter Form.6 Beispielsweise erblicken wir auf Abbildung 33 einen einfachen, rohen Stock als Ursprung einer Vielzahl von Menschenhand gefertiger Objekt-»Phylen« (Klassen oder Stämmen). Verändert man den Stock in bestimmter Weise, so ergibt sich ein Entwicklungsstrang hin zu einem aus-tralischen Schild, nimmt man andere Veränderungen vor, wird eine Kriegskeule daraus und dergleichen mehr. Bei dieser Betrachtungsweise entstand der Ein-

33 Die von General Pitt-Rivers vorgeschlagene Rekonstruktion der typologischen Entwicklungs-linien vom einfachen Stock zu komplexeren Gerätetypen: eine für das 19., aber auch noch für das frühe 20. Jahrhundert charakteristische Sicht der Vergangenheit. (Genehmigter Nachdruck aus Pitt-Rivers nachgelassenen Schriften, Taf. 111 [hrsg. v. J.LMyres, 1906])

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druck, als ob die Menschheit eine Folge einander bedingender, voneinander ab-hängender Stufen des Fortschritts durchliefe. Und da man glaubte, dieser Ablauf vollzöge sich in einer festgeschriebenen Reihenfolge, meinte man, die gesamte Menschheit müsse die gleiche Stufenreihe durchlaufen. Unterschiede zwischen den heute lebenden Völkern schrieb man dem Verharren auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen zu, als ob manche Völker auf bestimmten Stufen stehenge-blieben wären, die andere längst hinter sich gelassen hatten. Diese Auffassung der kulturellen Evolution rechtfertigte die verbreitete Praxis, die Vorgeschichte gleichsam mit Leben zu erfüllen, indem man Beschreibungen heutiger Stam-meskulturen zum Vergleich heranzog. Beispielsweise mußten immer wieder die Ureinwohner Australiens herhalten, um die Lebensweise der Neandertaler zu veranschaulichen. Ich zitiere aus einem köstlichen Büchlein, das – 1922 erschie-nen – ein klassisches, von Fortschrittsglauben geprägtes Bild der kulturellen Evolution entwirft:

»Wir müssen uns nach einem primitiven Volk umsehen, das unter ähnlichen Verhältnissen lebt und etwa auf der gleichen Kulturstufe steht wie die Mous-térien-Leute, und schauen, ob wir einige Vergleiche anstellen können, die uns weiterbringen. Die Ureinwohner Australiens sind ein solches Volk.«7

In dem intellektuellen Klima, das vom Fortschrittsgedanken beherrscht wurde, gediehen auch andere Auffassungen von nicht geringer Tragweite. Bisweilen vertrat man sie unabhängig voneinander, bisweilen aber mischten sie sich, wobei so etwas wie ein allgemeiner Vitalismus herauskam. Nach dem Konzept des sich immer deutlicher abzeichnenden Fortschritts ist die Entwicklung des Menschen Ergebnis des Innewerdens seiner Fähigkeiten, die man als zu seinem Wesen gehörende Qualität oder als einen ihm innewohnenden »Funken« be-trachtete – jedenfalls als dem Menschen zugehörende Eigenschaft, die sich unter unterschiedlichen biologischen oder anderen (Umwelt-)Bedingungen jeweils geringfügig anders entfaltete. Als man beispielsweise aus den 1908 bis 1915 bei Piltdown (unweit von Lewes in Sussex/England) freigelegten, angeblich fossilen Menschenüberresten (es handelte sich freilich um eine der spektakulärsten Fälschungen der Archäologiegeschichte)8 schloß, daß unsere frühen Vorfahren ein größeres Gehirn besessen hätten als Eugene Dubois’ »Pithecanthropus« (den man seinerzeit für jünger hielt), veranlaßte dies Henry Fairfi eld Osborn und an-dere zu nachstehender Folgerung:

»Wenn der Pithecanthropus wirklich aus dem mid-stone age stammt, wie es nunmehr den Anschein hat, muß er als überlebender primitiver Typus des Dawn Man* betrachtet werden, der sich in die Urwälder Javas zurückgezogen hatte … Dieses Überdauern einer primitiven Menschenform, abgeschnitten

* mid-stone age: Hier nicht »Mittlere Altsteinzeit« (Mittel-Paläolithikum) und schon gar nicht »Mittelsteinzeit« (Mesolithikum), sondern eher »Mittleres Pleistozän«. Dawn Man: Mit derartigen Begriffen arbeitete man seinerzeit. Der – erst 1953 als Fälschung entlarvte – »Piltdown-Mensch« hatte den wissenschaftlichen Namen Eoanthropus Dawsoni (»Dawsons Morgenrötemensch«), wobei dawn (englisch: »Morgenröte«) und Dawson (der Name des »Entdeckers«) im Englischen eine Alliteration ergaben (Anmerkung des Übersetzers).

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vom Wettbewerb mit erfolgreicheren Typen, stellt keineswegs einen einma-ligen Vorfall dar, sondern wir begegnen noch immer zahlreichen Menschen sehr primitiven Typs in abgelegenen, isolierten Erdgegenden, so zum Beispiel den Einwohnern Tasmaniens.«9

Auf gleicher Linie mit dieser Betrachtungsweise lag auch die durchaus nicht ungewöhnliche Verkuppelung von evolutionistischen Ideen mit einem gewissen Rassismus. Auch andere, an Elitevorstellungen orientierte Gedanken wurden ins Feld geführt, um die unterschiedlichen Leistungen des Menschen zu erklären. Weit verbreitet war beispielsweise die Ansicht, wonach Fortschritt nur der Tüchtigkeit und dem Handeln besonders begabter Einzelner (»großer Per-sönlichkeiten«) zu verdanken sei. Diese Auffassung war durchaus nicht nur in weiter zurückliegender Vergangenheit geläufi g, sondern spielt selbst in jüngerer und jüngster Zeit eine Rolle, wie die nachstehenden Äußerungen François Bor-des von 1969 erkennen lassen:

»Man sollte sich hüten, Intelligenz und schöpferischen Geist miteinander zu verwechseln. Selbst heute noch ist schöpferischer Geist selten, obwohl, wie es scheint, die Geschichte zahlreicher Zivilisationen den Schluß zuläßt, daß der Anteil kreativen Intellekts bei konstanten Umweltbedingungen und unter konstantem Umweltdruck eine Funktion der Gesamtzahl der Individuen ist. Es ist also möglich, daß angesichts der nicht sehr zahlreichen Altsteinzeit-bevölkerung zwischen dem Aufl euchten kreativen Intellekts in einer und derselben Menschengruppe Generationen vergingen. Infolgedessen ging der Fortschritt nur langsam voran, obwohl die Bevölkerung insgesamt vielleicht durchaus nicht unintelligent war und von dem, was sie sich bereits angeeig-net hatte, guten Gebrauch zu machen wußte.«10

Derselben Ansicht war auch Grahame Clark. Er schrieb 1979, der Lauf der Ge-schichte sei weniger durch populäre Irrmeinungen bestimmt worden als durch das originelle Denken herausragender Einzelpersönlichkeiten.11

In der Frühzeit der Vorgeschichtsarchäologie stellte kaum jemand diesen Fort-schrittsglauben im Hinblick auf die Vergangenheit des Menschen in Frage, ganz gleich, was man sich sonst noch an Erklärungen zurechtgelegt haben mochte. Dabei war es nur folgerichtig, daß man festzustellen suchte, wie es sich mit der Abfolge jener entscheidenden Veränderungen verhielt, die einst den Fortschritt gebracht hatten. So äußerte 1893 Otis Mason vor den »Gründervätern« der amerikanischen Archäologie: »Die lohnendste [archäologische] Forschung ist die Suche nach dem Ursprung epochemachender Ideen, um die Geschichte der Zivilisation zu begreifen.« Ein halbes Jahrhundert später gab N. C. Nelson fast genau das gleiche Ziel und die gleichen Vorstellungen von den Aufgaben der Archäologie zu Protokoll: »… unsere Wissenschaft ist aufgerufen, Ursprungs-zeit und Ursprungsort aller wichigen Erfi ndungen aufzuzeigen und über die ganze Welt den Spuren ihrer Verbreitung zu folgen.«13 Als sich das erste Viertel unseres Jahrhunderts seinem Ende entgegenneigte, hielten viele Archäologen, die sich auf das Paläolithikum spezialisiert hatten, einen großen Teil dieser Zie-le für erreicht. Man zergliederte die Altsteinzeit in einzelne Stufen. Die älteste,

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früheste Periode, die des »Umherschweifens«, war durch Freilandstätten an Flußläufen sowie durch schwere Kernwerkzeuge charakterisiert – jene Faust-keile, die Boucher de Perthes (1788-1868) im zweiten Viertel des vorigen Jahr-hunderts entdeckt und mit denen er das hohe Alter der Menschheit bewiesen hatte. Die nächste Phase kultureller Entwicklung war das Moustérien oder das Zeitalter des »Höhlenmenschen«, gekennzeichnet durch Abschlagwerkzeuge, die zumeist nur auf einer Seite retuschiert waren. Dem Moustérien folgten das Aurignacien, Solutréen und Magdalénien – Perioden, in denen die Menschen sowohl in Höhlen als auch unter freiem Himmel hausten, aus klingenartigen Abschlägen Steingeräte schufen, aber auch Knochen und Elfenbein als Werk-stoff benutzten. Sie schufen Kunst, die uns noch heute in ihren Bann schlägt, und zelebrierten kultische Rituale.14

Die Periode der »Artefakte und Assemblagen«15

Der frühen Archäologie des Paläolithikums ging es vor allem darum, wie »Überres-te und Monumente« von den Leistungen des frühen Menschen Zeugnis ablegten.

34 So sahen Prähistoriker Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Evolution der menschlichen Kultur. Links die Bezeichnungen der einzelnen Kulturperioden, rechts die ent-sprechenden Gerätetypen.

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Die Phase der »Artefakte und Assemblagen« schloß sich an. Nunmehr traten die Klassifi kation von Artefakten sowie die Dokumentation von Ansammlun-gen archäologischen Materials (Assemblagen) in den Vordergrund, die man als Häufungen miteinander vergesellschafteter Objekte (insbesondere Artefakte) defi nierte. Gegenstände aus einer und derselben Assemblage galten als zeit-gleich (bzw. als gleich alt). Ihrem Charakter nach schien es möglich, derartige Assemblagen mit klar umrissenen ethnischen Gruppierungen in Verbindung zu bringen. Wie man zu dieser Ansicht gelangte, zeigt am deutlichsten die berühm-te Äußerung Vere Gordon Childes (1892 bis 1957):16

»Wir fi nden bestimmte Arten von Überresten – Töpfe, Geräte, Schmuck, Grä-ber, Hausformen —, die immer wieder gemeinsam anzutreffen sind. Auf ei-nen solchen Komplex stets miteinander vergesellschafteter Elemente sollten wir den Terminus ›Kulturgruppe‹ oder, noch einfacher, ›Kultur‹ anwenden. Wie wir vermuten, ist ein solcher Komplex der materielle Niederschlag des-sen, was wir heute als ein ›Volk‹ bezeichnen würden.«

Natürlich war Geschichts-, bzw. Vor- und Frühgeschichtsbetrachtung unter eth-nischen Gesichtspunkten keineswegs neu und wurde spätestens seit der Jahr-hundertwende im Zusammenhang mit archäologischen Komplexen diskutiert,

35 Modell paralleler »Phylen«, das Prähistoriker ab etwa 1930 entwickelten. Man betrachtete nun-mehr durch unterschiedliche Steingerätetypen charakterisierte Kulturkomplexe teilweise als zeitgleich und nahm nicht mehr an, daß sie, wie auf Abbildung 34, streng aufeinander folgten.

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die allerdings jünger waren als die Altsteinzeit.17 In Europa waren verschiedene Schulen unterschiedlicher Auffassung, was dem Fortschritt zuträglicher sei: Reinrassigkeit oder Völkermischung, der manche besondere Vitalität nachsag-ten. Ebenso gab es beträchtliche Meinungsunterschiede über die Erfi ndungsga-be und Innovationsfreu-digkeit des Menschen. Manche Gelehrten stellten den Menschen als extrem konservativ hin und erklärten die Einführung irgendwel-cher Neuerungen zur seltenen Ausnahme von dieser Regel. Andere wiederum glaubten, da der Mensch auf gleiche Reize stets in gleicher Weise reagiere, dürfe man erwarten, daß unabhängig voneinander immer wieder zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten zahlreiche – und unter gleichen oder ähnli-chen Bedingungen immer wieder gleiche oder ähnliche – Erfi ndungen gemacht worden seien. Im allgemeinen hielten diejenigen, die Reinrassigkeit als fort-schrittsfördernd betrachteten, den Menschen für vergleichsweise wenig erfi n-derisch. Sie erwarteten daher, außerordentlich stabile und weit in die Vergan-genheit zurückreichende Kulturtraditionen vorzufi nden. Demgegenüber hatten die Anhänger liberaler Auffassungen eine höhere Meinung von der schöpfe-rischen Begabung des Menschen. Aus ihrer Sicht unterlag Kultur ständigem Wandel von innen her, aber ebenso auch durch Zustrom von außen. Folglich teilten sie auch die Ansicht nicht, daß sich Kulturen geradlinig zurückverfolgen ließen. Allerdings beeinfl ußte diese Argumentation und die damit verbundene Herausbildung von Schulen die Erforschung des Paläolithikums kaum. Schien sich doch in der Altsteinzeit Fortschritt lediglich im Voranschreiten von einer Kulturstufe zur anderen darzustellen. Anders gesagt: Das Belegmaterial schien hier mit der älteren Auffassung einer stufenweise vor sich gegangenen Evo-lution in Einklang zu stehen. Antievolutionistische Argumente schienen hier nicht zu greifen. Dies änderte sich erst, als Anfang der dreißiger Jahre Abbe Henri Breuil (1877-1961)18 verkündete, es habe in der ungeheuren Zeitspanne der Altsteinzeit (die vor mehreren Millionen Jahren begann, aber erst vor rund 10000 Jahren endete) mehrere »Phylen« (moderner ausgedrückt: bedeutendere Kulturtraditionen bzw. kulturelle Entwicklungslinien) gegeben, die gleichzeitig nebeneinander existierten. Wie Breuils Ideen damals wirkten (und was sie be-wirkten), zeigt in aller Deutlichkeit eine Äußerung der bedeutenden englischen Vorgeschichtlerin Dorothy Garrod aus dem Jahre 1938:

»Nach dem alten System ergaben die paläolithischen Kulturen eine gerad-linige Abfolge mit deutlichen horizontalen Abstufungen, gleich Schichten in einem geologischen Schnittdiagramm. Für die Pioniere der Archäologie gingen diese Kulturen in einer stetigen Aufwärtsbewegung auseinander her-vor, und man war überzeugt, daß sie weltweit gültige Stufen der Geschichte menschlichen Fortschritts repräsentierten. Doch heute hat das Schicksal so vieler Bestandteile, aus denen sich das heile, wohlgeordnete Weltbild des 19. Jahrhunderts zusammensetzte, auch die Vorgeschichtswissenschaft ereilt. Neue Erkenntnisse haben das Kaleidoskop in Drehung versetzt, und noch immer falten von unseren Augen, die das, was sie sehen, nicht wahr-haben wollen, die Steine durcheinander. Allerdings beginnen sich bereits

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die Hauptumrisse eines neuen Musters abzuzeichnen. Und zwar erkennen wir in der Altsteinzeit drei kulturelle Elemente von höchster Bedeutung. Sie manifestieren sich in den sogenannten Feuersteinindustrien, den Abschlag-geräteindustrien und schließlich den Klingenindustrien. Wie wir wissen, liefen zumindest die ersten beiden, soweit wir sie zurückverfolgen können, Seite an Seite nebeneinander her. Darüber hinaus beginnen wir zu erken-nen, daß auch die Ursprünge des dritten vielleicht in wesentlich früherer Zeit zu suchen sind, als wir bisher vermuteten. Es bedarf nur einer ganz kurzen Besinnung, um zu begreifen, daß wir es hier mit der alten Einteilung in Alt-, Mittel- und Jung-paläolithikum zu tun haben, nur daß sich ihre Ach-se verlagert hat. Allerdings müssen wir uns davor hüten, bei derartigen Un-terteilungen allzu rigide vorzugehen. In Wahrheit laufen diese Kulturströme ja nicht nebeneinander her, ohne je miteinander in Berührung zu kommen. Eine derartige Auffassung der Menschheitsgeschichte entbehrte jeglichen Realitätssinns. Vielmehr berühren und beeinfl ussen sie einander ständig, und bisweilen verbinden sie sich, um eine gänzlich neue Fazies [Kulturvari-ante] entstehen zu lassen.«19

Nichts könnte zutreffender veranschaulichen, wie revolutionär Breuils Idee war, als diese Aussage einer der namhaftesten britischen Vorgeschichtlerinnen. Zwar fehlte es gegenüber dieser radikalen Umdeutung unserer Vergangenheit nicht an Opposition, doch seltsamerweise wurden die »parallelen Kultur-›Phylen‹« zur neuen orthodoxen Lehrmeinung. Doch damit nicht genug: Breuil arbeitete an diesem neuen Bild der Vergangenheit weiter und konnte zeigen: Die voneinan-der unabhängigen Kulturtraditionen wiesen – je nach Zeitstellung und Umwelt-bedingungen – bis zu einem gewissen Grad widersprechende Verteilungsmuster auf.

»… wir fi nden Industrien bifazieller [zweiseitig bearbeiteter] Steingeräte abwechselnd mit Abschlagsindustrien. Die Abschläge kommen vor und nach den Kältemaxima, die zweiseitig bearbeiteten Werkzeuge in den Interglazi-alen. Aus all dem darf man wohl schließen, daß dies auf die Wanderbewe-gungen von Menschengruppen zurückzuführen ist, die, sobald das Eis kam, ihrem Jagdwild nach Süden und Westen folgten.«20

Es dauerte nicht lange, bis man die kontrastierenden Gerätetraditionen mit der Ansicht in Einklang zu bringen suchte, daß es einst verschiedene Altmenschen-gruppen nebeneinander gegeben habe:

»Wie es scheint, bewohnten während der früheren Phasen des Pleistozäns … zwei verschiedene Menschenrassen dieses Gebiet. Zuerst tauchen Industrien auf, die zu einer Abschlaggerätekultur (Cromerium) gehören, doch später drang die sich von Afrika her ausbreitende Chelles-Acheul-Kultur [Chelléo-Acheuleén], die zum Kreis der Kerngerätekulturen gehörte, von Westen her ein … Mit dem Hereinbrechen des letzten Gletschermaximums verschwan-den die Faustkeilhersteller wieder von der Bildfl äche, und Kulturen des Ab-schlaggerätekreises beherrschten das gesamte Terrain.«21

Die Auffassung, daß eine bereits von Neanthropinen (Jetztzeitmenschen bzw.

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deren unmittelbaren Vorfahren) geschaffene »Abschlaggeräte-Tradition« mit einer »Kerngeräte-Tradition« zeitgleich war, die ihr Dasein Palaeanthropinen (Altmenschen = Vertreter des Neandertalerkreises, die man nicht zu unseren Vorfahren zählte) verdankte, war in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts außerordentlich verbreitet und wurde auch nach 1950 noch immer in weiten Kreisen lebhaft diskutiert.22

1936 dehnte D. Peyrony die Erörterungen über parallele »Phylen« auch auf das Jungpaläolithikum aus. Seiner Ansicht nach hatte man die seit 1906 als Aurigna-cien bezeichnete Formengruppe der End-Altsteinzeit (des Jungpaläolithikums) in zwei verschiedene Traditionen zu gliedern: Das eigentliche Aurignacien und das Perigor-dien.23 Dies wurde – insbesondere in Frankreich – weithin akzep-tiert und bildet noch immer oft genug die Grundlage der Klassifi kation von Artefakten aus den jungpaläolithischen Schichten Frankreichs.24

Der Lebensbaum

Ändert eine Wissenschaft ihre Betrachtungsweise, folgt nicht selten eine Ände-rung der Beobachtungsweise auf dem Fuß. Für die Altsteinzeitforschung hat in dieser Hinsicht Francois Bordes bahnbrechende Arbeiten geleistet.25 Er entwi-ckelte nicht nur das am häufi gsten angewandte System der Klassifi zierung von Steinwerkzeugen, sondern auch eine Methode der graphischen Darstellung von Assemblagen anhand der Menge des in ihnen enthaltenen archäologischen Ma-terials bzw. der prozentualen Anteile der einzelnen Bestandteile desselben. Sein Verfahren, die Formen steinerner Artefakte aus freigelegten archäologischen Schichten mengenmäßig zu erfassen und das Resultat mittels Kurven darzustel-len, gab der Wissenschaft erstmals brauchbares Vergleichsmaterial in die Hand, und daraus entwickelte sich eine ganz neue Systematik der archäologischen Befunde auf Assemblagenbasis. Außerdem empfahl Bordes, die Techniken der Steingeräteherstellung und die Formgebung der Geräte völlig isoliert voneinan-der zu betrachten. Zu den rein formalen Elementen zählte für ihn das Verhältnis zwischen der Ausrichtung des Abschlags, der Gestalt seiner Schnittkanten und dem Verlauf dieser Schnittkanten zur Gesamtform des Geräts. Im Gegensatz dazu hing, so Bordes, die Technik, die man bei der Abschlagherstellung anwand-te, von der Beschaffenheit des an ganz unterschiedlichen Plätzen vorhandenen Rohmaterials ab. Sie eignete sich also wenig für die Rekonstruktion kulturge-schichtlicher Gegebenheiten, für den Nachweis des plötzlichen Auftauchens klar defi nierter ethnischer Gruppen oder zur Untersuchung etwaiger Wechselbezie-hungen zwischen den Trägern unterschiedlicher Kulturtraditionen innerhalb eines und desselben Volkes.26

Im Besitz dieser Erkenntnisse, untersuchte Bordes nicht nur bereits ausgegrabe-nes Material, sondern begann auch selbst eine Reihe langwieriger Ausgrabungen, die unsere Ansichten über die Vergangenheit erheblich veränderten.27 Seine Liste der Standardtypen ermöglichte ihm die Klassifi zierung sämtlicher Werkzeuge aus

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einer gegebenen archäologischen Schicht. Er hielt dann in einem Schau-bild fest, wie häufi g 4ie einzelnen Geräteformen anzutreffen waren.28 Als er schließlich seine Diagramme mittelpaläolithischer Moustérien-Fundstät-ten miteinander verglich, sah er, daß sich bestimmte Muster des Kurven-verlaufes ständig wiederholten. So zahlreich die Fundstätten auch waren – Kurventypen gab es nur vier. In nur ganz wenigen Fällen war der Kurven-verlauf zweifelhaft oder nahm die Mitte zwischen den charakteristischen Diagrammen anderer Fundstätten ein. Aufgrund dessen sonderte Bordes vier Moustérien-Gruppen aus, die sich wie folgt beschreiben lassen:1. Moustérien mit Acheul-Tradition

Kennzeichnend für den Gerätebestand sind in der Regel Faustkeile, bescheidenere Mengen Seitenkratzer, ein hoher Prozentsatz von ge-zähnten und gekerbten Werkzeugen sowie ein auffallend hoher Anteil von Rückenmessern. Typisch für das Diagramm ist ein vergleichsweise wenig geschwungener Kurvenverlauf.

2. Typisches MoustérienDieser Gruppe entspricht in der Regel ein diagonaler Kurvenverlauf (weil die meisten Gerätetypen anteilig ungefähr gleich vertreten sind). Vom Moustérien mit Acheul-Tradition unterscheidet es sich hauptsächlich durch das seltenere Vorkommen von Faustkeilen. Auch Rückenmesser sowie andere Gerätetypen kommen – analog zu den üb-lichen jungpaläolithischen Fundstätten – nur selten vor.

36 Francois Bordes wahrend einer Australienreise (1974).

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3. Moustérien mit gezähntem GerätDie Werkzeugverteilung führt bei diesem Typ meist zu einer zunächst fl achen, dann jedoch steil ansteigenden Kurve, denn es gibt nur wenig Schaber, dafür aber zahlreiche gekerbte und gezähnte Geräte. Faustkeile sind selten oder gar nicht vorhanden. Schaber sind ausgesprochen schlecht gearbeitet. Rücken-messer kommen selten vor.

4. Charente-GruppeEine letzte Gruppe von Assemblagen ist an ihrer hohen, konvex verlaufenden Kurve erkennbar. Schaber herrschen vor. Gezähnte und gekerbte Geräte sind dagegen selten. Auch Faustkeile und Rückenmesser gibt es nur selten oder gar nicht. Bordes unterscheidet zwei Untergruppen des Charente-Typs:

a den La Quina-Typ mit charakteristischen, transversalen Schabern und schwacher, wenn nicht gänzlich fehlender Levallois-Technik sowie

b den La Ferrassie-Typ mit Levallois-Technik und Seitenschabern.

In der heute üblichen Fachsprache würde ich Bordes frühe Untersuchungen als pattern recognition (»Muster-Erkennung«) bezeichnen. Defi nierte er doch von ihm systematisch beobachtete Eigenschaften seiner Forschungsobjekte in angemessener Weise, arbeitete sie klar heraus, führte Beobachtungen an den archäologischen Befunden durch und erkannte in dem ihm vorliegenden Mate-rial Strukturen. Die Archäologen schockierte damals die Art der Musterbildung, die sich bei Anwendung der Methode Bordes abzeichnete.29 Schon vorher hatte man beobachtet (Bordes hatte es bestätigt und abgeklärt), daß die Schicht-zu-Schicht-Abfolge (die stratigraphische Sequenz) der Formveränderungen an den Steingeräten und der Zusammensetzung der Assemblagen nicht notwendiger-weise einer bestimmten Richtung folgte. Auch ein schrittweiser oder gleitender Übergang ließ sich nicht erkennen. Erstmals war es Peyrony,30 der dies bei Mous-térien-Assemblagen beobachtet hatte, doch vor allem Bordes demonstrierte die-sen Sachverhalt mit allem Nachdruck – dies insbesondere durch seine eigenen Ausgrabungen an der inzwischen berühmt gewordenen Fund- und Grabungs-stätte Combe Grenal.31 Unter Anwendung des von ihm entwickelten Verfahrens wies er drei charakteristische Merkmale seines Materials nach:

1. Alternierende (einander abwechselnde) Industrien. In einer langen Serie sichaneinanderreihender Schichten folgte auf eine bestimmte Moustérien-Spielart – etwa das »typische Moustérien« – zeitlich ein »Moustérien mit gezähntem Gerät«, während in einer noch jüngeren (späteren) Schicht wieder eine Assemblage des »typischen Moustérien« zum Vorschein kam. In einem derartigen Muster ändert sich am Charakter der einzelnen Moustérien-As-semblagen nichts. Sie bleiben, wie sie sind, behalten ihre Identität, lösen ein-ander aber in den einzelnen Schichtfolgen (Sequenzen) in unterschiedlicher Reihenfolge ab.

2. Parallele Phylen (Traditionen). Aus gesamtregionaler Sicht betrachtet bewahr-ten die unterschiedlichen Moustérien-Typen über lange Zeiträume hinweg

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ihre Identität und bestanden als klar umrissene Kulturen nebeneinander.32 Fehlten sie in der Schichtenabfolge einer Fundstätte, so waren sie dennoch in den Schichtprofi len anderer zeitgleicher Stätten vertreten.

3. Kulturen von großem Beharrungsvermögen. Das von Bordes nachgewiesene Muster weist auf die »zählebig« zu nennende Beharrlichkeit und Lebensdauer dieser Kulturen hin. Mit anderen Worten: Bestimmte Verhaltensweisen, die jene Art materieller Hinterlassenschaft entstehen ließen, wie wir sie an Mous-térien-Fundstätten antreffen, blieben nach Ausweis des archäologischen Be-

57 Bordes’ Kurven unterschiedlicher Moustérien-Assemblage. Auf der horizontalen Achse sind sämtliche Gerätetypen eingetragen, auf der senkrechten die Prozentzahlen von 0 bis 100. Die Kurve der Anteile dieser Gerätetypen am Gesamtinventar einer Assemblage entspricht im all-gemeinen einer der oben wiedergegebenen vier Hauptkurven. Bei der Kontroverse, die diese Daten auslösten, ging es um die Bedeutung dieser vier verschiedenen Kurven.

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fundes lange Zeitspannen hindurch unverändert. Auch durch Berührung mit anderen, ebenso klar defi nierten Kulturen innerhalb des Kreises der Mousté-rien-Traditionen blieben die Assemblagen einer und derselben Tradition in ihrem spezifi schen Charakter unbeeinträchtigt.

Bordes’ Methode bekräftigte das schon von Peyrony entworfene Bild der Vor-geschichte, für das auch der Abbe Breuil eintrat: das Bild unterschiedlicher Kul-turstränge, die weit in die Vergangenheit zurückreichen.33 Diese Stränge – auch als »Linien«, »Phylen« oder »Traditionen« bezeichnet – behielten ihre formale Integrität ganz wie biologische Arten und ließen sich daher auch nicht mit anderen »Arten« kreuzen. Die Verbreitung dieser Kultur-»Arten« bezeugt ein Abebben, Zurückfl ießen und erneutes Fortströmen im geographischen Raum – eine Abfolge von Bewegungsabläufen, deren Ergebnis Assemblagen waren, die mit Assemblagen anderen Typs abwechseln und im Lauf der Zeit in einem und demselben Gebiet bald auftreten, bald wieder verschwinden können. Diese Auf-fassung von Assemblagen als Verkörperungen kultureller »Arten« wurde jüngst als organische Sicht der Vergangenheit charakterisiert:

»Kulturgeschichte läßt sich als etwas wesenhaft Organisches betrachten … Bei genauerem Hinsehen beruht diese Betrachtungsweise auf zwei still-schweigend angenommenen Voraussetzungen. Erstens, daß zwischen der Welt des Kulturellen und dem Bereich des Organischen Parallelität besteht, so daß wir ein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen archäologischer und natür-licher Stratigraphie erwarten dürfen. Zweitens, daß jeder beliebige Kultur-komplex ebenso wie jeder paläontologische Komplex hinsichtlich der Art und Weise, in der er sich ausdrückt, mehr oder weniger unveränderlich ist. Dies wiederum bedeutet, daß die kulturellen Gegebenheiten, die wir in der archäologischen Systematik wahrzunehmen vermögen, als natürliche Kate-gorien anzusehen sind, die – ganz nach der Weise etwa biologischer Arten – in sich kontinuierlich sind und von einem Kontext zum anderen ihre Form nicht ändern. Daraus folgt, daß eine spezifi sche Tradition in jedem spezifi -schen Zeitabschnitt oder Raumsektor im archäologischen Material nur einen charakteristischen Industrie-Typus hervorbringt.«34

So sehr Bordes die archäologische Methodik verfeinert hatte, so daß es ihm mit nie zuvor erreichter Präzision gelang, bestimmte Muster im archäologischen Be-fund nachzuweisen – im Endeffekt wurde seine Neuerung nur einer schon viel älteren, biologistischen Auffassung menschlicher Kulturen und menschlicher Vergangenheit dienstbar gemacht: dem »Lebensbaummodell«, wie A. L. Kroeber es treffend nannte.

Die Gegenwart: ein Meinungskonfl ikt

Das mit Hilfe der weiter ausgefeilten Bordesschen Beobachtungs- und Darstel-lungsmethode nachgewiesene vielfältige Muster drängte mir und anderen regel-

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recht die Feststellung auf: Die Sicht der Vergangenheit, mit der unsere französi-schen Kollegen die archäologischen Befunde in Einklang zu bringen versuchten, widersprach völlig dem Kulturbegriff, den Nordamerikaexperten bei ihren Untersuchungen rezenter Stammeskulturen der »Neuen Welt« entwickelt hat-ten. Amerikanische Gelehrte charakterisieren diesen Unterschied als Gegensatz zwischen organischer Betrachtungsweise, für die der »Lebensbaum« steht, und kulturbezogener Betrachtungsweise, repräsentiert durch einen »Kulturbaum«. Diese »kulturorientierte« Betrachtungsweise bezogen die Forscher aus all ihren Untersuchungen über die räumliche Verteilung archäologischer Einzelelemen-te und ganzer Komplexe bei bekannten Volksgruppen in den riesigen Weiten Nordamerikas. Eines der Ergebnisse dieser Arbeiten war beispielsweise der Nachweis einer engen Beziehung zwischen der Verbreitung bestimmter Kultur-formen und bestimmten Umwelttypen.35 Doch die Archäologen, die sich weiter mit

38 Schichtenprofi l der Moustérien-Grabungsstätte Combe Grenal (Dep. Dordogne/Südwest-frankreich) mit ihren einander abwechselnden Assemblagen.

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nach der Bordesschen Methode untersuchtem Material beschäftigten, wollten einfach nicht wahrhaben, daß dergleichen auch für ihren Forschungsbereich gelten könnte.36 Außerdem fanden es amerikanische Völkerkundler schwierig, genau die Verbreitungsgebiete ethnischer oder anderer Gruppen abzugrenzen.37 Es gibt in diesen Bereichen eine Variabilität, die die Tendenz zeigt, weit überzu-greifen, und eine präzise Abgrenzung einzelner Gruppen unmöglich macht. In klarem Gegensatz hierzu ist für die Anhänger der »organischen« Betrachtungs-weise scharfe ethnische Abgrenzung ein charakteristisches Merkmal der Völker früherer Zeiten. Alles in allem bestand ein ausgesprochener Gegensatz zwischen der Kulturauffassung der Bordes-Anhänger und den Ansichten jener Gelehrten, die sich mit Verteilungsmustern von Produkten heutiger Stammeskulturen be-fassen.Hier ist die kritische Frage unvermeidlich: War die Vergangenheit tatsächlich so ganz anders als die Gegenwart – oder ist es nur unsere Betrachtungsweise, die diesen Eindruck erweckt? Viel hing davon ab, welche Bedeutung man bei der Anwendung der Bordesschen Methode den Beobachtungen am archäologischen Material beimaß. Was ließ sich mit Hilfe der Bordesschen Taxonomie wirklich feststellen, und was besagten die Unterschiede der Assemblagenzusammenset-zung an den verschiedenen Fundstätten wirklich? 1966 schlugen Sally Binford und ich vor, auch die Bedingungen zu berücksichtigen, die vielleicht einige der von Bordes beobachteten Muster hervorgerufen haben könnten.38 Unsere damalige Arbeit beruhte auf der Erkenntnis, daß die Widersprüche zwischen unseren Auffassungen der Vergangenheit Untersuchungen erforderlich mach-ten, wie sich die von uns heute vorgefundenen Ansammlungen archäologischen Materials gebildet haben könnten. Es komme darauf an, so meinten wir, jene Veränderungen herauszuarbeiten, die auf unterschiedlichen Formen der dem System innewohnenden Dynamik beruhten. All dem werde ich im folgenden Kapitel weiter nachgehen.Die Geschichte der Moustérien-Forschung unterscheidet sich erheblich von den Auseinandersetzungen um die Frühmenschen (vgl. Kapitel 2), die sehr rasch bei der Zielsetzung anlangten, jene Bedingungen aufzuhellen, welche zur Entste-hung der heute freigelegten Fundschichten führten. Beim Moustérien-Problem war man sich über die Methoden nicht so klar. Die von Bordes angewandten Verfahren galten vielen als das Nonplusultra methodischer Raffi nesse, ja als die Methode schlechthin. Die mit Bordes’ Technik sichtbar gemachten Muster waren »empirisch«, und niemand stellte sie in Frage. Die Auseinandersetzung führte nicht zu einem verstärkten Bemühen um Methoden, die der Erhärtung oder Korrektur gängiger Vergangenheitsinterpretationen dienlich gewesen wären. Die Muster, die man nachgewiesen hatte, sprachen gewissermaßen für sich selbst. Es gab Kulturen von langer Lebensdauer sowie miteinander abwech-selnde Industrien – wer konnte und mochte das bestreiten? Als sich mit immer mehr verbesserten Methoden immer mehr Muster im archäologischen Material abzeichneten, wurde klar: Mit einer der beiden oben umrissenen Ansichten über die Variabilität menschlicher Kultur war das, was man hier sah, unvereinbar. Erst

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nachdem man durch Ausfeilen der Bordesschen Methoden die archäologischen Befunde »zum Sprechen gebracht« hatte, zeigte sich der zuvor verborgene Kon-fl ikt. Die ihnen zugrundeliegende Kulturauffassung und jene Vorstellungen, die sich bei der Arbeit über die materielle Kultur nordamerikanischer Indianer ergaben, förderten die Erkenntnis fundamentaler Differenzen hinsichtlich der Auffassung und Bewertung archäologischen Materials.Bei der Diskussion über die Lebensgewohnheiten des Frühmenschen ging es lebhaft zu. Argument folgte auf Argument, und auch eine gehörige Portion blo-ßen »Sich-Aufspielens« fehlte nicht. Die Moustérien-Forschung dagegen beweg-te sich in vergleichsweise ruhigen Bahnen. Dennoch könnte auch sie von größter Bedeutung für die gesamte Archäologie sein. Denn es geht um nicht weniger als das Wesen der Kultur.

39 Vergleich der organischen und kulturbezogenen Sicht der Vergangenheit anhand eines »Lebens-baums« (nach Kroeber 1948, Abb. 18).

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5Kreuz und quer durch die Archäologie

Die Entdeckung der Vergangenheit

Denjenigen unter uns, die Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre ihre Berufslaufbahn als Archäologen begannen, wurde eine recht konservative Ausbildung zuteil. Die meisten unserer Lehrer hatten ihr Berufsleben damit zugebracht, durch Untersuchung von Form Veränderungen sowie unterschied-licher Anordnung des archäologischen Materials chronologische Probleme zu lösen. Zu der bescheidenen methodologischen Ausbildung, die ich und meine Altersgenossen erhielten, gehörte, daß wir lernten, Assemblagen miteinander zu vergleichen und zu Serien zu ordnen, wobei wir hofften, daß derartige Serien so etwas wie eine zeitliche Abfolge widerspiegelten. Auf solcher Seriation lag der Hauptakzent, und sie rangierte noch vor der Stratigraphie, der Untersuchung der Schichtenfolge, denn man glaubte damals, es gäbe – zumindest im Osten Nordamerikas – nur wenige oder gar keine gut stratifi zierten archäologischen Deponien.1 Im Zentrum aller archäologischen Methodik stand damals die Frage nach dem Zeitansatz.Dies änderte sich, als die Radiokarbondatierung erfunden wurde und man mit ihr umzugehen lernte. Viele von uns glaubten, C14 werde die chronologischen Probleme lösen, die unsere Lehrer so viel Zeit und Mühe gekostet hatten. Und hatte man diese Probleme erst einmal wenigstens zum Teil gelöst, könnte man mit dem archäologischen Material auch ökonomischer vorgehen.2 Mit anderen Worten: Hatten Geräte aus von Menschenhand bearbeiteten Steinen, Töpferwa-re und andere Produkte menschlichen Fleißes bisher dazu gedient, Fragen des Zeitansatzes zu lösen, denen man nunmehr beikommen konnte, indem man ein winziges Holzkohlenklümpchen analysierte, was sollte man dann mit ihnen an-fangen? Ließen sich ihnen vielleicht Aufschlüsse ganz anderer Art abgewinnen?3 Freilich war der Durchbruch der Radiokarbondatierung nicht der einzige Fak-tor, der bei dieser Umorientierung eine Rolle spielte. Von großer Bedeutung wa-

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ren auch andere Datierungsmethoden (wie zum Beispiel die Dendrochronologie [Baumringdatierung]), ein neuerwachtes Interesse an Geologie sowie die späte Erkenntnis, daß es in Nordamerika sehr wohl gut stratifi zierte archäologische Stätten gab. Unsere Reaktion auf all diese Veränderungen bestand darin, daß wir uns nach Mitteln und Wegen umsahen, um an neue Informationen über das Ges-tern heranzukommen und Aufschlüsse über ganz andere Bereiche zu gewinnen als nur über den Zeitansatz.Uns wurde klar: Wenn wir den Versuch wagten, auf neuen Wegen Neues über die Vergangenheit in Erfahrung zu bringen, mußten wir uns auch eine ganz neue Art und Weise aneignen, die Vergangenheit zu betrachten. Unter diesem Gesichtspunkt begann ich damals über Bestattungssitten zu arbeiten.4 Seiner-zeit gab es auch keinen amerikanischen Archäologen, der mit der Herstellung von Steingeräten experimentierte. John Witthoft war der einzige amerikanische Prähistoriker der Archäologengeneration vor mir, den Versuche unternommen hatte, selbst Steingeräte herzustellen und mit ihnen zu arbeiten.5 Ich begann meine Arbeit über die Häufungen steinernen Materials mit Reduktionssequen-zen und untersuchte vom Rohmaterial – dem steinernen Rohling – bis hin zum Fertigprodukt den gesamten Herstellungsvorgang, ohne die Nebenprodukte unbeachtet zu lassen.6 Von Witthofts Studien angeregt, fi ng ich an, über Me-thoden nachzugrübeln, den bei der Steingeräteproduktion entstehenden Abfall zu analysieren.7 Diese Versuche, dem Material beizukommen, waren ein erstes Tasten nach neuen Wegen, nach neuen Sehweisen, nach Methoden, dem schon bekannten alten Material ganz neue Seiten abzugewinnen. Im Zusammenhang damit begann ich mich schriftlich über das Stichproben-verfahren8 zu äußern, desgleichen über die Möglichkeiten einer Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung sowie statistischer Methoden bei der Ausgrabung und Analyse archäologischen Materials. Dabei stellte sich heraus, daß zwei ganz spezielle Probleme, auf die ich stieß, offensichtlich weit drängender waren. Das erste war die Frage nach den Ursprüngen der Landwirtschaft.9 Sie war nicht neu. Im Kapitel 8 werde ich ausführlicher darauf eingehen und auch darlegen, wie ich mir gegenwärtig die Lösung vorstelle. Das andere Problem war anders gelagert. In diesem Fall ging es um eine Erklärung der Vielfalt archäologischer Befunde, insbesondere der Vielfalt, die François Bordes im europäischen Moustérien fest-gestellt hatte (Kapitel 4). Hiermit machte ich mich Anfang der sechziger Jahre vertraut, und ich ereiferte mich des langen und breiten, bevor ich überhaupt etwas publizierte. Mir schien, es handle sich um ein Problem gänzlich neuer Art. Es ging ja nicht um die Beschaffenheit des archäologischen Materials. Die meis-ten von uns kannten die archäologischen Fakten, ja sogar die Fundstätten selbst und deren Inhalt. Wir glaubten Bordes und stritten uns keineswegs um seine Typologie. Vielmehr ging es um die Bedeutung der unterschiedlichen Muster, die Bordes im archäologischen Befund nachgewiesen hatte. Bevor sich die Moustéri-en-Frage erhob, hatte man sich mit derartigen Problemen noch nicht abgegeben (jedenfalls war ich bei meinen eigenen Studien über Bestattungsriten, Stein-werkzeuge und dergleichen derartigen Fragestellungen noch nie begegnet).

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Bei allen Auseinandersetzungen, an denen ich damals teilnahm, stand stets der Charakter, die Beschaffenheit des archäologischen Materials zur Debatte. Doch beim Moustérien ging es um etwas gänzlich anderes.Obwohl mir der Unterschied klar wurde, erhoffte ich noch immer die Lösung von zusätzlichen, ergänzenden Entdeckungen. Als mir dann aufging, daß das Problem durch weitere Ausgrabungen nicht zu lösen sei, meinte ich, ihm da-durch beikommen zu können, daß ich, um das bereits geborgene Material zu analysieren, andere Methoden anwandte, als man es bis dato gewohnt war. Also begann ich mit Verfahren zu experimentieren, die ich heute als pattern recog-nition techniques (»Muster-Erkennungstechniken«) zu bezeichnen pfl ege, und bediente mich interdisziplinärer Methoden, die es möglich machten, so oder so Muster sichtbar zu machen, die das archäologische Material gleichsam – bisher unerkannt – »in sich barg«.10 Sehr angetan war ich von Strategien der »Muster-erkennung«, die wir Anfang der sechziger Jahre nicht nur auf Moustérien-Funde, sondern auch auf zahlreiche andere Bereiche anwandten. Bob Whallon, Henry Wright und einige andere machten in den verschiedensten Bereichen archäolo-gischen Forschens von ihnen Gebrauch.11 Doch selbstverständlich war damit die Grundfrage nicht aus der Welt geschafft. Sie wurde nur um so dringender.

40 Bordes anfängliche Reaktion auf die funktionale Erklärung der Assemblagen-Vielfalt des Moustérien. Die Binfords bedienen sich eines ganz einfachen Verfahrens: Sie schütten Steinwerkzeuge in einen Computer, und am anderen Ende der Rechenanlage kommt ein Neandertaler heraus! (Karikatur von Pierre Laurent auf den inneren Umschlagseiten eines Sonderdrucks von de Sonneville-Bordes 1966)

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Tatsachen sprechen nicht für sich selbst

1967 erhielt ich fi nanziell die Möglichkeit,12 für mehr als ein Jahr nach Europa zu gehen, um in Bordeaux enger mit Bordes zusammenzuarbeiten. Mein Ziel war: Wenn es schon nicht anging, unmittelbar die Steinabschläge zu untersu-chen, konnten wir vielleicht auf bereits freigelegten archäologischen Niveaus faunale Überreste sowie die Verteilung derartiger Reste und von Menschen-hand gefertigter Artefakte unter die Lupe nehmen.13 Meine Arbeit in Frank-reich dauerte ein Jahr. Dabei identifi zierte und erfaßte ich sämtliche Steinwerk-zeuge und dazu die vorhandenen Tierknochen je nach ihrer Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Teilen der betreffenden Tierskelette sowie nach den Bruchmustern, die sie aufwiesen. Dann erlebte ich die erste einer Reihe von Enttäuschungen. Als man die fraglichen Fundstätten ausgrub, war jedes Stein-werkzeug in ein Koordinatensystem eingetragen worden. Man bediente sich dazu dreidimensionaler Koordinaten, so daß die Lage der betreffenden Geräte sowohl horizontal wie vertikal erfaßt und mithin in die Grund- und Aufrisse eingetragen werden konnte, die man von der Grabungsstätte anfertigte. Zweck des Ganzen war die Rekonstruktion ihrer Verteilung auf den einstigen Boden-niveaus. Die Knochen dagegen hatte man nicht mit gleicher Sorgfalt behandelt. Von ihnen wußte man jeweils nur, aus welcher Schicht sie stammten. Die Qua-lität der Daten war gut, aber leider nicht gut genug, um sie ebenso detailliert auswerten zu können wie die anderen Angaben, die mir vorlagen. Zwar war es möglich, Querverbindungen zwischen Tierrest-Assemblagen und Steinge-räte-Assemblagen herzustellen. Ein Ding der Unmöglichkeit blieb es jedoch, innerhalb der einzelnen Schichten die Verteilungsmuster von Knochen und Steingeräten miteinander zu vergleichen.Dennoch untersuchte ich eine Assemblagen-Querverbindung nach der anderen. Zum Schluß waren es so viele, daß ich einen riesigen Stahlkoffer benötigte, um meine Aufzeichnungen in die USA zu transportieren. Infolgedessen konnte ich anschließend zu Hause jede Menge von Querverbindungen zwischen jedem beliebigen Paar von Moustérien-Gerätetypen, zwischen Geräten und Knochen, zwischen Knochen und den Sickerwasser-Rinnen in den Höhlen, ja zwischen fast jeder Art archäologischer Daten herstellen, die man mir angab. Natürlich fi el mir dabei so mancherlei auf, worauf bisher noch niemand gekommen war. Doch nichts davon sprach für sich selbst. Dies galt für meine Resultate ebenso wie für meine Ausgangsdaten. Indem ich durch meine Untersuchungen das Faktenre-pertoire erweiterte und mehr und mehr Muster entdeckte, hatte ich lediglich das Ausmaß des Problems vergrößert, ohne der Lösung nähergekommen zu sein. Keine der von mir sichtbar gemachten Beziehungen ließ erkennen, warum gerade sie bestand und nicht alles ganz anders war. Sie standen als zunehmend komplexere Vergesellschaftungsmuster sozusagen mitten im statischen archäo-logischen Material.Worauf es ankommt ist, daß es mir damals angesichts einer derartigen Fülle – und nicht etwa eines Mangels – von Informationen zu dämmern begann, daß keine der

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Linien, denen ich gefolgt war, zu Erklärungen führen konnte. Von keiner durfte ich billigerweise Aufschluß darüber erwarten, was irgendeiner der von mir nach-gewiesenen Sachverhalte bedeutete. Mein Metallkoffer war so schwer, daß ich mich entschloß, zu Schiff von Le Havre nach New York zurückzukehren, und die fünf Tage dieser Atlantiküberquerung gaben mir ausreichend Gelegenheit zu für mich wenig schmeichelhafter Selbstbesinnung. Das gesamte Projekt hatte sich als Fehl schlag erwiesen. Was hatte ich falsch gemacht? Was hatte ich versäumt? War es vielleicht wirklich so, daß Archäologen nichts über die Vergangenheit in Erfah-rung zu bringen vermochten? Wo war ich vom richtigen Wege abgekommen?Noch immer besitze ich ein kleines Notizbuch, in das ich damals eintrug, was mir durch den Kopf ging. Viele der Gedanken, die ich diesem Heftchen anver-traute, fi ndet man oben im Kapitel l dieses Buches erläutert Meine erste lapidare Notizbuch-Schlagzeile lautete: »Was ist das archäologische Material?« Darunter vermerkte ich: »Das archäologische Material ist statisch«, worauf eine lange Rei-he von Eintragungen folgt. Sie alle laufen darauf hinaus, daß am archäologischen Material nichts Dynamisches ist. Und doch sind wir gerade an der Dynamik der Vergangenheit interessiert! Wir wollen wissen, was die Menschen einst taten, wie sie lebten, ob sie einander Konkurrenz machten oder solidarisch miteinander kooperierten und dergleichen mehr. Hier hegt das Grundproblem, und es be-schränkt sich keineswegs auf das Moustérien, sondern betrifft die Archäologie im allgemeinen. Wie können wir aus statischem Material Rückschlüsse auf die Dynamik vergangener Epochen ziehen? Weiter heißt es in meinem kurzen No-tizbuchabriß: »Das archäologische Material gehört unserer Zeit an. Es existiert gleichzeitig mit mir, und alles, was ich an ihm beobachte, beobachte ich hier und heute.« Aber es ist die Vergangenheit, auf die es uns Archäologen ankommt!

41, 42 Beispiele während meiner Arbeiten in Combe Grenal im Jahre 1968 angefertigter Skizzen und Diagramme Abbildung 41 (rechts) zeigt den Plan eines Teils der Schicht M. Bei Abbildung 42 (unten) handelt es sich um ein Diagramm, das die Ergebnisse einer Analayse der Steingeräte-Assemblagen von Combe Grenal im Verhältnis zu unabhängig davon festgestellten Umweltver-änderungen veranschaulicht.

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Gibt es eine Lösung in der heutigen Welt?

Als wir kurz vor Anbruch des Jahres 1969 in New York einliefen, hatte ich – zumin-dest in Gedanken – einige Antworten parat. Für das Frühjahr 1969 bereitete ich eine Forschungsreise in die Arktis vor, um dort einige Zeit bei einer Gruppe von Eskimo-Jägern zu verbringen. Zunächst hatte ich damals keinen anderen Grund als den, daß es immer gut ist, lehrreiche Erfahrungen zu sammeln. Ich war über-zeugt: Wenn ich je imstande sein wollte, aus archäologischen Fakten zutreffende Schlüsse zu ziehen, mußte ich die Dynamik lebendiger Systeme begreifen und ver-stehen lernen, zu welchen Folgen sie im Hinblick auf ihre statische materielle Hin-terlassenschaft führte. Für die Eskimos entschied ich mich aus mehreren Gründen. Erstens hatte ich in Bordeaux so gründlich Rentierknochen aus Moustérien-Fund-

43 Karte von Nordalaska. Man erkennt die Lage des Anaktuvuk-Passes und die Wanderungen der Karibuherden.

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plätzen studiert, daß ich glaubte, nie mehr welche sehen zu können. Bei den Eski-mos aber bot sich die Gelegenheit, Menschen kennenzulernen, die noch immer das gleiche Wild jagten. Zweitens boten mir die Eskimos die Möglichkeit, einen Teil der Erdbevölkerung unter die Lupe zu nehmen, der zu seinem Lebensunterhalt noch immer fast ausschließlich auf die Jagd angewiesen ist. Drittens lebten diese Eskimos unter arktischen Bedingungen, nicht unähnlich der eiszeitlichen Umwelt der von mir untersuchten Fundplätze in Frankreich (die nach Ausweis der Pollen-analyse in einer Landschaft mit denkbar kargem Baumbestand lagen: Baumpol-len waren im Pollendiagramm nur äußerst spärlich vertreten). Kurz: Der Schluß drängte sich mir auf, die einzige Möglichkeit, Methoden zur Erlangung archäologi-scher Erkenntnisse zu entwickeln, sei das Studium heute lebender Völkerschaften, seien kontrollierte Experimente unter Laborbedingungen und dadurch, daß man die statische Hinterlassenschaft von Völkern erforscht, deren lebendige Dynamik historisch gut dokumentiert ist.

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Zwischen 1969 und 1973 hielt ich mich wiederholt längere Zeit in der Arktis auf und führte dort ethnoarchäologische Forschungen durch. Dazu liegt inzwi-schen mein Buch Nunamiut Ethnoarchaeology vor.14 Meine Untersuchungen betrafen Tiernutzung und Fauna-Analysen. Um mich unmittelbar den Proble-men der Interpretation von Steingeräte-Assemblagen zuzuwenden, reiste ich 1974 nach Australien,15 wo es noch immer Ureinwohner gibt, die Steingeräte herstellen und verwenden (Kapitel 7). Ein Nebenergebnis dieser Arbeit war die Neubelebung meines Interesses an den Ursprüngen der Landwirtschaft (Ka-pitel 8). Die Erfahrungen meines Zusammenlebens mit Jägern und Sammlern hatten mich überzeugt: Wenn wir brauchbare Modelle und Erklärungen für die Ursprünge der Landwirtschaft zu erhalten wünschen, müssen wir genauestens den Spielraum der umweltbedingten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Variationsbreite von Jäger-Sammler-Völkern kennen. Schließlich wirkten in-nerhalb dieses Spielraums gewisse Auswahlmechanismen, die dazu führten, daß es zu neuen Produktionsweisen einschließlich des Ackerbaus und der Domestikation von Tieren kam. Dies veranlaßte mich, 1971 ein weitgestecktes, längerfristiges Forschungsvorhaben ins Leben zu rufen, um zu Vergleichen ge-eignete ethnohistorische und ethnographische Informationen über die Jäger- und Sammlervölker der Welt zu sammeln. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Frage, welchen umweltbedingten Veränderungen die Organisation derartiger

44 Junges Nunamiut-Eskimomädchen. Es trägt einen Anorak mit Wolfsfellkapuze und ein farben-frohes Überkleid. Anaktuvuk-Paß, Alaska (1971).

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45 Zacharias Hugo beim Häuten eines während der Frühjahrswanderung am Anaktuvuk-Paß erlegten Karibus. (Mit freundlicher Genehmigung von Robert Rausch)

46 Blick von einem Punkt unmittelbar im Norden des Eskimo-Dorfes am Anaktuvuk-Paß nach Südosten über das Anaktuvuk-Tal (Frühjahr 1971).

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Völker unterliegt. Während der gesamten siebziger Jahre konzentrierten sich meine Forschungen auf die Themen:1 Untersuchungen der archäologischen Porschungsmethoden anhand von Tie

knochenanhäufungen (Kapitel 2).2 Studien über die räumliche Verteilung der Hinterlassenschaft menschlicher

Aktivitäten und die Struktur archäologischer Fundplätze (Kapitel 3, 6 und 7).3 Vergleichende Untersuchungen von Jäger- und Sammlervölkern in weltwei-

tem Maßstab.Alle drei Vorhaben haben unmittelbar mit den beiden oben genannten Proble-men zu tun: Mit der Frage nach den Ursprüngen der Landwirtschaft und dem Problem der vielfältigen Erscheinungsformen des Moustérien.

Unfug und Neue Archäologie

Wer mit der archäologischen Fachliteratur der letzten 15 Jahre vertraut ist, wird vielleicht an den Daten meines soeben umrissenen Forschungsprogramms An-stoß nehmen. Einer der Marksteine auf dem Wege zur sogenannten »Neuen Ar-chäologie« war 1968 die Veröffentlichung unseres Sammelbandes New Perspec-tives in Archaeology. Er zeitigte Anfang der siebziger Jahre Wirkung und löste zahlreiche Diskussionen aus. Was meine Kollegen und Schüler in ihren Beiträgen zu diesem Band zum Ausdruck brachten, hatten sie zum größten Teil bereits im Lauf der sechziger Jahre durchdacht und ausgearbeitet. Auf jeden Fall handelte es sich um Gedanken, die sie bereits gefaßt hatten, bevor ich nach Frankreich

47 Das 1969 am Tulugak-See in Alaska tätige Forscherteam. Von links nach rechts: Richard Workman, Charles Amsden, Don Campbell und Lewis Binford.

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ging, um mich eingehender mit dem Moustérien zu beschäftigen. Als das Buch dann schließlich fertig vorlag, hatte ich selbst gerade eine Wende zur methoden-orientierten Forschung hin vollzogen. Als es gedruckt war, war ich im Begriff, mich sozusagen in einem Winkel von 90 Grad von meiner früheren Richtung zu entfernen und einen gänzlich anderen Weg einzuschlagen. Während all meiner Untersuchungen im Felde sowie bei meinen Materialanalysen versuchte ich, mich möglichst von den Argumenten freizuhalten, die in der Fachliteratur der siebzi-ger Jahre gang und gäbe waren. Ich stand gewissermaßen am Rande und sah zu, was aus den Argumenten wurde, die meine Kollegen und ich selbst ins Feld ge-führt, aufgegriffen und bisweilen in Richtungen weitergeführt hatten, in die sie wirklich nicht hätten gehen dürfen.16 Es ist daher zweifellos nicht verfehlt, we-nigstens in aller Kürze darzulegen, wie sich mir die Dinge darstellen und wie ich den Zusammenhang meiner eigenen Forschungsvorhaben mit den Wegen sehe, die die »Neue Archäologie« während der siebziger Jahre in den USA einschlug.Mit einem 1967 veröffentlichten Aufsatz eröffnete ich eine Diskussion der ar-chäologischen Forschung im Lichte moderner Wissenschaftstheorie.17 Zunächst

48 Dan Witters sammelt im Zuge der Forschungsarbeiten des Jahres 1972 Knochen aus einem Eskimo-Fleischvorratslager.

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ging es mir dabei um Argumente gegen bestimmte Standpunkte, die seinerzeit bei der Interpretation archäologischen Materials üblich waren. Ich ging davon aus, daß es bereits eine Schlußfolgerung sei, wenn man angesichts einer be-stimmten Anzahl archäologischer Daten erklärte, dies sei alles, was das betref-fende Material über die Geschichte derer, deren Hinterlassenschaft es darstellt, auszusagen habe. Was geschah daraufhin? Einige Archäologen beherzigten diese Argumente, taten sich in der Literatur über logischen Positivismus um und forderten an-schließend, nur noch die deduktive Methode gelten zu lassen. Eine derartige Forderung habe ich nie verstanden und verstehe sie auch noch immer nicht! Meiner Ansicht nach spielt sich unser Forschen so ab, daß wir die festgestellten Daten unter die Lupe nehmen, bestimmte Zusammenhänge (Muster) erkennen und den einen oder anderen Geistesblitz, die eine oder andere zündende Idee haben. Woher wir unsere Ideen auch immer beziehen – wir versuchen, einen Sinn in dem zu erblicken, was wir sehen. Dabei sollten wir uns jener Form der Logik bedienen, die danach fragt, wie es um das Verhältnis unseres Denkens zur realen Welt bestellt ist. Dies scheint mir der Punkt zu sein, auf den es bei deduk-tiver Beweisführung ankommt. Allerdings sei betont: All dies bedeutet weder, daß man Ideen nur auf die oben skizzierte Art und Weise faßt, noch daß von deduktiver Logik die Rede sein kann, sobald es um echte Beobachtungen und nicht um das Abwägen und Bewerten von Ideen geht. Als Beispiel der Verwir-rung, die hier herrscht, sei ein Forschungsvorhaben angeführt, das ich Anfang der siebziger Jahre im Auftrage der National Science Foundation zu begutachten hatte. Seine Initiatoren behaupteten, sich einer »logisch-deduktiven Methode« zu bedienen. Es ging darum, irgendein Flußtal zu untersuchen. Zugrunde lag die Vermutung, daß es am Flußufer Lagerstätten gegeben haben müsse, woraus man wiederum folgerte, an den Uferböschungen müßten Artefakte zu fi nden sein. Das vorgeschlagene Forschungsprogramm sollte diese Hypothese prüfen. Dabei war es barer Unsinn. Denn hätte sich die Mutmaßung als zutreffend erwiesen, hätte dies lediglich gezeigt, wie scharfsinnig derjenige war, der sie äußerte.18 Nehmen wir, zum Vergleich, an, ich behaupte, diese Buchseite sei 15,4 cm breit, und es stellt sich heraus, sie ist tatsächlich so breit, wenn ich mit einem Lineal nachmesse, so besagt dies lediglich, daß ich fähig bin, die Breite der Buchseite richtig einzuschätzen. Deduktives Argumentieren ist aber nur dann von Wert, wenn es darum geht, rein hypothetische Folgerungen aus einem Komplex von Ideen zu bewerten. Bei empirischen Feststellungen wie im Fall der beiden obi-gen Beispiele gilt dies nicht. Mithin ist das ein etwas verwirrender Aspekt der Neuen Archäologie, und die Art und Weise, wie er in der amerikanischen Archä-ologiefachliteratur behandelt wird, scheint mir wenig zur Klärung beizutragen. Ich bin der letzte, der deduktiven Schlußfolgerungen ihre Bedeutung abspre-chen wollte. Auch wenn ich einen Teil der Vorwürfe einfach hinnehmen muß – Vorwürfe, die vor allem während der siebziger Jahre überwogen —, glaube ich doch nicht allein verantwortlich zu sein. Nicht fehlen dürfen schließlich einige Bemerkungen über die ebenfalls verwirrenden soziologischen Aspekte der ame-

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rikanischen Archäologie. Anfang der sechziger Jahre trug ich in der Auseinan-dersetzung mit meinen Kollegen manchen Erfolg davon. Das Ergebnis war, daß zahlreiche junge Archäologen, durch diese Erfolge ermutigt, noch weiter gingen und noch neuere Arten von Archäologie ins Leben rufen zu müssen glaubten: Verhaltensarchäologie, Sozialarchäologie, Archäoastronomie und so fort. Viel Zeit und Energie wurde während der letztvergangenen Jahre auf diese neuen »Forschungsgebiete« verschwendet. Ich persönlich suche Diskussionen darüber möglichst aus dem Wege zu gehen, weil es sich dabei nicht um ernstzunehmende Projekte handelt, sondern um eine Art des Sich-Aufspielens von Fachgenossen unter Fachgenossen Das brachte nur Verwirrung in die Fachliteratur, Verwir-rung insbesondere für all die, die mit der amerikanischen Archäologie weniger vertraut sind. Mit diesem Aspekt der Neuen Archäologie möchte ich möglichst wenig zu tun haben.

Endziele

So etwa sieht der Weg aus, den ich im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte mit mei-nen Forschungsarbeiten beschritten habe – ein Weg, der nicht selten vom Pfad der Neuen Archäologie abwich. Er zeigt, wie meiner Ansicht nach die Prioritäten archäologischer Forschung zu setzen sind. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir eine solide Methodenlehre brauchen, um zu lernen, wie man Schlußfolgerungen zieht, und ich stelle bedauernd fest, daß uns eine solche Methodenkunde heute noch fehlt. Archäologie ist noch immer keine Wissenschaft. Mit ihr entwickelte sich ein Wust ständig weitergegebener Lehrmeinungen, derer sich fast alle Ar-chäologen irgendwann einmal bedienen, um ihre Entdeckungen zu deuten. Die meisten überkommenen Ansichten wurden nie geprüft, und wir wissen nicht, ob sie etwas taugen. Aber vor unseren Augen liegen Möglichkeiten, die es uns, so meine ich, gestatten, sehr viel genauere Aussagen über die Vergangenheit zu ma-chen. Eine derartige methodologische Forschung ist unabdingbar. Dabei sollten wir die griffi geren Probleme der Archäologie nicht vergessen. Beides muß sich zusammenfi nden und gleichsam miteinander verschmelzen, denn Methoden-forschung kann unmöglich im luftleeren Raum stattfi nden, sondern lediglich im Zusammenhang mit Problemen, deren Lösung man sich von verbesserten Methoden erhofft.Meine persönlichen Forschungsziele bleiben die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung der Landwirtschaft sowie nach den Ursachen für die Formenviel-falt des Moustérien. Mit welchen Teilaspekten archäologischer Arbeit ich mich während der letzten zwanzig Jahre auch abgegeben habe – im Grunde galt mein ganzes Forschen diesen beiden Fragen.

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6Jäger in freier Wildbahn

Eine dynamische Landschaft im Lichte ethnoarchäologischer Stätten

Fund- und Grabungsstätten sind des Archäologen Brot. Sein Bild der Vergan-genheit beschränkt sich zwangsläufi g auf diese einzelnen, isolierten Punkte in der Landschaft. Es ist eine ortsgebundene, punktuelle Betrachtungsweise. Und doch waren Jäger und Sammler einst außerordentlich beweglich. Jede Fundstät-te bietet daher nur ein Teilbild, ja ein verzerrtes Bild ihres Tuns und Lassens. Ausschlaggebend ist dabei die Lage der Stätte. Beispielsweise könnte man sich vorstellen, daß die von Bordes nachgewiesenen unterschiedlichen Steingeräte-Assemblagen des Moustéerien jeweils nur winzige Ausschnitte des Gesamtver-haltensmusters einer und derselben Gruppe von Wildbeutern darstellen.Als ich im Begriff war, die Ursachen der archäologischen Vielfalt des Mittelpalä-oli-thikums aus diesem Blickwinkel unter die Lupe zu nehmen, fühlte ich mich durch völkerkundliche Berichte über die Landschaftsnutzung durch Jäger und Sammler in meinen Auffassungen bestätigt. Allerdings gab es noch keine detail-lierten Untersuchungen darüber, wie sich die Nutzung bestimmter Örtlichkeiten (der archäologischen Fundstätten) in das gesamte System der Anpassung fügte. Desgleichen galt es, technische Varianten und deren Ortsbedingtheit zu untersu-chen – eine Idee, auf die noch niemand gekommen war. Hauptsächlich aus diesen Gründen ging ich nach Alaska, um mich intensiv mit den Nunamiut-Eskimos zu befassen. Ich versuchte, die Dynamik der Wander- und Siedlungsgepfl ogenhei-ten dieser Eskimos aus archäologischer (das heißt: aus fundstättenorientierter) Sicht zu betrachten. Zwar bestätigten meine Forschungen in großen Zügen, was ich über das Zustandekommen von Fundstätten und Fundstätteninhalten vermutete. Allerdings zeigten sie auch klar und unzweideutig: Wir Archäologen verfügen noch keineswegs über geeignete Methoden, um mit Hilfe des uns vor-liegenden Datenmaterials die komplizierten Muster der Landschaftsnutzung

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sichtbar zu machen, die auch bei rezenten Wildbeutern feststellbar sind.Um zu verdeutlichen, worum es dabei geht, werde ich einige der Plätze beschrei-ben, die ich während meines Forschungsaufenthaltes bei den Nunamiut-Eski-mos im Bereich des Anaktuvuk-Passes in Alaska untersuchte, kartographierte und photographisch aufnahm. Beginnen will ich dabei mit Landnutzungs- und Siedlungsmustern größeren Maßstabes, um schließlich zu einzelnen Fundstät-tengruppen überzugehen, wobei man an bestimmten Einzelfundstätten nur ganz bestimmte Aktivitäten ausübte. Diese Beispiele sollen verdeutlichen, wor-aus jene Vielfalt resultieren kann, die für die Archäologie nichtseßhafter Völker (darunter wohl auch der Menschen des Moustérien) charakteristisch ist.

49 Lage der von einer einzigen Nunamiut-Familie im Verlauf ihrer jährlichen Wanderung be-wohnten Plätze (1947/48).

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Die Landnutzung und ihre Größenordnung

Die Nunamiut nutzen die Landschaft in großräumigem Maßstab. Das aber bedeutet, daß sich die Archäologen von den 1,5 Quadratmetern einer Einzel-grabung auf Flächen in der Größenordnung von mehr als 300000 Quadratkilo-metern umstellen müssen. Sehen wir von gewissen Ausnahmen im äquatorialen Bereich ab, dann ist dies das Territorium, das eine typische Jäger- und Samm-lergruppe von vielleicht nur 30 bis 40 Personen zum Leben beansprucht und eifersüchtig bewacht. Selten nutzen sie das gesamte Gebiet gleichzeitig, doch benötigen sie die gesamte Region, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Um klar-

50 Lage der Siedlungsplatze, die fünf Nunamiut-Familien im Laufe von fünf Jahren bewohnen. Die Verteilung dieser Wohnplätze entspricht dem Kernwohngebiet der betreffenden Eskimo-Gruppe während der fraglichen Zeit.

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zumachen, was eine so kleine Schar von Mensehen mit einem so riesigen Raum anfängt, sei zunächst das Terrain betrachtet, das eine Gruppe der Nunamiut während einer bestimmten Zeitspanne benötigt. Danach soll gezeigt werden, wie Veränderungen im Laufe längerer Zeiträume schließlich zur Nutzung eines so immensen Gebietes führen.Als Ausgangspunkt nehmen wir den Bereich, innerhalb dessen eine Nunamiut-Gruppe während eines Kalenderjahres ihre Wohnstätten errichtete. Dieses Kern-wohngebiet kann bis zu 5 400 Quadratkilometer Flächeninhalt haben. Das Land al-lerdings, das seine Bewohner darüber hinaus benötigen, um sich mit Nahrung und anderen Gebrauchsgütern zu versorgen, umfaßt bis zu 25000 Quadratkilometer.

51 Vergleich der Kernwohngebiete der Nunamiut-Eskimos und der G/wi-Buschmänner mit der Gegend im Dordognegebiet, in der sich die »klassischen« Moustérien-Fundstätten befi nden (vgl. Kapitel 4).

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Dabei sind die Eskimos – dies sei hier besonders betont – in keiner Weise aty-pisch, was ihre Raumnutzung angeht: Die Kernzone, die eine G/wi-Buschmann-familie im Laufe von elf Monaten durchstreift, zeigt: Auch andere Jäger-und-Sammler-Gruppen durchmessen ungeheuer weite Landstriche.1

Was bereits eine kleine Menschengruppe, die auf diese Weise im Land umher-zieht, an archäologischem Material hinterläßt, muß enorm komplex sein, wenn die Nuna-miut repräsentativ sind. Abbildung 50 zeigt, wo fünf Eskimofamilien innerhalb von fünf Jahren ihre Wohnstätten aufschlugen. Zunächst fällt dabei auf, wie umfangreich ein solcher Siedlungskern einer vergleichsweise doch kleinen Menschengruppe ist. Überraschend genug: Diese fünf Nunamiutfami-lien beanspruchen so viel Raum für sich wie das gesamte Dordognegebiet in Südwestfrankreich, wo die klassischen Moustérien-Fundstätten anzutreffen sind! In Anbetracht der Tatsache, daß Jäger-und Sammlergruppen derart ausge-dehnte Landstriche durchstreifen, dürfte Bordes Behauptung kaum aufrecht zu halten sein, die Unterschiede des Gerätebestandes in verschiedenen Schichten der Dordogne-Fundstätten spiegelten vier klar gegeneinander abgegrenzte Kul-turgruppen. Das Problem ist, daß die Archäologen bei ihren Forschungen an pa-läolithischen Fundstätten meist von der heute üblichen seßhaften Lebensweise ausgehen. Doch die Jäger- und Sammlerstämme, die es hier zu untersuchen gilt, zeigten ein anderes Verhalten – eine Realität, mit der wir unsere Betrachtungs-weise stärker in Einklang zu bringen versuchen sollten! Abbildung 50 ermöglicht uns aber auch noch eine zweite wichtige Beobachtung. Nicht nur, daß die Zahl der eingezeichneten Örtlichkeiten erheblich größer ist, als daß es sich wirklich um Wohnstätten handeln könnte, die eine einzige Fa-milie im Lauf eines Jahres benutzte – auch die Archäologie gestaltete sich recht kompliziert. Dies insbesondere deshalb, weil gewisse Plätze allem Anschein nach mehrmals im Jahre bewohnt waren, andere dagegen nicht. Wie oft man einen solchen Platz wiederbenutzte, war offenbar ausschlaggebend für das Ausmaß der Artefaktenstreuung, desgleichen der Distribution anderer Objekte. Plätze, die man häufi ger aufzusuchen pfl egte, haben also einen bedeutend größeren Durchmesser und enthalten mehr Material als andere, wo man sich nur wenige Male (oder gar nur einmal) aufhielt. Dies wiederum bedeutet: Unterschiede der räumlichen Ausdehnung von Fundstätten – ein von Archäologen stets sorgfältig beachtetes Charakteristikum – zeugen nicht notwendigerweise von Unterschie-den der Größe oder der sozialen Zusammensetzung der einst dort wohnenden Gruppen, sondern spiegeln einfach wider, wie oft eine und dieselbe wandernde Schar im Zuge ihrer Landschaftsnutzung den betreffenden Platz aufsuchte.2 Die Auffassung Richard Mac Neishs3 und anderer Gelehrter, die aus der Größenord-nung von Fundstätten Rückschlüsse auf Größenunterschiede der einst an den fraglichen Plätzen hausenden Menschengruppen ziehen wollten (sie unterschie-den zwischen microbands und macrobands), ist daher wohl kaum zutreffend.Jedenfalls ergibt sich aus meinen Beobachtungen bei den heutigen Nunamiut: Wir können nicht länger Größen- und Typunterschiede zwischen einzelnen Fundstätten kurzerhand der Bevölkerungsgruppe in die Schuhe schieben, die

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einst an den betreffenden Plätzen hauste, bevor wir nicht mehr über die Fakto-ren in Erfahrung gebracht haben, die zur Verteilung der Überreste an all diesen Fundstellen beitrugen.

Landnutzung und Lebenszyklen

Das Landnutzungsmuster der Nunamiut läßt aber auch noch einen anderen Faktor erkennen, der nicht ohne Einfl uß auf das archäologische Material ist. Überraschenderweise halten sich Jäger und Sammler nicht ausschließlich in einem Gebiet auf, sondern bewohnen – ganz im Gegensatz zu den Erwartun-gen mancher Archäologen – verschiedene Gebiete, wo sie bleiben, bis sich die

52 Auf Interviews mit Eskimo-Informanten beruhendes Modell der Landnutzung durch die Nu-namiut während der Lebensspanne eines einzigen Menschen.

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53 Kartenskizze des Anaktuvuk-Tals in Alaska, auf der die im Text erwähnten Örtlichkeiten einge-tragen sind.

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Umweltbedingungen verschlechtem. So sind oft nach einer Reihe von Jahren die Feuerholzreserven erschöpft, die Zahl der jagdbaren Tiere nimmt ab – und nun wandert die Gruppe anderswohin, wo entweder noch kein Umweltschaden eingetreten oder bereits alles wieder nachgewachsen ist, dessen man zum Leben bedarf. Die Nunamiut beispielsweise bleiben in einem derartigen Kernwohnge-biet meist annähernd zehn Jahre. Anhand von Interviews mit älteren Eskimos gelang es mir, ein Diagramm aufzustellen, dem sich entnehmen läßt, wie im ide-altypischen Falle die Nutzung einer Region durch die Nunamiut in Korrelation zur Lebensspanne einer einzelnen Person steht.4 Und zwar gehe ich dabei von einer zyklischen Landnutzung aus. Das Kernwohngebiet, wo die hypothetische Person geboren wird, bezeichne ich in diesem Schema als Geburtszone. Hat sich die Stammesgruppe erst vor kurzer Zeit dort niedergelassen, kann das neuge-borene Stammesmitglied damit rechnen, etwa zehn Jahre dort zu verbleiben, bis der Umzug zu einem völlig neuen Kernwohngebiet erfolgt, das zuvor seit mindestens 50 Jahren unbewohnt war, so daß es sich regenerieren konnte. Dieses zweite Wohngebiet bezeichnen wir bei männlichen Individuen als Reifezone, bei weiblichen dagegen als Brautwerbungszone (weil Mädchen mit etwa 16 Jahren heiraten, die jungen Männer dagegen mit der Heirat warten, bis sie ungefähr 20 Jahre alt sind). Der Jüngling lernt nun jagen, ist stets unterwegs und wird mit seinem Lebensraum vertraut. Nach weiteren zehn Jahren ist es abermals Zeit, sich auf Wanderschaft zu begeben. Nun betritt der Mann seine Brautwerbungs-zone. Seine Schwestern dagegen bekommen bereits ihre ersten Kinder. Heiratet schließlich auch der Mann, zieht er in den Wohnbereich der Familie seiner Frau. Sechs bis acht Jahre später – der Mann steht nun meist in der Blüte seiner Kraft und auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn als Jäger – erfolgt ein neuer Aufbruch in ein anderes Gebiet. Wem das Glück treu ist, der geht jetzt in die Stammesü-berlieferungen ein. Man erzählt sich von seinen Taten, benennt markante Ge-ländepunkte (so etwa besonders auffällige Felsformationen an einer Furt) nach ihm, mochten sie zuvor auch bereits einen anderen Namen gehabt haben. Etwa vom 40. Lebensjahr an erlahmen die Fähigkeiten eines Jägers immer rascher. Bei den meisten Männern läßt in diesem Alter bereits die Sehkraft nach, außerdem fällt es ihnen immer schwerer, Berge zu ersteigen und dergleichen mehr. Jetzt kehrt der Jäger in der Regel in das Gebiet seiner Geburt zurück und vollendet damit seinen lebenslangen Raumnut-zungs-Kreislauf. Das Greisenalter, in das er nun eintritt, macht ihn abhängig von seinen Stammesgenossen. Ist er doch immer weniger imstande, für sich zu sorgen. Alles in allem bewohnt also ein einzelnes männliches Individuum im Lauf seines Lebens etwa fünf verschiedene Areale von insgesamt bis zu 22000 Quadratkilometern Flächenraum. Rechnet man sämtliche Wanderungen, Jagdzüge und dergleichen hinzu, kommt noch weit mehr zusammen. Im Endeffekt beträgt die Fläche des Terrains, das ein männlicher Nunamiut-Eskimo im Lauf seines Lebens durchstreift, im Durch-schnitt etwa 300000 Quadratkilometer. Infolgedessen hat jede Nunamiut-Gruppe zu jedem beliebigen Zeitpunkt rund viermal soviel Land zur Verfügung, wie sie tatsächlich zu ihrem Lebensunterhalt braucht. Das gleiche Raumnutzungs-

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muster fi ndet sich auch bei den Ureinwohnern in der Wüste Mittelaustraliens sowie bei den Naskapi (dem nordöstlichsten Stamm der Algonkin-Indianer) auf der Labrador-Halbinsel (in der kanadischen Provinz Neufundland). Jäger-Sammler-Gruppen wie diese benötigen über längere Zeitspannen hinweg enorm viel Raum, nutzen aber von Fall zu Fall jeweils nur sehr viel kleinere, separate Teilgebiete. Diese riesigen Größenordnungen müssen wir berücksichtigen, wenn wir versuchen, die Unterschiede und Veränderungen der archäologischen Hin-terlassenschaft an unterschiedlichen Wohnplätzen nicht seßhafter Wildbeuter zu verstehen.

Der Komplex von Anavik Springs

Wir haben gesehen, wie Wildbeutergruppen eine Reihe separater, nicht miteinan-der zusammenhängender Gebiete nutzen. Jetzt geht es uns darum, wie innerhalb

54 Lage der unterschiedlichenen Komponenten des Komplexes von Anavik Springs.

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eines Kernwohngebiets die Aufgaben verteilt sind, die man einzelnen Teilberei-chen zugedacht hat. Am weitesten kommen wir hierbei mit der Untersuchung von Ballungszonen, die ich als Komplexe bezeichnen möchte. Unter einem derartigen Komplex (oder »Stättenkomplex«) verstehe ich bei aller Ballung doch deutlich voneinander geschiedene Plätze, wo man verschiedene ineinandergreifende bzw. einander ergänzende Tätigkeiten ausübt, die insgesamt als Bestandteile einer umfassenden Lebensstrategie anzusehen sind. Meine ethnoarchäologischen Un-tersuchungen in Dörfern der Nunamiut-Eskimos erbrachten mehrere derartiger »Bausteine«, aus denen sich die Nunamiut-Kerngebiete zusammensetzen.Der Komplex von Anavik Springs besteht aus drei deutlich voneinander getrenn-ten Plätzen, an denen man Arbeiten verrichtete, die miteinander zu tun hatten. Und zwar geschah dies, wenn man die im Frühjahr auf ihrer üblichen Route über den Anaktuvuk-Paß nach Norden ziehenden Karibuherden jagte. Über den An-aktuvuk Paß führt der Weg in die fl ache, offene Tundra. Die funktional miteinander

55 Jagdlager im Uferweidenbestand von Anavik Springs.

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in Verbindung stehenden Plätze bestehen in diesem Falle:1. aus einem Jagdlager (einschließlich eines besonderen »Liebeslagers«),2. einem Schlachtplatz mit besonderen Zonen für das Ausweiden und Zerlegen

der getöteten Jagdbeute und3. einer Reihe steinerner caches (»Verstecke«, »verborgener Vorratslager«), in

denen man das Fleisch der erlegten Tiere aufbewahrte.An allen drei Plätzen, die bis zu einem Kilometer voneinander entfernt sind, ging man völlig verschiedenen Tätigkeiten nach, doch alle drei dienten letztlich dem gleichen Zweck (der Nutzung der Karibuherden), ja im Regelfall benutzte eine und dieselbe Menschengruppe alle drei an einem und demselben Tage.

Das zeitweilige Jagdlager

Den ersten Teil des Komplexes von Anavik Springs bildet ein nur vorüberge-hend benutztes Jagdlager, in dem die Nunamiut-Jäger hauptsächlich während der Karibuwanderung wohnten. Archäologisch betrachtet, erweckt dieser Platz den Eindruck einer einzigen Fund- bzw. Wohnstätte von 500 m Länge in kon-tinuierlicher Verteilung von Siedlungsüberresten. In Wirklichkeit jedoch stellt diese anscheinend bruchlose Häufung von Abfällen nicht die Hinterlassenschaft einer einzigen Bewohnergruppe dar, sondern rührt von wiederholter Benutzung dieses Platzes im Laufe mindestens der letzten 100 Jahre her. Die Überreste der zahlreichen Besiedlungsphasen während dieses langen Zeitraums gehen inein-ander über.

Das Liebeslager

Glücklicherweise konnte ich mit Hilfe von Informanten, die selbst in Anavik Springs gewesen waren, aus diesem gleichmäßig verteilten archäologischen Material noch einige Lagerplätze besonderer Art aussondern. An einem davon,5 wir bezeichneten die Fundstätte mit dem Buchstaben J, läßt sich beobachten, daß sich ein bestimmtes Muster – ein Ring von Steinen, die als Zeltbeschwe-rung dienten, dazu eine Kochstelle unter freiem Himmel – dreimal wiederholt. Diese Gruppe war nur ein einziges Mal bewohnt. Fundstätte J ist kein Teil des Karibu-Jagdkomplexes im Frühjahr. Dennoch ist sie außerordentlich interes-sant, wirft der Brauch, von dem sie zeugt, doch ein bezeichnendes Licht auf eine Sonderform der »Arbeitsteilung«, die bei diesen Jäger-Sammler-Gruppen gang und gäbe ist, obwohl sich die völkerkundliche Literatur darüber aus-schweigt.Im Spätsommer gehen die Vorräte zur Neige, die von den Eskimos nach der Frühjahrswanderung der Karibus angelegt wurden. Was von dem Fleisch der im Frühjahr erlegten Jagdtiere nicht verzehrt ist, ist größtenteils ungenießbar geworden, wozu ganz erheblich in die Fleischvorratslager eingedrungener Re-gen beigetragen hat. Auch von dem so begehrten schmackhaften Fett ist nichts

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mehr übrig. Schlimmer noch: Zur fraglichen Jahreszeit ist in der Nähe der Wohn- und Frühjahrsjagdlager auch kaum noch Wild zu erjagen. Abgesehen von ein paar vereinzelten Hirschen, die sich jedoch bis zu den Gletschern hoch in die Berge zurückgezogen haben, weidet die Mehrzahl der Karibus weit im Norden, und auch Bergschafe sind in dieser Jahreszeit nur mit Mühe zu stellen. Um überhaupt jemanden dazu zu bringen, sich trotz all dieser Widrigkeiten auf die Suche nach Wild zu begeben, verfi elen die Nunamiut auf ein faszinierendes Anregungsmittel: Im Spätsommer erlauben sie jungen Liebespaaren, zusam-menzuleben – dies allerdings nicht im Hauptwohnlager, sondern weit ab in besonderen Jagdlagern (den sogenannten »Liebeslagern«). So hat jeder seinen Vorteil. Die älteren Leute bleiben unter sich, und da sie nun weniger sind, rei-chen die schwindenden Vorräte länger. Die jungen dagegen ernähren sich von dem, was sie trotz der schwierigen Jahreszeit auf freier Wildbahn antreffen. Haben sie großes Jagdglück, bringen sie vielleicht neues Frischfl eisch nach

56 Spätsommer-Jagdlager J (sogenanntes »Liebeslager«) in Anavik Springs.

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Hause, an dessen Verzehr sich auch die Alten beteiligen können. Wenn nicht, hungern sie zwar, doch tröstet die Liebe sie darüber hinweg! Gleiches wird von den Washo-Indianern berichtet, freilebenden Jägern und Sammlern in der Nähe des Lake Tahoe in Kalifornien.6 Zu Frühlingsanfang, sobald die Fleischvorräte knapp werden, erlaubt man auch dort jungen Liebespaaren, an weit abgelege-nen Plätzen Lager zu schlagen, wo die Chancen, sich mit Nahrung zu versorgen, ziemlich gering sind. Doch man denkt sich wohl, daß die jungen Leute über grö-ßere Widerstandskraft und Durchhaltever-mögen verfügen, wenn man ihnen nur den rechten Anreiz gibt. Da es sich beim Lager J um eines dieser Liebeslager handelt, entspricht die Verteilung des archäologischen Materials nicht den ande-ren Jagdlagertypen, die in Anavik Springs die Mehrzahl bilden. Normalerweise verspeisen die Nunamiut die zum Mahle ausgesuchten Fleischstücke an einem gemeinsamen Herd. Im Liebeslager jedoch verzehrt jedes junge Paar sein Mahl für sich im eigenen Zelt. Außerdem enthält Lagerplatz J keinerlei Rückstände irgendeiner Art von Geräteherstellung oder -ausbesserung. Diese Unterschiede des archäologischen Befundes sind zwar geringfügig, jedoch genau von der Art, die man erwarten und sicherlich auch verwenden kann, um eine entsprechende Form der Arbeitsteilung an Fundstätten aus weit zurückliegender Vergangen-heit nachzuweisen.

Die Zubereitung der Beute

Der zweite Bestandteil des Komplexes von Anavik Springs – der eigentliche Schlachtplatz, wo man die erlegten Karibus ausweidet und zerlegt – unterschei-det sich völlig von jenen kleinen Zeltringhäufungen, wie man sie im temporären Jagdlager vorfi ndet. Sobald die Karibus durch das Tal ziehen, schießt man sie von erhöhten Punkten (die auf Felsblöcken usw. liegen) aus ab.7 Die getroffenen Tiere schleppt man an einen besonderen Platz, um sie auszuweiden. Das nach der Frühjahrsjagd hier festgestellte Durcheinander von Karibuknochen ließ auf nicht mehr als 54 erlegte Karibus schließen. Dabei wissen wir, daß an diesem Platz mehr als 111 Karibus ausgeweidet und zerlegt worden waren. Auf meiner Planskizze dieser Schlachtstätte erkennt man zwischen den umhergestreuten Knochen einzelne freigebliebene Räume. Hier wurde jeweils ein totes Karibu zerlegt. Um einem erlegten Tiere das Fell abzuziehen und Fleischportionen zur Konservierung bzw. zum Gebrauch abzuschneiden, legt man den Kadaver auf einen von anderen Überresten freien Platz, wo man die Arbeiten zur Fell- und Fleischverwertung durchführt. So entsteht ein kreisförmiges freies Feld, an des-sen Rand sich – in gebührender Entfernung von dem zu be-, bzw. zu verarbeiten-den Tierkadaver – Abfälle häufen. Auch Abfälle, die sich beim Retuschieren und Neuschärfen der beim Zerlegen verwendeten Steinwerkzeuge ergeben (Stein-splitter also), werden am Rande dieses kreisrunden Areals abgelegt, in dessen Zentrum man das tote Jagdwild häutet, ausweidet und zerteilt. Vier Herde gab es an diesem Schlachtplatz, die von den Jägern benutzt wurden. Ringsherum er-richtete man jeweils eine Art Windschutz aus im Herbst abgeworfenen Geweihen

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57 Karibuschlachtplatz der Nunamiut-Eskimos. Im Hintergrund der Beginn des Anavik-Tals.

58 Blick über den Karibuschlachtplatz von Anavik Springs.

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59 Plan des Schlachtplatzes von Anavik Springs nach der Frühjahrsjagd auf Karibus. Man erkennt die VerteiHerdstellen und Tierüberreste.

60 Detaillierter Plan der Herdzone, wo man sich von der Arbeit erholte, und der benachbarten ArbeitspKaribuschlachtplatz von Anavik Springs.

61 Detailskizze des Karibuschlachtplatzes von Anavik Springs mit einigen der kreisrunden Areale, in dendie getöteten Tiere zerlegte. Desgleichen erkennt man die Lage der Abfälle.

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(dies aber – wohlgemerkt – an einer Stätte, wo man sich im Frühjahr aufhielt!). Beim Ausschlachten des Wildes bekommt man kalte Hände. Daher sitzen die Männer hin und wieder im Windschatten der Geweihe, um sich die Hände am Feuer zu wärmen und sich auch mit ein wenig frischem Mark aus den Knochen der soeben erlegten Jagdbeute zu stärken. Rings um diese Herde liegen völlig andere Knochenreste verstreut als etwa an den Schlachtplätzen oder im zuge-hörigen Jägerlager, wohin die Männer zurückkehren, nachdem sie ihre Arbeit getan haben.

Fleischvorratsplätze

Das dritte Element des Komplexes von Anavik Springs bildet ein Platz, wo man in einem recht großen Steinbau von etwa vier Meter Durchmesser Fleisch ein-lagerte. Derartige steinerne Fleischaufbewahrungsorte (caches [wörtlich: »Ver-stecke«])8 sind dauerhafte Einrichtungen, die man gewöhnlich in der Nähe von Schlachtplätzen fi ndet. Sie haben die Funktion zentraler Magazine, zu denen sich die einzelnen Stammesmitglieder das ganze Jahr hindurch begeben können, um für ihre Gruppe Nahrung zu holen. So vermeidet man den mühseligen Transport all der im Frühjahr anfallenden Fleischmassen zu den einzelnen Wohnplätzen, die der Stamm im Laufe seiner unterschiedlichen, jahreszeitlich bedingten Aktivitäten aufsucht. In den Caches lagert man das Fleisch schichtenweise ab. Zwischen die einzelnen Lagen legt man Steine oder Holzscheite, um Luftzir-kulation zu gewährleisten. Die Fleischschichten bilden innerhalb des cache ein strahlen- bzw. sternförmiges Muster. Schließlich wird das Ganze fest mit Steinen verschlossen. Daß man die Mühe auf sich nimmt, derartige Steinbauten zum An-legen von Fleischvorräten zu errichten, zeigt, welch lebenswichtige Bedeutung Fleisch für die Nahrungsmittelversorgung der Nunamiut hat.Ein Archäologe könnte sich durch diese massiven Steinbauten an Häuser erinnert fühlen, doch werden die caches von den Nunamiut nie als Wohnbauten benutzt. Tatsächlich lassen diese steinernen Vorratsbauten an gewisse »Grubenhäuser« denken, wie man sie von altsteinzeitlichen Fundstätten aus der Sowjetunion kennt.9 Daher ist zumindest die Frage erlaubt, ob es sich auch bei jenen »Gruben-

62 Großer Steinbau (cache) für Fleischvorräte. Er erinnert an entsprechende Bauten am Talnord-hang oberhalb des Schlachtplatzes von Anavik Springs. Der abgebildete Steinbau stammt aus einem ganz ähnlichen Komplex an der Mündung des Kongumuvuk-Tals (zur genauen Lage vgl. Abb. 53).

63 Angebliche Grubenhäuser einer paläolithischen Grabungsstätte in der Sowjetunion. (Mit freundlicher Genehmigung von Olga Soff er)

64 Am Nordrand des herbstlichen Jagdlagers am Kongumuvuk-Bach (Platz Nr. 13 auf Abb. 53): an Weidenästen zum Trocknen aufgehängtes Karibufl eisch.

65 Gestell zum Trocknen von Karibufl eisch an einem Frühjahrsjagdplatz am Kongiimuvuk-Bach (Platz Nr. 8 auf Abb. 53).

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häusern« gar nicht um Häuser, sondern – wie bei den Steinbauten der Eskimos – einfach um Caches, um Anlagen zur Fleischaufbewahrung, handelte …Außerhalb derartiger steinerner Vorratshäuser gibt es an Schlachtplätzen eine Fülle von Möglichkeiten, Fleisch zu konservieren und aufzubewahren. Solange sich die Temperatur unter dem Gefrierpunkt hält, kann man Fleischstücke oder sogar ganze Tiere einfach auf dem Boden stapeln. Gewöhnlich markiert man derartige Stapelplätze mit Geweihen, um sie auch dann wiederfi nden zu können, wenn alles zugeschneit ist. Während anderer Jahreszeiten hängt man Fleisch zum Trocknen auf improvisierte Holzgestelle. Vorübergehende Fleischvorrats-lager an Jäger-Camps bestehen nicht selten einfach aus einer Leine, an der man Fleischstücke zum Trocknen aufreiht, und wo man über keine Leine verfügt, hängt man das Fleisch in die Äste von Weidengebüschen. Archäologisch würden sich derartige Fleischvorratslager als (im Fall der Leine) lineares Verteilungs-muster großer Tierknochen abzeichnen. All diese Arten von Fleischvorräten bilden zentrale und so gut wie nie versiegende Hilfsquellen, auf die die Nuna-miut jederzeit zurückgreifen können, wenn sie auf der Suche nach zusätzlicher, frischer Nahrung ihre Jagdgründe durchstreifen.

Komplexe am Tulugak-See

Meine Untersuchung von Gruppen funktional zusammenhängender Lager- und Arbeitsplätze ergab: Eine Abfolge unterschiedlicher, wenn auch auf das gleiche Ziel hin gerichteter Aktivitäten muß durchaus nicht an einem und demselben Platz stattfi nden. Weiterhin können Plätze scheinbar völlig verschiedenen Charakters auf eine und dieselbe Verhaltensweise zurückzuführen sein, die sich allerdings in eine Fülle von Teilaktivitäten gliedert. Eine der erregendsten Gruppen ethnoarchäologischer Fundstätten-Komplexe (wobei es sich um Nu-namiut-Plätze handelt) fi ndet sich im Gebiet rings um den Tulugak-See, einer an natürlichen Hilfsquellen überreichen Region. Der See ist tief genug, um eine begehrte, fetthaltige Fischart zu beherbergen, die man als Seeforelle bezeichnet. Vom Frühjahrstauwetter gespeiste Bäche münden in den See – Bäche, fl ankiert von Weidenbeständen, die eine wichtige Feuerholzbezugsquelle darstellen. Au-ßerdem führen mehrere Karibuwanderrouten beiderseits am See vorbei.

Steinsetzungen für den Kaributrieb

Überwältigend ist die Vielfalt der archäologischen Überreste am Tulugak-See, die mit der Nutzung der Karibuherden zusammenhängen. Beispielsweise trieb man die Karibus zwischen Barrieren, wobei man sich natürlicher Landschaftselemente bediente – so etwa als eskers bezeichneter Reihen paralleler Hügel, die von frühe-rer Gletscheraktivität herrühren. Auch von Menschenhand geschaffene Elemente gehören hierher, die ohne entsprechende Informationen kaum zu identifi zieren wären. Außer Funktion, sehen diese von Menschen errichteten Bestandteile, die

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66 Karte des Gebiets um den Tulugak-See mit einzelnen Plätzen und Platzkomplex.

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ich als soldier rocks (»Steinsoldaten«, »Steinmänner«) bezeichne, wie ganz ge-wöhnliche Steinhaufen aus. Wenn jedoch Jagdzeit ist und die Eskimos mit Hilfe dieser Gebilde Karibus bergaufwärts oder in (teilweise natürliche) Gehege am Seeufer treiben, bedecken die Jäger diese soldier rocks mit Moos, so daß sie beina-he Menschengestalt annehmen. Dann breitet man alte Kleidungsstücke über sie, um die Karibus zu erschrecken, sie in Bewegung zu halten und dorthin zu scheu-chen, wohin die Jäger sie gern hätten, um ihrer habhaft zu werden.

Ansitze für Karibujäger

An einem der Wege für den Kaributrieb, der in Seenähe bergwärts führt (man macht sich dabei zunutze, daß Karibus, wenn sie sich bedroht fühlen, stets bergauf fl iehen), lokalisierten wir 70 kleine Jägerverstecke, in denen Nunamiut-Männer ihrer Beute aufl auern. Jeder dieser »Ansitze« (oder »Anstände«) ist ein festes Bauwerk. Teils sind die betreffenden Anlagen in den Berghang gegraben, teils bestehen sie einfach aus einem Mäuerchen. Sie haben eine Doppelfunk-tion: Die Jäger können sich hier nicht nur vor dem herannahenden Jagdwild verstecken, sondern sind auch vor dem Wind geschützt, wenn sie auf das Wild warten, was manchmal bis zu acht, ja zwölf Stunden dauern kann. Klar, daß sie während der langen Wartezeit manchmal entsetzlich frieren, aber ein offenes Feuer würde die Karibus verscheuchen. Doch die Männer fanden einen anderen Weg,

67 »Steinsoldaten« (bzw. »Steinmänner«) fl ankieren den bergauf führenden Kaributrieb östlich des Tulugak-Sees (zur genauen Lage vgl. Abb. 66)

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um sich Wärme zu verschaffen: Sobald sie in ihrem Ansitz oder Anstand eintreffen, tra-gen sie die Steine des Mäuerchens ab und errichten einen mächtigen Herd. Sobald das Feuer lichterloh brennt, packt man die Mauersteine hinauf und läßt es ausglühen. Die Steine speichern die Hitze und geben – längst wieder zum ursprünglichen Mäuerchen zusammengesetzt – immer noch Wärme ab. Die Jäger können sich an sie schmiegen und brauchen beim Warten auf die Karibus nicht unter der Kälte zu leiden. Auch eine ent-sprechende Kombination von Herden und Gemäuer fand sich an manchen paläolithi-schen Plätzen in der Sowjetunion.10 Dabei möchte man nur zu gern wissen, warum man in aller Welt dort ausgerechnet an Haus-Wänden Feuerstätten angebracht haben soll, zumal wenn die vorgeschlagene Rekonstruktion mit einem Felldach zutrifft. Könnte es sich bei den fraglichen Baulichkeiten nicht um ähnliche Jagdansitze oder Anstände wie bei den Nunamiut handeln?

68 Plan dreier aus dem 19 Jahrhundert stammender Jagdansitze entlang des Kaributriebs am Berghang östlich des Tulugak-Sees (genaue Position s. Abb 66). Man beachte die von kleineren Mahlzeiten sowie von Reparaturen an Geräten herrührenden Abfälle, desgleichen das Geweih-versteck (man wollte das Geweih aufheben, um Pfeilspitzen daraus herzustellen). Die durch Kreuzschraffur markierten Herde innerhalb der Mäuerchen sollten den auf die Karibuherden wartenden Jägern Wärme spenden.

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Ihrem Grundriß nach sind diese Nunamiut-Ansitze kleine, halbkreisförmige Gebilde von etwa 2,4m Durchmesser.11 In einem davon fanden wir Überreste aus der Zeit, bevor die Nunamiut lernten, mit Gewehren umzugehen. Diese Über-reste verraten, was man einst hier trieb. Knochensplitter, die davon herrühren, daß man Röhrenknochen zerbrach, um das Mark zu gewinnen, desgleichen winzige Knochenfragmente vom Zertrümmern gelenknaher Knochenenden (der Gelenkknorpel), aus denen man Brühe bereitete, zeugen davon, welche Art von Imbiß man sich leistete. Ein zerbrochener Bogen und ein paar steiner-ne Abschläge künden von Waffenherstellung bzw. Waffenreparatur. Natürlich produzierte man, was man für die Jagd benötigte, im allgemeinen nicht erst in diesen Ansitzen, sondern bereits vorher, so daß der Jäger über einsatzbereites Jagdgerät verfügte. Dies bedeutet, daß man in der Regel kaum Überreste pri-märer Fertigungsstufen in derartigen Ansitzen fi ndet. Andererseits bringen die Männer recht gern das eine oder andere schadhafte Werkzeug mit, das sie repa-rieren, um sich die Zeit zu vertreiben, während sie in ihrem Ansitz auf das Jagd wild warten. Auch andere Arbeiten, die nicht fertig geworden sind, erledigen sie gern bei dieser Gelegenheit. Mit anderen Worten: Die Arbeiten, die man an derartigen Plätzen zu verrichten pfl egte, hatten durchaus nicht immer mit dem unmittelbaren Zweck dieser Gemäuer (nämlich der Karibujagd) zu tun, sondern

69 Jagdansitz R & B am Anaktuvuk-Paß. Man erkennt ein Lager aus Kanbuhaut. Hier schlief der eine Jäger, während der andere auf das Herannahen des Wildes wartete. Zum genauen Ortsan-satz vgl. Abb. 53.

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dienten dazu, die Langeweile zu bekämpfen. Ein weiterer Artefakttypus, der bei einem dieser Ansitze gefunden wurde, war eine Pfeilspitze aus Geweih. Man hat-te sie versteckt, um sie später zu benutzen, doch dann nie mehr gebraucht. Unter Umständen übernachten die Männer lieber in ihren Ansitzen, als unverrichte-terdinge zum Basislager zurückzukehren. Gewöhnlich wacht dann einer und achtet darauf, ob das Wild kommt, während sein Jagdgefährte es sich auf einem Lager aus Karibuhaut bequem macht. Nach einiger Zeit tauschen beide die Plät-ze, und derjenige, der bis jetzt geschlafen hat, übernimmt nunmehr die Wache. Da die Jäger jedesmal ziemlich viel Zeit in diesen Ansitzen verbringen, errichten sie gewöhnlich in einiger Entfernung von ihren Mäuerchen einen Herd, um sich hier eine Brühe zu kochen oder etwas Fleisch zu braten. Zwar gleicht eine solche Stätte mit Herd noch immer den oben beschriebenen Ansitzen. Archäologisch betrachtet ist sie jedoch sehr viel komplexer, und es bedarf großer Sorgfalt und Behutsamkeit, um diese Kombination »Ansitz plus Herd« nicht mit einem von einer Familiengruppe bewohnten Basislager zu verwechseln.

Basislager

Ein weiterer Teil des Komplexes am Tulugak-See sind die Wohnlager in unmit-telbarer Seenähe, wo es reichlich Feuerholz und Frischwasser gibt. Die Nunamiut errichten ihre Lagerplätze meist in der Nähe ihrer am schwersten zu transpor-tierenden Gebrauchsgüter und nicht allein wegen des Vorhandenseins von Nahrungsmittelquellen. Bei der Versorgung mit Lebensmitteln können sie sich Flexibilität leisten, denn Nahrungsmittel lassen sich, wie wir sahen, lagern, bevor man sie herbeitransportiert und ihrer Bestimmung zuführt. Schwieriger ist es dagegen mit Wasser und Brennstoff. Daher legt man Wohnplätze so an, daß diese Grundversorgungsgüter sichergestellt sind, und man verläßt das Lager nur, um sich auf Nahrungssuche zu begeben. Am Tulugak-See fanden wir gleichmäßig verteilte archäologische Reste, die sehr stark an die ineinander übergehenden Besiedlungsrestschichten der Lagerplätze von Anavik Springs erinnern. Dort jedoch diente ein Lager mehrmals hintereinander genau dem gleichen Zweck. Die Ufer des Tulugak-Sees dagegen suchte man aus sehr verschiedenen Grün-den zu ganz verschiedenen Jahreszeiten auf. Im Sommer beispielsweise lagerte man hier wegen der schmackhaften Seeforellen. Im Winter kam man wegen der reichen Brennholzvorräte, die es in der Umgebung des Sees gab. Wenn man also dort Ausgrabungen durchführte, stieße man auf einen Sommerwohnplatz über einem herbstlichen Jagdlager, eventuell auch auf ein Winterdorf über einem Fi-schereilager vom Frühjahr zuvor.Wie könnte man – rein archäologisch – all die einander überlagernden Kom-ponenten einer dermaßen komplexen Stätte auseinanderhalten? Wären wir in der Lage, alle Örtlichkeiten in unmittelbarer Nähe richtig zu interpretieren, die doch sehr unterschiedlichen Zwecken dienten: die Steinsetzungen für das Kari-butreiben, die Vorratslager und die Jägeransitze? Wären wir imstande, die funktiona-

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len Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Plätzen zu erkennen, ja ganze Platzkomplexe in der Aufeinanderbezogenheit ihrer unterschiedlichen Bestand-teile zutreffend zu deuten? Zur Zeit fehlen der Archäologie noch Methoden, die sie in die Lage versetzen, einer so komplizierten Hinterlassenschaft gerecht zu werden, wie sie für Jäger-und Sammlervölker typisch ist. Wir müssen Mittel und Wege fi nden, die ineinander übergehenden bzw. aufeinander übergreifenden Be-siedlungs- und Nutzungsschichten zu »entziffern« und die zugehörigen Plätze, wo man bestimmten Tätigkeiten nachging zu fi nden und zu erkennen, mögen sie auch Kilometer voneinander entfernt sein.

Wie man eines zum anderen fügt

Eine der wichtigsten Lektionen, welche die ethnoarchäologischen Nunamiut-For-schungen erteilen, ist: alle Wohn-, Jagd- und sonstigen Stätten dieses Volkes sind Teile eines umfassenden Systems. Von Wohnplätzen einmal abgesehen, nutzt man die vielfältigsten Örtlichkeiten für Spezialaufgaben, die alle aber nur Mosaiksteine eines umfassenden Musters von Verhaltensweisen sind, die es er-möglichen, in der Arktis zu überleben. Dabei sahen wir, wie sich einzelne Plätze zu Komplexen zusammenfügten, die sich ihrerseits innerhalb des Gebietes häu-fen, das eine bestimmte Menschengruppe nutzt. Schließlich zeigte es sich, daß im Laufe eines Menschenlebens mehrere ausgedehnte Bereiche hintereinander genutzt werden. Um dieses Muster der Landnutzung zu rekonstruieren, müssen Archäologen in der Lage sein, Funktion und Charakter jedes einzelnen Platzes zu begreifen und zu guter Letzt alle einzelnen Mosaiksteine zusammenzufügen.Dies ist ebenso schwierig, als wollte man aus Einzelteilen einen Automotor zu-sammenbasteln. Auch in diesem Fall muß man erst einmal wissen, wie der Motor funktioniert, um seine wesentlichen Bestandteile zu erkennen und in der rich-tigen Weise aneinanderfügen zu können. Analog dazu müssen die Archäologen wissen, was sich an einzelnen Stätten, die sie fi nden und ausgraben, an Tätigkei-ten abspielte. Erst dann können sie »die einzelnen Teile zusammensetzen«, so daß das vollständige System prähistorischer Landnutzung sichtbar wird.

Plätze für besondere Zwecke

Der Wert archäologischer Untersuchungen heute lebender Völker und soge-nannter Stammeskulturen besteht darin, daß man durch die Beobachtung unter-schiedlicher Stätten, wo die Betreffenden wohnen oder bestimmte Aktivitäten entfalten, einen Begriff von der Vielfalt dessen bekommt, was mit einiger Wahr-scheinlichkeit auch

70 Plan des Herbstjagdplatzes im Kongumuvuk-Tal (Platz Nr. 13 auf Abbildung 53).

71 Kreis aus kleinen Steinen, wie sie von den Nunamiut benutzt werden, um trocknende Karibu-häute auf dem Boden zu befestigen (genaue Lokalisation Abb. 70).

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in der archäologischen Hinterlassenschaft vergangener Zeiten, Völker und Kul-turen begegnet. Um das noch weiter zu verdeutlichen, will ich einige »Plätze für Spezialzwecke« schildern, auf die ich bei den Nunamiut stieß.Einige dieser Stätten waren überraschend weitläufi g. Typischerweise stellen sich Archäologen immer wieder vor, Plätze, wo Menschen bestimmte Arbeiten ver-richten müßten klein und in sich homogen sein. Doch in einem Fall konnte ich beobachten, daß man Tätigkeiten der verschiedensten Art auf einer Grundfl äche von l 500 Quadratmetern verrichtete. An dem betreffenden Platz im Kongumu-vuk-Tal, den man während der Karibuherbstwanderune aufsuchte, versteckten sich Männer im Weidengebüsch, um von den herannahenden Karibus nicht gesehen zu werden. Während sie auf das Wild warteten, verzehrten einige an einer kleinen Feuerstelle einen Imbiß (z. B. Knochenmark). Andere reparierten Werkzeuge und Waffen. Die eigentliche Karibujagd fand in einiger Entfernung statt. Um den Zug der nachdrängenden Karibuherden nicht aufzuhalten, zer-legten die Eskimos die erlegten Tiere in größter Eile am Jagdplatz selbst und schleppten die Fleischportionen dann hinter die Weiden. Dort waren die Män-ner den weiterziehenden Karibus nicht mehr im Wege und konnten in aller Ruhe

72 Ansitz in einer natürlichen fl achen Eintiefung am Little Contact Creek im Anaktuvuk-Tal (ge-naue Lage Abb. 53). Seiner Funktion nach entspricht dieser Ansitz völlig dem auf Abb. 69, doch liegt er in gänzlich anderem Gelände. Man beachte das Feuerholz und die zwei alten Kaffeekan-nen, die man zurückgelassen hat, um sich auch künftig hier Tee kochen zu können Desgleichen wurde nach der Frühjahrsschneeschmelze der Schlitten (ganz rechts im Bild) hiergelassen.

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73 Falle für den Wolfsfang. Derartige Fallen baut man stets im Herbst, bevor die ersten Schnee-stürme einsetzen.

das Zerlegen ihrer Beute fortsetzen. Einen Teil des erbeuteten Fleisches bewahr-te man in Caches auf. Andere Fleischstücke trocknete man auf improvisierten Holzgestellen.Eine weitere wichtige Tätigkeit, der man hier nachging, war die Bearbeitung der Häute. Und zwar breitete man die Karibufelle zum Trocknen auf dem Boden aus und beschwerte sie an den Rändern mit Steinen, damit nicht der Wind mit ihnen sein Spiel treiben konnte. Infolgedessen stößt man dort immer wieder auf kleine Steinkreise von annähernd gleichem Umfang. Würde man bei archäologischer Betrachtungsweise wohl erkennen, daß die sehr verschiedenen Teilbereiche die-ses ausgedehnten Areals – die Zone um den Herd, wo man aß, die Plätze, wo man Reparaturen durchführte oder Tiere schlachtete und zerlegte, die Fleischvorrats-häuser, die Gestelle zum Fleischtrocknen und schließlich die Steinringe für das Trocknen der Häute – alle zusammengehören? Oder käme man nicht viel eher zu der Auffassung, es mit einer Reihe von Stätten ganz und gar unterschiedlichen Charakters zu tun zu haben?

Zeltringe

Auch an anderen Stellen, die Nunamiut-Jäger aufsuchen, gibt es kleine Steinrin-ge. Sie könnten allerdings auf eine ganze Reihe anderer Gepfl ogenheiten zurück-zuführen sein und müssen nichts mit dem Trocknen von Tierhäuten zu tun ha-

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ben. Beispielsweise fi ndet man an einem Platz hoch in den Bergen, wo Jägertrupps während des Sommers Karibuherden nachstellen, kleine Steinkreise von ungefähr gleicher Größe wie in Kongumuvuk, dazu jeweils kleine Herde. Jedoch sind die Steine in diesem Fall größer, denn hier dienen sie zum Beschweren von Zeltwänden aus Karibuhäuten. Auch m anderer Hinsicht unterscheidet sich diese Fundstelle vom Jägerplatz am Kongumuvuk: Ganz im Gegensatz zu der dort zu beobachtenden Vielfalt in den einzelnen Teilbereichen fi ndet man hier nur eine Reihe gleichför-miger Strukturen – Zeltringe mit Herden – über die gesamte Fläche verteilt. Plätze, die besonderen Zwecken dienten, können sich also von anderen Stätten auch darin unterscheiden, daß die Elemente, aus denen sie bestehen, gleichförmig sind.

74 Skizze des Verarbeitungsplatzes von Tulukkana, wo in nur zwölf Tagen 50 Karibus zu Fleisch-vorräten verarbeitet wurden. Die enorme Knochenanhäufung ist auf die Fleisch-zubereitung zurückzuführen. Sie spiegelt weder die Anzahl derer, die hier tatig waren, noch die Zeit, die man hier verbrachte.

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Jagdansitze

Ansitze für Jäger gehören zu den verbreitetsten Charakteristika der Nunamiut-Kulturlandschaft. Sie können sehr komplex sein (wie am Kongumuvuk oder im Fall der »Masken-Fundstätte«,12 von der im folgenden Kapitel die Rede sein wird), aber auch vergleichsweise einfach (wie am Tulugak-See) oder gar nur improvisiert, für den Augenblick geschaffen. Beispiele der letztgenannten Art sind einfach zum »Ansitz« erklärte Felsblöcke, hinter denen sich ein Jäger ver-steckt und vielleicht, so lange das Wild noch nicht da ist, ein wärmendes Feu-er entfacht. Tatsächlich verwendet man für derartige Zwecke ganz allgemein natürliche Gegebenheiten wie Findlinge und dergleichen. Die archäologische Hinterlassenschaft an solchen Plätzen besteht dann meist nur aus einer klei-nen Feuerstelle, einigen durch die Hitze der Flammen geborstenen Steinen und vielleicht einigen Geräten, die für eventuellen späteren Gebrauch versteckt wurden.

75 Verteilungsdichte der am Tulukkana-Jagdplatz gefundenen Karibuknochen (vgl. Abb. 74).

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Anlagen

Die soldier rocks (»Steinmänner«) an den Pfaden des Kaributriebes am Tulug-ak-See lassen sich als eine besondere Art von Menschen geschaffener Objekte betrachten, die man kaum noch als »Werkzeuge« bezeichnen kann, sondern die eher die Bezeichnung »Einrichtungen« oder »Anlagen« verdienen (mehr darüber im Kapitel 7). Zur selben Klasse von Objekten gehören Wildfallen. Die Nunamiut kennen und verwenden eine Fülle davon. Am verbreitetsten ist ein Fallentyp, bei dem ein herabfallender Stein dem den Fallenmechanismus aus-lösenden Tier den Schädel zerschmettert. Jede Örtlichkeit, wo derartige Fallen stehen, könnte man als »archäologische Stätte zur besonderen Verwendung« be-zeichnen. Oft befi nden sich derartige Fallen in unmittelbarer Nähe von Fleisch-Caches, um Raubtiere von den betreffenden Vorratslagern abzuhalten. Anderer-seits stellt ein solches Fleischversteck eine Art Köder dar, der Füchse und Wölfe in die Falle (oder zumindest erst einmal in deren Nähe) lockt. Rings um die Falle errichtet man kleine Mäuerchen, die gewährleisten, daß sich das Tier, auf das man es abgesehen hat, aus der gewünschten Richtung und möglichst genau im gewünschten Winkel der Falle nähert. Der Fallenauslöser liegt weit genug im Falleninneren (d. h. tiefer im Innern der Konstruktion, als die Hälse der in Frage kommenden Tiere lang sind). Das Beutetier muß daher mit seinen Vorderpfo-ten den steinernen Rand der Falle überschreiten, bevor der Felsblock, der das Fallenoberteil bildet, herabstürzt. Selbst wenn dieser Steinblock nicht den Kopf des in die Falle geratenen Tieres zermalmt, sondern nur dessen Schulterpartie zertrümmert, ist das Tier so schwer verwundet, daß es nicht mehr entkommen kann, zumal der Steinblock es festklemmt.Todesfallen wie diese, die die Nunamiut errichten, sind und waren wohl weit verbreitet und bilden vermutlich einen festen Bestandteil des archäologischen Materials, ohne in allen Fällen als das erkannt worden zu sein, was sie sind. Ich fand ganz ähnliche Anlagen an Fundstätten, die man auf die Zeit des Neander-talers zurückführt, und es steht außer Zweifel, daß zahlreiche Strukturen an ar-chäologischen Stätten Nordamerikas, die als »Kinderbestattungen«, »kultische Steinsetzungen« oder »Vorratsgruben« in die Fachliteratur eingegangen sind, in Wirklichkeit nichts anderes als derartige Wildfallen waren. Die Archäologen müssen erst noch lernen, derartig kleine und hinsichtlich ihres Verwendungs-zweckes hochspezialisierte Anlagen richtig zu deuten.

Verarbeitungsplätze

Zwar haben eine ganze Reihe von Nunamiut-Plätzen mit der Karibujagd zu tun. Doch fehlt es auch nicht an Stätten, wo man das bereits erlegte Wild weiterverar-beitete. Unter anderem erwähnte ich bereits den Schlachtplatz von Anavik Springs und den Häutetrocknungsplatz am Kongumuvuk. Ein weiteres Beispiel bietet eine Stätte, wo eine Nunamiut-Familie etwa 50 Karibus erlegte, indem sie die Tiere einfach in ei-nen nahen See trieb. Die gesamte Verarbeitung des Fleisches nahm nur ungefähr

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zwölf Tage in Anspruch, doch was dabei an Abfällen anfi el, ist schier unglaub-lich. Unter anderem entstanden zwei riesige Haufen zerborstener Knochen, die man aufgebrochen hatte, um das Knochenmark zu gewinnen. Doch verspeiste man die diesen ungeheuren Knochenmassen entsprechenden Fleischmengen keineswegs an Ort und Stelle. Es handelt sich also bei den fraglichen Knochen-haufen keineswegs um Überreste mehrerer Mahlzeiten hintereinander. So läßt sich auch aus der Menge der hier vorhandenen Überreste weder auf die Zahl der Menschen schließen, die dabei am Werk waren, noch auf die Länge der Zeit, die sie hier verbrachten. Vielmehr führt dieser Platz mit aller Deutlichkeit vor Augen, wie – vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet – gefährlich es ist, einfach, wie Yellen13 es vorgeschlagen hat, die Menge der vorgefundenen Abfälle zur Siedlungs- oder Nutzungsdauer einer archäologischen Stätte in Beziehung zu setzen. Ehe wir die Information zu deuten vermögen, die wir ar-chäologischen Stätten verdanken, müssen wir uns darüber klarwerden, welchen Verhaltensweisen die fraglichen Stätten ihr Dasein verdanken. Immerhin haben meine Forschungen bei den Nunamiut gezeigt, welche Vielfalt unterschiedlicher menschlicher Aktivitäten zum Entstehen archäologischer Stätten führen kann. Dabei hat sich auch ergeben, daß diese unterschiedlichen Verhaltensweisen un-terschiedliche Spuren im archäologischen Befund hinterlassen. Es muß daher möglich sein, Diagnosetechniken zu entwickeln, die uns in die Lage versetzen, entsprechende Örtlichkeiten, die besonderen Zwecken dienten, auch in der ar-chäologischen Hinterlassenschaft prähistorischer Zeiten nachzuweisen.

Wohnplätze und ihr Aufbau

Man kann sich sowohl Wohnstätten als auch Plätze für die Verrichtung spezieller Arbeiten als aus winzigen »Modulen« zusammengesetzt denken. Einer der ele-mentarsten »Baukastensätze« dieser Art sind die Behausungen, in denen Men-schen wohnen. Untersuchungen bei Jäger- und Sammlervölkern zeigen: Es ist für Archäologen unabdingbar, alle erdenklichen Varianten ihres Datenmaterials zu kennen, da der Charakter menschlicher Wohnstätten ebenso wie die Art ihrer Verteilung im Raum erheblich variieren kann.John Yellen14 hat ein allgemeines Schema nachgewiesen, das für die Verteilung der Wohnstätten in den Lagern der Kung-Buschmänner gilt. Danach bilden die Hütten eines Lagers, die jeweils eine Familie beherbergen, einen enggeschlos-senen Kreis. Inmitten des Hüttenrings befi ndet sich ein freier Platz, den alle Angehörigen der Buschmanngruppe gemeinsam nutzen. Außen umgibt den Hüttenkreis ein ringförmiges Areal, wo man verrichtet, was an spezialisierten Tätigkeiten anfällt. Das auf Abbildung 77 sichtbare Buschmannlager stellt ein gutes Beispiel dieses YellenschenSchemas dar. Eine enggedrängte Ballung von Hütten, deren Herde jeweils nur drei Meter auseinanderliegen, läßt sich auch in Trockenzeitlagern der Birhor beobachten, einer Jäger- und Sammlergruppe, die in Indien lebt.15

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76 John Yellens idealtypisches Modell eines !Kung-Buschmannlagers. (Genehmigter Nachdruck aus Yellen 1977, Abb. 12, Seite 126)

77 Wohnlager der Nharo-Buschmanner in den Wüstengebieten Zentralnamibias um 1927. Die Aufnahme zeigt klar das von Yellen beschriebene Ringmodell. Man achte auf das Fleisch, das an dem Baum rechts zum Trocknen hängt. (Aufnahme L.Fourie, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des African Museum, Johannesburg)

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Jedoch entsprechen nicht alle Buschmannlager diesem idealtypischen Schema.16

Und auch andere Jäger-Sammlergruppen kennen Formen einer Wohnplatz-Raumordnung, die von Yellens Modell ganz und gar abweichen. Beispielsweise ergeben die Lager der Seri-Indianer in Mexiko ein lineares Grundmuster, und die Hütten der einzelnen »Wohneinheiten« sind erheblich auseinandergezogen, so daß zwischen ihnen bedeutender Zwischenraum liegt. Ebenso wie bei den Buschmann-Lagerplätzen kann auch die Verteilung der einzelnen Wohnstätten in den Siedlungen der Birhor sehr variieren. So lagerten in einem Fall vier Bir-hor-Gruppen am selben Platz. Jede dieser Gruppen bestand auf ihrer Integri-tät und errichtete ein separates Lager für sich. Darüber hinaus entsprach die Aufstellung der Hütten keineswegs Yellens Ringmodell, sondern sie standen im Halbkreis. Obwohl es sich trotz der räumlichen Trennung zwischen den ein-zelnen Gruppen hierbei eindeutig um eine Siedlung handelt, könnte man doch versucht sein, die archäologische Hinterlassenschaft an einem solchen Platz als Abfolge voneinander unabhängiger Siedlungen zu interpretieren, denn es gibt selbstverständlich Lücken in der Verteilung der Besiedlungsüberreste zwischen den die vier Gruppen repräsentierenden Hüttenballungen.

78 Lager der Seri-Indianer auf der mexikanischen Insel Tiburon (vor der Sonoraküste im Golf von Kalifornien). Die Wohnbauten dieses Lagers bilden eine Linie – ein krasser Gegensatz zum Ringmodell Yellens. Man baut die Wohnhütten einfach auf und zwischen die Überreste alter Behausungen, von denen einige ganz rechts auf dem Bild zu sehen sind. Eine ausgezeichnete Beschreibung der Seri-Siedlungen liefert Ascher 1962. (Aufnahme E. H. Davis, 1922, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Museum of the American Indian, Heye Foundation)

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Daß man einen gewissen Raum läßt, um soziale Unterschiede zu demonstrieren, wie das Beispiel dieser Birhor-Siedlung zeigt, könnte durchaus ein allen Wild-beuter-Wohnplätzen gemeinsames Prinzip sein. Träfe dies aber zu, so hätten wir damit ein nützliches Kriterium für die Interpretation archäologischer Stätten. Al-lerdings kommt eine weitere Komplikation hinzu, die uns Nunamiut-Sommerla-ger sehr deutlich vor Augen führen: Dort errichtet zwar jede in sich geschlossene Gruppe ihr Lager an einem anderen Platz, doch auch innerhalb des Teilbereichs der einzelnen Gruppen sind die einzelnen Behausungen bisweilen recht weit voneinander entfernt. An einer besonders gut dokumentierten Stätte betrug die Durchschnittsentfernung zwischen den Wohnplätzen der Angehörigen eines und desselben sozialen Verbandes nicht weniger als neunzig Meter. Wie würde wohl ein Archäologe diese Raumaufteilung interpretieren? Wie würde er wohl die daraus resultierenden, voneinander isolierten Häufungen von Besiedlungs-überresten deuten? Würde er von verschiedenen Einzelstätten sprechen, die er unterschiedlichen, voneinander unabhängigen sozialen Gruppen zuwiese, oder käme er darauf, daß es sich in Wirklichkeit lediglich um zwei Gruppen handelte, die aus verschiedenen Familien bestanden?Hätten wir möglichst viele völkerkundliche Daten zur Verfügung, so würde sich zeigen, wie erheblich die Unterschiede der räumlichen Verteilung von Wohn-stätten sind. Sowohl die Anordnung der Behausungen (zusammengedrängt oder locker gestreut, in Kreisen, Halbkreisen oder wie auch immer) als auch die Ent-fernung zwischen den einzelnen Wohneinheiten variiert von Gruppe zu Gruppe, ja bei einzelnen Gruppen innerhalb des Jahreskreises. Den Archäologen bleibt nichts übrig, als diese Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen. Sie müssen die Paktoren erkennen lernen, die diese Vielfalt bewirken, und Methoden entwickeln, eben diese Faktoren aus dem archäologischen Befund herauszulesen.

Die Herausforderung an unsere Methodologie

Wie in diesem Kapitel dargelegt, kann man das Siedlungsmuster von Jäger- und Sammlergruppen auf unterschiedlichen Ebenen betrachten: von dem enorm weiten Raum, den eine Gruppe während der Lebensspanne eines ihrer Mitglie-der durchstreift, über Wohn- und Arbeitsstättenkomplexe bis hin zur Verteilung der Behausungen und Herde an einem einzigen Lagerplatz. Um die archäologi-sche Hinterlassenschaft von Wildbeutern besser deuten zu können, müssen wir lernen, uns bei unseren Forschungen auf diesen verschiedenen Ebenen gleich-zeitig zu bewegen. Nicht nur, daß es Methoden zu entwickeln gilt, die zu erken-nen erlauben, was man in großem und kleinem Maßstab unternahm, um die Landschaft zu nutzen – wir müssen auch in der Lage sein, zeit- und ortsbedingte Verhaltensvarianten zwischen unterschiedlichen Jäger- und Sammlergruppen zu erkennen, und zwar im großräumigen Bereich ebenso wie im Maßstab der Kernwohngebiete, in der Größenordnung von Wohn- und Arbeitsstättenkomple-xen sowie schließlich auf der Ebene einzelner Wohn- und Arbeitsplätze.

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Es dürfte klar sein, daß ich in diesem Kapitel noch nicht versucht habe, Metho-den zu entwickeln, um Rückschlüsse auf die Landnutzung in vorgeschichtlicher Zeit zu ziehen, obwohl ich immerhin hoffe, wenigstens ein Teil des von mir vor-gelegten Materials möge uns diesem Ziel ein wenig näherbringen.17

Im Licht dessen, was ich über die Nunamiut in Erfahrung brachte, erweist sich die Voraussetzung, daß eine bestimmte Menschengruppe immer nur archä-ologische Stätten einer ganz bestimmten Prägung hinterläßt, als keineswegs realistisch. Auch die Annahme, Fundstätten und ihre Inhalte müßten einander um so mehr gleichen, je näher sie zeitlich und räumlich einander sind, wird durch meine Beobachtungen nicht bestätigt. Daß es Komplexe gibt, wo man an drei oder mehr separaten Plätzen ganz bestimmte Tätigkeiten ausübte, ist un-vereinbar mit den bisherigen Versuchen vieler Archäologen und Prähistoriker, Ähnlichkeiten und Unterschiede vorgeschichtlicher Artefakt-Assemblagen zu erklären. Zumindest im Fall mancher Regionen ebenso wie mancher Jäger-Sammlergesellschaften dürfen wir annehmen, daß die einzelnen Wohn- und

79 Plan eines gleichzeitig von vier Birhor-Gruppen bewohnten Lagers. Man beachte die weiten Entfernungen zwischen den einzelnen Gruppen und die nicht kreisförmige Anordnung der Hütten (vgl. Williams 1968).

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Arbeitsstättentypen innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen um so mehr Vielfalt aufweisen, je intensiver der zur Verfügung stehende Raum genutzt wur-de (wie es beispielsweise am Tulugak-See der Fall ist, Worauf wir noch zurück-kommen werden). Ganz allgemein gilt: In einem Lebensraum, in und von dem zahlreiche Wildbeutergruppen leben, gibt es stets gewisse Punkte wie das Gebiet um den Tulugak-See, die sowohl eine stärkere Konzentration lebenswichtiger Gebrauchsgüter aufweisen als auch gleichzeitig bessere Chancen bieten, »beweg-liche Hilfsmittel« bzw. »mobile Nahrungsquellen« (nämlich Jagdwild) zu nutzen. Archäologisch stellen sich derartige Plätze äußerst kompliziert dar. Jede Stätte spiegelt somit eine einzigartige Abfolge von Nutzungsaktivitäten. Zweifellos hängen einige jener Moustérien-Probleme, die Bordes erkannte, mit der unter-schiedlichen Art menschlicher Tätigkeiten sowie mit der räumlichen Trennung von Plätzen zusammen, an denen man Arbeiten verschiedener Art verrichtete. Doch begehe man nicht den Fehler, zu glauben, die hier mitgeteilten ethnoarchä-ologischen Beobachtungen enthielten bereits die Antwort auf jene Fragen, die das Mou-sterien aufwirft. Meine Arbeiten bei den Nunamiut erlauben mitnich-ten die Folgerung, daß meine funktionalitätsorientierten Argumente zutreffen, sondern bekräftigen eher, daß sich die Archäologie ganz allgemein noch immer sehr unzulänglicher Methoden bedient. Ohne Frage haben sich die Konventio-nen der meisten Altsteinzeitforscher als ungeeignet erwiesen, einer derartigen Vielfalt und einem so breiten Spektrum der Landnutzung gerecht zu werden, wie wir sie beispielsweise im Fall der Nunamiut zu verzeichnen haben. Die Heraus-forderung durch die von uns betriebene Ethnoarchäologie an die »Archäologie alter Schule« besteht in der Forderung nach geeigneten Methoden.Wie können wir das, was meine Forschungen über die Landnutzung bei rezenten Jägern und Sammlern gelehrt haben, auf die Untersuchung statischer Geräteas-semblagen prähistorischen Ursprungs anwenden?18 Wie können wir den Schritt von der ethnographischen Beschreibung eines dynamischen Systems hin zu der an Fundstätten gebundenen Betrachtungsweise der Archäologie tun? Fest steht: Die einzelnen Stätten eines und desselben Wildbeuter-Landnutzungssystems weisen erhebliche Unterschiede auf. Daher ist eine Fundstättenklassifi kation, die von der Annahme struktureller Fundstättengleichheit ausgeht, ungeeignet, archäologische Stätten richtig einzuordnen, und seien es auch nur Stätten, die im Zuge einer bestimmten Form der Umweltnutzung, ja innerhalb der Lebens-spanne eines einzigen Menschen entstanden. Dies bringt uns wieder zu der me-thodologischen Herausforderung zurück: Wie ist es möglich, zu erkennen, daß unterschiedliche Dinge, die wir an verschiedenen Plätzen fi nden, Bestandteile eines und desselben Systems sind?

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7 Menschen in ihrem Lebensraum

Fundstätten-Struktur: eine Herausforderung an die archäologische Interpretationskunst

Wie wir in den ersten drei Kapiteln sahen, lautet eine der großen Fragen, die heu-tige Archäologen zu beantworten suchen: Wie früh begann der Mensch, seinen Le-bensraum zu organisieren? Gemeint ist die Untergliederung für verschiedene Tä-tigkeiten wie Schlafen, Essen, Nahrungssuche, Geräteherstellung und dergleichen mehr. Wir wüßten nur allzu gern, in welchem Umfange schon der frühe Mensch – ähnlich wie wir heute – sinnvolle und speziellen Anforderungen genügende Raumnutzung betrieb. Ein Beispiel: Als man gelernt hatte, Geräte zu verwenden – nutzten unsere Vorfahren sie dann so, daß sie bereits fertige Geräte zur Verfügung hatten, wenn sie sie brauchten? Oder fertigten sie sie erst am Ort des Gebrauches selbst, um sie nach ihrer Verwendung sofort wieder wegzuwerfen? Kannten sie Nahrungsteilung, wie sie bei heutigen Menschen die Regel ist?Mit anderen Worten: Wie hatte der Mensch seine unterschiedlichen Aktivitäten unter dem Aspekt des Räumlichen organisiert? Was tat er wo? Im sechsten Ka-pitel sahen wir, wie sich rezente Wildbeuter von einem Platz zum anderen be-wegten und an jedem ganz verschiedenen Tätigkeiten nachgingen. Ich versuchte hervorzuheben: Wenn ein Archäologe die Dynamik ähnlicher Systeme erkennen will, die der Vergangenheit angehörten, muß er lernen, welche Aufgabe man je-der einzelnen Örtlichkeit zugedacht hatte, bzw. welche Arbeit man wo verrichte-te. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn wir das Moustérien-Problem lösen wollen. Auch (und gerade) in diesem Fall müssen wir imstande sein, zumindest einige der Tätigkeiten zu rekonstruieren, denen man an Moustérien-Fundstätten einst nachging, und dies anhand von Daten, die von der Beschaffenheit der Steinge-räte-Assemblagen unabhängig sind, denn wir möchten ja gerade herausfi nden, ob die Zusammensetzung dieser Steingeräteansammlungen in ihrem Variieren gewissen Gesetzmäßigkeiten folgt und ob dabei vielleicht Faktoren am Werk sind, die nur aus der Sicht der Vergangenheit erkennbar sind. Archäologen möchten

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Fakten wie unterschiedliche Gerätehäufi gkeit, Unterschiede der Verteilung von Werkzeugen und Tierüberresten oder das Verhältnis bestimmter Abfälle der Steingeräteherstellung zu den betreffenden Steingeräten selbst im Lichte prähis-torischer Lebensbedingungen begreifen. Die Untersuchung der Fundstättenstruktur war eine der Aufgaben, die ich mir stellte, als ich ethnoarchäologische Forschungen durchzuführen begann.1 Meine Erfahrungen im Bereich der Völkerkunde hatten mich gelehrt: Es gab in der Re-gel mehrere Variablen, die situationsbedingt die Art und Weise bestimmten, wie menschliches Verhalten an verschiedenen Örtlichkeiten ablief. Beispielsweise beeinfl ußten in Jagdlagern Erfolg oder Mißerfolg einer Jagd weitgehend die Eß-gewohnheiten,2 eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die man im fraglichen Lager durchführte (oder unterließ), ja nicht selten sogar die Dauer des Aufenthaltes in einem solchen Camp. Bei Wohnlagern dagegen zeigt sich eine derartige Situati-onsabhängigkeit nur selten – und wenn, so handelte es sich stets um drastische, die gesamte Lebensweise beeinträchtigende Belastungen, um Ausnahmesituati-onen, die die Menschen veranlaßten, nach Notlösungen zu suchen, wie sie aus Jagdlagern völlig unbekannt sind.3 Kurz – mir fi el auf: Vielfalt und Veränderlich-keit von Assemblagen ließen sich auf Funktionsunterschiede archäologischer Stätten verschiedener Art zurückführen. Doch trotz dieser funktionalen Unterschiede scheint es eine Reihe Charakterzü-ge zu geben, die für die »innere Organisation« des Lebens und Treibens an einer archäologischen Stätte typisch sind. Infolgedessen untersuchte ich zwar weiter-hin das Problem der Assemblagen-Vielfalt anhand tierischer Überreste, ergriff jedoch jede sich bietende Gelegenheit, das räumliche Verteilungsmuster der Objekte an Plätzen festzuhalten, deren Funktion, Besiedlungsdauer, Jahreszeit der Nutzung usw. mir bekannt waren. Ich tat dies, um mir einen Informations-vorrat anzulegen, der eines Tages vielleicht die Grundlage dafür bilden konnte, Gesichtspunkte für die Erkennung von Faktoren zu entwickeln, die prägend auf die räumliche Organisation menschlichen Tuns an bewohnten oder anderweit genutzten Plätzen einwirkten. Eines dieser Grundelemente, das allen Stätten einst und jetzt gemeinsam war und ist, ist die körperliche Beschaffenheit der dort tätigen Menschen. Liegt vielleicht in dieser simplen Tatsache der Schlüssel zum Verständnis der Struktur archäolo-gischer Stätten? Wenn es gelänge, anhand völkerkundlicher Beispiele zu zeigen, daß bestimmte Muster der Verteilung archäologischer Objekte im Raum nichts anderes als das Ergebnis simpler »Körpermechanik« sind, dann besäße man eine Grundlage, um Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu ziehen – wenigstens so weit wir davon ausgehen können, daß unsere Vorfahren ebenso gebaut waren wie wir. Die Relation zwischen dem menschlichen Körperbau und dem räumlichen Ver-teilungsmuster der Dinge wäre somit für die Archäologie eine Art »zeitübergrei-fender Größe« (um Whiteheads4 Ausdruck zu verwenden) – eine Konstante, die sowohl für die Gegenwart als auch für die Vergangenheit Geltung besäße.Ebenso wie das Knochenskelett des tierischen und menschlichen Körpers das tragende Gerüst bildet, das Muskeln und Organen Halt gibt, so bilden Anlagen

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und Einrichtungen gleichsam das Skelett einer archäologischen Stätte, das ge-wissermaßen den Aktivitäten der einst dort Lebenden und Wirkenden »Aufhän-ger« bot. Das Maß, in dem Personen und Güter kommen und gehen, hängt von der Leistungsfähigkeit der Anlagen und Einrichtungen ab, die eine Wohn- oder Arbeitsstätte aufweist. Phillip Wagner defi niert derartige Einrichtungen bzw. Anlagen wie folgt:

»… Behältnisse wie Körbe oder Töpferware, Gefäße, Schachteln, ja sogar Gebäude … Fundamente wie Straßen und Plattformen … desgleichen Barri-eren wie Zaune, Dämme, Mauern … Einrichtungen und Anlagen stellen ein Verhältnis zwischen archäologischen Objekten und der Umwelt her oder reichern auf ihre Weise diese Umwelt mit neuen Objekten an … sie regulie-ren oder behindern die Bewegung fester, fl üssiger oder gasförmiger Materie ebenso wie die Bewegung von Lebewesen.«5

80 Raumordnung eines Winterlagers der Nunamiut-Eskimos. Es handelt sich um »Palanganas Haus« (zur Lage des Platzes s. die Kartenskizzen Abbildung 53 und 66). Mit Sicherheit gab es hier auch ein Gerüst zum Fleischtrocknen, doch wurde es bisher noch nicht gefunden. Das als Bauhaus bezeichnete kleine Bauwerk diente als Aufenthaltsort für die Männer, die das ei-gentliche Winterwohnhaus errichteten, und wurde später nicht mehr als Wohnstätte benutzt, allenfalls als Männerhaus, in dem die Männer ihre Arbeiten verrichteten. Eingehendere Be-schreibung des Platzes bei Binford (l978a, Seiten 431 bis 439).

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Die »Skelett-Morphologie« einer archäologischen Stätte – ich spreche in die-sem Zusammenhang gern von ihrem »Gerüst« oder »Stützwerk« – ist die An-ordnung derartiger Einrichtungen bzw. Anlagen. Archäologisch betrachtet, sind derartige Anlagen Objekte größeren Ausmaßes bzw. Strukturen (im Englischen gibt es dafür den Terminus features [hier soviel wie: Charakteristika, hervor-stechende Merkmale]), und die Bereiche, wo sie anzutreffen sind (und wo man sich ihrer einst bediente), stellen sich als »Objektmuster« und/oder »räumliche Ballung von Artefakten« dar. Ich bin überzeugt: Wesentliche Anhaltspunkte für die einst an einer archäologischen Stätte praktizierten Aktivitäten, die dabei angewandte Form der Arbeitsorganisation, ja die bei der Auswahl des Platzes von vornherein ins Auge gefaßte Zweckbestimmung im Rahmen des jeweiligen Versorgungs- und Siedlungssystems sind, gleich einem Kode, in die Struktur einer archäologischen Stätte »hineinprogrammiert«. Wir müssen lernen, was Menschen veranlaßt, eine bestimmte Örtlichkeit auszusuchen, nach welchen Gesichtspunkten sie sie gliedern und was sie veranlaßt, ihr eine bestimmte Funktion zu geben. Nicht weniger wichtig ist, wie man eine derartige Stätte sozusagen »in Gang hält«.Am besten lassen sich diese allgemeinen Aussagen durch Beispiele verdeutli-chen. So weist ein typischer Eskimo-Winterwohnplatz ein charakteristisches »Gerüst« auf. Es besteht aus ganz bestimmten, elementaren Einrichtungen wie einer Behausung, einem Gestell für das Trockenfi eisch, Pfählen und Leinen zum Anbinden der Hunde sowie Feuerstellen unter freiem Himmel. Ringsherum um diese »Bauteile« sowie mitten zwischen ihnen liegen zahlreiche Areale, die für besondere Verrichtungen ausersehen sind. Hierzu gehören ein Müllplatz für die Haushaltsabfälle, ein Haufen von Knochensplittern, eine Einfriedung für die Hunde, ein Platz für allerhand anfallende Arbeiten, ein Stapel Brennholz, gleich daneben der Platz für das Holzspalten, ein Kinderspielplatz und schließlich auch ein Platz, wo man seine Exkremente läßt. Natürlich sind derartige Plätze an sich keine eigens konstruierten »Einrichtungen« oder »Anlagen«, aber sie erfüllen doch bestimmte Zwecke, und in ihrer speziellen Funktion sind sie für die Eager-bewohner wichtig. Wo man regelmäßig bestimmten Tätigkeiten nachgeht oder bestimmte Verrichtungen erfüllt, muß man nicht unbedingt absichtlich das Ge-lände verändern, abgesehen davon, daß man manche dieser Plätze vielleicht hin und wieder reinigt bzw. instand hält. Archäologisch gesehen, stellen sie sich nicht als Veränderungen des Terrains, auch nicht als von Menschenhand getroffene Anordnungen natürlichen oder seinerseits handwerklich gefertigten Materials dar (wie etwa Häuser oder Her-de), doch können wir aus dem Vorhandensein von Gegenständen (Werkzeugen ebenso wie Überresten), die an den fraglichen Stellen produziert oder absicht-lich dort deponiert wurden, auf ihre Funktion schließen. Ein wichtiger Be-standteil dieses Netzes von »Einrichtungen« (bzw. »Anlagen«) und Nutzfl ächen sind Verbindungspfade sowie Ein-und Ausgänge – Kommunikationsadern und Transportwege für Menschen und Material. Bei dieser Lage der Dinge scheint mir ein beschreibendes und analytisches Vorgehen angebracht, und man sollte ver-

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suchen, anhand der vorhandenen Strukturen und Objekte das »Gerüst« einer solchen Stätte zu bestimmen. Diesem ersten Schritt müßte eine Untersuchung der Beziehungen zwischen diesem »Knochengerüst« und der Streuung bewegli-cher Objekte (Geräte, tierische Überreste, Abfälle usw.) folgen.

81 Wohnplatzmodell des französischen Vorgeschichtlers Andre Leroi-Gourhan: Brennpunkt jeglichen organisierten Tuns ist der im Haus-, bzw. Zelt- oder Hütteneingang placierte Herd (bzw. die Feuerstätte [Zone A]). Diese Feuerstätte bezeichnet den Übergang zwischen dem Wohn-stätteninnenraum und dem außerhalb liegenden Bereich. Er markiert die Grenze zwischen »innen« und »außen«. Der Innenraum ist – so Leroi-Gourhan – ebenso Haushaltsraum wie Be-hausung, also Arbeits- und Wohnstätte zugleich. Entsprechend gliedert er sich seinerseits in zwei Teilbereiche. In der Zone B1 sitzen die Bewohner der Behausung im Halbkreis um den Herd, gehen verschiedenen Tätigkeiten nach oder pfl egen ihr Gemeinschaftsleben. Archäolo-gen und Völkerkundler dürfen erwarten, diese Zone ziemlich sauber vorzufi nden, denn hier werden »feinere« Arbeiten durchgeführt. Nach Leroi-Gourhan können Forscher auch damit rechnen, in diesem Bereich kleinere Werkzeuge sowie Ocker anzutreffen. Der zweite Bereich innerhalb der Behausung ist Zone C, die Schlafzone. Artefakte oder Abfälle sind hier nach Ansicht des französischen Gelehrten kaum zu vermuten. Außerhalb des bewohnten Raumes, an der Außenseite der Feuerstelle, liegt ein zweiter für Haushaltszwecke genutzter Bereich (Zone B2). Leroi-Gourhan zufolge verrichten die Lagerbewohner hier gröbere Arbeiten, bei denen es zu größeren Abfallmengen kommt. So darf man hier mit Abfällen rechnen, die dann entstehen, wenn jemand Geräte aus Feuerstein, Geweih und Knochen herstellt oder aus-bessert. Aber auch Steine erwartet Leroi-Gourhan hier zu fi nden, die irgendeine Funktion bei der Zubereitung von Speisen hatten. Ringsum erkennen wir mehrere konzentrische Krei-se – die Zonen D, E, F und G. Leroi-Gourhan schildert sie wie folgt: D ist die Zone konzent-rierter Abfallanhäufungen, E die Zone, in der die Abfallkonzentrationen bereits abnehmen. In F fi nden sich nur noch selten Abfallkippen und in G gibt es allenfalls noch weggeworfene Einzelstücke. Bei diesem Modell gibt es also an den verschiedenen Seiten des Herdes Zonen unterschiedlicher Abfalldichte. Die größere Dichte ist außerhalb, die geringere innerhalb der Behausung anzutreffen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie man mit Hilfe eines For-mationsmodells bestimmte Konventionen bei der Interpretation archäologischen Materials rechtfertigen kann. (Autorisierte Wiedergabe aus Leroi-Gourhan und Brezillon, 1972, Abbil-dung 174, Seite 254)

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Leider weisen archäologische Stätten nur selten so ideale Bedingungen auf. In aller Regel ist das, was wir hier als »Anlagen und Einrichtungen« bezeichnen, nicht gleich gut (und gleich gut identifi zierbar) erhalten, was selbstverständlich das oben vorgeschlagene Vorgehen erschwert. So mag beispielsweise ein Herd, eine Feuerstelle, erkennbar sein, doch möglicherweise gibt es keine erkennbaren Pfostenlöcher oder ähnliche Anhaltspunkte mehr, denen zu entnehmen wäre, daß sich der fragliche Herd einst inmitten einer Behausung befand. Zur Zeit sind unsere Methoden noch unzureichend. Beispielsweise hat Leroi-Gourhan6 ein Strukturmodell archäologischer Stätten entwickelt, das aus dem Vertei-lungsmuster bestimmter Gegenstände auf das Vorhandensein einer Wohnstätte Rückschlüsse zu ermöglichen versucht. Doch ist seine Art zu folgern nicht nur deshalb suspekt, weil sich seine Vermutungen hinsichtlich der Häufung und Verteilung verschiedener Objekte auf die bloße Annahme der Existenz einer Wohnstätte gründen,7 sondern ich fi nde sie auch aufgrund eigener Erfahrun-gen im Bereich der Völkerkunde alles andere als überzeugend. Archäologen benötigen Kriterien, um Muster aussondern zu können, die sich auch ohne das Vorhandensein eines Hauses ergeben und auch an Stätten auftreten können, wo es keinerlei Wohngelegenheit gab.Vom Standpunkt ihres Werdens betrachtet, erweisen sich archäologische Stätten als aus einer Art »Fertigbauteile« zusammengesetzt – »Bauteilen« jener Art, die wir bereits im Kapitel 6 beschrieben. Bei der Eskimo-Fundstätte beispielswei-se, von der oben die Rede war, kann man ohne weiteres von Kochherden unter freiem Himmel, von Knochenanhäufungen, einem Platz für die Hunde, einem Spielplatz und dergleichen mehr sprechen, und dies alles ergibt einen Sinn. Einst bezeichnete ich die betreffenden Elemente als activity areas (»Tätigkeitsberei-che«). Doch hat es inzwischen in der Literatur beträchtliche Verwirrung wegen dieses und anderer Begriffe gegeben – dies zum Teil deshalb, weil man nicht zwischen den Gegebenheiten und Eigenheiten eines lebendigen Kultursystems und der Musterbildung bei archäologischen Überresten zu unterscheiden ver-mag (eine Verwirrung, die Schiffer und Rathje8 schon vor einer ganzen Reihe von Jahren voraussahen). Bevor ich meine Erörterung weiter fortsetze, ist es unerläßlich, genau zu defi -nieren, was ich unter »Aktivität«, »Gerätebestand« (toolkit) und »Aktivitätsbe-reich« verstehe. Ein toolkit ist für mich ein Satz von Geräten zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit. Als »Aktivität« bezeichne ich eine Reihe miteinander zusammenhängender, aufeinander bezogener, auf ein gemeinsames Ziel gerich-teter Tätigkeiten, die man gewöhnlich in ununterbrochener zeitlicher Aufein-anderfolge zu verrichten pfl egt. Außer Frage steht, daß gleiche Arbeiten unter-schiedlichen Aktivitäten zugeordnet sein können – beispielsweise die Arbeit des Fleischschneidens den Aktivitäten des Schlachtens, der Fleischzubereitung oder des Essens usw. »Aktivitätsbereiche« (activity areas) sind Plätze, »Einrichtun-gen« oder einfach Bodenareale, wo man irgendwelchen technisch-handwerkli-chen, sozialen, aber auch rituell-kultischen Aktivitäten nachgeht. Dabei ist es durchaus vorstellbar, daß es einzelne Aktivitäten gibt, bei denen man sich einer

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Anzahl unterschiedlicher toolkits bedient, wie es auch umgekehrt ohne Schwie-rigkeit denkbar ist, daß man nur einen oder mehrere identische Gerätesätze für völlig verschiedene Aktivitäten benötigt. Weil ich diese Art der Komponenten-mischung in den archäologischen Befunden voraussah, befürwortete ich schon vor einer Reihe von Jahren die Anwendung mathematisch-statistischer Verfah-ren der Streuungsanalyse, um mit ihrer Hilfe der Vielfalt der zu untersuchenden Assemblagen beizukommen.9

Um zu einer raumbezogenen Betrachtungsweise zurückzukehren: Es ist nur konsequent, zu erwarten, daß auch Teilbereiche einer archäologischen Stätte ihrerseits nicht minder komplex sind. Manche dienten vielerlei Zwecken. An-dere dagegen hatte man für ganz bestimmte Verrichtungen, nur für ganz be-stimmte Aufgaben ausersehen. Dies allerdings führt zu der Folgerung, daß es nicht notwendigerweise eine genaue Entsprechung zwischen einer Örtlichkeit und einem »Werkzeugsatz«, ja nicht einmal zwischen einem bestimmten Are-al und einer bestimmten Aktivität gibt. Andererseits folgt daraus keineswegs, daß die Anordnung der Artefakte strukturlos ist und keinerlei Informationen über den Charakter des jeweils zur Debatte stehenden Kultursystems zu geben vermag. Ganz im Gegenteil: Die Herausforderung, die das Interpretieren von

82 Junger Buschmann mit einem Fiedelbohrer in einem Buschmannlager in der Gauscha-Pfanne. Er wendet sich nicht dem Feuer zu, sondern sitzt daneben. Die Feuerstelle liegt ganz in der Nähe einer Schutzhütte, in deren Innerem man das Bett erblickt. Auf der dem bohrenden Buschmann gegenüberliegenden Seite des Feuers erkennt man einen zweiten Stein, der als »Amboß« dient. (Aufnahme: J. Krämer 1975; mit freundlicher Genehmigung des Südafrikani-schen Museums, Kapstadt)

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Fundstätten-Strukturen darstellt, unterscheidet sich in keiner Weise von der Herausforderung, die seitens der Archäologie ganz allgemein an uns ergeht: Wie gelangen wir dahin, den Mustern, die wir beobachten, die richtige Bedeutung beizumessen?10

Am zweckmäßigsten beginnen wir unsere Suche nach geeigneten Methoden damit, daß wir der Entstehung von Fundstätten-Strukturen bei heutigen Völ-kerschaften nachgehen. In den folgenden Abschnitten möchte ich einige zum Nachdenken anregende Beobachtungen schildern, die ich bei heute lebenden Stämmen machte. Dabei möchte ich mich auf bestimmte Elemente der Raum-gliederung beschränken: einmal auf die Ortsgebundenheit und die räumliche Organisation menschlicher Tätigkeiten, zweitens auf die Vergesellschaftung von »Gerätebeständen«. Beiden kann man als Archäologe auf die Spur kommen, in-dem man Forschungen zur Mustererkennung treibt.

Arbeiten am Herd

Wenn Menschen Arbeiten verrichten, bei denen sie einen Herd brauchen, so teilen sie sich – räumlich betrachtet – ihre Arbeit gerne so ein, wie man es bei fast allen Völkern fi ndet. Beispielsweise knackt eine im Botswanaland lebende !Kung-Busch-mann-Frau ihre Mongongo-Nüsse auf einem Amboß, der nur um Armeslänge vom Feuer entfernt ist. Bei dieser nicht leichten Arbeit wendet sie sich aber nicht dem Feuer zu, sondern sitzt quer zu ihm. Säße sie dem Feuer zugewandt, hätte sie nicht genug Platz zum Hantieren. Dieses Verhaltensmuster ist typisch für Personen, die an offenen Feuerstellen arbeiten. Die betreffende Person, gleich welchen Geschlechts, sitzt rechtwinklig zur Feuerstätte, doch in Griffweite von ihr. Auch ein australischer Ureinwohner nimmt neben dem Feuer Platz, wenn er in der Glut Harz erhitzt, um damit eine Steinklinge oder der-gleichen an einem Holzgriff zu befestigen. Ebenso nimmt eine Navajofrau die beschriebene Haltung ein, wenn sie auf einem Freiluftherd Brot bäckt. Völker-kundler beobachteten dieses Muster bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Ich selbst stellte es darüber hinaus auf einer beträchtlichen Anzahl alter Fotos aus völkerkundlichen Archiven fest.Nachdem wir damit ein Grundmuster menschlichen Verhaltens am offenen Feuer erkannt haben, wird uns auch die Bedeutung gewisser Abweichungen von ihm klar. Im Innern fester Behausungen benutzt man meist neben dem Herd placierte Steine als fl ache »Tische« (oder jedenfalls Unterlagen) zum Fleisch-schneiden, zum Anrichten der Speisen oder zum Abstellen von Gefäßen. Arbeitet eine ganze Gruppe an einem Herd, ist die Anordnung anders, als wenn nur eine Einzelperson ihrer Tätigkeit nachgeht. Damit alle genügend Platz zum Arbeiten haben, rücken alle ein wenig vom Feuer ab. Infolgedessen erblickt man hier eher eine kreisförmige Anordnung von Überresten rings um den Herd als die für Ein-zelpersonen typische punktuelle Häufung. Eine weitere wichtige Beobachtung zum Thema »Fundstätten-Struktur« läßt sich anhand der Steingeräteherstellung

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83 Männlicher Alyawara-Ureinwohner aus Zentralaustralien an einer kleinen Bearbeitungsstätte beim Erhitzen von Spinifex-Harz zur Befestigung eines Steingerätes an einem Holzgriff. Auch er sitzt bei seiner Arbeit nicht dem Feuer zugewandt, sondern daneben.

84 Navajo-Frau im Südwesten der USA beim Brotbacken an einem Außenherd. Man beachte die Position des Herdes und – im Verhältnis dazu – die der Frau sowie ihrer Gerätschaften. (Auf-nahme mit freundlicher Genehmigung von Susan Kent)

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bei den Alyawara-Ureinwohnern Australiens verdeutlichen.11 Ich sah dort einen Mann sitzen, der von einem Steinkern Abschläge anfertigte. Die winzigen Stein-splitter, die dabei abfi elen, bildeten später einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, wo der Mann gesessen hatte, denn er ließ sie einfach zwischen seinen Beinen zur Erde fallen, und dort blieben sie liegen. Die Abschläge dagegen stapelte er mit aller Sorgfalt vor sich auf, so daß eine bogenförmige Steinschicht entstand. Form und Größe dieses halbkreisförmigen Gebildes hingen von der Länge seines Ar-mes ab, der den Radius bildete. Die Entstehung eines ähnlichen Musters sah ich auch ganz woanders – nämlich in Nordalaska, wo ich ein paar uralten Eskimos bei der Herstellung von Steingeräten zusah.Arbeitsraummodelle werden oft dadurch verändert, daß mehrere Personen eine und dieselbe Arbeit tun und einander zuarbeiten. Auch die parallele Durchfüh-rung der gleichen Tätigkeit (wenn nicht gar mehrerer gleichzeitiger Tätigkeiten) durch mehrere Individuen führt zu Überlagerungen bei der Materialverteilung. Abbildung 88 veranschaulicht sehr klar eine der klassischen Anordnungen meh-rerer sitzender Personen rings (oder wenigstens im Halbkreis) um einen Herd. Ich glaube, der Leser kann sich vorstellen, wie komplex das Verteilungsmuster der Abfälle ist, die eine solche Gruppe zurückläßt. Abbildung 89 zeigt ein etwas idealisiertes Modell einer derartigen Sitzverteilung. In diesem Fall liegen Beo-bachtungen an einem Eskimo-Platz (der »Masken-Fundstätte« am Anaktuvuk-Paß) zugrunde, wo man häufi g Menschengruppen im Halbkreis um ein Feuer sitzen sah. Kleinere Abfälle, die man einfach fallen ließ, bilden nun ihrerseits einen Halbkreis um die Feuerstätte. Anders verfuhr man mit größeren Abfällen: Man warf sie hinter sich – weg von dem Halbrund der Sitzenden. In einem an-deren Fall saßen Nunamiut-Jäger um ein Feuer und zerbrachen Karibuknochen, um daraus das Mark zu gewinnen. Auch hier bildeten winzige Knochensplitter, der Abfall, der beim Zerbrechen der Markknochen entstand, einen Halbkreis mit dem Herd als Mittelpunkt: die Zone des Fallenlassens. Diese kleinen Knochen-bruchstücke entsprachen den kleinen Steinsplittern, die von der Herstellung steinerner Abschläge aus einem Steinkern herrührten (Abbildung 87). Wie dort die australischen Ureinwohner ihre Steinsplitter, ließen hier die Eskimos die winzigen Knochensplitter einfach liegen – nämlich dort, wo sie gesessen und das

85 Aufsicht der Clean Lady Site am Kongumuvuk-Bach. Neben dem Herd (D) erkennt man im Inneren des Mooshauses die bogenförmige Anordnung von Steinen, die als Tisch dient. Diese Anordnung ist typisch, wenn eine einzelne Köchin gewohnt ist, an einen bestimmten Platz in Herdnahe zu arbeiten. Man beachte, wie sauber der Bereich innerhalb des Tischbogens ist! Auch einen Außenherd (A) gibt es, desgleichen einen kleinen Türabfallhaufen rechts vom Hauseingang und eine sehr große Knochenabfallkippe links der Tür.

86 Pamiliengruppe der !Kung-Buschmänner bei der Zubereitung von Mongongo-Nüssen. Man beachte die halbkreisförmige Anordnung der Familienmitglieder rings um den ganz im Vor-dergrund sichtbaren Feuerplatz, aber in einer gewissen Entfernung von ihm (Mit freundlicher Genehmigung von Patricia Draper)

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Knochenmark zu gewinnen versucht hatten. Ganz anders aber die Verteilung der großen Knochenstücke. Diese befi nden sich in einer Wegwerfzone: Die Männer warfen die größeren Knochenteile einfach hinter sich, nachdem sie das Mark entnommen hatten. Dieses Wegwerfen größerer Abfälle gilt bei den Eskimos als eine Art Vorsorge für die Sitzzone. So antwortete man mir, als ich fragte, warum man so unterschiedlich mit kleineren und größeren Abfällen verfuhr: »Wer sitzt schon gern auf einem großen Knochen?«Verrichten mehrere Personen rings um einen Herd verschiedene Arbeiten, so kann dies sowohl den Inhalt als auch das Verteilungsmuster der Abfälle in

87 Abfälle bei der Steingeräteherstellung, wie ein australischer Alyawara-Ureinwohner sie liegen-gelassen, nachdem er von einem Kern Abschläge gefertigt hatte (Männerlager der Alyawara-Stätte Bendaijerum in Zentralaustralien).

88 Klassische kreis-, bzw. halbkreisförmige Anordnung von Nharo-Buschmännern rings um eine Feuerstelle in Ganzi, Botswana, um 1969. (Aufnahme H.Steyn; mit freundlicher Genehmigung des Südafrikanischen Museums, Kapstadt)

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Herdnähe beeinfl ussen. Auf Abbildung 90 kocht das »Individuum Nr. l« gerade eine Brühe aus Knochensplittern. Man bedient sich in diesem Fall dazu eines eigenen Herdes. Doch wird das nicht immer für nötig gehalten. Worauf es hier ankommt: Nachdem »Nr. l« die fertige Brühe für sich und seine Gefährten in Trinkgefäße abgefüllt hat, kippt er den restlichen Inhalt des Kochgefäßes (mit den ausgekochten Knochenfragmenten) entweder hinter den Herd oder (wenn er sich voll seinem Kochherd zuwendet) links von sich. Auf Abbildung 90 sind diese Bereiche als »kleine ›Müllhal-den‹« bezeichnet. Ein solches Vorgehen – das Wegkippen einer größeren Menge von Abfällen auf einmal, nicht nur das Fallenlassen oder Wegwerfen von Einzelstücken, wovon bisher immer die Rede war – läßt fraglos homogene Abfallkonzentrationen entstehen. Derartige an einzelnen Stellen gehäufte Abfallmengen durchbrechen das Muster der sonst überall gleichzeitig wachsenden Schichten fallengelassener wie weggeworfener Gegenstände und setzen ihm gleichsam punktuelle Akzente auf. Ein paar Tage

89 Modell der »Zonen des Fallenlassens« und »des Wegwerfens« nach Beobachtungen an der »Masken-Fundstätte« am Anaktuvuk-Paß (vgl. Binford 1978 b).

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90 Verhaltensbeobachtungen an den Herden A und B des Schlachtplatzes Anaktiqtauk am Anaktu-vuk-Paß (zur Lage siehe Abbildung 53). Zwei Männer (Nr. 2 und 3) saßen am Herd B, knackten Karibuknochen und aßen das Mark. Beim Zerbrechen der Markknochen zu Boden gefallene und dort liegengebliebene Knochensplitter gehörten zur »Zone des Fal-lenlassens«. Größere, gelenknahe Knochenenden warf man kurz beiseite oder hinter sich, wo sie die »Zone des Weg-werfens« bildeten. Person Nr. l kam hinzu und schlug vor, aus Stücken von Kariburippen, die er mitbrachte, sowie aus einigen der vom Markessen noch übrigen Röhrenknochenenden eine warme Brühe zuzubereiten. Zu diesem Zweck entfachte man auf Herd A ein hell aufl oderndes Feuer, und über die Flammen hängte man eine Kaffeekanne, um in ihr die Brühe aufkochen zu lassen. Die fertige Brühe wurde in Trinkgefäße gegossen, und die in der Kanne verbliebenen Knochenstückchen kippte man über den Herd A hinweg auf dessen gegenüberliegende Seite. Es war der Nachkömmling Nr. l, der die Brühe zubereitete, und zwar im Stehen. Nachdem man die Brühe getrunken hatte, sammelte Nr. l einen großen Teil der noch nicht weggeworfenen Markknochen-Bruchstücke und bereitete einen zweiten Topf Brühe. Als man auch diese zu sich genommen hatte, kippte man die ausgekochten Knochenstückchen in der Kanne diesmal hinter den Sitzplatz der Person Nr. 1.

91 Gegenüberliegende Seite: An einem Frühlingsnachmittag an der »Masken-Fundstätte« beob-achtete Aktivitäten.

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später, als sich noch mehr Menschen an diesem Platz aufhielten, errichtete man einen dritten Herd. Man muß sich ihn unweit des unteren Randes von Abbildung 90 vorstellen. Die kleine Brühknochenkippe hinter dem »Individuum Nr. l« zog dabei gleichsam magnetisch weitere Abfälle an. So warfen die Männer, die in ihrer Nähe an dem neuen Herd saßen, ihre Abfälle auf sie. Diese Beispiele zeigen drei verschiedene Arten, sich seiner Abfälle zu entledigen: l. Man läßt einzelne Gegenstände einfach fallen, wo man sich gerade befi ndet,

und es entsteht auf diese Weise eine »Zone des Fallenlassens« (drop zone).2. Man wirft (schleudert) einzelne Gegenstände weg (beispielsweise hinter sich),

so daß sich eine regelrechte »Wegwerfzone« (toss zone) bildet.3. Man kippt größere Mengen von Abfällen weg.Beim bloßen Fallenlassen liegen die Gegenstände, die man fallen ließ, unmit-telbar dort, wo man arbeitete und wo auch die betreffenden Abfälle entstanden. Größere Stücke oder größere Mengen kleinerer Objekte wirft oder kippt man dagegen an die Ränder der jeweiligen Arbeitsplätze bzw. Aktivitätsbereiche.

Innen- und Außenherde

Wie rings um einen Herd Abfälle verteilt sind, dies verrät uns, ob der fragliche Herd im Innern einer Wohnstätte oder im Freien stand. Beispielsweise konnte

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ich über längere Zeit hinweg die von den Nunamiut-Eskimos betriebene Raum-nutzung in einem Jagdlager (der sogenannten »Masken-Fundstätte«) verfolgen. Meine Grundrißskizze (Abbildung 91) zeigt, was sich dort alles in einem und demselben Augenblick abspielte: Ein Jäger schlief auf einer Karibuhaut, ein an-derer saß an der Seite des Platzes und fertigte Geräte an. Ein dritter hielt Wacht und wartete auf die Karibus. Doch wie in dem Beispiel zuvor saßen die meisten Jäger schwatzend am Feuer. Wie zu erwarten, bildeten die Männer um die Feu-erstelle einen Halbkreis, und die Abfälle ihrer Mahlzeit warfen sie neben den Herd – dorthin, wo der Wind den Rauch hintrieb, so daß sie nicht dort sitzen konnten, oder aber nach hinten über die Schulter, so daß ein unverkennbares »Wegwerfmuster« entstand. Diese sich klar abzeichnenden Abfallablagen und Wegwerfzonen gibt es im Innern von Wohnstätten nicht, denn kaum jemand wirft seinen Müll an die Wände seiner Behausung. Anders gesagt: Intensiv ge-nutzte Räume im Innern eines Hauses hält man anders instand als intensiv ge-

92 »Wegwerfzonen«-Modell für um einen Außenherd sitzende Männer und tatsächliche Vertei-lung der von Menschen übriggelassenen Knochenreste an der Magdalénien-Freilandstation Pincevent Nr. l bei Montereau, Dép. Seine-et-Marne, Frankreich. (Die archäologischen Daten sind entnommen dem Werk von Leroi-Gourhan und Brezillon 1966, Abb. 59, Seite 335).

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nutzte Bereiche im Freien. Eine weitere Konsequenz dieses Verhaltens besteht darin, daß es zwischen Außen- und Innenherden einen deutlichen Unterschied hinsichtlich des »Hofes« von Asche und anderen Verbrennungsrückstanden gibt, der einen Herd umgibt. Nach meinen Beobachtungen sind Feuerstätten, auf denen man im Innern von Behausungen Speisen zubereitet, gewöhnlich von großen Steinen umgeben, die verhindern sollen, daß der Boden der Wohn-stätte (sei er aus Gras, Häuten oder Matten) Feuer fängt. Diese Steine rings um den Herd erschweren es außerdem, daß Asche dorthin verschleppt wird, wo man sitzt oder am Herd arbeitet, soweit der beschränkte Raum im Innern der Wohnstätte dies erlaubt. Außenherde dagegen haben in der Regel derarti-ge Umfassungen nicht. Werden dann pfl anzliche Speisen oder Fleischgerichte zubereitet, durchwühlt man immer wieder die Asche nach den in ihr erhitzten Nahrungsmitteln, wobei ständig Asche und im Feuer zersprungene Steine aus dem Zentrum des Herdes an die Peripherie des Herdbereiches gelangen. Im

93 Formationsmodell für die Herde an der Magdalénien-Freilandstation Pincevent Nr. 1. Je nach der (durch gestrichelte Pfeile angegebenen) Windrichtung wechselten die Anwesenden ihre Position von einem Herd zum anderen. Eine derartige extensive Raumnutzung ist aber für das beengte Innere einer Hütte untypisch (archäologische Daten nach Leroi-Gourhan und Brezil-lon 1966, Abb. 56, Seite 331).

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Laufe der Zeit umgibt infolgedessen eine beträchtliche Schrnutzschicht aus Asche, verkohlten Speiseresten und anderen Küchenabfällen den Feuerplatz. Abbildung 94 beispielsweise zeigt eine Masarwa-Buschmannfrau, die Asche aus einer Feuerstelle kratzt – Asche, in der sie Nüsse geröstet hat, die sie nun wie-der haben will. Da man immer wieder ungefähr am selben Ort Feuer entzündet und sich im Laufe der Zeit die Schmutzzone ausdehnt, verlagert sich auch das Zentrum der Feuerstätte nach und nach. So gibt es also große, unverkennba-re Feuerstättenrückstände nur außerhalb von Wohnstätten im Freien, wo der Raum weniger beschränkt ist und man mehr Platz hat, um sich bei dem, was man tut, zu entfalten.Was wir über die Bedeutung der Abfallverteilung in Erfahrung bringen konnten, läßt sich hervorragend auf die paläolithische Freilandstation Pincevent (bei Montereau, Dép. Seine-et-Marne [Frankreich]) anwenden, die man dem Magda-lénien zuschreibt, der letzten Altsteinzeit-Stufe vor rund 15 000 Jahren.12 Zieht man die Sitzanordnung des heutigen Eskimo-Jägerplatzes, den wir als »Mas-ken-Stätte« bezeichnen, zum Vergleich heran und berücksichtigt man ferner die unterschiedlidien Größenverhältnisse, so ergibt sich aufgrund der von der

94 Eine Masarwa-Buschmannfrau kratzt Asche aus dem Feuer, um geröstete Nüsse freizulegen. Man beachte die Anordnung des Steinhammers, des gleichfalls steinernen Ambosses (im Vordergrund) und der Nüsse. Hier hatte zuvor eine männliche Person am Feuer gesessen und gearbeitet, vgl. Abb. 82. (Aufnahme mit freundlicher Genehmigung des Nationalmuseums für Kulturgeschichte in Pretoria)

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Steingeräteherstellung herrührenden Überreste: Das »Sitzmodell« der »Masken-Stätte« paßt haargenau! Der Ausgräber von Pincevent, Andre Leroi-Gourhan, be-trachtete das Muster der Abfälle in Pincevent als Beweis für das Vorhandensein eines Hauses bzw. einer zelt-artigen Hütte. Doch ich bezweifl e, daß seine Ansicht zutrifft. Zumindest läßt der ethnographische Befund vermuten: Die pfannku-chenförmige bzw. wulstartige Verteilung der Abfälle deutet viel eher auf Aktivi-täten hin, die unter freiem Himmel stattfanden.Die ethnoarchäologische Forschung liefert uns darüber hinaus zusätzliche Be-weise, die für meine Deutung von Pincevent sprechen. Wenn Menschen unge-schützt im Freien sitzen, ändern sie öfter ihre Position, je nachdem, woher der Wind weht. Sitzen sie auf einem fl achen Geländestück, placieren sie auch ihre Feuerstätte entsprechend. Ändert sich die Windrichtung, so daß der Rauch sie zu stören beginnt, geben sie die von ihnen einmal eingenommene Position nicht auf, sondern drehen sich lieber auf der Stelle und entzünden ein neues Feuer. So brauchen sie ihre Habseligkeiten und Gerätschaften nicht an die andere Seite der ursprünglichen Feuerstelle zu bringen und müssen auch nicht dort sitzen, wo sie zuvor ihren Abfall hingeworfen haben.

95 Leroi-Gourhans Rekonstruktion der drei Herde (Feuerstellen) an der Magdalénien-Frei-landstation Pincevent Nr. 1. (Wiedergabe nach Leroi-Gourhan und Brezillon 1966, Abb.78, Seite 363)

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Wenn man nicht durch eine Behausung oder einen improvisierten Windschirm eingeengt ist, ist es in der Tat einfacher, einen weiteren Herd zu schaffen, als sich selbst einen neuen Platz zu suchen und damit seine Position im Hinblick auf bereits vorhandene Arrangements, die der Arbeitserleichterung dienen, zu verändern. Da aber die Windrichtung keinen entsprechenden Einfl uß auf Herde innerhalb von Wohnstätten hat, darf man einen derartigen Feuerstellen-Platz-wechsel nur unter freiem Himmel annehmen.In Pincevent verrät die Verteilung der Abfälle an drei Herden, daß an zwei die-ser Feuerstellen nur eine einzige Person tätig war. Wie es scheint, drehte sich der Wind, und die Person am Feuer vollführte ihrerseits einfach eine Drehung um 180° und entzündete ein neues Feuer, um nicht mehr vom Rauch des ersten gestört zu werden. Da der Wind sich aber so nur auf Feuerstellen im Freien auswirkt, scheint mir Leroi-Gourhans Rekonstruktion einer alle drei Herde ein-beziehenden Tierhauthütte13 nicht haltbar – dies zumindest im Lichte unserer Erkenntnisse über die Struktur derartiger Stätten, die wir ethnoarchäologischen Forschungen verdanken.

Schlafzonen

Es gibt weitere Beispiele dafür, daß die Grundmechanismen des menschlichen Körpers und die menschliche Körpergröße ihre Spuren im archäologischen Be-fund hinterlassen – so etwa den Raum, den Menschen zum Schlafen benötigen. Zwar beobachteten Völkerkundler sehr viele verschiedene Vorkehrungen, die der Mensch trifft, um zu schlafen. Doch alle lassen sich auf eine sehr begrenzte Zahl bekannter Faktoren zurückführen. So wechselten beispielsweise in einem Jägerlager der Nga-tatjara-Ureinwohner Australiens, das ausschließlich von Männern bewohnt war,14 Betten und Herde (bzw. Schlafplätze und Feuerstellen) miteinander ab. Befanden sich verheiratete Paare in einem Lager, wie wir es bei-spielsweise von den Mrabri (einem Wildbeuterstamm im tropischen Regenwald Thailands)15 kennen, gab es »Doppelbetten« zwischen den Feuerplätzen. War die Zusammensetzung der Gruppe gemischt, verwendete man sowohl Betten der einen als auch der anderen Art. Unabhängig von unbedeutenderen Varianten, was die Zahl der »Einzel-« oder »Doppelbetten« angeht, scheint diese Grunda-nordnung – einschließlich des Wechsels von Betten und Feuerstätten – auf der ganzen Welt verbreitet zu sein. Die Größe der Schlafstätten hängt nicht allein von der Zahl der darauf ruhenden Personen ab. Beispielsweise braucht man mehr Platz, wenn die Schläfer vollbekleidet sind, als wenn sie unter einer Decke liegen. Angesichts dessen, was wir bei heute lebenden Völkerschaften beobach-ten und auf vergleichbare Stätten aus vorgeschichtlicher Zeit anwenden können, hoffen wir, ebenso in der Lage zu sein, den für ein Bett benötigten Raum zu be-rechnen, wie etwa heute ein Architekt berechnet, wieviel Platz jemand in einem modernen Haus für diese oder jene Bedürfnisse braucht. Besonders interessant sind die in Abris (Halbhöhlen bzw. Nischen unter Felsüberhängen) getroffenen

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Schlafvorkehrungen. Hier hängt es von der Jahreszeit ab, wo sich die Schlafplätze befi nden. Und zwar liegen im Winter die Schlafstätten meist parallel zur Rück-wand der schützenden Höhle. Neben jedem Bett gibt es etwa 1,20m (oder bei Doppelbetten rund 2m) von der Abri-Rückwand entfernt eine Feuerstätte. Im Sommer dagegen speichert das Felsgestein tagsüber Sonnenhitze und gibt sie nachts wieder ab. Um sich dagegen zu schützen, orientiert man dann die Betten rechtwinklig zur Abri-Rückwand und schläft mit dem Kopf von dieser Wärme-quelle abgewandt. Nun befi nden sich die Feuerplätze zwischen den Betten.

96 Vergleich der bei den Ureinwohnern Australiens und den Mrabri in Nordthailand belegten Schlafgewohnheiten. Man beachte das immer wiederkehrende Muster des Wechsels von Betten und Feuerstellen (nach Gould 1977, Abb. 22; Velder 1963, Abb. 2).

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Ebenso wie das Sitzmuster der an einem Herd arbeitenden Personen (wovon oben die Rede war) läßt sich auch dieses generell anzutreffende Modell der Schlafstättenanordnung, das sich bei völkerkundlichen Untersuchungen gezeigt hat, auf archäologische Stätten übertragen und für deren Interpretation fruchtbar machen. Schließlich ist seit geraumer Zeit die Grundstruktur des menschlichen Körpers die gleiche geblieben. Daß dieser Ansatz Erfolg verspricht, zeigt eine Analyse der Feuerstätten-Verteilung in dem von H. I. Movius ausgegrabenen Abri Pataud (im Dordognegebiet/Südwestfrankreich).16 Wenn ich die Stan-

97 Schlafbereichsmodelle: vereinfachende Skizze der Einrichtungen und Größenverhältnisse in Schlafzonen. Sie beruht auf Beobachtungen bei einer großen Anzahl von Jäger-Sammlervöl-kern.

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dardbettgrößen, so wie sie mir aufgrund meiner völkerkundlichen Unter-suchungen bekannt sind, in den Grundriß einer frühen Aurignacien-I-Schicht im Abri Pataud eintrage, stellt sich heraus: Die Anordnung von Einzelbetten zwischen den Feuerstätten paßt ausgezeichnet in die archäologisch festgestellte Raumstruktur dieser Fund- und Grabungsstätte. Bei rezenten Gruppen ist das Alternieren von Feuerstellen und Einzelbetten typisch für Jägerlager, in denen es ausschließlich Männer gibt. Daß es, abgesehen von dieser Betten- und Herd-verteilung, vor der Zone, wo man schlief, auch noch Gruben zum Fleischbraten gab, erhebt es meines Erachtens über jeden Zweifel: Dieser Platz wurde seiner-zeit nicht (wie Movius ursprünglich annahm) als Wohnlager benutzt, sondern als zeitweilig bewohntes Jägercamp.

98 Schlafbereichsmodell für mehrere Schichten im Abri Pataud, Dordognegebiet/Südwestfrankreich (archäologische Informationen von Movius 1975).

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Auch eine weitere Schicht im Abri Pataud (aus dem Perigordien VI) rührt of-fensichtlich von einem nur zeitweilig bezogenen Jägerlager her. Auch hier gibt für mich die Anordnung der Feuerstätten den Ausschlag. Allerdings besitzen die Herde dieses Niveaus eine Eigentümlichkeit: Ihre der Abri-Rückwand zugekehr-ten Seiten sind länglich ausgezogen. Aufgrund völkerkundlicher Forschungen wissen wir: Feuerstätten gibt man oft diese Form, um das Bettzeug davor zu be-wahren, in Brand zu geraten. Andererseits gab es in einem etwas abweichenden Teilbereich desselben Niveaus einige Herde in ungefähr zwei Meter Entfernung von der Abri-Hinterwand, und dies läßt vermuten, daß man dort »Doppelbet-ten« aufgeschlagen hatte. Vor dem Schlafbereich befi ndet sich eine Gruppe von Steinen, die ich als Windfang deuten würde. Alles in allem weisen die archäolo-gischen Überreste dieser Abri-Besiedlungsschicht darauf hin, daß wir es hier mit einem kleinen Familienlager zu tun haben, das sich von dem zuvor beschriebe-nen Jägercamp aus dem Aurignacien erheblich unterscheidet. Im Gegensatz zu diesem repräsentiert es eine andere charakteristische Siedlungsform der jung-paläolithischen Bevölkerung dieses Gebietes.

Frühstück im Bett

Aus meinen völkerkundlichen Untersuchungen geht eine weitere interessante Tat-sache hervor. Im Schlafbereich eines Wildbeuterlagers schläft man nicht nur. Im allgemeinen gilt das Bett auch bei Jägern und Sammlern als etwas Privates, etwas sehr Persönliches und Intimes. Setzt sich beispielsweise jemand auf sein Bett, dann signalisiert er damit: Ich möchte nicht gestört werden. Dabei kann er, gewisser-maßen in seine Intimsphäre zurückgezogen, den unterschiedlichsten Tätigkeiten nachgehen. Er kann über etwas nachdenken, er kann Werkzeuge herstellen, seine Haare kämmen – was auch immer. Doch der Rest der Gruppe weiß: Sprechen und mit den anderen beisammensein möchte er jetzt nicht. Bei allen Jäger- und Samm-lergruppen, bei denen ich mich aufhielt, beobachtete ich das gleiche. Stets war der Schlafplatz ein Stück der ganz persönlichen Sphäre seines Besitzers und wurde als solches respektiert. Ja, ich beobachtete sogar, daß man in Jagdlagern Betten aufschlug, die nur symbolische Funktion hatten, da sie niemandem zum Schlafen dienten, sondern einfach Plätze waren, wo man, von niemandem gestört, in aller Ruhe Geräte reparieren oder mit sich allein sein konnte.Auch diese Funktion des Bettes als ein Stück Intimsphäre innerhalb eines gemeinsamen Lagers verursacht interessante Materialverteilungsmuster, von denen wir nur hoffen können, sie eines Tages auch an archäologischen Stätten nachzuweisen. Gewöhnlich verzehren Jäger und Sammler am Abend ihr gemein-sames Mahl, doch nicht selten nimmt sich jeder etwas von den Überresten der gemeinsamen Mahlzeit (wie etwa ein Stück kaltes Fleisch oder eine Kaninchen-keule) mit an sein Bett, um es am nächsten Morgen zum Frühstück zu essen. Verständlich, denn am Morgen ist es bisweilen kalt. Die Männer sind dann noch schläfrig und kaum zu gemeinsamen Gesprächen aufgelegt. Jeder ist froh, wenn er auf seinem Bett sitzen und in aller Ruhe frühstücken kann.

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So entsteht an jedem Bett eine kleine Ansammlung von Speiseresten, denn man verzehrt ja nicht nur die Überreste vom Abend zuvor, sondern die Abfäl-le neben den Betten können auch Knochen kleinerer Säugetiere enthalten, die man nicht gemeinsam verspeiste, vielmehr auf der Feuerstelle neben seinem Bett allein für sich zubereitete und dann im Bett aß. Man darf daher an archä-ologischen Stätten eine unterschiedliche Verteilung von Überresten einzeln genossener Imbisse und gemeinsam eingenommener Mahlzeiten erwarten. Allerdings lagert der Abfall des »Frühstücks im Bett« nicht stets auch dort, wo man es zu sich nahm. Beispielsweise sammelte man in einem Buschmannlager, nachdem jeder aufgewacht war und seinen Morgenimbiß verspeist hatte, die übriggelassenen Frühstücksreste in Häuten oder Decken, aus denen das Bett-zeug besteht, trug sie zum Hüttenausgang und kippte sie dort aus.17

Dieses Verhalten führt zur Bildung eines »Frühstücks-Abfallhaufens« entweder neben dem Schlafbereich oder an der Tür. Derartige »Tür-Abfallhaufen« habe ich auch in Eskimolagern sowie bei australischen Ureinwohnern beobachtet, aber auch Völker, die Gartenbaukultur betreiben, zeigen ein entsprechendes Verhalten.

99 Lager australischer Ureinwohner des Pintupi-Stammes. Man erkennt die kleinen Feuerstellen neben den Betten sowie umfangreiche Überreste kleiner Frühstücksmahlzeiten rings um die Schlafzonen (nach Hayden 1979, Abb. 125 B, Seite 152).

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100 !Kung-Buschmann-Lager Nr. 7 nach der Aufzeichnung John Yellens. Man beachte die »Türmüll-kippen« rechts neben den Hütteneingängen. Sie enthalten den Abfall der Frühstücksimbisse, die man im Hütteninneren auf den Betten zu sich nahm (nach dem unnumerierten Endplan des Lagers 7 bei Yellen 1977).

Zonen extensiver Aktivität

Manche Arbeiten pfl egt man lieber im Stehen als sitzend auszuführen. So entstehen Bereiche weitgestreuter Abfälle. Ein aufschlußreiches Beispiel für eine Tätigkeit dieser Art, bei der man viel Raum braucht, ist die Anlage und Verwendung sogenannter »Grubenherde« unter freiem Himmel. Die Alya-wara-Ureinwohner in Australien, bei denen ich Forschungsarbeiten durch-führte, benutzen derartige Herdgruben zu mancherlei Zwecken. Eine dieser Verwendungsarten konnten James O’Connell und ich beobachten. An ihr läßt sich hervorragend zeigen, daß und in welchem Maße die Größe der ent-sprechenden Tätigkeitszone (activity cuea) von der Schaffung und dem Ge-brauch derartiger, zum Fleischgaren bestimmter Gruben abhängen. Als wir uns mit einer Gruppe männlicher Alyawara unterwegs zu einem Steinbruch befanden, töteten die Männer ein weibliches Känguruh mit einem Jungtier im Beutel, desgleichen drei australische Trappen. Es war ein warmer Tag, und in einem solchen Fall rösten Jäger, die Wild erlegt haben und sich weit von ihrem Wohnplatz entfernt befi nden, das Fleisch ihrer Beute sofort, um zu verhindern, daß es auf dem Rücktransport zum Lager verdirbt.

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101 Australischer Alyawara-Ureinwohner beim Ausschlachten eines Känguruhweibchens. Er schneidet in den Bauch des Tieres ein kleines Loch, und nur durch diese winzige Öffnung entfernt er die Därme. Später wird der Schnitt wieder verschlossen, wobei ein Zweiglein als Stecknadel dient. So können, während man das Tier im Grubenherd garen läßt, weder Asche noch Erde oder Holzkohle in die Bauchhöhle eindringen.

102 Grubenherd wird ausgehoben. Man tut dies gewöhnlich in möglichst pfl anzenarmem Boden und wirft den Aushub neben die Grube, denn »es« sei »besser, trockenen Boden zu erhitzen« (was sich darauf bezieht, daß man nicht nur in der Grube, sondern auch neben ihr Feuer ent-zündet). Diesen auf dem ebenen Boden neben der Grube gelagerten und erhitzten Aushub benutzt man später, um die Grube zu verschließen, so daß das Tier in ihr garen kann (vgl. Abb. 105). Im Hintergrund erkennt man, wie ein Alyawara Brennholz auf den ebenen Boden neben der Grube legt.

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Die Männer begannen ihre Arbeit damit, daß sie mit einem steinernen Messer sowie mit einer Metallaxt, die wir mitgebracht hatten, das tote Tier ausweide-ten. Große Tiere bereiten sie in der Regel zu, ohne ihnen das Fell abzuziehen. Sie entfernten also lediglich die Eingeweide durch eine kleine Öffnung im Bauch, die anschließend mit Hilfe eines Akazienzweiges wieder verschlossen wurde. Danach hoben sie eine rund 50 cm tiefe, etwa anderthalb Meter lange und etwas über einen halben Meter breite Grube aus. Auf dem ebenen Boden daneben wurde Holz aufgestapelt und entzündet. Als das Feuer brannte, warfen die Alyawara das Känguruh in die Flammen, um ihm die Fellhaare abzusengen. Inzwischen legte man daneben belaubte Zweige aus, die verhindern sollten, daß das Fleisch sandig wurde. Schließlich war das Feuer niedergebrannt, und die Jäger schlugen mit Stöcken auf die Glut ein, so daß vom Holz die ver-kohlten Stücke abbrachen und in die im Boden ausgehobene Grube fi elen.Dann war man zu der Überzeugung gelangt, die Glut habe die richtige Tempera-tur erreicht. Man legte das Känguruh mit den Läufen nach oben auf die heißen Holzkohlenstücke in der Grube, packte die in Blätter gewickelten Trappen dazu und deckte alles mit der restlichen, ebenfalls noch glühenden Holzkohle ab. So

103 Das Känguruh wird gesengt. Das in die Grube sowie auf den fl achen Rand daneben gelegte Brennholz wird angezündet. Sobald das Feuer hell aufl odert, wirft man das Känguruh darauf, um es zu sengen, schnappt es dann aber mit raschem Griff und zieht es aus der Glut wieder heraus, um die verbrannten Haare abzukratzen. Dies geschieht, weil das Fell ein hervorragen-der Wärmeisolator ist und das Garen des Tieres verzögert, wenn nicht gar völlig unmöglich macht.

Da die Fellbehaarung nicht auf einmal abbrennt, muß man das Tier mehrere Male ins Feuer werfen und wieder herausziehen.

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ließ man das Fleisch ungefähr eine Stunde lang rösten. Während die Alyawara all diesen Arbeiten nachgingen, zeichneten wir das entsprechende Raummuster auf und fertigten eine Planskizze des Grubenherdbereiches an, in die wir sämtliche Spuren, Strukturen, Überreste und andere Merkmale eintrugen, von denen man erwarten durfte, sie auch an einer archäologischen Stätte entsprechender Art zu fi nden. Der Grubenherd, der Platz, wo das Feuer brannte, der Grubenaushub, die Stelle, wo man die nicht zur Grubenfüllung benötigten brennenden Holzstücke hinwarf, deren zu Holzkohle gewordenen Teile man abgeschlagen hatte, die be-laubten Zweige, auf die man das Fleisch vor dem Rösten legte, die Stelle, wo man den Känguruhschwanz bearbeitete, während sich das übrige Tier bereits im Gru-benherd befand, ja sogar der Punkt, wo James O’Connell und ich unser eigenes Feuer entfacht hatten, um unsere Bohnen zu kochen – all dies wurde sorgfältig in unserer Skizze festgehalten. Eine der aufschlußreichen Tatsachen, die sich bei unserer Untersuchung dieser Hitzekonservierung des Känguruhfl eisches ergaben, war: Es gibt durchaus eine gewisse Norm für den Raum, den Menschen benötigen, wenn sie stehend arbei-ten (sie liegt zwischen 17 und 24 Quadratmetern) Darüber hinaus resultiert aus

104 Holzkohlenzubereitung. Zunächst läßt man das Feuer kraftig brennen. Doch das Sengen des Känguruhs sowie wiederholtes Ins-Feuer-Schlagen bewirken, daß sich eine beachtliche Holz-kohlenschicht bildet. Wenn man diese für ausreichend hält, zieht man noch vorhandene brennende Holzscheite aus der Glut und wirft sie beiseite. Nur die Holzkohle bleibt in der Grube sowie an deren Rand liegen. Deutlich erkennbar: rings um die Grube der Bereich, in dem die Alyawara, während sie ihre Arbeit tun, um sie herumlaufen. Desgleichen sieht man andere Nahrungsmittel, die mit gegart werden sollen. Sie liegen im Hintergrund auf einem »Tisch« aus Blättern.

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der beschriebenen Folge von Handlungen ein klassisches Verteilungsmuster mit dem Grubenherd im Zentrum, einer Arbeitszone ringsherum und einem äuße-ren Ring für alle möglichen Abfälle. Die Abfälle, die unmittelbar von der Arbeit am Grubenherd herrühren, fi ndet man unmittelbar neben der Grube selbst. Doch aller anderer Abfall liegt weiter von ihr entfernt an der Peripherie des gesamten ArbeitsbereichesEine weitere stehend verrichtete Tätigkeit, die ein sehr ähnliches Abfallmuster hinterläßt, ist das Ausschlachten erlegter Tiere Der Hauptunterschied zwischen einem Grubenherd- und einem Schlachtplatz besteht im Fehlen der zentralen Herdgrube. Somit bleibt für Archäologen kein »zentrales Charakteristikum« zu-rück. Im Regelfall arbeitet die Person, die ein erlegtes Wild ausweidet, in einem

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105 Die Nahrung kommt in den Ofen. Man bettet das Känguruh in die heiße Holzkohle innerhalb der Grube. Dann packt man die Trappen hinzu, und zwar in Blätter eingewickelt, um das Fleisch beim Garen schön saftig zu halten Schließlich deckt man alles mit dem heißen Sand und der am Grubenrand hegenden Holzkohle ab, und das Garen beginnt.

106 Plan des Grubenherdbereiches der Alyawara. Man beachte, wo die Alyawara ihren Imbiß einnehmen, wahrend sie das Garen des Fleisches abwarten Die Buchstaben LRB und JOC be-zeichnen die Stellen, wo die Archäologen ihr eigenes Mahl (Bohnen aus der Konservendose) verzehrten Diese Skizze verdeutlicht recht klar, wieviel Platz eine Tätigkeit wie die Zubereitung von Nahrung in einem Grubenland beansprucht.

107 Bei dieser öfter benutzten Herdgrube an einem Wohnlagerplatz der australischen Alya-wara-Ureinwohner fallen sofort die betrachtlichen Holzkohleansammlungen ringsherum ins Auge. Derartig schmutzige Lagerbestandteile, die zudem noch viel Raum beanspruchen, placiert man meist weit weg vom Lagerkern, wo sich das Leben abspielt

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kreisrunden Feld, in dessen Mitte das tote Tier liegt. Der Schlächter bewegt sich dabei von einer Seite des toten Tierkörpers zur anderen, und die abgezogene Tierhaut dient ihm bei seiner Tätigkeit als eine Art »Arbeitsplattform«. Die Re-sultate sind:1. Eine von Überresten freie Arbeits- und Laufzone rings um das tote Tier.2. Aus diesem Arbeitsbereich an den äußeren Rand geworfene Abfälle, die sich

an der Peripherie des Platzes ansammeln.Meinem Beobachten bei den Nunamiut-Eskimos zufolge benötigen diese zum Schlachten (Ausweiden und Zerlegen) eines Karibus etwa 30 Quadratmeter. Abbildung 59 zeigt dieses Muster des Schlachtvorgangs anhand der Abfallver-teilung, die vom Zerlegen der Karibus am Schlachtplatz von Anavik Springs her-rührt. Auch aus anderen Gründen sind Schlachtplätze von Interesse, gleich ob es sich um derartige Plätze bei den Eskimos oder bei australischen Ureinwohnern handelt. Und zwar pfl egt man in beiden Fällen18 das Fleisch am Schlachtplatz und nicht erst im Wohnlager zu verteilen. Unsere Gewährsmänner erklärten uns: Bei der Fleischverteilung handle es sich um eine andere Art von »Besuch«, als wenn Verwandte zusammenkämen, um miteinander zu »reden«.Robert Hard stellte Abfallverteilungsmuster ähnlicher Art und Größenordnung wie an den beschriebenen Schlachtplätzen auch bei den Tarahumara-Indianern in Mexiko fest. In Grubenherden, die gewöhnlich hinter ihren Hütten (und somit in einiger Entfernung von den Aktivitätsarealen vor der Hüttentür) liegen, rös-ten diese Indianer große Wüstengewächse. Es gilt dabei die Regel, daß Tätigkei-ten (wie die Arbeit an einem Grubenherd oder das Schlachten von Beutetieren), die etwas mehr Raum beanspruchen, von anderen Arealen entfernt verrichtet werden, die man intensiv für Zwecke der »Alltagsroutine« nutzt. Sogar austra-lische Ureinwohner legen Grubenherde in randständigen Bereichen an, nicht unmittelbar dort, wo sich das Leben abspielt, wo sie schlafen, sich unterhalten und in kleinerem Umfang Speisen zubereiten oder handwerkliche Tätigkeiten ausüben.Eine entsprechende Placierung beobachtete ich auch bei Eskimos und Nava-jo-Indianern: Im allgemeinen liegen deren Grubenherde am Rande kleinerer »Müllkippen« oder Holzzerkleinerungsplätze, so daß sie das normale Lager-leben nicht stören. Desgleichen fand ich in Lagern australischer Ureinwohner

108 Nunamiut-Eskimo beim Zerlegen eines auf der Frühjahrswanderung erlegten Karibus. Das dafür von ihm beanspruchte kreisrunde Geländestück entspricht dem kreisrunden Arbeitsbe-reich rings um die Grubenherde der australischen Alyawara-Ureinwohner (vgl. Abb. 101-107).

109 Tätigkeitsbereich auf einem Nunamiut-Schlachtplatz. Es ist eine der Stellen, an denen . die Nunamiut-Eskimos ein getötetes Karibu zerlegen. Die Raumaufteilung ist nahezu gleich mit der der Grubenherdareale bei den australischen Ureinwohnern. Die genutzte Gesamtfl äche ist hier sogar noch ein wenig größer, weil man Stücke des erlegten Wildes, die man nicht brauchte (so den Kopf mit dem Geweih und den Mageninhalt), außerhalb des eigentlichen Lauf- und Arbeitsbereichs deponierte.

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110 Australische Alyawara-Ureinwohner beim Verteilen des Fleisches eines Känguruhs, das in einem Grubenherd am Rande eines Wohnlagers zubereitet wurde. Oft läßt man in solchen Fällen Kinder die Botengänge machen So erhalten auch Personen ihren Fleischanteil, die bei der Verteilung nicht persönlich anwesend sein können.

111 Buschmann beim Bearbeiten einer Tierhaut im Mokudi-Lager des Nyae Nyae-Gebietes in Na-mibia (Mit freundlicher Genehmigung des Südafrikanischen Museums in Kapstadt)

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ebenso wie bei Eskimos: Die weiträumigen Areale, wo man in aufrechter Hal-tung arbeitet, liegen oftmals nahe beieinander. Beispielsweise befi nden sich in Eskimolagern Schlachtplätze nicht selten in unmittelbarer Nähe von Beladeplät-zen für Schlitten oder von Zonen, wo irgendwelche Vorräte lagern. Insgesamt liegen all diese Bereiche am Rande der eigentlichen Wohnzone, denn sie alle brauchen viel Platz.Auch die Bearbeitung von Häuten fi ndet immer wieder in randständigen Berei-chen von Wohnlagern statt. Hat man es nur mit einem oder zwei Fellen zu tun, kann es vorkommen, daß man diese unmittelbar neben oder hinter den Behau-sungen zum Trocknen aufspannt. Größere Mengen jedoch schafft man weiter hi-naus an entlegenere Plätze. Nicht selten benötigt man für das Präparieren dieser Häute eine glatte Mache, ja man macht zu diesem Zwecke steinige Geländestücke von Steinen frei. Die beiseitegeräumten Felsbrocken erfüllen bisweilen noch ei-nen besonderen Zweck: Als Steinringe dienen sie zum Beschweren der Häute, wenn diese zum Trocknen ausliegen. Rein archäologisch würde man diese Stein-kreise wohl als »Zeltringe« deuten, ebenso wie man aus dem Vorhandensein der Steinhaufen am Rande des betreffenden Areals auf die Existenz irgendwelcher Baulichkeiten schließen wurde – und doch handelt es sich lediglich um Stein-brocken, die man beiseiteschaffte, weil man eine glatte Fläche zum Felltrocknen brauchte!

112 Große Herdgrube hinter einem Tarahumara-Haus im nördlichen Mexiko. Deutlich erkennt man die Lauf- und Arbeitszone rings um die Herdgrube. Vom Standpunkt der Raumnutzung aus haben wir hier eine Parallele zu den Schlachtstellen der Eskimos und den Grubenherden der australischen Ureinwohner (Mit freundlicher Genehmigung von Robert Hard)

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Fundstätten-Struktur – eine Kombination von Merkmalen

»Stätten« bestehen aus »Anlagen« (bzw. »Einrichtungen«) gleich welcher Art, aus Arealen und Einzelobjekten. Bisher sahen wir, wie diese Grundelemente all-gemeingültige Raumnutzungsmodelle bildeten, die sich jeweils auf bestimmte Aktivitäten zurückführen lassen. Dies galt beispielsweise für die Anordnung im Sitzen arbeitender Personen, für Schlafzonen, für geräumigere Plätze, wo man im Stehen zu verrichtende Arbeiten ausführte, und dergleichen mehr. Damit aber sind wir in der Lage, uns nunmehr der Gesamtanalyse archäologischer Stätten zuzuwenden. Unter Analyse der Fundstätten-Struktur verstehe ich: sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie sich im Aufbau und der Gliederung einer und der-selben Stätte Raumnutzungsmodelle zu einem gemeinsamen Ganzen verbinden. Zwar ist es unmöglich, in dem uns hier zu Gebote stehenden Rahmen die gesam-te Vielfalt der Fundstätten-Strukturen darzustellen, die durch ethnographische Forschungen zutage gefördert wurde. Doch sind wir wenigstens in der Lage, die erarbeiteten Erkenntnisse anzuwenden, um zu einer sinnvollen Deutung der be-obachteten Distributionsmuster archäologischen Materials zu gelangen. Das erste Beispiel sei die Analyse eines typischen Buschmannlagers anhand von »Aktivitätsmodellen«. In der Kalahari-Wüste errichten Buschmänner kleine

113 Buschmannlager in Angola (um 1930). Es handelt sich um auch unter der Bezeichnung Sekele bekannte sogenannte »gelbe Buschmänner« (weitere Details bei Almeida 1965). Man beachte die Position der Feuerstelle mitten im Eingang der Schutzhütte, die errichtet wurde, um wäh-rend der heißesten Stunden des Tages Schatten zu spenden. (Aufnahme von J. Drury, Wieder-gabe mit freundlicher Genehmigung des Südafrikanischen Museums in Kapstadt)

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Hütten, die mehr dem Schutz vor der glühenden Sonnenhitze dienen als Wärme spenden sollen. Um die Tagesmitte kann die Hitze unerträglich werden, und die Buschmänner verbringen die heißesten Stunden des Tages im Hüttenin-neren auf ihren Betten sitzend. Sie nutzen diese Zeit, um Geräte herzustellen oder irgendwelche andere Arbeiten zu verrichten, und daher fehlt es in ihren Schlafzonen nicht an Abfällen dieser im Hüttenschatten ausgeübten Tätigkeiten. Im Gegensatz dazu befi ndet sich die Feuerstelle für die Zubereitung ihrer ge-meinsamen Mahlzeiten in Eingangsnähe außerhalb der Hütte. Und da man das Essen auch draußen am Feuer verzehrt, bildet sich rings um den Feuerplatz eine im Grundriß fl aden- oder wulstartig wirkende Ansammlung von Speiseresten. Genau das gleiche Muster fi ndet sich auch anderswo. Vergleicht man die Daten von drei Wildbeutergruppen, den !Kung-Buschmännern, den Nunamiut-Eski-

114 Grundriß einer typischen !Kung-Buschmannhütte mit zugehöriger Feuerstelle (nach Yellen 1977, unbezifferter Endplan des Lagers 5).

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115 Größen- und Anordnungsvergleich von Wohnhütten und Feuerstellen dreier verschiedener Jäger- und Sammlergruppen: der !Kung-Buschmänner, der Nunamiut-Eskimos und der austra-lischen Ngatatjara-Ureinwohner. Rechts drei hypothetische Raumnutzungsmodelle. Die beiden unteren sind ethnographisch belegt.

mos und den australischen Ngatatjara-Ureinwohnern, so wird man feststellen, daß sich die Anordnungen der Wohnhütten, Schlafzonen und Außenfeuerstätten sehr ähneln. Ursache der auffallenden Übereinstimmung hinsichtlich der Maß-verhältnisse ist der in allen drei Fällen zugrundeliegende Faktor: der menschli-che Körper mit seinen Abmessungen und Mechanismen. Es geht um die Frage: Wieviel Raum benötigt eine kleine Gruppe von Menschen, die vor einem Hüt-teneingang an einem Feuer sitzt und noch genug Platz freilassen muß, daß der Zugang zu ihrer Behausung nicht versperrt wird? Auch die Maßverhältnisse der Hütten im Buschmannlager sind nahezu identisch. Varianten ergeben sich lediglich aus der unterschiedlichen Zahl der Hüttenbewohner. Beiden immer

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wieder anzutreffenden Grundstrukturen liegt einfache »Körpermechanik« zu-grunde, und da diese bei allen Menschen gleich ist, nimmt es nicht wunder, daß die Größenverhältnisse in Wildbeuterlagern auf der ganzen Welt eine dermaßen frappante Übereinstimmung aufweisen.Doch obwohl sich die Grundform von einem Lager zum anderen sowie von einer Bevölkerungsgruppe zur anderen immer und immer wieder wiederholt, können Unterschiede außerordentlich aufschlußreich sein. Beispielsweise ist an den gemeinsam genutzten Feuerstellen der Nunamiut-Eskimos (Abb. 115) das vorherrschende Sitzmuster ein (Halb-)Kreis mit entsprechenden »Zonen des Fallenlassens« und »Wegwerfzonen« – wir sprachen bereits davon. Selbstver-ständlich gibt es noch andere Möglichkeiten, die Speisenzubereitung und den Nahrungsverzehr zu organisieren, wenn beispielsweise zwischen den Mitglie-dern der Gruppe, die die Mahlzeiten kochen, strenge Arbeitsteilung herrscht. In vielen Nunamiut-Lagern kochen die Frauen auf einem im Freien gelegenen »Küchenherd«, doch »serviert« wird in einem anderen Lagerabschnitt. Dabei ist oft rings um den Herd ein kleiner Windschutz aus Buschwerk errichtet. Wenn es jedoch sehr heiß ist, spendet eine Art Sonnendach der Köchin Schatten. Abbil-dung 75 zeigt eine Verteilung von Objekten, die von einem im Freien liegenden »Küchenherd« bei den Nunamiut herrührt. Zu dieser Feuerstelle hat fast nur die Köchin Zutritt, und in der Regel hält man den Küchenbereich unter freiem Him-mel sehr sauber. Allenfalls wirft man Abfälle über den Herd hinweg auf dessen entgegengesetzte Seite, so daß ein von mir so bezeichnetes »Schmetterlingsmus-ter« entsteht. Ist das Mahl dann fertig, wird es den Männern in einem anderen Abschnitt aufgetragen, und zwar ißt man bei schönem Wetter im Freien, bei un-günstiger Witterung bei den Betten im Innern einer Wohnstätte. Die Folge dieser Gewohnheit, die Mahlzeiten abwechselnd drinnen oder draußen einzunehmen, sind Abfallansammlungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Zeltwände.

In Palanganas Haus

Eine der detailliertesten Raumnutzungsuntersuchungen, die je bei Jäger- und Sammlervölkern durchgeführt wurde, konzentriert sich auf eine ethnohisto-risch gut dokumentierte Eskimo-Winterwohnstätte, die unter der Bezeichnung »Palanganas Haus«19 in die Literatur einging. Hier bilden kleine Knochenstücke – Rückstände vom Zerbrechen großer Markknochen – ein deutlich erkenn-bares Halbkreismuster rings um die Feuerstätten-Nordseite. Die Lage dieser Knochenstückchen, die zwischen die Knie und neben die Beine der am Feuer Sitzenden fi elen, verrät, wie man bei den Mahlzeiten saß. Sehr viel weniger Splitter enthält dagegen die Südostseite des Herdes, ja an manchen Teilen des Feuerstättenrandes fehlen diese Splitter nahezu gänzlich. Dort saß die Köchin am Feuer, die das Essen zubereitete und es den anderen reichte. Eine mit der Zone des Fallenlassens korrespondierende Wegwerfzone gab es nicht, denn die Eskimos werfen niemals Speisereste (wie größere Knochen) auf ihre Betten

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oder in irgendwelche Nischen der Seitenwände ihrer Behausungen, wo sie nor-malerweise ihre Habseligkeiten aufbewahren. Zweierlei weist klar darauf hin, daß wir es hier mit dem Inneren einer Wohnstätte zu tun haben:1. Die Existenz einer »Zone des Fallenlassens«, die aber nur aus ganz winzigen

Knochensplittern besteht, zeigt, daß man den Platz regelmäßig säuberte. Nur die winzigen Splitter bekam man beim »Hausputz« nicht in den Griff. Hinzu kommt, daß es einen nicht unbeträchtlichen Kehrichthaufen vor der Tür gab, der seinerseits von der Sauberhaltung des intensiv genutzten Bereiches rings um das Feuer zeugt.

2. Auch das Fehlen der Wegwerfzone hängt damit zusammen, daß man seinen Wohn- und Schlafraum nach dem Verzehr der Mahlzeiten nicht unnötig verschmutzen wollte. Es ist also auf eine Maßnahme der »präventiven Sau-berhaltung« zurückzuführen, die bewirken sollte, daß es gar nicht erst zu Verschmutzungen kam.

Zum Vergleich heranziehen können wir die Verteilung der kleinen Splitter, die als Abfälle des Druckretuschierens von Steingeräten zurückblieben. Diese Feuer-stein-Splitter liegen in einiger Entfernung vom Feuerplatz. Vor allem fi ndet man sie in der Nordwestecke der Behausung (vgl. Abb. 118, oben links), also in einem Abschnitt, wo im Gegensatz dazu die Dichte der kleinen Knochenplitter beson-ders gering ist. Als Erklärung dafür bietet sich an, daß dort an einer Tageslicht-quelle handwerkliche Arbeiten ausgeführt wurden. Vermutlich saßen dort Eski-

116 Schwarzfuß-Indianerlager (um 1920). Links der Küchenherd (eine Außenfeuerstelle) mit einem schattenspendenden Dreifußgestell. Das Wohnzelt befi ndet sich rechts. (Aufnahme H. P. Robinson, Eigenabzug)

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mos, die Steinwerkzeuge herstellten oder nachschärften, im Schein des Lichts, das durch ein Fenster ms Innere der Behausung fi el. Andererseits entstanden die Knochensplitter wohl vorwiegend während der abendlichen Hauptmahlzeit, die man so spät einzunehmen pfl egte, daß im Winter die wenigen hellen Stunden des Tages bereits vergangen waren. Nun war das Innere der Wohnstätte durch das Feuer erwärmt, auf dem man das Mahl bereitet hatte, und die Essenden saßen zwar nicht gerade dort, wo die Köchin am Werk war,

117 Konturendiagramm der Knochensplitterdichte in einem und rings um ein Eskimo-Winterhaus (Palanganas Haus) am Tulugak-See, Alaska. An den höchsten Dichten dieser winzigen Kno-chensplitter erkennt man im allgemeinen, wo die Männer bei den Mahlzeiten saßen oder im Lauf des Tages kleinere Imbisse einnahmen. Hauptzentruni der Knochensplitterdistribution ist der Herd, doch konzentrieren sich die Splitter vor allem an einer Seite von ihm, so daß ein Arbeitsareal splitterfrei bleibt, wo in aller Regel die Frauen das Essen zubereiten. Die Positio-nen A und B waren wohl die »Stammplätze« des »Hausherrn« (B) und der »Hausfrau« (A).

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doch noch immer im Schein des Herdfeuers So erklart sich die unterschiedliche Verteilung beider Objektklassen (Knochen- und Feuersteinsplitter) damit, daß man die Tätigkeiten, mit deren Ruckständen man es hier zu tun hat, an ver-schiedenen Platzen und zu verschiedenen Zeiten ausübte Dennoch weisen beide Verteilungsmuster auch gemeinsame Merkmale auf:Sowohl Knochensplitter als auch Feuerstemabschlage fi nden sich in besonders starker Konzentration an den Punkten A und B (Abbildung 117).

118 Dichtediagramm der Druckabschlagsplitter in und rings um Palanganas Haus Die Verteilung dieser Rückstande der Steingerateherstellung ist deutlich fensterorientiert, d. h. auf die Quelle des Tageslichts hin bezogen, das während nur weniger Stunden eines arktischen Wintertages in das Innere der Behausung fällt. Zwei Konzentrationen entsprechen in etwa den auf Abb. 117 mit den Buchstaben A und B gekennzeichneten Knochensplitterkonzentrationen.

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119 Rekonstruktion der Raumnutzung in Palanganas Haus Die Symbole für sitzende Personen bezeichnen die Hauptsitzplatze anhand der Verteilung von Knochensplittern und Feuer-steinabfällen Bei Ziffer 8 und 9 handelt es sich nicht um zwei Individuen, sondern nur um eine Person, die näher oder weiter entfernt am (bzw. vom) Herd sitzt, je nachdem, ob gegessen (8) oder einer handwerklichen Tätigkeit nachgegangen wird (9). Der Grund des Abrückens ist das Vorhandensein einer Dachstütze, an die man sich mit dem Rücken anlehnen kann. Sie befi ndet sich unmittelbar vor dem Stein hinter Nr 9. Der Mann wechselt seinen Platz, wenn er für seine Arbeit das vom Fenster einfallende Tageslicht benötigt. Die Positionen 3 und 5 sind mit ziemlicher Sicherheit die bevorzugten Sitzplätze der »Frau des Hauses«. Position Nr 3 ist ihr »lichtorientierter« Sitzplatz. Hier arbeitet sie, stellt irgend etwas her, bessert etwas aus. Nr 5 dagegen ist ihr wohl in ihrer Eigenschaft als »Köchin« vorbehalten, und wenn sie hier am Feuer tatig ist, sitzt sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf ihrem Bett. Man beachte rechts von ihr auch die Steine, die ihr als Tisch dienen. Die Sitzplätze Nr l und 2 liegen außerhalb des Hauses. Hier saßen wohl an den wenigen wärmeren Tagen des Früh- und Spätwinters Männer in der Sonne, verrichteten ihre Arbeit oder nahmen einen Imbiß zu sich.

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Auch außerhalb und im Süden der Behausung fi ndet sich eine Konzentration beider. Diese Übereinstimmungen verraten, wo man beim Essen und Reparieren zu sitzen pfl egte. Ich leite aus all dem für Palanganas Haus ein Raummodell ab, das im folgenden kurz dargelegt sei. Die auf Abbildung 119 dargestellte Schlafzo-ne (die der »Zone C« Leroi-Gourhans20 entspricht) erbrachte nur wenige Abfälle handwerklicher Tätigkeit und wies eine niedrigere Gesamtdichte von Artefakten auf als alle anderen Bereiche innerhalb des Hauses (ein von Leroi-Gourhan vo-rausgesehener Charakterzug). Legt man eine Verteilungsskizze der Handwerks-abfälle auf den Hausgrundriß, so wird zweierlei sichtbar:

120 Verteilung der Herstellungsabfälle in Palanganas Haus. Jeder Punkt steht für irgendeinen Gegenstand, dessen Position jeweils einzeln registriert wurde. Daß sich eine stärkere Konzen-tration davon in dem am Fenster liegenden Teil des Hauses fi ndet, entspricht nur den Erwar-tungen.

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121 Modell der in Palanganas Hause ausgeübten Tätigkeiten. Hierzu haben wir die Vertei-lung der Herstellungsabfälle, die Abb. 120 zeigt, und das allgemeine Sitz- und Raum-nutzungsmodell von Abb. 119 übereinandergelegt. Bei den nicht ausgefüllten winzigen Kreisen handelt es sich um Steingeräte. Sind sie ausgefüllt, repräsentieren sie Artefakte aus Geweih. Die kleinen Pünktchen schließlich stehen für steinerne Herstellungsabfälle.G bezeichnet Abfälle bei der Herstellung von Geräten aus Geweih, H schließlich Abfälle bei der Herstellung von Geräten aus Holz. Man beachte: Geräte gruppieren sich rechts (also an der Nordseite) des Herdes zu dichteren Konzentrationen, wogegen man sie links und oberhalb des Herdes (also an dessen Süd- und Westseite) nur vereinzelt antrifft. Die meisten hier verbliebe-nen Geräte hatte man wohl versteckt oder heimlich auf die Seite gebracht, dann aber vergessen, als die Stätte eines Tages aufgegeben wurde. Eine derartige Form der Gerätestreuung ist in den Schlaf- bzw. Bettzonen zahlreicher Sammler- und Jägerstationen verbreitet.

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Erstens: Die fraglichen Abfälle häufen sich in dem Quadranten am Fenster der Wohnstätte (jenem Abschnitt der Behausung, wo man in Heimarbeit bestimmte handwerkliche Tätigkeiten ausübte). Dieses Areal entspricht der »Zone B« im Modell Leroi-Gourhans, doch der bei der Aufstellung dieses Modells ins Auge gefaßte Bruch oder vielmehr die Untergliederung der fraglichen Zone in zwei Teilraumeinheiten ist nicht erkennbar. In Palanganas Haus sehen wir:Überreste um die Feuerstätte zentrierter Tätigkeiten, die mit der Nahrungsauf-nahme zu tun haben und weitgehend während der dunklen Spätnachmittags-, bzw. Abendstunden im Schein des Herdfeuers stattfi nden.Überreste im Bereich der Tageslichtquelle innerhalb des häuslichen Raums ausgeübter Tätigkeiten. Leroi-Gourhans Unterscheidung zwischen Überresten »feiner« und »grober« Arbeiten, die er an verschiedenen Seiten des Feuerplatzes vorzufi nden meint, ist eher auf Außenherde anwendbar, wo man das angesam-melte Abfallmaterial neben den Arbeitsbereichen ablegt.Zweitens erkennen wir, warum die Nunamiut die unterschiedlichen Bereiche am Innenherd einer Behausung als »Frauenseite« und »Männerseite« charakterisie-ren. Als »Frauenseite« bezeichnen sie den vom Herdfeuer stärker erleuchteten Bereich des Hausinneren, als »Männerseite« dagegen die dunklere Seite des Hauses, in die weniger Licht vom Herdfeuer fällt. Dies bedeutet keineswegs, daß sich ausschließlich Männer oder Frauen in den betreffenden Bereichen aufhal-ten oder daß es gar Tabuvorschriften gibt, die dem jeweils anderen Geschlecht den Zugang verwehren. Nein – die Gliederung bringt einfach zum Ausdruck, welches der beiden Geschlechter welchen Bereich der Wohnstätte vorwiegend nutzt. Die meisten Männerarbeiten verrichtet man sogar in einem besonderen »Männerhaus«, einem eigenen Bauwerk, das in Winterlagern die Regel ist. Nicht selten erbaut man, wenn die Gruppe ihr Winterlager bezieht, dieses »Männer-haus« zuerst. Es bietet den Männern Schutz, solange diese die Winterbehausun-gen errichten, in die die Familien schließlich einziehen.In einem solchen Männerhaus arbeiten die Männer viele Tage lang in Gruppen. Oft ist auch der männliche Nachwuchs des Stammes dabei, der hier in die Tech-niken der Geräteherstellung und -reparatur eingeweiht wird. Im Männerhaus bleiben Abfälle handwerklicher Tätigkeit einfach liegen, wo sie hinfallen. Man braucht sie ja auch nicht beiseitezuräumen wie in den Wohnbehausungen, wo die Frauen Raum beanspruchen, um die Mahlzeiten zuzubereiten oder sich vor dem Zubettgehen um die Kinder zu kümmern. Infolgedessen ist dieses Männer-haus eine »Aktivitätszone« besonderer Art, wo man – unabhängig von dem auch in den Wohnstätten dafür zur Verfügung stehenden Platz – Werkzeuge herstellen und reparieren kann. An Lagerplätzen, wo man sich nicht so lange aufhält (oder in Sommerlagern bei besseren Wetterbedingungen) sitzen die Männer gewöhn-lich an einem bestimmten Platz im Freien. Sie verrichten dort ihre Arbeiten und nehmen teilweise sogar ihre Mahlzeiten dort ein. Gewöhnlich liegt dieser Platz an einer sonnigen, verhältnismäßig warmen und geschützten Stelle, nicht selten an der Südwand einer Behausung, wie es Abbildung 115 zeigt (es ist vom dort skizzierten Nunamiut-Wohnmodell die Rede).

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Wenn bei warmem Wetter auch die Frauen ihre Arbeit im Freien tun, bereiten sie die Mahlzeiten an einem Außenherd zu, neben dem es für sie einen Kommuni-kationsbereich gibt. Hier nähen sie, fertigen oder reparieren sie Kleidungsstücke und andere Dinge oder beaufsichtigen sie die in unmittelbarer Nähe spielenden Kinder. Im Sommer dient das Haus also lediglich als Schlafplatz sowie als großer »Schrank«, in dem man seine Habseligkeiten aufbewahrt. Nur bei schlechtem Wetter wird es wirklich zur Wohnstätte.Um aber wieder auf die Raumverteilung im Hausinneren zurückzukommen (Abb. 121): Fest steht, daß der häusliche Raum durch ‹nne dichte Verteilung von Artefakten gekennzeichnet ist, die man als Abfälle der Herstellung und/oder Reparatur irgendwelcher Gegenstände aus Holz oder Geweih anzusehen hat. Die Artefaktverteilung in diesem Raum ist aufschlußreich. Zunächst gibt es eine stärkere Konzentration zwischen den einzelnen Ruhestätten (den »Betten«), desgleichen in Armeslänge rechts von dem Individuum, das in Position 5 sitzt

122 Palangana-Fundstätte, Tulugak-See: Knochenverteilung außerhalb des Hauses. Ein Teil der Knochenstreuung geht auf die Fütterung der Hunde zurück, die an der Nordwestecke des Geländes angepfl ockt waren. Weitere Knochenreste stehen mit besonderen Charakteristika wie z. B. dem aus Steinen zusammengesetzten Herd in Verbindung, doch die meisten Knochen sind im gleichen Bereich verstreut, in dem sich auch der Knochensplitterhaufen erhebt – ein Merkmal dieses Platzes, das einem sofort ins Auge fällt.

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(der Köchin). Entsprechende kleine Artefaktanhäufungen fi nden sich hinter oder unmittelbar neben sämtlichen Männersitzplätzen an der dunkleren Seite des Herdfeuers. Bei den betreffenden Geräten handelt es sich um Teilstücke, die man im Begriff war, zu einem vollständigen Ganzen zusammenzusetzen, oder um bereits fertige Stücke, die man soeben vollendet und neben dem Sitz, den man üblicherweise einzunehmen pfl egte, oder neben seinem Bett abgestellt hatte. Vorräte legte man in dieser »Haushaltszone« dagegen kaum an, denn die-ses Areal wurde regelmäßig gereinigt. Allerdings stellte ich fest, daß es in den Schlafzonen kleine »Vorratslager« gab – dies ganz besonders in Dauerbehausun-gen, bei denen auch dann, wenn man auszieht, nicht mehr Licht als sonst in die dunkle »Männerzone« fällt. Handelt es sich dagegen um ein Zelt, fällt bei seinem Abbruch das Tageslicht voll ein und erleichtert die Suche nach verlorenen oder absichtlich versteckten Gegenständen.

Rund um ein Eskimo-Haus

Wenn wir das Haus verlassen und uns draußen vor der Tür umsehen, stellen wir einen starken Gegensatz zwischen dem außerordentlich differenzierten und intensiv genutzten Areal im Wohnhausinneren und dem weitmaschiger ge-gliederten Raum außerhalb des Wohnhauses fest. In dem Abschnitt am oberen Rand der Abbildung 122 waren vier Hunde angepfl ockt. Zwischen ihnen und dem Hause lag ein größerer Haufen von Knochensplittern. Ein Stück vor der Westseite des Hauses befand sich ein großer steinerner Herd, auf dem man aus Karibuknochen Fett kochte. Dieser steinerne Herd und der zugehörige Abfall-haufen aus zerstoßenen Knochen nahmen fast die gleiche Grundfl äche ein wie das Haus selbst!Einige besondere Merkmale wären schwer zu interpretieren, wüßte man nicht, vor welche Probleme die Eskimos bisweilen durch ihre Umwelt gestellt werden. Beispielsweise erblickt man auf den Abbildungen 117 bis 121 außerhalb (auf den Planskizzen oberhalb) des Hauses einen als »Vorratsplattform« bezeichneten Steinhaufen. Legt man nämlich in der Arktis irgendwelche Dinge, von denen man einen Wintervorrat anlegen möchte, einfach auf den Boden, bevor im Oktober/November die ersten größeren Schneefälle einsetzen, so frieren die betreffen-den Gegenstände unwiderrufl ich am Erdreich fest und lassen sich ohne äußerst mühsames Hacken nicht mehr ablösen. Aus diesem Grund legt man nicht allzu häufi g benutzte Gegenstände oder Materialien, von denen man einen Wintervor-rat benötigt, auf derartige Steinplattformen oder stapelt sie, wo nicht genügend Steine vorhanden sind, auf Hirschgeweihen auf (Abb. 123). Derartige Vorrats- bzw. Lagerplätze, für die man zwar besondere Vorsorge trifft, die aber kein Schutzdach, kein Licht und keine Wärme benötigen, sind überall in der Umgebung von Eski-mo-Wohnstätten anzutreffen. So gab es beispielsweise mit Sicherheit unmittelbar südlich von Palanganas Haus, wo bisher noch keine Ausgrabungen stattfanden, ein großes Gestell bzw. Gerüst für die winterlichen Fleischvorräte.

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Wenn wir jetzt einen Überblick geben wollen – was läßt sich ganz allgemein sagen? Wir erblicken eine Kernzone, in diesem Fall das Hausinnere, die intensiv genutzt wurde und sehr differenziert unterteilt ist. Unmittelbar daneben liegen grobmaschi-ger gegliederte Bereiche für Aktivitäten, die jeweils beträchtlichen Raum beanspru-chen: Vorratsgestelle und Vorratsplattformen, hinzu kommt ein großer, unter freiem Himmel liegender Abfallhaufen. Wenn wir uns weiter vom Hause wegbewegen, stoßen wir auf die geräumigsten und am stärksten spezialisierten Areale: die Hunde-pfl öcke und den aus Steinen zusammengesetzten Außenherd mit seiner Verschmut-zungszone. Derartige, auf konkreten Beobachtungen beruhende Aussagen sind nützlich und aufschlußreich. Doch wie können wir unsere in einem Eskimo-Lager gesammelten Beobachtungen auf archäologische Befunde anwenden?

Sachzwänge und Raumnutzung: Wärme und Licht

Palanganas Haus bietet ein Beispiel für die Gliederung eines begrenzten Wohn-raums. Im Schutz dieses Hause lief eine Vielzahl von Tätigkeiten ab, die zeitlich

123 Karibugeweihe als Vorratsständer in dem Eskimo-Dorf am Anaktuvuk-Paß, Herbst 1969. Um zu vermeiden, daß im Freien gelagerte Gegenstände am Boden festfrieren, packt man Güter, die man im Freien speichern will, bündelweise auf Karibugeweihe. So kommt man auch leichter an die gelagerten Güter heran, wenn der Schnee höher liegt. (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von C. Amsden)

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und räumlich ganz unterschiedlich aufgeteilt waren. Einige, wie etwa handwerk-liche Tätigkeiten und Speisenzubereitung, fanden zu verschiedenen Zeiten in einem und demselben Bereich statt (intensive Nutzung), andere dagegen – so Hausarbeit und Schlafen – überwiegend an verschiedenen Plätzen (extensive Nutzung). Im wesentlichen läßt sich die Raumgliederung im Hausinnern zwei Gesichtspunkten unterordnen: Wärme und Licht. Die Position der Wärmequel-le innerhalb der Behausung war nahezu symmetrisch, doch Licht breitete sich (entsprechend der Beschaffenheit des »Bauwerks«) asymmetrisch aus. Dement-sprechend führte man Tätigkeiten (wie entsprechende handwerkliche Arbeiten oder die Nahrungszubereitung), zu denen man sowohl Licht als auch Wärme benötigte, nacheinander in einer Zone intensiver Nutzung im »hellen Quadran-ten« des Hauses aus, und zwar weitgehend unter Ausnutzung des Tageslichts. Andere Aktivitäten (wie Essen und Schlafen), für die lediglich Wärme vonnö-ten war und bei denen man mit wenig Licht auskam, verlegte man in die Ab-schnitte der Behausung, in die nur wenig Tageslicht fi el. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Raumgliederung, die ebenso dem Bedürfnis nach Wärme wie nach Licht Rechnung trägt, haben wir die Auswirkungen der Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft zu berücksichtigen, soweit es eine unterschiedliche Rollenverteilung zwischen den verschiedenen Geschlechtern und Altersstufen gab. Zahlreiche der von den Männern ausgeübten Aktivitäten – so die Herstel-lung von Geräten und anderen Gebrauchsgegenständen – erforderten relativ viel Platz und nahmen manchmal auch viel Zeit in Anspruch.21 Da dem so war, schuf man eigene Arbeitsräume, die den Vorteil boten, daß die Männer nicht den ohnehin schon eingeengten Raum innerhalb des Hauses zusätzlich mit Be-schlag belegten und dort auch nicht den Kreislauf der täglichen Raumnutzung störten. Die Struktur einer Fundstätte wird nicht nur durch Einschränkungen hinsichtlich der Raumnutzung geprägt, sondern auch von jenen Faktoren, die innerhalb des genutzten Raums die Intensivierung begünstigen. Aus der bishe-rigen Erörterung geht klar hervor, daß beispielsweise die Außentemperatur ein wesentlicher Faktor ist, der die Struktur einer Stätte entscheidend beeinfl ußt. Denn je kälter es wird, desto mehr Aktivitäten müssen gezwungenermaßen in geschlossenen Räumen stattfi nden. Dabei aber erhebt sich das Problem, daß in einem Bauwerk oder an anderen geschützten Orten, die man nutzen und wo man sich vor den Unbilden der Witterung schützen kann, in aller Regel die Tageslichtzufuhr beschränkt und das einfallende Licht auch nicht gleichmäßig verteilt ist. Palanganas Haus zeigt mit aller Deutlichkeit, wie begrenzte Licht-zufuhr die Intensivierung der Raumnutzung an bestimmten, noch relativ viel Licht erhaltenden Punkten innerhalb des geschlossenen Raums fördert.Auch das Gegenteil trifft zu: Hat man mehr Licht zur Verfügung, neigt man eher dazu, den vorhandenen Raum extensiv zu nutzen (also mit dem Platz ver-schwenderischer umzugehen). Auch Einschränkungen der Wärmeausbreitung können zur Intensivierung von Tätigkeiten auf beschränktem Raum führen. Aus all dem ergibt sich: Je wichtiger es ist, ein Dach über dem Kopf zu haben (und dies ist hauptsächlich von den Umweltbedingungen abhängig), desto

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größer ist die Differenzierung des Raums infolge des eingeschränkten Licht-einfalls.Welche Auswirkungen räumliche Beschränkungen haben, zeigt die Beobachtung John Yellens,22 daß die !Kung-Buschmänner im Laufe des Tages zwar mehrmals ihre Positionen wechseln, aber an all den Plätzen, die sie einnehmen, die glei-chen Tätigkeiten verrichten: Sie folgen einfach dem wandernden Schatten. Eine derart extensive, man könnte sagen verschwenderische Raumnutzung ist nur möglich, wenn es keine anderen Beschränkungen hinsichtlich der Eignung eines Platzes für Arbeiten gibt, die in verhältnismäßig kurzer Zeit erledigt wer-den können und an sich auch relativ wenig Platz beanspruchen. Allein vor das Problem gestellt, stets auf ein günstiges Verhältnis zwischen Arbeitsplatz und Schatten bedacht zu sein, erweisen sich die Buschmänner bei der Auswahl ih-rer Aktivitätszonen sehr fl exibel – nur im Schatten müssen sie liegen! Dieses Beispiel zeigt: Je mehr eine bestimmte Arbeit von bestimmten äußeren Bedin-gungen abhängig ist, desto intensiver wird die Konzentration der Tätigkeiten an Stätten, die diese Bedingungen möglichst ideal erfüllen. Der Raum für die innen verrichteten Arbeiten im Hause Palanganas ist in dieser Hinsicht geradezu ein Musterfall.Unabhängig von den Umweltbedingungen unterscheiden sich bestimmte Ar-beitsprozesse aber auch hinsichtlich des Grades, in dem sie extensive Raum-nutzung erforderlich machen (d. h., wie raumsparend man sie ausführen kann oder nicht). Beispielsweise kann eine einzelne sitzende Person eine Fülle von Aufgaben erledigen, ohne ihren Platz zu verändern, vorausgesetzt, die einzelnen Arbeiten müssen nicht gleichzeitig getan werden - ein Punkt, auf den ich noch zurückkommen werde. Andererseits übt man Tätigkeiten, die sehr viel Platz beanspruchen, an getrennten Plätzen aus. Für die Arbeit an einem Grubenherd etwa benötigt man ein Areal von 17 bis 24 Quadratmetern, und dieser Gruben-herd bewirkt eine starke Geländeverschmutzung (beispielsweise durch die Mas-sen verkohlten Holzes, die sich bei ihm ansammeln), ja er macht das Areal, wo er sich befi ndet, für andere Zwecke unbrauchbar. Für Aktivitäten dieser Art sieht man daher in der Regel eigene Plätze vor.

Fertigungsraten

Ein weiterer Faktor, der dafür verantwortlich ist, daß man bestimmte Tätig-keiten an eigens für sie vorgesehene Plätze verweist, ist die unterschiedliche Zeit, die man benötigt, um sie auszuüben. Beispielsweise führt man Arbeiten, die lange Zeit hindurch einen bestimmten Raum beanspruchen, nur sehr selten innerhalb von Wohnstätten aus. Zum normalen Raummuster gehören vielmehr Aktivitäten von kurzer Dauer, die sich in das alltägliche Schema des Essens und Schlafens einordnen lassen. Viele Arbeiten, bei denen man irgend etwas fertigt (bzw. herstellt), erfordern die Produktion von Einzelbestandteilen, die man in der Reihenfolge ihres Entstehen zusammenfügt, und jede Unterbrechung dieses

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Prozesses ist störend. Jeder von uns hat als Kind erfahren, welche Frustration es bedeutet, auf dem Küchentisch mit der Zusammensetzung eines Puzzlespiels begonnen zu haben und dann zu hören: »Pack deine Sachen zusammen, wir brauchen den Platz, um das Essen zuzubereiten!« Und selbstverständlich wirft einen das Zusammenpacken zurück – wirft es doch alles über den Haufen, was man bereits geschafft hat! Aus eben diesem Grunde verrichtet man Arbeiten, von denen anzunehmen ist, daß sie einige Zeit in Anspruch nehmen werden, in Bereichen, wo ausschließlich für sie Platz ist, ohne daß man jemand anderem in die Quere kommt, der irgend etwas tun will, was nur kürzere Zeit beansprucht (also Arbeiten mit rascher Fertigungsrate).23

Bewältigung größerer Massen

Noch eine weitere Überlegung gilt es bei Raumnutzungsuntersuchungen an-zustellen: Welche Abfallmengen entstehen, wenn man was tut? Jede Arbeit, die gewisse Mengen von Abfallprodukten erzeugt, benötigt Raum, und zwar nicht nur dann, wenn man ihr nachgeht, sondern auch hinterher. Denn wenn man den Abfall nicht beseitigt, kann sein Vorhandensein das betreffende Areal für weitere Nutzung ungeeignet machen Dabei spielt es keine Rolle, wieviel Zeit die Arbeit beansprucht. Wenn beispielsweise ein Jemez-Puebloindianer im Herbst für die winterliche Vorratshaltung seine Maiskolben von den Lieschen (Hüllblättern) befreit, entsteht ein riesenhafter Abfallberg. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, daß der Platz, wo diese Arbeit ausgeführt wird, kaum anderweitig nutzbar ist, so lange man nicht die Abfälle entfernt hat, die beim Ausschälen der Kolben aus den Hüllblättern zurückbleiben.An Plätzen, die man nur für ganz kurze Zeit nutzt, pfl egt man Tätigkeiten, die größere Abfallmengen verursachen, eher am Rande intensiv genutzter Areale aus-zuüben und die dabei entstehenden Rückstände an Ort und Stelle zu belassen. An länger bewohnten Stätten dagegen kann es vorkommen, daß man sogar die Tätig-keitsbereiche am äußersten Lagerrand reinigt, um sie später noch einmal für den gleichen Zweck wie zuvor oder für andere Zwecke nutzen zu können. So war ich anfangs überrascht, daß die Nunamiut-Eskimos sogar ihre Frühjahrs- und Herbst-jagdplätze säuberten, obwohl diese recht weit von ihrem Dorf entfernt lagen. Sie erklärten jedoch: Die riesigen Mengen von Skelettüberresten und Geweihen, die dort seit der letzten Karibuschlachterei herumlägen, seien im Wege und könnten Unfälle verursachen. Also sammelten sie zwischen der Frühjahrs- und Herbstjagd-saison an wichtigen, immer wieder aufgesuchten Plätzen, was dort an Knochen herumlag, und verbrannten diese Tierreste.24

Plätze dagegen, die man nur einmal aufgesucht hatte und die sonst im Rahmen der Raumnutzungsstrategie der Nunamiut keine Rolle spielten, ließ man, wie sie waren. Abbildung 125 zeigt einen Platz, der seiner Funktion nach dem Jagdplatz bzw. der Schlachtstätte von Anavik Springs entspricht. Diese wurde gesäubert, denn man hatte vor, sie immer wieder als Jagdplatz zu nutzen. Die abgebildete Örtlichkeit dagegen beließ man in dem Zustand, den die Aufnahme zeigt, denn

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man hielt es für unwahrscheinlich, daß man je wieder dorthin zurückkehren werde. Plätze für die Verarbeitung größerer Mengen von Material (wie etwa der Fleischmassen an einem Jagdplatz) veranschaulichen zweierlei:1. Sowohl die Größe des Terrains, das man benötigt, als auch die Menge der Ab-

fälle, die man erwartet, können bei der Auswahl eines Geländes, an dem man eine bestimmte Tätigkeit verrichten will, den Ausschlag geben.

2. Ob und in welchem Umfang man die Stätte wiederzunutzen gedenkt und wie widerstandsfähig die zurückgelassenen Abfallmengen gegenüber Witterungs-einfl üssen sind, bestimmt, wie sauber gegebenenfalls sogar abgelegenere Tä-tigkeitszonen gehalten werden.

Und so wird saubergemacht

An den Schlachtplätzen der Eskimos zeichnet sich noch ein weiterer wichtiger Faktor archäologischer Fundstättenbildung ab. die Sauberhaltung. Wohl kein Archäologe hat bisher diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit gewidmet als Mi-chael Schiffer.25 Bei meinen völkerkundlichen Studien konnte ich mindestens zwei Arten der Sauberhaltung beobachten:

124 Jemez-Puebloindianer entfernt für die winterliche Vorratshaltung den geernteten Mais von den Lieschen, den Hüllblättern der Maiskolben. (Mit freundlicher Genehmigung des Maxwell Mu-seum of Anthropology, University of New Mexico)

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1. vorbeugende Sauberhaltung (Abfälle werden von vornherein in einiger Entfer-nung von intensiv genutzten Zonen deponiert) und

2. nachträgliche Sauberhaltung (die eigentliche Reinigung der benutzten Areale sowie der Transport der Abfälle zu eigenen Abfallablagen).

Generell kann man sagen: Die vorbeugende Sauberhaltung setzt voraus, daß man sich über die bei bestimmten Arbeiten zu erwartende Abfallmenge im kla-ren ist, und dies wiederum beeinfl ußt die Platzwahl für bestimmte Tätigkeiten. Bei Tätigkeiten, die man im Freien ausübt, besteht die vorbeugende Sauberhal-tung meist darin, daß man den Abfall aus dem unmittelbaren Arbeitsbereich hinauswirft. Dadurch entsteht am Rande eines intensiv genutzten Arbeitsbe-reichs die typische Abfalldeponie oder Wegwerfzone. Nach Schiffers Terminolo-gie26 handelt es sich dabei um Primärabfälle, denn die weggeworfenen Objekte wurden unmittelbar bei dem Arbeitsvorgang, dem sie ihre Existenz verdanken, deponiert, und zwar neben dem Platz, wo die Arbeit stattfand. Wenn es um ein Haus geht, so ist die vorbeugende Sauberhaltung mit regelrechten Reinigungs-strategien verknüpft. Beispielsweise werden im Innern einer Eskimo-Wohnhüt-te Gegenstände, die anderswo in einer Wegwerfzone landen würden, sorgsam am Feuer gestapelt27 oder in einen Eimer getan, um dann später draußen vor dem Haus auf eine Abfallkippe geschüttet zu werden. Entsprechend verfährt man mit anderen Abfallansammlungen (z. B. ausgekochten Knochen in einem Kochtopf). Auch sie trägt man zu einer Müllkippe hinaus vor das Haus.Nur dann, wenn man für kurze Zeit Lager aufgeschlagen hat oder gar nur unter freiem Himmel kampiert, schüttet man dergleichen unmittelbar neben dem Feuer aus. Diese deutlich erkennbaren »Müllkippen«, die durch die vorbeugende Sauberhaltung des Wohnstätteninnern außerhalb der Behausungen entstanden sind, hätte man nach Schiffers Terminologie als Sekundärabfälle (d. h. zum zwei-ten Mal deponierte Abfälle) zu bezeichnen, obwohl sie genau die gleichen Be-standteile enthalten können wie die Wegwerfzonen (hinter den Rücken um einen Außenherd Sitzender), die nach Schiffers Betrachtungsweise als Primärabfälle anzusehen wären. Der ausschlaggebende Unterschied zwischen beiden sind die Maßverhältnisse der intensiv genutzten bzw. saubergehaltenen Zonen. Im ersten Fall ist das Verhältnis recht gering (gemeint ist in diesem Fall das Verhältnis zwi-schen der Sitz- und der zugehörigen Wegwerfzone), im zweiten Fall dagegen han-delt es sich um das gesamte Innere einer Behausung einschließlich der Bereiche für das Sitzen, die Hausarbeit und das Schlafen. Mithin hängt das Verständnis für die Beziehungen zwischen Gegenständen, die man an einem bestimmten Platz fi ndet, von der Herausarbeitung struktureller Muster ab, nicht von einer rein for-malistischen Trennung zwischen Primär-und Sekundärabfall.28

Mir scheint, es liegt klar auf der Hand: Die Sorgfalt, mit der man eine bestimm-te Zone sauberhält, hängt von der Intensität ihrer Nutzung ab, wozu allerdings auch noch andere Gesichtspunkte hinzukommen. Am gründlichsten hält man intensiv genutzte Bereiche sauber, und diese Bereiche haben auch ihre eigenen Abfalldeponien. Dies wiederum ist eine unmittelbare Funktion der Zeitdauer solcher Intensiv nutzung, denn nur ganz kurz genutzte (bewohnte) Plätze werden

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kaum saubergehal ten. Zwischen der Nutzungsdauer eines Platzes und der Mühe, die man aufwendet, um den fraglichen Platz sauberzuhalten, besteht eine Fülle verschiedenartiger Wech selbeziehungen. Mehr noch – je länger die Nutzung, desto vielfältiger sind die Ak tivitäten, deren Ausübung man erwarten darf. Es gibt also eine Korrelation zwischen der Besiedlungsdauer einer Stätte und der Zahl der Tätigkeitsbereiche für spezielle Aufgaben bzw. der Menge sorgfältig und regelmäßig gereinigter Areale an der Peri pherie der Haupttätigkeitszone. Für diese These sprechen ebenso die Beobachtungen Yellens bei den IKung-Buschmännern29 wie meine eigenen Untersuchungen.

Auf dem Wege zu einer Theorie der Fundstätten-Struktur

Damit ist genug gesagt, um in großen Zügen die Richtung anzudeuten, in die meine theoretischen Versuche sich bewegen – Versuche, der Struktur archäo-logischer Fundstätten beizukommen Sowohl Licht als auch Temperatur sind Faktoren, die weltweit eine Rolle spielen und sich doch innerhalb gewisser Ge-setzmäßigkeiten von Ort zu Ort und von Jahreszeit zu Jahreszeit ändern. Mithin

125 Kaributötungs- und -schlachtplatz am Nordufer des Anaktiqtauk-Flusses am Anaktuvuk-Paß. Wenn die Eskimos nicht beabsichtigen, an einen Platz zurückzukehren, lassen sie die Überreste der erlegten Tiere einfach liegen. An anderen Plätzen jedoch, die sie häufi ger aufsuchen, um Wild zu jagen und auszuweiden, sammelt man nicht selten die mäch tigen Geweihe sowie die größeren Knochen, um sie zu verbrennen

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müßten wir imstan de sein, Beziehungen zwischen archäologischen Stätten und den durch die geogra phische Lage bedingten Unterschieden der Temperaturen (und zwar je nach Jahres und Tageszeit) aufzustellen. Gleiches gilt für den un-terschiedlichen Tageslichteinfall. Auch andere Gegebenheiten, beispielsweise Nichtseßhaftigkeit,30 können eine be stimmte Bedeutung haben. So ist zum Bei-spiel die Wahrscheinlichkeit sehr viel grö ßer, daß es zu Konfl ikten kommt, weil bestimmte Arbeiten zeitlich und räumlich mit anderen kollidieren, wenn eine Gruppe nicht mobil, sondern seßhaft ist. Wir haben bereits gesehen, daß Unterschiede dieser Art das Ausmaß bestim-men, in dem Tätigkeiten räumlich voneinander getrennt ausgeübt werden. Auch in welchem Umfang welcher Raum innerhalb archäologischer Stätten intensiv oder extensiv ge nutzt wird, hängt von dergleichen Dingen ab. Schließlich neh-men die Aktivitäten zur Herstellung und Verarbeitung von Materialien für den handwerklichen Ge brauch oder zum Verzehr immer kompliziertere Formen an, je komplexer die Tech nologie und die gesellschaftliche Organisation der Bewoh-ner einer archäologischen Stätte sind. Dies wiederum kann nur darauf hindeu-ten, daß wir um so größere Komplexität der Fundstättenstruktur zu erwarten haben. Wenn wir veränderliche Größen im Bereich der Umweltbedingungen in unser Kalkül einbeziehen, bei spielsweise Regen oder intensives Sonnenlicht (die beide starken Einfl uß darauf ha ben, ob man sich unter ein schützendes Dach zurückzieht oder nicht), wird das Ver ständnis für die Raumgliederung oder viel-mehr die räumliche Bezogenheit menschlichen Verhaltens nur zu einer um so größeren Herausforderung. Ich hoffe gezeigt zu haben, inwiefern uns die Unter-suchung funktionaler Beziehun gen31 helfen kann, Methoden zu entwickeln, zu-verlässig beobachtete Verteilungs muster des archäologischen Materials sinnvoll zu deuten. Angesichts gewisser Er folge dabei wage ich mich an die lohnendere Aufgabe heran, die Vielfalt der Assemblagen-Zusammensetzung unter die Lupe zu nehmen, die das eigentliche »Moustérien-Problem« ausmacht. Die Beispiele, die wir untersuchten, und die all gemeinen Aussagen, die wir daraus ableiteten, sollten lediglich eine bestimmte For schungsstrategie verdeutlichen, und, wie ich hoffe, zeigen sie auch die Möglichkei ten, die in diesem Ansatz liegen.

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Teil III Warum geschah es

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Vielerlei hat sich in der Vergangenheit ereignet So ist es klar, daß unsere Vorfah-ren irgendwann einmal Jäger und Sammler waren Dann begannen die Men-schen, Nutzpfl anzen anzubauen und Tiere zu züchten Desgleichen steht es außer Frage, daß vor Zeiten die Organisationsform der Menschheit kleine, nichtseßhaf-te Gruppen waren und es keinen nennenswerten gesellschaftlichen Überbau in Form politischer und religiöser Institutionen gab Irgendwo begann jedoch auch dies, und es erschienen komplexere politische Gebilde auf der Blldfl ache. Da-mit erhebt sich die Frage »Warum geschah es?« Sie stellt sich ganz unabhängig davon, ob man viel über die archäologische Hinterlassenschaft der Zeiten und Statten weiß, m und an denen sich diese Dinge ereignetenDerartige Fragen sind keineswegs neu. Vielmehr hat der Mensch immer wieder, seit er zu denken vermag, nach Erklärungen für alle möglichen Dinge gesucht, gleich, ob sie tatsächlich oder in seiner Einbildung existierten Eine bedeuten-de Spielart kultureller Vielfalt in unserer Zeit besteht m den unterschiedlichen Deu tungen, die man Dingen beimißt Ein Marxist beispielsweise wird gewisse Ereig nisse als zwangsläufi ge Folge des Wechselspiels gesellschaftlicher Kräfte betrach ten Ein religiöser Mensch erkennt in eben denselben Geschehnissen viel-leicht die waltende Hand Gottes, für Anhanger anderer Überzeugungen spielen viel leicht die freie Entscheidungsfähigkeit des Menschen, der Bevölkerungsdruck, kybernetische Regelkreise oder anderes mehr die ausschlaggebende Rolle All diese Erklärungsversuche suchen nach den unverzichtbaren Bindegliedern zwi-schen zwei verschiedenen Ketten oder Bündeln von Bedingungen Es handelt sich um Argumente zugunsten von Ursachen, die man für möglich halt Ist erst einmal ein Problem erkannt (beispielsweise die im folgenden erörterte Frage nach den Ursprüngen der Landwirtschaft oder nach der Herausbildung hochgradig diffe-renzierter, komplexer Gesellschaftsformen), kann es allem von der kulturellen Vorbelastung abhängen, welche Erklärung man den Dingen gibt Es genügt, daß man sich eine bestimmte Auffassung vom Lauf der Welt zu eigen gemacht hat, um diese Auffassung nach einigem Drehen und Wenden auch dazu zu bringen, daß sie eine Problemlösung hergibt. Ist dies doch die unter Kultur menschen verbreitetste Art zu argumentieren Man vertritt unablässig diese oder jene Position Die eigene Haltung rechtfertigt man, indem man aus den vorhan denen Fakten auswählt, was zum eigenen Standpunkt paßt, und nur gelten laßt, was die eigene Auffassung vom Gang der Dinge bekräftigt Dabei setzt man vor aus, daß für sich selbst spräche, was man beobachtet hat Und da all die Argumente für die eigene Sicht der Ver-gangenheit auf den eigenen Annahmen darüber beru hen, wie es irgendwann einst zugegangen sein mag, ist es ausgeschlossen, zu einer Folgerung über das Gestern zu gelangen, die den Prämissen, von denen man aus ging, widerspricht.1

Es entbehrt nicht der Ironie, daß viele Theorien, die Archäologen bei ihrer Arbeit anwenden, aus der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen oder zumindest historisch gut belegten Kulturphänomenen erwuchsen. Da ich früher immer wieder die Bedeutung »aktualistischer« (d. h. an gegenwärtigen Gegebenheiten orientier ter) Studien unterstrichen habe und nicht müde wurde, die Wichtig-

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keit derartiger Arbeiten für die Entwicklung neuer Methoden hervorzuheben, kann ich naturlich nichts dagegen haben. 2 Doch sei ausdrücklich betont Eine allgemeine Theorie ist keine Theorie mittlerer Reichweite. Vielmehr umfaßt eine allgemeine Theorie Argumente, mit deren Hilfe man zu erklären sucht, warum die Vergangenheit so gewesen sein müsse, wie sie gewesen zu sein scheint Die meisten Thesen, zu deren Formulierung man sich durch die Untersuchung re-zenter Volker und Kulturen angeregt fühlte, enthalten Spekulationen über jene Ereignisabfolgen, die den Wandel von einer Systemform zur anderen charakte-risierten Dabei bedient man sich des Verfahrens der Extrapolation, man schließt von einem Zustand des Systems auf den anderenHinzu kommen Argumente, bei denen es um die Zustandswende als solche geht3

Beim Betrachten eines lebendigen Systems – etwa im Bereich der Völkerkunde – erblickt der Theoretiker das fragliche System ja bereits in einem Zustand, für den er schließlich erst die Erklärung sucht4 Ein Beispiel geradezu klassischer Argumen-tation verdanken wir Wittfogel,5 der die im Orient üblichen Bewässerungssysteme für die Herausbildung »orientalischer« Staatsformen verantwortlich macht, nur weil er beobachtet hat, daß es bei Völkern mit stark abgestufter Gesellschaftsord-nung derartige Irrigationsanlagen gab. Für ihn bedeutete das Kontrollmonopol über derartige Systeme die Grundlage politischer Macht, und der nächste Schritt, den er tat, war: Er stellte die Behauptung auf, die funktionale Beziehung zwischen einem Produktionsmonopol und politischer Macht führe gleichzeitig zum Entste-hen einer stark abgestuften Gesellschaftsstruktur. Ähnlich muß Marshall Sahlins6 gedacht haben, als er äußerte: Häuptlinge, deren ursprüngliche Hauptrolle in der Umverteilung von Gütern bestanden habe, erschienen immer dann auf der Bildfl ä-che, wenn die Situation ein Umverteilungssystem begünstigeMag sein, daß man mit einer gewissen Zwangsläufi gkeit zu derartigen Ansichten gelangt, wenn man ausschließlich auf völkerkundlicher Grundlage Betrachtun-gen über die kulturelle Entwicklung der Menschheit anstellt Archäologen (und vielleicht einige Historiker) sind die einzigen Forscher, deren Fakten unmittelbar mit Episoden dieses Evolutionsprozesses zu tun haben Alle völkerkundlichen Beobachtungen dagegen beziehen sich bestenfalls auf das Funktionieren relativ stabiler Systeme. Warum aber bedienen wir uns ihrer dann, um zum Nachdenken über Systemevolution anzuregen? Im allgemeinen haben Archäologen noch nicht die Notwendigkeit erkannt, eigene Theorien mittlerer Reichweite zu entwickeln.Statt dessen haben sie die von Historikern und Völkerkundlern entwickelten Argumente einer allgemeinen Theorie übernommen und ihre eigenen Beobach-tungen ihnen angepaßt. Es ist daher nur eine Tautologie, wenn man – was nicht selten geschieht – ihre Beobachtungen wiederum als Beweis dafür heranzieht, daß die vorgebrachten allgemeinen Theorien zutreffen1 Die Archäologen taten gut, von derartig wissenschaftlich unergiebigen Spielen abzulassen. Vielmehr sollten sie sich auf die Entwicklung einer Theorie mittlerer Reichweite kon-zentneren, wobei völkerkundliche und historische Beobachtungen eine wichtige Kontrollfunktion haben

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8 Die Ursprünge der Landwirtschaft

Einer meiner Lehrer bemerkte einst, man könne sein ganzes Leben damit ver-tun, zu erklären warum die Erde eine Scheibe sei, ohne je von seinem Irrtum los-zukommen. Er hatte vollkommen recht. Durch eine dumme Frage kann man viel Zeit verlieren. Daher beginne ich dieses Kapitel damit, die wichtigsten Erklärun-gen zu skizzieren, die man vorgebracht hat und die durchweg von Archäologen und Völkerkundlern übernommen wurden. Dabei geht es um die Ursprünge der Landwirtschaft, die mancherorts bis etwa 10000 Jahre zurückliegen. Ich will den Finger auf einige Schwächen der bisher üblichen Argumentation legen und danach einige Wege aufzeigen, die, wie ich meine, die Forschung zu gehen hat. Manchem freilich werden diese Wege provokant erscheinen. Sind es doch vor-erst noch Versuche, die aber eine wichtige Wende hinsichtlich der Fragestellung signalisieren.

Bisherige Ansätze

Spekulationen über den Ursprung der Landwirtschaft gibt es, seit der Mensch gelernt hat, sich als geschichtliches Wesen zu begreifen. In unserer eigenen Kulturtradition gehören die Schriften Charles Darwins1 und H. L. Roths2 zu den ersten ernstzunehmenden Versuchen, sich mit dem Problem auseinanderzuset-zen. Freilich – so tiefe Einsichten er auch als Naturwissenschaftler hatte – was die Ursprünge der Landwirtschaft anging, besaß Darwin eine weniger glückli-che Hand. In einem Aufsatz, in dem er Spekulationen darüber anstellte, was den Menschen zu der Erkenntnis gebracht haben mag, daß aus einem ausgesäten Samenkorn eine Pfl anze hervorgeht, bezeichnet er als ausschlaggebende Größe das »Wissen« (knowledge) des Menschen. Nach Darwins Ansicht war Landwirt-schaft die unausweichliche Folge des Wissens, daß ein in den Boden gelegtes Sa-menkorn zur Pfl anze heranreift. Diese irrige Auffassung lebte auch nach Darwin

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weiter. Noch immer neigt so mancher zu der Argumentation, die Vorteile der Landwirtschaft lägen schließlich auf der Hand, und der Mensch werde sie sich einfach zunutze gemacht haben, sobald er sie erkannte.Eine frühe Form mechanistischer Argumentation tauchte erstmals in England auf, und zwar zunächst in den Schriften von Peake und Fleure,3 später in den Ar-beiten Vere Gordon Childes.4 Sie war darwinistisch (im Sinne des biologischen Denkens Darwins), und ihre Verfechter versuchten sich vorzustellen, was den Menschen gezwungen haben könnte, mit neuen Produktionsweisen zu experi-mentieren. Inwieweit änderte der Mensch sein Verhalten unter Druck, weil seine bisherigen Strategien der Nahrungsmittelbeschaffung sich als unzureichend zu erweisen begannen? Ging er neue Wege, weil er voraussah, was die Zukunft brin-gen werde? Wie weit, war Druck am Werk, der den Menschen zwang, sich neuen Problemen zu stellen, mit seiner Umwelt zu experimentieren und schließlich Ackerbau zu treiben? Diese durchaus ernstzunehmenden Gedanken wurden vor allem durch Childe sehr populär gemacht und gingen als »Oasentheorie« in die Geschichte der Spekulationen über den Ursprung der Landwirtschaft ein. Zugrunde liegt eine ebenso entwaffnende wie naive Vorstellung: Am Ende der letzten Eiszeit – so meinte Childe – seien die heutige Sahara und andere heutige Wüstengebiete mehr und mehr ausgetrocknet, so daß sämtliche Lebe-wesen – einschließlich des Menschen – in benachbarten Stromtälern Zufl ucht gesucht hätten. Die Folge sei ein Gedränge gewesen, ein wahres Gerangel wie beim Einsteigen in einen überfüllten Zug, und Tiere wie Menschen hätten sich miteinander arrangieren müssen, um mit ihren Problemen fertig-zuwerden. Da die Umweltbedingungen in den Stromtälern denkbar günstig waren, konnten Menschen die weidenden Tiere – so Childe – mit bedeutenden Nahrungsmen-

126 Das Ackerbauerndorf. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Vertriebenen aus Okinawa, Iwo und Siepan errichtetes Bauerndorf auf Yaeyama (südliche Ryukyu-Inseln). (Die Aufnahme wurde im Juni 1953 von E. Santry gemacht).

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gen versehen, indem sie ihnen Stoppeln hinterließen. So sei es schließlich zum Wechsel vom parasitären Jäger- und Sammlerdasein zu einer Art vom Symbiose zwischen Pfl anzen und Tieren (einschließlich des Menschen) gekommen, wie sie nach Childes Ansicht für die Lebens- und Produktionsweise des Ackerbauern charakteristisch sei.5

Allerdings war diese Art der Argumentation keine Erklärung, sondern eher eine »Erklärungsskizze« im Sinne des deutschamerikanischen Wissenschaftstheo-retikers Carl Gustav Hempel.6 Sie enthielt einige veränderliche Größen neben mechanistischen Elementen, gleichzeitig aber ein Geschichtsmodell. Nun haben Modelle es aber an sich, daß man sie nur dann mit Erfolg aufstellt, wenn die vor-gestellten Ereignisse stimmen (was bei einer Theorie nicht erforderlich ist). Wo man es jedoch mit veränderlichen Größen und Ereignissen zu tun hat, besteht die Gefahr eines »Zweifrontenkrieges«: Entweder erweisen sich die historischen Fakten als falsch, oder es stellt sich heraus, daß die Variablen ungeeignet sind. Häufi g führt der Nachweis, daß das eine Element wenig taugt, gleichzeitig zur Zurückweisung des anderen. Genau dieser Methode bedienten sich Robert Braidwood (damals am Orient-Institut in Chikago) und seine Mitarbeiter bei ihren Angriffen auf Childes mechanistisches Aggregations-(Ballungs-)Argu-ment.7 Dabei wandte Braidwood eine Reihe naturwissenschaftlicher Verfahren an. Beispielsweise untersuchte er das Pollenspektrum sowie die abgelagerten Sedimente, um zu überprüfen, ob dem Auftreten der Landwirtschaft im Nahen Osten tatsächlich ein Klimawechsel vorangegangen war Sein Resultat: Eine nen-nenswerte Austrockungsphase hatte es nicht gegeben.8 Dies aber bedeutete, daß Childes Modell nicht zutraf.9

Braidwoods eigener Aufsatz war im wesentlichen idealistisch, denn auch für ihn war »Wissen« zumindest einer der maßgebenden Faktoren. Ihm stellten sich die Dinge so dar: Gegen Ende des Pleistozäns sei der Mensch immer vertrauter mit seiner Umwelt geworden, und seine Vertrautheit ging schließlich so weit, daß er erkannte, er verfüge über genügend Wissen, um diese Umwelt für seine Zwecke zu verändern. Nach Braidwoods Auffassung hatte er damit eine Art von intellektuellem Rubikon überschritten. Braidwoods eigenen Worten zufofge ließ er sich in seiner Umwelt »häuslich nieder«,10 ja er nistete sich förmlich in ihr ein, wie ein Küken es sich in seinem Nest behaglich macht. Und dann – ja dann (das jedenfalls muß man wohl annehmen) kamen ihm die großartigen Ideen! Wenn der Mensch sich in einer Umwelt »häuslich niederließ« und Erkenntnisse über sie sammelte – einer Umwelt, die domestizierbare Wildpfl anzen und -tiere umfaßte – war der Ausgang, so schien es jedenfalls Braidwood, – nahezu unaus-bleiblich.11 Das bedeutet: Nistete sich der Mensch in einer Umwelt ein, wo es die wildwachsende Vorform des Weizens gab, wurde er zwangsläufi g Weizenbauer. Hauste er dagegen in einem Gebiet mit Bergschafen, konnte es nicht ausbleiben, daß er Schafzüchter wurde. Auf einem solchen Niveau des Verständnisses für kulturgeschichtliche Mechanismen bewegten sich zwischen dem Ende des Zwei-ten Weltkriegs und den sechziger Jahren viele der Auseinandersetzungen über die Entstehung der Landwirtschaft. Dieses sich »häuslich Niederlassen« geistert

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noch heute in den Köpfen herum. Meines Erachtens liegt diese Vorstellung einem Großteil der Arbeiten Eric Higgs’ und seiner Schule zugrunde,12 deren Argumentation im wesentlichen darauf hinausläuft, Domestikation sei ein lang-wieriger Lernprozeß, ein allmähliches Dämmern der Manipulationsmöglichkei-ten, die die Umwelt dem Menschen bot. Auch der Gedanke einer allmählichen, schrittweisen Entwicklung (Gradualismus), der für Braid-wood charakteristisch war, fehlt in der zeitgenössischen Literatur nicht. Vielmehr erleben wir zur Zeit gerade seine Wiedergeburt.Theoretiker, deren Denken sich in den soeben skizzierten Bahnen bewegte, sa-hen sich oft mit der ethnographisch belegten und ihren Ansichten ganz und gar zuwiderlaufenden Tatsache konfrontiert, daß Gruppen von Menschen in Gebie-ten lebten, wo es wildwachsende Getreidevorformen gab, ohne daß jemand auch nur auf den Gedanken kam, die fraglichen Gräser zu kultivieren. In derartigen Fällen pfl egte man die betreffende Gesellschaft für lernschwach und unfähig zu erklären. Im Gegensatz dazu betrachtete man Menschen, die in Gegenden Acker-bau trieben, wo sie es nach der gängigen Hypothese hätten nicht tun sollen, als überdurchnittlich begabt – war doch einer der ausschlaggebenden Faktoren, auf denen die Theorie beruhte, die Eignung der Personen, um die es ging.Ganz allgemein stellte man sich vor, daß der Mensch – gleichsam im Morgen-grauen vor seiner Erleuchtung – hilfl os in seiner Welt herumtappte und bald dies, bald jenes versuchte. Die bescheidene Kritik an Braidwoods Betrachtungs-weise, die ich in einem 1968 veröffentlichten Aufsatz äußerte,13 hatte Wirkung, fi el sie doch zeitlich mit anderen Gegenstimmen zusammen, die Bevölkerungs-wachstum als einen besonders wichtigen Faktor hinstellten, dem die Einführung technischer Neuerungen zuzuschreiben sei,14 ebenso das Entstehen komplexer Organisationsformen im sozialen und politischen Bereich.15 Meine Argumen-

127 Das Viehzüchterdorf: Navajo-Siedlung Ah Tso lige am Red Lake in Arizona zur Zeit der Schafzählung, etwa November 1935. (Mit freundlicher Genehmigung des Maxwell Museum of Anthropology, University of New Mexico).

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tation wurde auf die archäologischen Daten aus dem Nahen Osten übertragen16 und erfreute sich einige Zeit lang einer gewissen Beliebtheit. Dennoch wies sie ähnliche Schwächen auf wie einst die Argumentation Childes: Sie war eine bloße »Erklärungsskizze«! Es gab zunehmend Zweifel an den oft so bezeichneten »de-mographischen« Argumenten, so groß der Enthusiasmus auch gewesen war, mit denen man sie einst begrüßt hatte.17 Heute erklären zahlreiche Autoren derarti-ge Argumente kurzerhand für naiv, bzw. schlicht für untauglich.18

Doch unbeschadet der Kontroverse über die grundsätzliche Bedeutung demo-graphischer Faktoren ergab sich für die Methodik folgendes: Landwirtschaft ist ein Verfahren, sein Dasein zu fristen (oder genauer: seine Lebensmittelversor-gung sicherzustellen). Sie ist eine der möglichen Antworten auf die fundamen-tale Menschheitsfrage: Wie bekomme ich genug zu essen? Wenn sich Landwirt-schaft aber in irgendeiner Weise aus den Praktiken von Menschen entwickelt oder ergeben hat, die sie noch nicht kannten, ist es nur sinnvoll, sie als Lösung eines Problems zu betrachten, dem einige dieser Menschen sich gegenübersa-hen. Welches Problem in aller Welt aber könnte dies nur gewesen sein? Sicherlich hatte es mit der Umwelt zu tun, denn Probleme der Nahrungsbeschaf-fung sind für Jäger und Sammler zwangsläufi g ein Nebenprodukt dynamischer Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Mensch. Sind die Tiere dort, wo man sie erwartet? Sind sie in gewohnter Anzahl erschienen? Ist man dabei, die

128 »Und Gott der Herr pfl anzte einen Garten in Eden ….« Zahlreiche Archäologen haben erwogen, ob besonders günstige Umweltbedingungen, die an die biblische Schilderung des »Gartens Eden« oder an das Märchen vorn Schlaraffenland denken lassen, den Rahmen für die Anfan-ge seßhaften Lebens abgaben und zur Landwirtschaft hinführten. (Zeichnung von Iva Ellen Morris)

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Bezugsquellen für pfl anzliche Kost zu erschöpfen? Es gab eine Periode intensi-veren Interesses an einer Analyse der Umweltbedingungen, und die Arbeiten der Forscher wurden immer detaillierter. Noch immer waren die Archäologen »Gra-dualisten«, doch bezogen sie nunmehr die Umwelt in ihre Überlegungen ein. Aus der Zeit der Forschungsreisen und des frühen Kolonialismus liegen zahlreiche Berichte über Völkerschaften ohne jegliche Kenntnis der Landwirtschaft vor. In-folgedessen konnte man immer dann, wenn jemand zu erklären suchte, warum und wie es zur Landwirtschaft gekommen sei, die Testfrage stellen: »Wenn das alles stimmt, warum trieben dann die Soundso keinen Ackerbau?« Ein solches Überprüfen vorgebrachter Hypothesen war möglich, weil man über ethnogra-phisches Material verfügte, von dem allerdings diejenigen wenig wußten, die die Umwelt in ihre Überlegungen einbezogen. So kam es zu einem Wechselspiel zwischen Spezialisten mit völkerkundlichen Kenntnissen und Umweltexperten, die über die ökologischen Hintergründe des Entstehens der Landwirtschaft Bescheid zu wissen glaubten. Immer und immer wieder konnte ich im Lauf der letzten Jahre dieses Spiel verfolgen.Beispielsweise begründete jemand die Tatsache, daß es schließlich zur Land-wirtschaft kam, damit, daß er die Bedeutung des Rückgangs der Pistaziennüsse für die Jäger- und Sammlerbevölkerungen des Vorderen Orients hervorhob. Außerdem wies er darauf hin, daß das Entstehen komplexer Gesellschaftsfor-men mit der Abkehr vom Wildbeuterdasein verbunden sei. Doch möglicher-weise kam dann aus seiner Zuhörerschaft der Einwand, in Mesoamerika habe es überhaupt keine Pistazien gegeben, und dennoch habe man auch dort den Weg zur Landwirtschaft gefunden. Oder jemand machte geltend, es gebe doch die komplexen Gesellschaftsformen bei den Indianern in Kalifornien sowie an der nordamerikanischen Nordwestküste, obwohl sie nie Ackerbau gekannt hätten! Der Vortragende mochte dann wohl entgegnen, er habe in der Tat diese Punkte unberücksichtigt gelassen, doch in Mesoamerika seien nicht die Pistazi-en ausgegangen, sondern ein anderes Nahrungsmittel, wogegen die Indianer in Kalifornien und an der Nordwestküste über so viel Ahorn bzw. Lachse verfügt hätten, daß sich für sie gar nicht erst die Notwendigkeit ergeben habe, ihr Heil in der Landwirtschaft zu suchen. Mit anderen Worten: Die Menschen kamen ohne Landwirtschaft aus, sobald sie in besonders begünstigten Umweltverhältnissen lebten – etwa in kleinen »Gärten Eden«, wo an Nahrung kein Mangel herrschte.Übrigens nahm man ohne weiteres auch an, daß unter derartigen Umweltbedin-gungen ehemalige Nomaden seßhaft wurden und ihr Nomadendasein aufgaben. Die folgende Passage soll zeigen, was offenbar die einhellige Meinung der meis-ten Archäologen ist: »Wir halten es für erwiesen, daß die seßhafte Lebensweise der Menschheit größere Überlebenschancen bietet als das Wanderleben und daß unter sonst gleichen Bedingungen der Mensch stets diesen Übergang vollzieht, sobald sich dazu eine günstige Gelegenheit bietet …,«19

Wenn ich eine solche Behauptung höre, pfl ege ich von einem »Faulpelzprinzip« zu sprechen: Der Mensch unternimmt nichts, um etwas zwischen die Zähne zu bekommen, solange er nicht muß. Muß er nicht gehen, dann bleibt er sitzen, und

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gibt es irgendwo genügend Nahrung – beispielsweise an einer Muschelbank –, dann sitzt er genau dort. In einem »Garten Eden« läuft der Mensch natürlich nicht herum. Diese beiden Vorstellungen – das »Garten-Eden-Motiv« und das an das Schlaraffenland gemahnende »Faulpelzprinzip« – verwob man miteinander zu einem hochinteressanten Mosaik von Argumenten.So wurde jüngst die Ansicht laut, es habe einen derartigen »Garten Eden«, der seßhafte Lebensweise begünstigte, auf den Gipfeln der Anden gegeben!20 Ein an-derer »Garten Eden« soll an binnenländischen Wasseradern im Großen Becken Nordamerikas existiert haben, wo in riesigen Sümpfen große Mengen der Bors-tenhirse (Setaria geniculata) gediehen. Wenn man sein ganzes Leben lang nichts anderes als Borstenhirse essen will – dann war dies ein »Garten Eden«. Auf jeden Fall wurde allen Ernstes erwogen, ob diese Nahrungsmittelquelle die Grundlage seßhafter Lebensweise und der Errichtung von Dörfern im dortigen Gebiet ge-wesen sei.21 Eine andere Vermutung, die jüngst Perlman22 äußerte, sucht an Ufer und Flußmündungen gebundene Nahrungsquellen als »wirkliche«, echte »Gär-ten Eden« zu identifi zieren. Außerdem wird behauptet, der Mensch bevorzuge jede Methode, die es ihm gestatte, mit möglichst geringer Mühe und möglichst geringem Risiko den größtmöglichen Erfolg zu erzielen. Das »Faulpelzprinzip« diktiert ihm, sich auf die »Schlaraffenländer« reicher, produktiver »Gärten Eden« zu stürzen, in Perlmans Version: auf die günstigen Umweltbedingungen in Küstengebieten. Ich gebe zu: Ich selbst hatte dergleichen vermutet, als ich mein eigenes Modell des Entstehens der Landwirtschaft in Randzonen aufstellte.23 Vor geraumer Zeit gab ich diese Position allerdings wieder auf, denn mir schien, daß sie unausweichlich zu der Ansicht führt, einige Völker seien »aufnahmefähiger« und »tüchtiger« als andere – denn wie sonst sollten ausgerechnet sie die »große Wahrheit« des Prinzips der geringsten Mühewaltung erkannt haben?Obwohl aus all dem nicht notwendigerweise folgt, daß die durch einen bestimm-ten, lokalisierbaren »Garten Eden« begünstigte idyllische Seßhaftigkeit schließ-lich zur Landwirtschaft führte, wurde dergleichen von Archäologen behauptet. Kent Flannery fand seinen »Garten Eden« in der Türkei. Nachdem Harlan24 seinen bekannten Aufsatz über die dortigen Wildweizenfelder veröffentlicht hatte, vertrat Flannery25 die Ansicht, diese böten tatsächlich eine hinreichende Grundlage für Seßhaftigkeit. Weitere Argumente zu entwickeln, hielt er anschei-nend für unnötig.Später äußerte Hassan26 sogar, Umweltveränderungen könnten mancherorts ei-nen »Garten Eden« geschaffen haben, der Wildpfl anzenerträge von immer grö-ßerer jahreszeitlicher und standortmäßiger Vorhersagbarkeit erbrachte.27 An-fangs habe man derartige Nahrungsquellen lediglich als Reserven für schlechte Zeiten genutzt, doch unter veränderten Umweltbedingungen sei man schließlich dazu gekommen, ihren wahren Wert zu erkennen. Die Nutzung dieser »von der Umwelt stimulierten« ertragreichen Nahrungsvorkommen habe die Seßhaftig-keit gefördert und letzten Endes dazu geführt, daß man Landwirtschaft trieb. Ein weiteres Beispiel fi ndet sich in den Arbeiten C. Niederbergers.28 Diese Forscherin

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fand bei ihren Ausgrabungen am Ufer des Texkoko-Sees in Mexiko Überreste von Enten, Hirschen und Borstenhirse – insgesamt Belege für eine breite Palette von Dingen, die ein Mensch zum Leben braucht, und das alles an einer bestimm-ten Stelle. Einen solchen Platz zu verlassen, dafür gab es keinerlei Grund.Damit haben wir ein ganzes Bündel von Argumenten beisammen, die alle den Ursprung der Landwirtschaft betreffen: Zuerst wurde der Mensch seßhaft, weil er einen kleinen »Garten Eden« gefunden hatte. Doch als er sich an die Seßhaf-tigkeit gewöhnt hatte, lief manches nicht mehr so, wie es sollte. Vielleicht kamen die Enten nicht mehr in so großer Zahl wie zuvor. Also begann der Mensch sich zusätzlicher Produktion zuzuwenden. Wenn es aber die seßhafte Lebensweise ist, die zur Landwirtschaft führt, befi nden wir uns wieder dort, wo wir bereits einmal waren. Denn warum entwickelten dann die Kalifornier und die amerika-nischen Nordwestküsten-Stämme keine Landwirtschaft? Bei derlei Argumenten übersieht man ein sehr wichtiges Stück empirischer Evidenz: Zwar scheint es, als ob im Nahen Osten, in Mesopotamien, ja sogar in Peru die Seßhaftigkeit dem Ackerbau vorangegangen ist. Die Daten aus Meso- und Nordamerika dagegen

129 Im Dorfe Hoshmo auf der Insel Yaeyama (südliche Ryukyu-Inseln) trocknet man Reis für die Vorratshaltung Seßhafte Lebensform bedingt bedeutende Investitionen in Anlagen und Transportmittel für die Beförderung der Güter zu den Verbrauchern. Sie wird auch durch die Anlage von Vorräten ermöglicht, die über die Zeit hinaus vorhalten, in der die betreffenden Lebensmittel von Natur aus zur Verfügung stünden. (Die Aufnahme wurde im Juni 1953 von E. Santry gemacht)

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zeigen klar, daß man hier erst nach der Kultivierung von Pfl anzen zu einer seß-haften Lebensweise überging.29 Auch andere Gedanken hat man sich gemacht. Doch zeigen die oben von mir skizzierten Argumente im großen ganzen, wie man sich heute das Entstehen der Landwirtschaft erklärt. Nach der »gradua-listischen« Argumentation entwickelt der Mensch die Agrikultur, weil er sich allmählich, Schritt für Schritt, immer mehr Kenntnisse aneignet. Nach der »Gar-ten-Eden«-Theorie vollzieht sich dieser Prozeß unter besonders günstigen Um-weltbedingungen, die die seßhafte Lebensweise fördern, sehr viel rascher. An-dererseits betrachtet man im Rahmen dieser Argumentation die Seßhaftigkeit als Ansporn zu intensiverem Produzieren, bzw. zum Experimentieren mit Pro-duktionsweisen, durch deren Anwendung sich in dem begrenzten Raum rings um eine ortsfeste Siedlung genügend Nahrung erzeugen läßt. Eine Alternative hierzu (die allerdings offenbleiben muß) ist, daß die Überhandnähme landwirt-schaftlicher Produktionsweisen immer mehr Seßhaftigkeit bedingt. Vermutlich – so die Anhänger dieser These – werden die Menschen im Zusammenhang mit der Landwirtschaft seßhaft, weil diese jenes Maß an Sicherheit garantiert, das den Menschen – gemäß dem »Faulpelzprinzip« – die Entscheidung gegen das Wanderleben erleichtert.30

All diese bisher zusammengetragenen Ansichten enthalten unterschiedliche Formen von »Gradualismus«. Außerdem sind diese Denkweisen und Stand-punkte teleolo-gisch, setzen also eine bestimmte Zielgerichtetheit der fraglichen Prozesse voraus! Das ständige, wenn auch allmähliche Sich-hin-Bewegen zur Nutzung immer weniger vom Zufall abhängiger Nahrungsquellen, die Aneig-nung von Techniken, die zu dem vorausgesetzten Endziel der Seßhaftigkeit führten – bei all dem geht man davon aus, daß die kulturelle Entwicklung des Menschen zielgerichtet sei und sich auf einen Endpunkt zubewege. Dabei ver-dient es vielleicht Beachtung, daß sich die Ansätze marxistischer Strukturalisten und der Verfechter der allgemeinen Systemtheorie gar nicht so erheblich von den älteren gradualistischen Ansichten unterscheiden, weil auch sie Verände-rungen als unvermeidbar betrachten. Beide neuere Richtungen gehen davon aus, daß »… das Kultursystem über sich selbst umformende Eigenschaften verfügt … Eher als Gesellschaften im Gleichgewicht befi nden sie sich stets im Zustande des Werdens …«31 Außerdem erfahren wir, daß Umgestaltungen der Gesellschaft weitgehend aufgrund menschlicher Entscheidungen stattfi nden – Entscheidun-gen etwa, wie man seine Zeit investiert oder von den Ergebnissen produktiver Investitionen Gebrauch macht: »… wie kann jemand von materieller Verursa-chung menschlicher Handlungen sprechen, wenn in nahezu jeglicher Situation die schöpferischen Kräfte des menschlichen Geistes am Werk sind?«32 Für eine weitere Form des »Gradualismus« ist die Hinwendung zur Landwirtschaft keine Folge der dem System innewohnenden Vitalität und kommt daher auch nicht gleichsam von innen her, sondern man nimmt eine Art von »erstem Beweger« an – eine Triebkraft, die von außen her einwirkt. Dabei denkt man an einen fort-dauernden Impuls von selten der Umwelt. Als Beispiel sei die demographische Argumentation Cohens33 angeführt, der mit einer Bevölkerungstheorie arbeitet,

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die praktisch reiner Malthusianismus ist – nämlich: Da das Bevölkerungswachs-tum unaufhörlich weiterginge, sei die einzelne Gruppe einem ständigen, gna-denlosen Druck ausgesetzt, und dieser Druck fördere im Endeffekt die Hinwen-dung zu neuen Methoden der Ertragssteigerung bei Nahrungsmitteln.Meines Erachtens müssen wir darwinistischen Argumenten mehr Beachtung schenken, die die Triebkräfte des Wandels in den wechselseitigen Beziehungen zwischen der Umwelt und dem adaptiven System der menschlichen Kultur se-hen. Vorausgesetzt, eine derartige Auffassung trifft zu, kann das System der An-passung relativ stabile Perioden unterschiedlicher Dauer durchlaufen – Zeiten, in denen es mit Umweltstörungen leicht fertigzuwerden vermag. Die Entschei-dung für eine Wende fällt immer dann, wenn dieses System angesichts veränder-ter Umweltbedingungen nicht mehr in der Lage ist, zuvor erfolgreiche Taktiken mit unvermindertem Erfolg weiter anzuwenden. Ursache solcher Umstellungen kann sein, daß sich im Lauf der Geschichte (bzw. während des bisherigen Beste-hens) des Systems mancherlei an Folgen aus dem Funktionieren des Systems ergeben hat, was nun nach einer Wende ruft. Doch handelt es sich dabei meist um Veränderungen im ökologischen Bereich denn um das Wirken eines Lebens-prinzips, das dem System innewohnt. Childe führte probeweise Untersuchungen durch, die sich auf einen selektionistischen Ansatz dieser Art zubewegten, doch wurde er aus streng historischen Gründen wieder verworfen. Dennoch halte ich es für nützlich, abermals einen Vorstoß in die gleiche Richtung zu wagen.

Beweglichkeit als Sicherheitsgarantie für Jäger und Sammler

Die meisten der oben wiedergegebenen Argumente haben eines gemeinsam: Sie alle gehen davon aus, daß nomadisches Umherschweifen etwas sei, was der Mensch nur allzugern zu vermeiden suche, wogegen Seßhaftigkeit ein allseits erstrebter Zustand ist.34 Ist diese Annahme überhaupt gerechtfertigt? Und wenn ja, warum? Wenn man die Dinge vom Standpunkt der Sicherheit aus betrachtet – warum sollte Beweglichkeit schlecht, das Verharren am selben Platz aber gut sein? Das erste, was mich betroffen machte, war eine ganz einfache Beobachtung. Während der letzten zehn Jahre sammelten meine Studenten und ich eine Fülle von Erfahrungen, als wir mit Nomadenvölkern zusammenlebten und bei ihnen Forschungsarbeiten durchführten. Keines dieser Völker hielt seine Mobilität für etwas Schlechtes, vielmehr wäre der Gedanke, daß sie Nachteile brächte, reinen Wildbeutern geradezu absurd erschienen. Ein älterer Eskimo sprach es aus: »Wenn ich hier bin, weiß ich nicht, was dort drüben los ist«. Sicherheit, so fuhr er fort, sei ganz und gar davon abhängig, daß man gute Entscheidungen darüber treffe, wohin man demnächst ziehen werde – Entscheidungen, die nur möglich waren, wenn man wußte, was sich auch in dem enormen Bereich abspielte, in dem man gerade nicht lebte. Es kam darauf an, ein riesiges Gelände zu beobach-ten, um Bescheid zu wissen, Bescheid hinsichtlich der Nahrungsmittelquellen, die in dem gesamten Raum verteilt waren.

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Wenn bürokratische Maßnahmen heute Eskimos zwingen, von einem Tage auf den anderen ein ortsgebundenes, seßhaftes Leben zu führen, ist dies für die Betroffenen eine traumatische Erfahrung. Die zur Seßhaftigkeit Gezwungenen schleichen sich fort und wandern im Land umher. Zurück kehren sie mit lang-atmigen Erzählungen: Wie viele Elchspuren sie sahen, wo die Enten geblieben seien, welch gute Feuerholzbestände es wo gebe, daß sie Waldbrände gesehen hätten, daß die und die Seen vom Schnee zugeweht seien, wie dick das Eis auf den Seen sei, wo man fi schte, und dergleichen mehr. Dies alles sind wesentliche Informationen, die Nomaden brauchen, um zu wissen, was zu tun ist, wenn irgend etwas ihre Sicherheit bedroht, z. B. wenn Grizzlybären in ihre Fleisch-caches eingebrochen sind und sich über die Vorräte hergemacht haben. Ist man unfähig, Entscheidungen zu treffen, die auf Informationen über ein riesiges Terrain beruhen, kann man nicht überleben. Mithin unternahmen die Eskimos ihre Wanderungen nicht, weil sie keine Nahrung hatten, sondern umgekehrt, weil Nahrung vorhanden war. Gibt es irgendwo reichlich Nahrung, so genügt es, darüber Bescheid zu wissen. Man kann ja immer wieder an die betreffende Stelle zurückkehren. Man geht kein großes Risiko ein, sondern fühlt sich sicher, wenn man im Besitz derartiger Informationen längere Wanderungen unternimmt, um anderswo risikoreicheren Methoden der Nahrungsbeschaffung nachzugehen. Dem entspricht, daß Nomaden gerade dann besonders mobil werden, wenn ihr Tisch reichlich gedeckt ist. Demnach dürfte das »Faulpelzprinzip« bei ihnen kaum am Werk sein.Genau das gleiche beobachtete ich in den Wüstengebieten Mittelaustraliens. Die Gruppe, bei der ich dort meine Forschungen durchführte, hauste in einem Gebiet mit sehr reichem Wildvorkommen. Beispielsweise zählten wir auf einem vierstündigen Marsch nicht weniger als 85 Känguruhs. Nun könnte man – wenn die »Garten-Eden«-Betrachtungsweise zuträfe – meinen, die Gruppe sei dort geblieben und habe sich von Känguruh zu Känguruh ihren Weg vorangebahnt, immer eines der Tiere nach dem anderen erlegend und verzehrend. Doch das Gegenteil war der Fall: Diesen Leuten bot der reiche Wildbestand jene Sicher-heitsgarantie, die sie benötigten, um einen Ausfl ug an das von ihnen schon seit langem nicht mehr aufgesuchte andere Ende ihres Territoriums zu machen. Lief irgend etwas schief, konnten sie jederzeit in die ihnen bekannten Jagdgründe zurückkehren, von deren Wildreichtum sie sich ja überzeugt hatten.In dieser Weise also laufen, wie mir scheint, die Dinge bei Jägern und Sammlern ab. Wildbeuter bleiben nicht an einem Platz, wo sich Nahrung für sie häuft, son-dern sie halten das Vorhandensein derartiger Plätze für eine günstige Gelegen-heit, um woandershin zu wandern, und sei es auch nur, um Informationen zu sammeln. Deshalb meine ich, daß beim Übergang vom Nomadentum zur seßhaf-ten Lebensweise eine ganze Reihe von Umständen zusammenkommen muß, die dazu führen, daß Informationen, wie ein Nomade sie braucht, um sich sicher zu fühlen, nicht mehr wirken, und ihm – dem Nomaden – die Entscheidungsfreiheit genommen ist, dorthin auszuweichen, wo er es aufgrund seiner Erfahrungen für gut hält. Hier sei noch einmal ausdrücklich auf die Größenverhältnisse von

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Jäger- und Sammlergruppen hingewiesen. Sie sind nicht alle gleich groß, doch keine von ihnen ist wirklich klein. Im Kapitel 6 sahen wir, daß die Karibujäger, bei denen ich mich aufhielt, ein Territorium bewohnen, das ein Mensch im Laufe eines Lebens einmal ganz durchmißt. Doch sei eingeräumt, daß diese Verbin-dung von Wohn- und Wandergebiet und Lebenszeit ein Sonderfall ist. Gleichviel – eine Gruppe von drei Dutzend Personen nutzt wohnend, wandernd, sammelnd und jagend ein Territorium von ungefähr 22000 Quadratkilometern Bodenfl ä-che. Das ist ein Gebiet von riesigen Ausmaßen, aber die Menschen kennen das weite Land. Sie wissen, wo ihre Fleischvorräte sind, wo man durch die Bäche waten kann, wo es Wildwechsel gibt und dergleichen mehr. Beispielsweise legte ich während meiner Untersuchungen ein Inventarverzeichnis verschiedener Werkzeugverstecke an und befragte anschließend die Jäger zweier Gruppen, de-ren Territorien sich überschnitten, nach deren Lage. Fast jedes Stammesmitglied kannte die genaue Liste der versteckten Geräte auswendig, obwohl die betref-

130 Ngatatjara-Ureinwohner verlegen um 1935 ihr Lager in den Warburton Ranges (Westaustrali-en). Im Gegensatz zu der mit Landwirtschaft und anderen intensiven Strategien der Nahrungsbe-schaffung verbundenen seßhaften Lebensweise müssen Jäger und Sammler immer wieder ihren Standort verändern und den Umweltbedingungen anpassen. (Aufnahme N.B.Tmdale; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Department of Antropology, University of California, Los Angeles)

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fenden Verstecke über ein Gebiet von annähernd einer Viertelmillion Quadrat-kilometer verstreut waren! Derartige Informationen erlangt man bei seßhafter Lebensweise nie! Das gesamte Erziehungswesen dieser Nomaden war darauf eingestellt, jeden einzelnen über seinen riesigen Lebensraum zu informieren, um es ihm und der Gruppe zu ermöglichen, gegebenenfalls die erforderlichen Entscheidungen zu treffen.

131 Nunamiut-Territorien vor und nach dem 1910 erfolgten Zusammenbruch des Karibubestandes. Die Reaktion dieser Jäger- und Sammlergruppe auf die plötzliche Nahrungsknappheit bestand darin, das zur Nahrungssuche genutzte Gebiet zu verdreifachen (nach Amsden 1977). Die Nahrungsmittel-quellen der Küstengewässer – für manche ein wahrer »Garten Eden« – dienten als Ersatz während des Karibubestandsminimums. Als die Herden sich jedoch wieder erholten, kehrten die Eskimos zu ihrer früheren Lebensweise des nomadischen Jagens im Landesinneren zurück.

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Es ist ohne weiteres einzusehen, daß in Gebieten von so riesiger Ausdehnung ge-nügend Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wenn es sich herausstellt, daß in irgendeinem ganz bestimmten, eng umrissenen Bereich die Hilfsmittel, die man benötigt, ausgegangen sind. Beispielsweise brach 1910 im nördlichen Zentralalaska der Karibubestand zusammen. Eindringlinge, die der Goldrausch am Yukon ins Land gelockt hatte, hatten die Wälder niedergebrannt und damit die Winterstandplätze der Karibus zerstört (ein Gebiet, das die Eskimos selbst nie gesehen hatten). So kam es zu einem katastrophalen Rückgang des Kari-bubestandes. Doch die Karibu-Jäger kamen durch das Ausbleiben ihrer Haupt-nahrungsquelle keineswegs in Verlegenheit. Hatten sie doch die Wahl zwischen

132 Mann und Frau auf Okinawa bei der Bodenbearbeitung für den Süßkartoffelanbau Yanbabu 1952.

133 Das Einpfl anzen von Reissetzlingen in Reisfelder, Nago, Okinawa, 1951.

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mehreren anderen Möglichkeiten, die samt und sonders nomadische Beweglich-keit erforderten und besondere Landeskenntnis voraussetzten.Einige von ihnen zogen zum oberen Colville River und begannen, sich mit Fischvorräten einzudecken. Andere stellten sich auf Bergschafjagd im Dietrich Valley um – einem Teil ihres Wandergebiets, den sie allerdings nie bewohnt hatten. Noch andere machten Athapasken-Indianern Konkurrenz (es ging da-bei um eine andere Ka-ribuherde mit einem anderen Wurfgebiet und anderen Winterstandplätzen), wieder andere schließlich zogen an die Küsten und ver-legten sich auf die Seehundjagd. Für keine dieser Ausweichmöglichkeiten war eine »Umschulung« erforderlich. Die Männer beherrschten alle grundlegenden Nahrungsbeschaffungsstrategien ihrer Nachbarn und wußten ganz genau, wie sie sich anzustellen hatten. Doch nur ihrer nomadischen Beweglichkeit ver-dankten sie ihre Kenntnis dieser anderen Möglichkeiten, den Kampf um ihr Dasein zu bestehen.Wenn wir zu unserer Ausgangsfrage nach dem Ursprung der Landwirtschaft zurückkehren, nähern wir uns ihr gleichsam aus einem anderen Winkel. Was könnte eine Bevölkerung veranlassen, ein auf Informationen beruhendes System (das Jagen und Sammeln) zugunsten eines anderen Systems (nämlich der Landwirtschaft) aufzugeben, das im Gegensatz dazu auf Arbeit beruht? An einem Platz auszuharren, um Pfl anzen zu bemuttern, ist ein völlig anderer Stil, sein Dasein zu fristen, als ihn die von mir soeben skizzierten Strategien eines beweglichen Wildbeuterlebens darstellen. Meines Erachtens muß ein Druck den Ausschlag gegeben haben, der es den Nomaden verwehrte, weiterhin ihre Sicherheit in ihrer Beweglichkeit zu suchen. Dies bringt mich auf eine Reihe von Argumenten zurück, die ich bereits vor Jahren geäußert habe. Man hat diese Ar-gumente nicht überall wohlwollend aufgenommen, doch meine ich noch immer, daß in irgendeiner Weise Bevölkerungszunahme dabei die entscheidende Rolle gespielt hat.

Bevölkerungswachstum und Ernährungsmöglichkeiten bei Jägern und Sammlern

Die archäologischen Befunde deuten darauf hin, daß die weitverbreitete Verschiebung vom Jagen und Sammeln hin zu landwirtschaftlichen Produk-tionsmethoden weitgehend ein Phänomen des Nachpleistozäns ist. Wenn im Zusammenhang damit der Verlust der Voraussetzungen, die ein Nomadenleben möglich machen, dem Anwachsen der Bevölkerungsdichte zugeschrieben wird, müssen wir uns allerdings fragen, warum erst so spät in der Menschheitsge-schichte. Möglicherweise lassen wir uns durch die Annahme irreführen, daß Er-klärungen, die für Ereignisse nach dem Auftauchen des vollentwickelten Homo sapiens (vor rund 30000 Jahren) gelten, auch für die Zeit davor stimmen müssen. Wie bereits in den Kapiteln 2 und 3 angedeutet, unterschied sich der Mensch, als er noch nicht den Jetztzeittyp repräsentierte, biologisch wie verhaltensmäßig ganz erheblich von uns.

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Es ist bekannt, daß es für jedes Lebewesen bestimmte Zonen gibt, wo es sich opti-mal vermehrt. Beispielsweise gedeiht Getreide in lowa besser als sonstwo. Warum sollte dies nicht auch für Menschen der Jäger- und Sammlerstufe gelten? Daher un-tersuchte ich, wie sich überall auf der Welt die Bevölkerungsdichte von Jägern und Sammlern zur Umwelt verhält. Das Ergebnis war, daß die größte Dichte ungefähr bei einer mittleren Erd-Biotemperatur (d. h.: mittleren effektiven Temperatur)35 von 14,4 ° Celsius – also mitten in der gemäßigten Zone, keineswegs im tropischen Re-genwald oder in Wüstengebieten – lag. Mit anderen Worten: Der vollentwickelte Homo sapiens scheint in der gemäßigten Zone am fortpfl anzungsfreudigsten bzw. -fähigsten zu sein – was ich bei seinen Vorläufern sehr bezweifl e. Frühmenschen wie

134 Bevölkerungsdichte von Jägern und Sammlern in verschiedenen Umweltzonen. Ethnographisch erfaßte Jäger-Sammlervölkerschaften wurden in fünf Kategorien eines Niederschlagsindexes gruppiert (Kurven A—E), den man erhielt, indem man die potentielle Verdunstungsgröße eines geographischen Punktes (d. h. die Menge des Wassers, die bei der dort gemessenen Sonneneinstrahlung verdunsten könnte, falls ge-nügend Wasser zur Verfügung stünde) durch die tatsächliche Regenmenge dividierte. Wenn man für jede effektive Temperatur und jedes Niederschlagsintervall eine mittlere Jäger-Sammler-Dichte ansetzt, wird klar, daß die maximalen Bevölkerungsdichten in einer gemäßigt warmen Umgebung erzielt werden (schraffi erter Bereich). Die tatsächliche Maximaldichte innerhalb jeder Niederschlagskategorie verschiebt sich mit der effektiven Temperatur (dicker Balken mit Schachbrettmuster).

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die Australopithecinen und die Archanthropinen (die Homo erectus-Gruppe) gab es in der gemäßigten Zone überhaupt nicht, und auch Altmenschen (Paläanthro-pinen [die Neandertaler-Gruppe]) waren, unter dem Gesichtspunkt der Vermeh-rung betrachtet, dort nicht sehr erfolgreich. Der Jetztzeitmensch indessen dürfte in den wärmeren Teilen der gemäßigteren Zone ein höheres Fortpfl anzungspo-tential entwickelt haben als irgendwo sonst.Seit es aber in der gemäßigten Zone Menschen mit einem derartigen Potential gab, begann die Bevölkerung zuzunehmen. Natürlich führten Klimaschwan-kungen während der Eiszeit zu Komplikationen dieses Wachstumsprozesses, ja mancherorts starb die Bevölkerung sogar aus. Dennoch dürfte anderswo das Wachstum schließlich einen Punkt erreicht haben, an dem sich erste Konse-quenzen zeigten. Auch biologisch gesehen ergibt dies durchaus Sinn: Die beiden wichtigsten Regulationsmechanismen scheinen in den Tropen höhere Sterb-lichkeit sowie in der Arktis höhere Fruchtbarkeit gewesen zu sein. In der gemä-ßigten Zone waren sowohl die Sterblichkeits- als auch die Geburtenrate etwas geringer, dies aber reichte aus, um die Bevölkerungsziffer in die Höhe schnellen zu lassen. Aufschlußreich ist die Feststellung, daß unter sonst vergleichbaren Bedingungen das Bevölkerungswachstum in der Neuen Welt sehr viel rascher vor sich ging als in der Alten, weil es in der Neuen Welt weniger Krankheiten gab. Offenbar hatte der Mensch, als er die Neue Welt betrat, die betreffenden Keime in der Alten Welt zurückgelassen. Er hatte eine Art »Keimfi lter« durchschritten, was einen wahren Bevölkerungsboom ermöglichte, als er die Aquatorialzonen der Neuen Welt erreichte.Dies brachte eine enorme Zeitraffung der Entwicklung, die von der Jäger- und Sammlerstufe zur Bildung komplexer Staatsgebilde führte – eine gedrängte Form der Entwicklung, die man teils der Ernährung, teils einem unter unter-schiedlichen Umweltbedingungen sehr unterschiedlichen Bevölkerungswachs-tum zuschreibt. Mir geht es hier lediglich um den Nachweis, daß wir uns das menschliche Reproduktionspotential keineswegs als konstante Größe vorzustel-len haben, die von Umwelteinfl üssen unabhängig war.Wenn wir davon ausgehen, daß unter gewissen Umweltbedingungen bei Jägern und Sammlern ein deutlich wahrnehmbares Bevölkerungswachstum stattfi ndet, müssen wir uns fragen, wie sich dieses Wachstum wohl auf die Nahrungsbe-schaf-fungsstrategien ausgewirkt haben könnte. Nehmen wir eine typische Si-tuation: Eine Gruppe von etwa 30 Personen bewohnt einen Teilbereich (A) ihres Gesamtterritoriums etwa zehn Jahre lang. Dies bedeutet, daß bei etwa zehnjäh-rigem Standortwechsel jedes Gruppenmitglied im Durchschnitt die Chance hat, etwa fünf Standortwechsel zu erleben. Nimmt die Zahl der Gruppenmitglieder indessen zu, kommt es früher oder später zu Auseinandersetzungen. Vielleicht sind zu viele Münder mit dem vorhandenen getrockneten Fisch zu stopfen, und trotz der Ethik des wechselseitigen Gebens und Nehmens fühlt sich plötzlich irgendwer nicht mehr an seine Pfl icht gebunden, einen Verwandten mit durch-zufüttern. Schließlich wird die Verärgerung so groß, daß sich eine Familie (oder auch deren zwei) davonmacht, um sich im nächsten Teilbereich (B) niederzulas-

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sen. Es ist Stammesgebiet, und die Auswanderer haben zweifellos das Recht, so zu handeln. Allerdings wohnt niemand sonst von ihrem Stamm zur fraglichen Zeit am selben Ort. Unter normalen Bedingungen wäre die Gesamtgruppe noch nicht dorthin gezogen. So betrachtet, ist dieser Teilumzug verfrüht.Beginnen dann im Teilbereich A die Nahrungsmittel auszugehen, ziehen die dortigen Bewohner gleich nach C, weil sie ja mit ihren in B hausenden und zu Feinden gewordenen Verwandten nichts mehr zu tun haben wollen. Binnen kür-zester Zeit‘ gibt es nun statt einer Sippe deren zwei. Beide nutzen völlig legitim gleichzeitig verschiedene Abschnitte ihres Gesamtlebens- und wanderraums. Doch statt die Gebietsabschnitte der Reihe nach zu bewohnen, wie es ohne Bevölkerungsdruck üblich war, zieht die durch innere Zwistigkeiten gespalte-ne Gemeinschaft eine Art Laubfroschprinzip vor und hüpft von Teilgebiet zu Teilgebiet, wobei man jeweils die von der gegnerischen Sippe eingenommenen Abschnitte überspringt. Infolge weiter wachsenden Bevölkerungsdrucks kommt es zu immer neuen Streitigkeiten (ethnographisch gut belegte Beispiele dafür stehen mir zur Verfügung). Die Gruppe im Abschnitt B wandert vielleicht nach D, während die nach C verzogene Gruppe in zwei neue Untergruppen zerfällt, die sich nun ihrerseits aus dem Wege gehen und in E und F niederlassen. Hat die Gruppe schließlich in D ihren Wanderzyklus beendet und kehrt nach A zurück, haben sich viele der sonst dort vorhandenen lebensnotwendigen Hilfsquellen infolge Zeitmangels noch nicht regeneriert. Beispielsweise benötigen Weiden, die Brennholz liefern, in der Arktis etwa 45 Jahre, um erneut als Brennholzquelle dienen zu können.Unter normalen Verhältnissen wirft das keine Probleme auf, denn eine Eskimo-Gruppe dächte gar nicht daran, vor weniger als vierzig und mehr Jahren an den-selben Platz zurückzukehren. Doch gibt es fraglos Schwierigkeiten, wenn man schon nach zwölf Jahren wieder an Ort und Stelle ist. Wird die Bevölkerungs-dichte noch größer, weiß eine Gruppe schließlich überhaupt nicht mehr, wohin sie ausweichen kann. Dadurch, daß es in ihrer Region immer mehr Menschen gibt, wird ihre Bewegungsfreiheit immer mehr eingeschränkt, und die Ausbeu-tung der Hilfsquellen konzentriert sich immer stärker auf bestimmte Zentren. Es ist dieses Aufeinandersitzen der Menschen, dieses »Gedränge«, das die sonst bei Jägern und Sammlern übliche Strategie vereitelt, ihr Heil in der Beweglich-keit zu sehen. Zu den interessanten Reaktionen auf dieses Problem gehört die Zunahme von Einzelbesuchen in anderen Regionen (da ganze Gruppen ja nicht mehr wie ehedem von Teilgebiet zu Teilgebiet ziehen können). Dahinter steht die Hoffnung, irgendwie über die schwierigen Zeiten hinwegzukommen, weshalb man auch die Kinder bei derartigen Besuchen nach wie vor in die Kenntnis des alten Gesamtterritoriums einweiht. Doch derartige Hoffnungen und Versuche sind unrealistisch, da die Kinder keine Chance haben, eines Tages die alten Wan-dergebiete als Nomaden zu durchstreifen. Eine sehr viel wichtigere Reaktion betrifft jedoch die Nahrungsmittelquellen, die man nutzt. Es gibt eine einfache Beziehung zwischen der Körpergröße eines Tieres und dem Platz, den es braucht, um seine Nahrung zu fi nden. Die Bodenfl äche, die ein Tier

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von 60 bis 150 kg Lebendgewicht zum Weiden benötigt, ist recht ausgedehnt (ja in der Arktis erstaunlich groß). Steht einem Jäger ein Gelände von 20 000 bis 25 000 Quadratkilometern zur Verfügung, hat er gute Chancen, Elche und Karibus zu erlegen. Ist er jedoch auf ein Gebiet von nur mehr 80 km Länge beschränkt, wird es ihm vielleicht noch glücken, Karibus zu erlegen, falls sein Jagdrevier an einem ihrer Wanderwege liegt. Doch auf Elche wird er künftig verzichten müssen, denn deren Gebiet ist im allgemeinen um ein Vielfaches weitläufi ger. Der Jäger, der vordem Elche erlegte und sogar Elchfl eischvorräte anzulegen ver-mochte, muß sich nun mit sehr viel kleineren Tieren abfi nden: mit Enten oder Fischen, ja in Küstengebieten sogar mit Muscheln. Kurz: Je mehr er räumlich eingeengt ist, mit desto kleineren Tieren muß er sich begnügen. Schließlich muß er von Tieren ganz ablassen und sich auf Pfl anzen beschränken, die noch viel weniger Raum brauchen. Damit beginnen sich ganz neue Strategien der Nahrungsbeschaffung einzuspie-len. Zuerst erfolgt eine Hinwendung zu anderen Beutetieren – oft Wassertieren (es scheint in gemäßigten Zonen die erste Reaktion auf den Anstieg der Bevöl-kerungsziffer gewesen zu sein, daß man die Gewässer als Nahrungsmittelquelle nutzte). Zweitens nimmt die Abhängigkeit von pfl anzlicher Kost zu. Drittens er-heischt der Verbrauch in einem Umfeld, das infolge des Bevölkerungswachstums andere Entfaltungs- und Ausweichmöglichkeiten nicht mehr kennt, Wachstum innerhalb des eingeschränkten Raums. Der Übergang zu einem System intensi-ver Produktion (mit einem anderen Wort: zur Landwirtschaft) ist das Gebot der Stunde. Methodologisch gesehen ist dieses Modell nicht leicht zu handhaben. Wie kann ein Archäologe Bevölkerungswachstum oder sogar Überbevölkerung nachweisen? In gewissem Sinne befi ndet er sich dabei in der gleichen Situation wie ein Arzt, der die Symptome einer Krankheit beobachtet und festzustellen sucht, auf welches Leiden sie zurückzuführen sind. Eines der aufschlußreichsten »Symptome«, das wir aufgrund des »Drängelei«-Modells erwarten müssen, ist, daß Jäger lange vor der Kultivierung von Pfl anzen beginnen, Herden zu halten und Tiere zu domestizieren. Für die archäologischen Sequenzen von Peru, wo domestizierte »Schafkamele« und Meerschweine mehr als 2 000 Jahre früher auf-tauchen, bevor es auch nur eine einzige angebaute Pfl anze gab, dürfte dies mit Sicherheit zutreffen. Ganz entsprechend zeigen die Arbeiten, die Dexter Perkins und andere im Nahen Osten durchführten, daß auch dort die Domestikation von Schafen und Ziegen der der Pfl anzen voranging.36 Einige Fakten, die in diesen Zusammenhang gehören und mit denen man früher nicht viel anfangen konnte, bekommen dadurch ihren Sinn. Der Übergang zur seßhaften Lebensweise führt aber noch zu einem weite-ren »Symptom«. Ich wies bereits daraufhin, daß einer der Hauptgegensätze zwischen der Alten Welt und Peru einerseits sowie Meso- und Nordamerika andererseits darin besteht, daß in einem Fall (Alte Welt und Peru) die seßhaf-te Lebensweise der Nutzung kultivierter Pfl anzen voranging, im anderen Fall (Meso- und Nordamerika) ihr jedoch folgte. Akzeptiert man, daß tierisches Protein sowohl für die Ernährung als auch für die Fortpfl anzungsfähigkeit des

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Menschen von großer Bedeutung ist,37 kann die Kultivierung von Pfl anzen allein das »Drängelei«-Problem niemals lösen. Nichtpfl anzliche Ressourcen wie Fische und anderes Wassergetier38 sowie die Domestikation von Landtieren tragen erheblich zur Intensivierung der Produktion entsprechender Nahrung für den Menschen bei. Unter derartigen Bedingungen kann die Hinwendung zur Seßhaf-tigkeit sehr wohl der Anwendung landwirtschaftlicher Methoden vorangehen, die zwar als »Kalorienbeschaffung« mehr und mehr an Bedeutung gewann, doch die Unausgewogenheit einseitiger Pfl anzenkost nicht auszugleichen vermochte. So scheint in Meso- und Nordamerika ebenso wie in einigen klimatisch gemä-ßigten Gegenden Europas seßhafte Lebensweise durch die Nutzung tierischer Nahrungsquellen aus dem Wasser gefördert worden zu sein. Wo andererseits nicht genügend Wassertiere vorhanden waren, um als alternative Quelle tieri-schen Proteins in Frage zu kommen, und es auch keine Tierdomestikation gab, diente die Landwirtschaft lediglich als Mittel der Deckung zusätzlichen Kalo-rienbedarfs, während man im übrigen sein Nomadenleben weiterführte – in diesem Fall das einzige Mittel, um Fleischkost (überwiegend von Landtieren) sicherzustellen. In derartigen Fällen ging man erst sehr viel später, und zwar lange nach der Hinwendung zur Landwirtschaft und nach erheblich stärkerer Bevölkerungszunahme zur Seßhaftigkeit über.Und noch ein anderes »Symptom« gibt es. Flannery39 bezeichnete es als »Breit-band-Revolution«. In Wahrheit handelt es sich weniger um eine Revolution denn um eine »Breitband«-Depression. Waren Jäger und Sammler in einer Region zusammengepfercht, sahen sie sich gezwungen, die Stufenleiter der Beutetier-größen immer weiter hinabzusteigen und eine immer größer werdende Arten-vielfalt immer kleiner werdender Nahrungsportionen zu konsumieren. Denn es war ihnen durch die Umstände verwehrt, die gleichen Strategien der Nahrungs-mittelversorgung anzuwenden wie zuvor, als sie noch keinen Einschränkungen unterworfen waren. Diese Veränderung ist vielleicht einer unserer wichtigsten Anhaltspunkte für die am Zustandekommen der Landwirtschaft beteiligten Prozesse. Nimmt man das Verhältnis der Artenvielfalt zur Körpergröße der Beu-tetiere als Index, dürfte es nicht lange dauern, bis wir mit einiger Genauigkeit anzugeben vermögen, an welchem Punkt der archäologischen Sequenzen die ersten arbeitsintensiven Stragien zu verzeichnen sind.Im Osten Nordamerikas deutet alles darauf hin, daß es sich hierbei um ein brauchbares Verfahren handelt. Beispielsweise läßt sich zeigen, daß jede Jä-gergruppe, die schon im Februar darauf angewiesen war, sich von Muscheln zu ernähren, nur noch einen kleinen Schritt von der Landwirtschaft entfernt war. Wo also der durch mangelnde Nahrungsquellen erzeugte Druck dermaßen stark war, wo man im Herbst nur so schmale Vorräte anzulegen vermochte und im Winter nur so wenig erjagte, daß man schon zeitig im Frühjahr nur noch Mu-scheln und Schalentiere zu essen hatte, dort begann man binnen kürzester Zeit mit dem Getreideanbau.Die verschiedenen Theorien, die wir oben erwähnten, messen der archäologisch belegbaren Tatsache, daß man im Laufe der Zeit räumlich immer kleinere und

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mehr und mehr ortsgebundene Nahrungsquellen nutzte, völlig verschiedene Be-deutungen bei. Flannery bezeichnete dieses Muster als »Breitband-Revolution«. Hassan zufolge ergab es sich, weil der Mensch infolge von Umweltveränderun-gen die Vorteile zuverlässiger Hilfsquellen zu erkennen begann. Cohen betrach-tete ebendasselbe Phänomen als Beweis für einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Nahrungs-beschaffungsstrategien und Bevölkerungsdruck – d. h. für ein sich verschlechterndes Verhältnis zwischen Nahrungsmittelangebot und Verbrauchernachfrage, das zur vermehrten Verwendung an sich weniger ge-schätzter Lebensmittel führte. Hayden war der Ansicht, der häufi ge Rückgriff auf »reselektierte« Hilfsquellen – solche nämlich, die sich rasch regenerieren und reichliche Erträge liefern – sei auf die angesammelte Erfahrung von Völker-schaften zurückzuführen, die beständig gnadenlosem Streß ausgesetzt gewesen seien.40 Ich meinerseits habe hier auszuführen versucht, daß sich in all dem eine Taktik der Intensivierung widerspiegelt. Die Wirkung der Mechanismen, die dahin tendieren, lokale Jäger- und Sammlergruppen möglichst klein zu halten, führt zu einer Abnahme des nutzbaren Territoriums jeder Einzelgruppe. Je mehr Gruppen sich bilden, desto mehr sind sie in ihrer freien Ortswahl eingeschränkt und zu immer intensiverer Nutzung immer kleinerer Umweltabschnitte gezwun-gen. Doch gilt es, die vorgebrachten Theorien mit Hilfe objektiver Methoden zu wägen und zu wichten41. Dies bedeutet: Die Archäologie braucht, um schlüs-sige Folgerungen ziehen zu können, die Entwicklung einer Theorie mittlerer Reichweite,42 und wir haben diese Theorie in einem intellektuellen Kontext aufzustellen und zu testen, der nichts mit jenen Theorien über das Verhalten der Menschen früherer Zeit zu tun hat, die wir ja auf ihren Wert hin zu überprüfen versuchen. Insgesamt hat die Archäologie bisher noch nicht begriffen, daß es, um Theorien zurückzuweisen oder gutzuheißen, eines wirkungsvollen Instru-mentariums erkenntnisvermittelnder Methoden bedarf, die von einer jeden Theorie über die Dynamik vergangener Zeiten unabhängig sind.

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9Wege zur Komplexität

Komplexe Gesellschaften und Hochkulturen entstanden zu ganz verschiedenen Zeiten in ganz verschiedenen Teilen der Erde, fast stets aber nach der Entwicklung der Landwirtschaft. Wie es zu ihrem Entstehen kam, ist seit langer Zeit eine jener Fragen, auf die ich gern eine Antwort hätte. Meine Dissertation, die ich vor mehr als 20 Jahren verfaßte, hatte das Auftauchen komplexer Gesellschaftssysteme im nordamerikanischen Osten zum Gegenstand.1 Seit damals habe ich nicht mehr selbst über diese Thematik gearbeitet und nicht mehr aktiv in die Debatte eingegriffen. Dennoch versuchte ich, wenigstens mit dem raschen Anwachsen der einschlägigen Literatur Schritt zu halten und auf dem laufenden zu bleiben, denn mein Interesse ist noch immer stark. Ich frage mich, welche Strategien die Archäologen angewandt haben, um derartige Probleme zu lösen? Leider muß ich gestehen, daß ich mit vielem, was ich dazu gelesen habe, nicht übereinstimme.Einige Gedanken über die Ursprünge komplexer Systeme, die zu ihrer Zeit Auf-sehen erregten und noch immer durch die zeitgenössische Literatur geistern, können wir sogleich vergessen. Beispielsweise meinten frühere Generationen von Forschern, es sei das Wissen, das – nicht anders als beim Werden der Landwirtschaft – auch bei der Entstehung komplexer Gesellschaftsformen die ausschlaggebende Rolle gespielt habe. Man brauche sich nur vorzustellen, was Menschen dazu gebracht habe, Kunst, Philosophie, komplizierte Rechtsordnun-gen und dergleichen mehr zu ersinnen, um eine Erklärung für das Auftauchen von Hochkulturen zu haben. Noch vor nicht allzu langer Zeit versuchten His-toriker und Archäologen der Behauptung Geltung zu verschaffen, derartige Glanzleistungen seien nur möglich, wenn dem Menschen genügend Freizeit zum »Denken« zur Verfügung stehe. Auch das ist völlig verkehrt. Viel eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein, denn gerade typische Jäger- und Sammlergruppen haben in der Regel mehr Freizeit als Angehörige komplexer Gesellschaftsfor-

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men. Weiterhin gibt es Argumente der »orthogenetischen« Spielart, wonach bestimmte Entwicklungsabläufe unbeirrbar in einmal eingeschlagenen Bahnen stattfi nden. Dies bedeutet: Bestimmte menschliche Kulturen besäßen eine Art Eigendynamik, eine ihnen innewohnende Tendenz fortschreitenden Wachstums, die nicht aufzuhalten sei. Man brauche also nur den richtigen Start und habe eine viel bessere Chance, ein zivilisierter Mensch zu werden, als manch anderer, dessen gesamtes Leben vertan sein, nur weil er nicht den richtigen Weg einge-schlagen habe, der zur westlichen Zivilisation führt! Die Absurdität derartiger Argumente liegt auf der Hand.

Monopolisten, Altruisten und große Männer

Als ich erstmals vom Ursprung komplexer Systeme hörte, geschah dies aus ausgesprochen amerikanischer Sicht, die gewiß meine Auffassungen geprägt hat. Zwei Argumentationsrichtungen zeichneten sich damals ab. Wie es sich so ergab, folgte ich in meiner Dissertation der einen, während Marshall Sahlins2 die entgegengesetzte Linie einschlug.Ich glaubte, Macht sei auf Produktionsmonopole zurückzuführen, Monopole aber seien weitgehend das Ergebnis einer Reaktion von Gesellschaften, die in hohem Maße von Vorratshaltung abhängig wären und deren Nahrungsquellen entweder vielfältig zusammengesetzt oder auf engstem Raum konzentriert sei-en. Auf der Grundlage ethnohistorischer und historischer Daten aus dem östli-chen Nordamerika schien mir und anderen klar, daß fl ußaufwärts wandernde Fische wie der Lachs, die im Meerwasser leben, aber zum Laichen bis hinauf in Gebirgsbäche steigen, für manche Menschengruppen, die von Vorratshaltung abhingen, eine wichtige Nahrungsquelle darstellten. Der Zugang zu derartiger Nahrung war im wesentlichen »punktspezifi sch«. Es ist durchaus nicht leicht, diese Fische in tiefem Wasser zu fangen. Haben sie aber im Zuge ihrer Wan-derung schließlich fl ache Wasserläufe erreicht, befi nden sie sich in einem so kläglichen Ernährungszustand, daß sie als Nahrungsquelle nicht mehr in Frage kommen. Ihr Fang lohnt sich also nur an ganz bestimmten Punkten, und wer an derartigen Punkten sitzt, hat das Monopol auf diese lebenswichtige Nahrungs-quelle, ein Monopol, aus dem man Kapital schlägt, indem man es zur Grundlage politischen Einfl usses in der gesamten Region macht. Dieses einfache Modell, das glaube ich noch immer, eignet sich recht gut für nordamerikanische Völ-kerschaften mit relativ hohem gesellschaftlichen und politischem Niveau auf eindeutig despotischer Grundlage. Interessanterweise waren die meisten dieser politischen Gebilde recht klein. Ihre Kopfzahl überschritt kaum 3000 Mann.3

Die sehr viel größeren politischen Gebilde, die es außerdem gab, waren völlig anders zusammengesetzt. Sie beruhten auf Abkommen oder anderen, »demo-kratischeren« politischen Strukturen, und in anderen »Verfassungen«, die sich die Bevölkerung Nordamerikas gab, fand sich nichts von der Gewalt über Leben und Tod, die die Anführer kleiner, auf Nahrungsmittelmonopolen beruhender politischer Gebil de ausübten. Vielmehr hingen Entscheidungen über Krieg und

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Frieden oder über das Zugeständnis von Disputen innerhalb der großen poli-tischen Bünde gewöhnlich vom einstimmigen Beschluß der Ratsversammlung ab, die sich aus Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen und Verwandtschaftsverbände zusammensetzte.4 Einige der so aufgebauten Systeme konnten eine beachtliche Größe erreichen, politische Hegemonie über Gebie-te von einer Dreiviertelmillion Quadratkilometer ausüben und bis zu 200 000 Personen umfassen. Der ethnographische Befund Nordamerikas wies mithin erhebliche Gegensätze auf: Auf der einen Seite gab es ausgedehnte Bundes-staaten, deren Macht eher auf der Ratsversammlung als auf dem persönlichen Status einzelner beruhte, andererseits existierten, in sie eingegliedert, die »klas-sischen« Systeme, innerhalb derer das Monopol einzelner auf lebenswichtige Hilfsquellen der entscheidende Machtfaktor war. Sahlins vertrat einen ganz anderen Standpunkt. Von einem marxistischen Ansatz ausgehend, erblickte er in allen Häuptlingen sich entwickelnder komplexer Gesellschaften rücksichts-lose Unternehmer, die bedenkenlos die Massen ausbeuteten. Seine inzwischen berühmt gewordenen Forschungsarbeiten in Polynesien sollten dazu dienen, diese These zu untermauern. Doch kam etwas völlig anderes dabei heraus. Allem Anschein nach waren die Häuptlinge keine widerwärtigen Blutsauger, sondern liebenswürdige Zeitgenossen, die menschlich und selbstlos handelten. Es waren Menschen, die es sich mit ihrer Verantwortung nicht leichtmachten,

135 Eine Ecke des Palastes in Labná, Yucatán, Mexiko. Der Aufwand an Arbeit und handwerklichem Können sowie die komplexe Symbolik dieses Bauwerks bedeuten eine Herausforderung an un-sere Fähigkeit, die Frage zu beantworten: Wie kam es dazu? (Aus dem Nachlaß des amerikanischen Völkerkundlers Fay-Cooper Cole, heute im Besitz des Verfassers)

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sondern schwer an ihrer Bürde trugen und stets darauf bedacht waren, denen, für die sie einzustehen hatten, durch den Abschluß immer neuer Bündnisse und Handelsabkommen Vorteile zu bringen. Dies aber bedeutete: Sahlins mußte ein gänzlich neues Konzept des Machtzuwachses entwickeln. Jetzt gelangte er zu dem Resultat, Häuptlingswürde und andere Vorrangstellungen, die mit Machtausübung verbunden sein konnten, seien weitgehend das Ergebnis altru-istischen, uneigennützigen Verhaltens. Inhaber der Häuptlingswürde betrieben die Umverteilung von Gütern (oder organisierten sie zumindest), so daß sämt-liche Mitglieder einer Gruppe in den Genuß von Erzeugnissen kamen, die auf unterschiedliche Weise in den verschiedensten Teilen des Landes produziert wurden. Unnötig zu betonen, daß ein solches Modell eine seßhafte Bevölkerung voraussetzt. Seßhafte Lebensweise aber galt Sahlins in Verbindung mit einer vielfältig gestalteten Umwelt als Garantie einer vielfältigen Produktion auf re-gionaler Ebene (da Individuen an verschiedenen Örtlichkeiten nicht imstande seien, genau die gleichen Dinge hervorzubringen). Dieser Vielfalt verdankt der eine oder andere gewisse Vorteile. Wenn sich das System aber ohne Wettbewerb erhalten soll, bedarf es eines »wohlwollenden Altruisten« an seiner Spitze, eines Menschen mit umfassender Machtbefugnis, um den Produktionsüberschuß der einen Region anderswo zu verteilen, wo man entweder andere Dinge herstellt oder die Natur weniger freigiebig ist.5

Zu diesem klassischen Redistributionsmodell kam es also – zumindest teilweise –, weil Sahlins entdeckte, daß er die polynesischen Häuptlinge mochte, anstatt sie zu hassen! Nachdem er seine Ideen ausgearbeitet und der Columbia-Univer-sität als Dissertation vorgelegt hatte, meldeten sich die ersten Kritiker zu Wort.6 Der Grundton ihrer Argumentation: Sahlins’ eigene Daten, die er seinem Modell zugrundegelegt habe, sprächen in Wirklichkeit gegen dieses Modell, das somit widersinnig sei. Und man hob hervor: Auf den Pazifi kinseln, wo sehr unter-schiedliche Umweltbedingungen herrschten (was in Sahlins’ These stillschwei-gend vorausgesetzt wurde), erstreckten sich politische Gebilde territorialmäßig eher von der Küste ins gebirgige Innere, als daß sie parallel zur Küste verliefen. Jedes einzelne Gemeinwesen umfasse somit das ökologische Spektrum der dortigen Landschaft in seiner gesamten Breite und Vielfalt. Folglich könne die Hauptfunktion von Häuptlingen oder Häuptlingsbünden kaum in der Schaffung einer Symbiose der Regionen auf der Grundlage gleichen Zugangs zu sämtli-chen Landesprodukten gewesen sein. Sahlins Mutmaßungen über Polynesien entsprachen, so schien es, kaum den Tatsachen. Dies hinderte Archäologen nicht im mindesten, Sahlins’ Modell mit offenen Armen zu übernehmen.7 Überall auf der Welt entdeckte man nun prähistorische Umverteilungsmodelle, organisiert von Häuptlingen in zentraler Position – netten Leuten, die Güter verteilten und unter denen man ein wenig sicherer lebte, als es ohne sie der Fall gewesen wäre.Inzwischen stellte eine Reihe von Völkerkundlern fest, daß es in gewissen Berei-chen des pazifi schen Raums (insbesondere in Melanesien) einige hochinteres-sante ethnographische Phänomene gab, die sich offensichtlich eigneten, Sahlins’ Modell zu testen. Und zwar gibt es auf Neuguinea und Borneo Personen von

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136 Verteilung von Powhatan-Ansiedlungen an der Chesapeake-Bay (Virginia) im Jahre 1607. Man beachte die Ballungen von Weilern und Dörfern in der Übergangszone zwischen Süß- und Salz-wasser. Man fi ng dort die meisten vom Meer fl ußaufwärts wandernden Fische in Reusen, und diese Fischkost war während der letzten Perioden des Jahres (d. h. jeweils im April) von lebenswich-tiger Bedeutung. Die meiste Macht lag in den Händen der Dorfhäuptlinge dieses Übergangsbe-reichs.

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hohem Rang und Ansehen, doch haben sie in keiner Weise mit irgendeiner Form von Umverteilung zu tun. Nach Sahlins weihten sich altruistische, uneigennüt-zige Umverteilungsfunktionäre dem höheren Ideal des Gemeinwohls, erlangten durch ihr selbstloses Verhalten Ansehen und schließlich infolge dieses Ansehens Macht. Im Mittelpunkt dieser Argumentation steht also die Existenz von Um-verteilungssystemen. Sie sind es, durch die man zu hoher Würde gelangt. Für bestimmte Gebiete Melanesiens jedoch gilt dergleichen nicht.So Sahlins’ Kritiker. Sahlins reagierte auf diese Einwände mit Spitzfi ndigkeiten. In einem Aufsatz mit dem ingeniösen Titel Poor man, rich man, big-man, chief … (»Armer Mann, reicher Mann, großer Mann, Häuptling …«)8 argumentierte er: Die betreffenden Bevölkerungsgruppen auf Neuguinea verkörperten keine echten gegliederten oder auf einer Machtbasis beruhenden Umverteilungssys-teme, und ihre hierarchische Ordnung bestehe mehr dem Schein nach als in Wirklichkeit. Schließlich gelangte er zu der Folgerung, daß all diese Systeme eine andere, völlig neue Kategorie repräsentierten, für die er die Bezeichnung big-man System (»System großer Männer«) prägte. Dennoch konzentrierte sich sein Interesse und das der meisten Archäologen nach wie vor auf »Stammesfürsten-tümer« (chiefdoms [wörtlich: »Häupt-lingstümer«]) mit Redistribution. Meines Erachtens jedoch sollte man die Ursprünge gesellschaftlicher Komplexität bei sozialen Gebilden suchen, in deren Mittelpunkt big-men stehen.Ein solches big-man-System funktioniert wie folgt: Jemand wird erwachsen und beginnt mit seinesgleichen in eine Art Wettbewerb einzutreten. Außerhalb seiner Gruppe schließt er mit Angehörigen anderer sozialer Gruppierungen ringsum im Lande Bündnisse ab. Es geht dabei um »Freundschaftsdienste«, die es, wenn überhaupt, später einmal einzulösen gilt. Ein Möchtegern-big-man trifft ein solches Abkommen, indem er seinem Partner ein Unterpfand bzw. Symbol ihrer Übereinkunft gibt – eine geschnitzte Ebergrandel, eine große Seemuschel oder einen anderen Gegenstand, den er manchmal seinerseits dem Abschluß ei-nes anderen Abkommens dieser Art verdankt. Solange der Partner dieses Unter-pfand trägt oder aufbewahrt, haben er und seine Sippe einen gewissen Anspruch an den big-man, was Nahrung oder Gastfreundschaft angeht. Die Anhänger eines big-man gewinnen somit an Sicherheit, und dadurch wächst umgekehrt das Ansehen des big-man. Nimmt ein derartiger »großer Mann« in seinem Wir-kungskreis eine geachtete Stellung ein, erweist er sich als ideenreich und bleibt ihm beim Aushandeln von Abkommen mit immer neuen »Klienten« überall im Lande der Erfolg treu, braucht er vielleicht seine Schutzbefohlenen nur selten zu beanspruchen, das von ihm erhaltene Unterpfand einzulösen und beispielsweise Nahrungsmittel dafür zu liefern. Vielmehr bietet er allen, die zu ihm stehen und in seinem Dorfe leben, einen beträchtlichen Zuwachs an Sicherheit. In einem big-man-System geht der Wettstreit um Personen, und das Resultat ist eine ge-wisse Anziehungskraft des »großen Mannes« auf seine Klientel, die sich mög-lichst in der Nähe ihres Beschützers niederzulassen sucht. Status aber wächst vor allem denen zu, die anderen aufgrund der Zahl und Art ihrer guten Beziehungen ein möglichst hohes Maß an Sicherheit gewähren können. Kommt es zu Mißern-

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ten, brauchen die Anhänger eines big-man nichts zu fürchten, denn er kann seine Verbindungen spielen lassen, um sie binnen kurzem mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Doch sobald er allzu viele seiner Verbindungen aufzukündigen beginnt, indem er Leistungen fordert, büßt er an Status ein (und damit in der Praxis die Fähigkeit, Schutz zu gewähren). Nun gehen seine Klienten zu einem anderen, im Kommen begriffenen big-man, der mehr Sicherheit zu geben ver-spricht. Ergebnis dieses ebenso wirkungsvollen wie interessanten Systems ist ein unaufhörlicher Menschenfl uß durch den gesamten Lebensraum der betref-fenden Bevölkerung in nahezu vollkommener Anpassung an die wechselnden Produktionsmuster. Im Gegensatz zu Sahlins’ hypothetischen Stammesfürsten-system, bei dem Status aus der Umverteilung von Konsumgütern erwächst, gibt es in einem big-man-System keinen Fluß von Gütern, sondern von Menschen. Kurzfristige Produktionsschwankungen werden von Statusausgleichsmustern aufgefangen, die den Effekt einer beständigen Neuordnung der Bevölkerung nach Maßgabe der tatsächlichen Produktionsverhältnisse haben.

137 Modell der Redistribution (Umverteilung) von Gütern zwischen Verwandten, die verschiedene Umweltzonen bewohnen. Eine solche Umverteilung führt zu einem Zusammenhalt ihrer Produk-tion nach unterschiedlicher Gebiete. (Autorisierte Wiedergabe aus Flannery und Coe 1968, Abb. 4, Seite 280)

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Stabile Umweltverhältnisse mit mehr oder weniger umweltbedingten Produkti-onsunterschieden dürften natürlich den Aufstieg von Einzelpersonen zu einer außerordentlichen Statusfülle begünstigen – von big-men, die es niemals nötig haben, auch nur eine einzige ihrer Beziehungen in Anspruch zu nehmen und auch nur die Einlösung eines einzigen ihrer Unterpfänder zu fordern. Dies könnte die Grundlage für eine gewisse Beständigkeit in der unterschiedlichen Verteilung von »Standespersonen« und »Schutzbefohlenen« innerhalb der Bevölkerung einer bestimmten Region sein – also der Anfang einer komplexen Gesellschaft mit institutionalisierter Macht und ungleich verteiltem Reichtum. Und doch scheint dies nicht der Fall zu sein. Die auf individueller Basis ausgehandelten Beziehungen eines big-man sind auf niemanden übertragbar, auch nicht auf seine Söhne, die neue, eigene Verbindungen aushandeln müssen. Stirbt ein erfolgreicher big-man, so sterben auch die von ihm angeknüpften Beziehungen, so daß durch seinen Tod seine Konkurrenten an Einfl uß und Macht gewinnen. Mithin ist beim Tod einer be-deutenden Persönlichkeit ein gewisser Bevölkerungsabfl uß unvermeidlich. Wenn in einer Region augenfällige Umweltvielfalt besteht, brauchen die Nachkommen eines big-man nur verhältnismäßig kurze Zeit, um günstige neue Abkommen abzuschließen und die alte Anhängerschaft des Vaters für sich zu gewinnen. So zeichnet sich im Laufe der Zeit ein sich immer wiederholendes Muster von Bevölkerungszu- und -abfl uß rings um Zentren sicherer Produktion und ständiger, Generationen überdauernder Präsenz hochgestellter Würdenträger ab. Mir scheint, daß man auch in diesem Zusammenhang von einem Monopol sprechen könnte – doch von einem Monopol, das sich von Monopolen üblicher Art erheblich unterscheidet, deren Grundlage der Zugang zu lebenswichtigen Hilfsquellen an bestimmten Punkten ist.Wie konnte sich ein derartiges System zur klassischen Gesellschaftsform entwik-keln, die auf Macht beruht? Ich war stets der Ansicht, daß Macht erst dann beginnt, wenn jemand sich ungestraft über eine gesellschaftliche Konvention hinwegsetzen kann. Beispielsweise könnte zwischen Ihnen und mir folgende Übereinkunft bestehen: Was mir gehört, gehört auch Ihnen, und was Ihnen gehört, gehört auch mir. Erst wenn ich mich, falls es hart auf hart ginge, einfach über dieses Übereinkommen hinwegsetzen könnte, ohne irgendwelche nachteilige Folgen befürchten zu müssen, hätte ich meinen ersten Schritt zu wirklicher Macht getan. Dies ist ein negativer Machtbegriff, da man von Macht ja viel eher annimmt, daß sie im Interesse ihres Bestandes Regeln aufstellt. In der Praxis – zumindest, wenn man die Dinge unter einem evolutionistischen Gesichtspunkt betrachtet – scheint es mir, daß es bei Macht zunächst darum geht, in ihrem Interesse Regeln zu brechen, und zwar ungestraft. Vielleicht sollten wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf die Be-dingungen konzentrieren, unter denen dieses in der Organisationsform des big-man-Typs geschieht. Auf keinen Fall jedoch sollte man die Unterschiede zwischen einem Umverteilungssystem und einem big-man-System verwi-schen. Redistributionssysteme sind nur mit Schwierigkeiten in der Welt pri-mitiver Kulturen auszumachen. Vielleicht existieren sie auch nur in Sahlins’

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Einbildung. Jedenfalls ist die institutionalisierte Verlagerung und Verschie-bung von Gütern ein typisches Merkmal von Industriestaaten, nicht aber von primitiven Bevölkerungen.9 Andererseits scheinen – wenigstens erwecken die völkerkundlichen Befunde diesen Eindruck – Systeme, zu deren Wesenszügen die ständige Anpassung der Verbraucherverteilung (nicht so sehr der Verteilung der Güter) an Produktionsunterschiede gehört, recht verbreitet zu sein, und wir wissen viel über sie. Könnte es nicht sein, daß sie in der Vergangenheit ebenso verbreitet waren?

Intensivierung und Spezialisierung

Doch kehren wir zu den Vorstellungen über die Ursprünge komplexer Gesell-schaften zurück! Ein weiteres Argument darf auf keinen Fall übergangen wer-den. Bei verschiedenen Subsistenzwirtschaftssystemen (»Selbstversorgungssys-temen«) ist es möglich, durch verstärkten Arbeitseinsatz den Grenzertrag zu erhöhen bzw. mit anderen und intensiveren Produktionsmethoden eine höhere Effi zienz zu erzielen, wenn nicht gar den gesamten Charakter der Produktion zu ändern.10 Ist diese Möglichkeit erst einmal erschlossen, steht der Weg offen, Personen Unterhalt zu gewähren, die nicht selbst an der Produktion lebenser-haltender Güter beteiligt sind.11 Eine Rollenspezialisierung dieser Art, so wird behauptet, schaffe die natürliche Grundlage für weitere Komplexität. Bei diesem Modell geht es mithin um zwei entscheidende Fragen:1. Welchen Ansporn sollte es für die Produktion von Überschüssen geben, die

über die unmittelbaren Bedürfnisse des täglichen Lebens hinausgehen?2. Wie verwendet man derartige Überschüsse beim Prozeß der Herausbildung

komplexer Gesellschaften?Ich fi nde es außerordentlich schwierig, mich mit dieser Denkart auseinanderzu-setzen, denn ich bin Darwinist. Wie mir scheint, verändern sich Kultursysteme im Sinne und unter den Bedingungen einer natürlichen Auslese. Man stößt und zerrt sie hierhin und dorthin, und wie der Wandel sich tatsächlich abspielt, hängt davon ab, wie die Akteure bei diesem Prozeß ihre Probleme lösen. Die »Adaptionisten« (»Anpassungstheoretiker«), gleich, ob sie die Dinge idealistisch wie Bennett12 oder materialistisch wie Harris13 angehen, ob sie vom Prinzip der »geringsten Anstrengung«, der »Risikominderung«15 oder der »Theorie der op-timalen Nahrungsvorsorge«16 angetan sind, sie alle versuchen Tendenzen, die sie in der Geschichte der kulturellen Evolution wahrnehmen (oder wahrnehmen zu können glauben), ideologisch zu erklären. Ich dagegen halte es für das Prak-tischste, von einer Art »Trägheitsmoment« zu sprechen.17 Ein System bleibt so lange stabil, bis von außen her Kräfte einwirken, die nichts mit seinem inneren Aufbau zu tun haben. Wenn ich mich vor die Frage gestellt sehe, warum es zum Entstehen komplexer Systeme kam, so ist meine erste Reaktion, zu fragen wel-ches Problem denn so gravierend war, daß man es mit Hilfe neuer Mittel und Wege zu lösen versuchte.

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138 Junge Frau aus Miyako (Ryukyu-Inseln) beim Anfertigen von zum Verkauf bestimmten Waren aus Adamba-Gras (Aufnahme von E Santry, Juni 1953)

139 Webende Navajo-Frau in Ah Tso lige unweit vom Red Lake in Arizona, etwa November 1953 (Mit freundlicher Genehmigung des Maxwell Museum of Anthropology, University of New Mexico)

140 Töpfer in Naha auf Okinawa (Ryukyu-Inseln) bei der Arbeit (1952)

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So läßt mich auch der Gedanke, daß Produktionssteigerung bei der Entstehungkomplexer Gesellschaftsstrukturen eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben soll, zunächst einmal fragen, welches Problem man denn wohl mit Hilfe von Produktionssteigerung zu lösen beabsichtigte . Was brachte die Menschen dazu, neue Strategien zu entwicklen? Daß sie rein psychologisch motiviert waren, kann ich nicht glauben Andere Mutmaßungen gipfeln in der Annahme von dem System innewohnenden Lebensprinzipien, die man als Gestaltungskräfte evolu-

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141 Straßenhändler auf dem Markt in Naha, Okinawa (Ryukyu-Inseln). Da er seine Waren, nur mit lächerlich geringem Profi t verhökern kann, schlägt dieser Mann sich mühsam durch und fristet ein ausgesprochen randständiges Dasein voller Ungewißheit.

142 Marktstraße in Hongkong, 1952. »Unser Weg führte uns durch die lange Straße, die ein vortreff-liches Beispiel chinesischer Straßen abgab … Man sah hier Handwerker der verschiedensten einheimischen Gewerbezweige emsig bei der Arbeit, und sie verkauften die Produkte ihres Schaffens in einem und demselben Raum, der als Werkstatt, Laden und Kassenschalter einen dreifachen Zweck erfüllte. Und in ihren engen Behausungen, durch die der Lärm der Schmie-deessen und Ambosse dröhnte, drängten sich Grüppchen von Drahtziehern, Messingschmie-den, Knopfmachern und Schmieden, von denen je vier abwechselnd mit fl inken Schlägen auf den hallenden Amboß einhämmerten. Und dann erblickte man hier wiederum Bildhauer, Zimmerleute, Schuhmacher, Schneider, Hersteller von Treibarbeiten aus Gold- und Silber-blech, Schirmmacher, Baumwollschläger, Händler, Apotheker, Jadeschnitzer, Siegelschneider und Dekorateure, dazu die Vertreter der zahlreichen Künste, die für die Bedürfnisse und den Überfl uß des chinesischen Lebens sorgen. Weiterhin sah man Bilderläden, vollbehängt mit den Scheußlichkeiten einheimischer Maler … An jeder Ecke erblickte man tragbare Küchen, die vor sich hin dampften und bereits wartenden Hungrigen zu der Wohltat einer hastig verzehr-ten Mahlzeit verhalfen. Für die besser Betuchten säumte eine Reihe von Garküchen, Weinlo-kalen und Teestuben den Weg. Ein wenig weiter stritt sich eine kleine Schar von Spielern um einige Fußbreit Boden mit den Inhabern von Apfelsinenbuden und Süßigkeitenverkäufern. Neben ihnen befanden sich wohlbestückte Pfandleiher-Läden …« (Smith 1847, Seite 289).

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tionärer Prozesse bemüht.18 Das System, und davon mochte ich nicht abgehen, muß unter einem gewissen Druck gestanden haben, muß gewissen Belastungen ausgesetzt und mit irgendeinem Problem konfrontiert gewesen sein. Wer sich zur Frage der Intensivierung und Spezialisierung äußern will, sollte meines Er-achtens darlegen, worin der fragliche Druck bestanden haben könnte.Es gibt noch einen anderen Weg, die Dinge anzugehen. Wir machen den schwer-wiegenden Fehler, Argumente über das Funktionieren heutiger Systeme zu ver-wenden, um zu erklären, wie und warum sich Systeme in grauer Vorzeit verän-dert haben. Beispielsweise wird die Spezialisierung auf handwerklichem Gebiet häufi g als bedeutender Schritt nach vorn gefeiert – als bedeutender Schritt auf dem Wege zu komplexen Systemen. Und doch ist mir durchaus nicht klar, wes-halb handwerkliche Spezialisierung überhaupt eine Rolle gespielt haben soll. In Afrika etwa sind es vorwiegend Ausgestoßene, Außenseiter der Gesellschaft, die Metallgewinnung und -Verarbeitung betreiben (darüber liegen zahlreiche aufschlußreiche Untersuchungen vor). Auch Hersteller von Töpferware – so zum Beispiel bei den Tarasken in Micho-acán (Mexiko) – sind oft nur randständige, unterprivilegierte, entrechtete Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe, Leute ohne Land, abgeschnitten von der Nahrungsproduktion. Die meisten Berichte über handwerkliche Spezialisierung in der Neuen Welt, Asien und Afrika, die mir vorliegen, legen eher den Gedanken nahe, daß diese unglücklichen Handwerker alles tun, um in der Gesellschaft, an deren Rand sie vegetieren, Fuß zu fassen. Dies unterscheidet sich ganz erheblich von der bei Archäologen üblichen Sicht,

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die Gesellschaft habe sich verändert, um den Lebensunterhalt spezialisierter Handwerker zu ermöglichen – eine Auffassung, die fast an die Verhältnisse der Renaissance denken läßt! Mich muß man erst davon überzeugen, daß die Ar-chäologen wissen, wie man ein Modell jener Bedingungen entwirft, unter denen Handwerker Bedeutung für die Entwicklung kultureller Komplexität erlangten.Ich war stets der Ansicht, daß eine so einschneidende Veränderung des sozi-alen Gefüges einen Bruch mit früheren Wachstumsmustern signalisiert.19 Bei Jäger- und Sammlergruppen versteht man unter Wachstum die Duplizierung der Grundeinheit kooperativer Produktion – der Horde, der Familie, je nach-dem, wie die Gruppe aufgebaut war. Durch Bevölkerungswachstum vergrößerte sich die einzelne Einheit, bis sie sich in zwei oder mehr Gruppen aufspaltete, wobei die Tochtereinheiten unabhängig (und zwar auch räumlich unabhängig) ihre gewohnten Aktivitäten fortsetzten. Selbst bei Bevölkerungen mit Garten-baukultur, wo häufi g Familien (oder erweiterte Familien) die Grundproduk-tionszellen bilden, scheint man unter Wachstum vor allem die Verdopplung derartiger Grundeinheiten zu verstehen. Es bilden sich mehr Familien und man sucht mehr Raum, damit diese Familien als Produktionseinheiten arbeiten

143 Eine Gruppe von Jägern und Sammlern, die zwischen Sanfontein und Garn (Namibia) leben-den Nharo-Buschmänner. Eine solche Schar kann als Produktionseinheit betrachtet werden. Wachstum führt zur Vervielfältigung und zur Abspaltung identischer Einheiten. (Aufnahme L Foune, um 1927; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Africana-Museums, Johan-nesburg)

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können. Diese Strukturentwicklung führt zu »Drängelei-Problemen (von denen im Kapitel 8 die Rede war), und die Folgen dieses Wachstumsmusters sind jene selektiven Mechanismen, die unterschiedliche Taktiken der Intensivierung be-günstigen. Mir scheint, auf der Linie hin zur Intensivierung muß sich der Bruch mit herkömmlichen Wachstumsformen ereignet haben. Die Grundeinheiten der Produktion und der »generalisierten Reziprozität« (um Sahlins’ Terminologie anzuwenden), duplizieren sich nicht mehr, sondern beginnen Konventionen zu entwickeln, die den Ausschluß einzelner Personen bewirken. Man »bürgert« Personen aus, so daß der Umfang der Einheit als solcher gewahrt bleibt, und auch räumlich gesehen bleibt sie so stabil. Unter solchen Bedingungen führt Bevölkerungswachstum zu einer anwachsenden Klasse von Entrechteten, durch die sich der Wettbewerbsschauplatz und der soziale Rahmen des Wettbewerbs in augenfälliger Weise ändern.20

Einige meiner Kollegen und Studenten haben vor nicht langer Zeit im Botswa-naland bei Jägern und Sammlern gelebt, die aus verschiedenen Gründen seßhaft geworden waren und nun als Landwirte und Viehzüchter von den Produkten ihrer eigenen Arbeit lebten. Es ist ein weiter Weg vom Jagen und Sammeln bis hin zu voller Seßhaftigkeit mit allen Konsequenzen, und die betreffenden Afrikaner hatten ihn erst zur Hälfte zurückgelegt. Sie waren weder Jäger und Sammler noch Bauern und Viehzüchter, sind aber gerade deshalb hier so außer-

144 Die Großfamilie des Tanahara Gensho im Dorf Fatima auf Okinawa (Ryukyu-Inseln), 1952.

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ordentlich interessant. Sie befi nden sich regelrecht in der Klemme. Bei Jägern und Sammlern herrscht das Gesetz der »generalisierten Reziprozität« (des allgemeinen Gebens und Nehmens). Man gibt seinen Verwandten großzügig ab, ohne daß man von ihnen genau wertgleiche oder sofortige Rückerstattung erwartet. Will jemand jedoch eine Schafherde unterhalten und – je mehr er seßhaft wird – Eigentum akkumulieren, muß er eines Tages seine Verwandten zurückweisen, wenn diese bei ihm auftauchen und ihn um eine Ziege für ein Festmahl bitten. Völkerkundler sind der Ansicht, nur solche Individuen setzten sich durch, die ihre sozialen Bindungen ignorierten und imstande seien, dem auf sie ausgeübten Druck zu widerstehen, ihren Besitz mit anderen zu teilen. Um aus ihrer eigenen Produktion Kapital zu schlagen, müssen sie in ihrem eigenen Volk Einzelgänger sein. Doch einmal auf diese Art und Weise isoliert, verfügen sie über eine Art von Freiheit, die ihnen andere, die noch immer nach den über-kommenen Regeln leben, nicht mehr streitig machen können. Haben sie einmal dem Gesetz der »generalisierten Reziprozität« den Rücken gekehrt, liegt ihre Si-cherheit allein in ihrer Gewitztheit, nicht mehr bei ihren Verwandten, die ja von

145 Szene aus dem Elendsviertel El Porvenir (Panama-Stadt) im Jahre 1967. Die Menschen, die es hierher verschlägt, kommen aus stabileren sozialen Verhältnissen. Sie spüren am härtesten die Fol-gen eines Bevölkerungswachstums, das immer mehr Menschen aus ihrem ursprünglichen sozialen Hintergrund herauslöst. (Aufnahme mit freundlicher Genehmigung von W. Salvator)

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ihnen vor den Kopf gestoßen wurden. So werden sie zu »Unternehmern« und beginnen auf vielfältige Art und Weise mit Personen außerhalb ihres Systems zu verhandeln. Sie sind stets die ersten, die mit etwa eintreffenden Völkerkundlern oder mit Regierungsbeauftragten, die geschickt wurden, um Brunnen zu bohren, einen Handel abschließen wollen. Mit anderen Worten: Ihre Existenz müssen sie nunmehr mit Mitteln zu sichern suchen, die dem System fremd sind, dessen Bestandteil sie ursprünglich selbst waren.

Firlefanz und Handelsgüter

Stimmt es wirklich, daß Handel und Warenaustausch gesellschaftliche und poli-tische Entwicklungen verursachen, wie uns Archäologen immer wieder glauben machen wollten?21 Vielleicht hilft uns ein kurzer Rückgriff auf die oben erörterte big-man -Theorie, die Frage ins rechte Licht zu rücken.Fast jeder hat wohl schon Aufnahmen »großer Männer« aus dem Hochland von Neuguinea gesehen. Man kann sie mit ihrem Perlmuttschmuck, ihren Gehängen, ihrer Bemalung, ihren Federn und jeder nur denkbaren Art von Putz förmlich aufwiegen. All die Gegenstände, die sie am Leibe tragen, sind Unterpfänder ihrer sozialen Beziehungen, Stücke, die ausschließlich im Rahmen der obenerwähnten Bündnisse zirkulieren, die zwischen einzelnen Personen ausgehandelt werden. Es sind also keine Handelsgüter, sondern Symbole. Man tauscht sie nicht wegen ihres Material- oder Kunstwertes aus, sondern trägt sie, weil sie über die Zahl und Vielfalt der Verbindungen Auskunft geben, die ihr Träger eingegangen ist. An sich übermitteln Objekte und Rohmaterialien, die leicht zu erlangen sind und fast überall vorkommen, kaum Informationen. Deshalb gibt es in allen big-man -Systemen einen unübersehbaren Drang nach dem Exotischen, nach Muscheln von der Küste, besonders farbenprächtigen Federn sowie Rohmaterialien, die man nur an ganz bestimmten Plätzen fi ndet.Wie es scheint, zeigt sich hier etwas, das sehr stark an die in Nordamerika er-hobenen archäologischen Befunde denken läßt. Eine um 6000 v. Chr. beginnen-de Entwicklungsreihe gipfelt etwa zwischen 250 vor und 250 nach Christus in einem Tauschsystem, bei dem eine erstaunliche Vielfalt von Objekten aus dem gesamten Kontinent im Umlauf war. So fand man Muscheln von der Küste des Golfs von Mexiko überall in bis zu l 500 km von ihrem Ursprungsgebiet ent-fernten Gräbern im Bereich der Großen Seen, und allenthalben in den Dörfern und Grabstätten des Mittleren Westens gab es Kupfer vom Nordufer des Oberen Sees.22 In Virginia abgebauter Glimmer fand seinen Weg in das gesamte Mis-sissippital. Bleiglanz aus den Bleivorkommen im nördlichen Illinois kommt in Gräbern von Südost-, Nord- und Südka-rojina bis hin nach Florida vor.23 Kleine Knöpfe und Schmuckstücke aus Meteoreisen aus den Randzonen der Großen Ebenen tauchen an archäologischen Stätten des gesamten Mittleren Westens auf.24 Von Wisconsin bis Ohio fand man Obsidian aus dem Yellowstone-Nati-onalpark in den Rocky Mountains.25 Dies ist ein ausgedehntes und komplexes

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System der Güterzirkulation – ein System, das ein Gebiet von der Ausdehnung Zentral- und Westeuropas zusammen umspannte. Wenn es zutrifft, daß Handel politische Komplexität fördert, dann müßte sich – dem Ausmaß und Volumen des bestens belegten Austauschnetzes zufolge – schon um etwa 100 v. Chr. in Gebieten wie Ohio ein Staatswesen entwickelt haben, das sich allenfalls mit dem antiken Rom vergleichen ließe. Andererseits sind Austauschsysteme wie dieses gerade dort, wo sich die sogenannten »großen Hochkulturen« entwickelt haben, unbekannt. Weder im Nahen Osten noch im ägäischen Raum, im Hochtal von Mexiko oder im peruanischen Hochland fand sich vor dem Auftauchen dessen, was man gemeinhin als »komplexe Gesellschaft« bezeichnet, Vergleichbares.26 Somit müßte jedes Modell, das den Aufstieg komplexer Gesellschaften aus dem Handel und aus monopolistischen Formen des Warenaustausches erklärt, auch für die Beispiele aus dem östlichen Nordamerika gelten. Hier jedoch versagt es, aber dennoch macht man weiterhin unverzagt den Handel für die sich in vielen Teilen der Welt abzeichnende Entwicklung verantwortlich, die im Entstehen von Hochkulturen gipfelte.Als Gegenbild betrachte man beispielsweise den nordamerikanischen Südwes-ten, wo sich zwischen 900 und 1200 n. Chr. bedeutende archäologische Stätten bildeten. Es gab dort nicht nur Wohnunterkünfte, sondern eine Vielfalt komple-xer Bauten (Kivas, große Versammlungsräume usw.), die mit sozialen und kulti-schen Ritualen zu tun hatten. Die beliebteste Erklärung dafür ist, die betreffen-den Pueblosysteme verdankten ihre Komplexität der bedeutenden Rolle, die sie als Knotenpunkte weitreichender Tauschhandelsnetze besessen hätten.27 Doch das Beweismaterial, auf das sich diese Ansicht stützt, ist erstaunlich spärlich – ein wenig Türkis aus dem Südwesten sickert nach Mexiko, ein paar Muscheln von der niederkalifornischen Küste landen schließlich in Neumexiko, und auch mexikanische Motive auf Gefäßen aus dem Südwesten deuten auf Beziehungen hin. Dies alles ergibt aber kaum ein Handelsnetz, das der Rede wert ist, und doch halten sich mit Hartnäckigkeit »Netz-Knotenpunkt-Modelle« nach wie vor sowohl im Südwesten als auch anderswo. Letztlich beruhen sie auf Sahlins’ ursprünglicher Argumentation, Umverteilung sei der Weg zur Macht. Derart komplexe Errungenschaften wie die großen Pueblos könnten, so meint man, nur unter einer Zentralgewalt entstanden sein und ihre Organisationsform erhalten haben.28 Zentralgewalt aber konnte sich nur mittels der Umverteilung etablie-ren. Was aber wurde umverteilt? Nicht viel mehr als ein paar Türkise pro Jahr-hundert. Mit größter Wahrscheinlichkeit jedenfalls sehr viel weniger exotische Materialien, als bereits ein volles Jahrtausend früher in einem einzigen Grab des Mittleren Westens anzutreffen gewesen wären!

Wege zur Komplexität

Alles läuft wieder darauf hinaus, daß die Archäologen zur Zeit nicht wissen, worin die Ursachen komplexer Gesellschaften liegen bzw. was diese Gesell-

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146 »Große Männer« (Big Men) aus Neuguinea mit ihrem gesamten Putz – jenen Dingen, die sie als Unterpfänder eingegangener Schutzverpfl ichtungen erhielten und die ihren sozialen Rang nicht nur begründeten, sondern ihn gleichzeitig höchst augenfällig dokumentieren. (Mit freundlicher Genehmigung von M. Strathern)

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schaften ins Leben rief. Das Umverteilungsargument hat keine einleuchtende, ja überhaupt auch nur klar erkennbare Grundlage. Zumindest ich kenne keine Umverteilungsagenten, die nicht erst in Gesellschaften mit voll ausgeprägten politischen Machtstrukturen tätig geworden wären, und ich zweifl e daran, daß man Macht erlangt, nur weil man nett ist. Argumente, die ökonomische Impul-se für die Intensivierung der Produktion verantwortlich machen, haben etwas von der berühmten Frage an sich, ob das Huhn eher dagewesen sei als das Ei oder umgekehrt. Auf keinen Fall aber ist klar, warum jemand ein System er-streben sollte, das so komplex ist, daß die investierte Mühe zu Überproduktion führt. Vielmehr muß es einen Druck im Sinne Darwins gegeben haben. Doch gilt es noch immer klarzustellen, worin dieser Druck bestand und wie er sich auswirkte Argumente, wonach der Handel die erforderliche Basis für Machtent-faltung abgab, dürften zum Scheitern verurteilt sein, denn in den meisten der als Belege dafür zitierten Fälle geht es eher um den Austausch von Pfändern als um Konsunigüter von ökonomischem Wert. Die betreffenden Stücke infor-mieren uns lediglich über gesellschaftliche Beziehungen zwischen Einzelper-sonen. Das Problem besteht in der sehr begrenzten Zahl von Modellen, die die Archäologen bisher in Betracht gezogen haben. Wenn das, was ich hier soeben anführte, alles ist, was wir haben, befi ndet sich die Archäologie in erheblichen Schwierigkeiten. Solange die Archäologen sich keine Vorstellung von der mög-lichen Vielfalt komplexer Systeme und ihrer Entwicklungslinien machen, steht es allerdings schlimm um sie.Ein weiterer wichtiger Vorbehalt besteht darin, daß fast alle Versuche, Verände-rungsmodelle zu entwerfen, auf sehr unterschiedlichen Vorstellungen von funk-tionaler Dynamik, d. h. vom Wirken des lebendigen Systems aus der Sicht eines Beobachters oder gar Angehörigen, beruhen. Wie bereits angedeutet, benutzte man echte oder vermeintliche Einsichten über dieses Funktionieren, um Mo-delle prinzipieller Systemveränderungen aufzustellen, ohne 1. die Art und Weise der Veränderung genau zu kennen und 2. nichts in der Hand zu haben als das Kriterium der Plausibilität. Vielleicht am offenkundigsten und irreführendsten unter den Beispielen für diese Art zu argumentieren sind jene vitalistisch-öko-nomischen Argumente, die mit der »Suche nach Vorteil« arbeiten. Kein ökolo-gischer Prozeß hat mit der Ratio zu tun, und es gibt keinen Intellekt, aber auch kein Empfi nden, der (oder das) diese Art von Entwicklungen kontrolliert, wie all jene ökonomischen Argumente es voraussetzen.Wie bereits in den Kapiteln zuvor plädiere ich erneut für die Entwicklung zuver-lässiger Methoden, die es uns ermöglichen, die richtigen Erkenntnisse aus dem archäologischen Material zu gewinnen. Wenn es uns gelingt, derartige Methoden zu schaffen, erlangen wir sicheres Wissen – zumindest über einige Charakteris-tika, die eine Antwort auf die Frage ermöglichen: »Wie sah es aus?« bzw. »Wie könnte es gewesen sein?« Gleichzeitig haben wir uns um die Rekonstruktion der Musterentstehung zu bemühen, was uns vielleicht schließlich zur Beantwortung der Frage führt: »Was bedeutet das?« Beide Ansätze bedürfen einer Forschung mittlerer Reichweite.

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147 Objekte aus zwei separaten Bestattungen (oben: Bestattung Nr. 79; unten: Bestattung Nr. 57) von der Fundstätte Rankin, Cocke County, Tennessee (vgl. Smith und Hodges 1968) Mehr als die Hälfte der abgebildeten Gegenstände stammt aus völlig anderen Gebieten. (Mit freundlicher Genehmigung des Department of Anthropology, University of Tennessee)

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Der Leser mag sich über die zahlreichen philosophischen Positionen den Kopf zerbrechen. Sie alle haben mit Archäologie zu tun, für die es unter uns ja so wort-gewandte Anwälte gibt.29 Ich habe daraufhinzuweisen versucht: Bei den meisten Positionen geht es darum, mit Hilfe »nachträglich angepaßter Argumente« dem archäologischen Sachverhalt einen Sinn zu geben, ihm eine Bedeutung beizu-messen.30 Mit derartigen Ansätzen ist weder Objektivität noch echtes Sammeln von Erfahrungen möglich, sondern sie eignen sich lediglich, in endlosen Dis-kussionen Eindruck zu schinden.1 Erst wenn es möglich ist, derartige Ansätze unter Berufung auf äußere Gegebenheiten zu überprüfen, gelangen wir zu einer Meinungsbildung über die Nützlichkeit so unterschiedlicher intellektueller Standpunkte. All diese Beschwörungsformeln sind eine von Wissenschaftlern entwickelte Sprache, um Beobachtungen Sinn zu geben und sie unabhängig von einer Überprüfung an der Wirklichkeit zu rechtfertigen.Es bleibt dabei: Wir benötigen wirksamere Methoden der Erkenntnisgewinnung Wir können nicht einfach der Muse der Neugier folgen und spekulieren, wie sich gewisse Dinge zugetragen haben könnten. Vielmehr gilt es, Methoden zu ent-wik-keln, um Ideen, die unseren Köpfen entsprungen sind, auf ihre Eignung zu testen. Auch wenn wir dabei der Möglichkeit ins Auge blicken müssen, daß wir vielleicht die eine oder andere dumme Frage gestellt haben.

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Nachwort des Verfassers

Dieses Buch enthält die überarbeiteten Niederschriften einer Reihe von Vorle-sungen und Vorträgen, die ich Ende 1980 bis Anfang 1981 in Großbritannien und Skandinavien hielt.1 Die betreffenden Veranstaltungen verfolgten unterschied-liche Zwecke, vor allem sollten sie über neueste Forschungen berichten, die damals noch im Gange oder eben erst angelaufen waren. So kamen nicht selten Forschungsziele zur Sprache, denen ich gerade nachging, und Ideen, deren Trag-fähigkeit ich gerade prüfte.Man muß sich darüber im klaren sein, daß Archäologen häufi g erst lange nach Beendigung ihrer eigentlichen Arbeit publizieren. Vorlesungen und Vorträge füllen nicht selten die Lücke zwischen noch im Gang befi ndlichen wissenschaft-lichen Arbeiten und der im Vergleich zum lebendigen Forschen eher etwas stumpfsinnigen Verpfl ichtung, einen »Schlußbericht« vorzulegen. So hoffe ich, daß die Veröffentlichung meiner Gedanken und unabgeschlossenen Forschun-gen etwas von der Faszination lebendigen wissenschaftlichen Tuns vermittelt, ja daß mancher sich gerade von diesem Eindruck des Unfertigen, Vorläufi gen, noch nicht zu Ende Gebrachten, den dieses Buch erweckt zu eigenem Denken und Forschen anregen läßt. Ich werde versuchen klarzulegen, weshalb mir die Verfolgung ganz bestimmter Linien der Beweisführung gerechtfertigt erscheint. Schlußfolgerungen wird man oft vergeblich suchen, bin ich mir doch in man-chen Fällen noch nicht sicher, welche Folgerungen ich schließlich ziehen werde. Darüber hinaus versuche ich eine Art Lagebericht über bestimmte Forschungen zu geben, wobei man berücksichtigen möge, daß meine Auffassung von der Arbeit anderer Autoren von meinen persönlichen wissenschaftlichen Erfah-rungen beeinfl ußt ist. Vor einer Reihe von Jahren skizzierte ich ein langfristiges Forschungsprogramm, das die Untersuchung tierischer Überreste, der Raum-nutzung und der Ökosysteme (bzw. Biosysteme oder Organismenkollektive) für

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die Deutung archäologischen Materials und archäologischer Stätten nutzbar zu machen suchte.2 Die meisten meiner Arbeiten befassen sich mit Tierüberresten in archäologischen Fundzusammenhängen. Zum größten Teil greifen die Erör-terungen in den vorstehenden Kapiteln auf diese »faunal« (d. h. an Tierüberres-ten) orientierten Veröffentlichungen zurück, doch liegt der Schwerpunkt dabei auf der Raumanalyse, soweit wir bereits über die unterschiedliche Verteilung der Funde an den einzelnen archäologischen Stätten sowie über die Verteilung der betreffenden Fundstätten selbst Aussagen zu machen imstande sind.Freilich enthalten meine Vorträge nicht nur Seitenblicke auf (und Seitenhiebe gegen) zeitgenössische Arbeiten. Ich suchte auch den unterschiedlichen An-sprüchen der Zuhörer und der Fachkollegen Rechnung zu tragen, zu denen ich sprach. Denn ich war verblüfft darüber, wie sehr sich meine europäischen Kolle-gen in ihren Interessen, aber auch in ihrer Fähigkeit voneinander unterscheiden, die Bedeutung von Forschungsvorhaben außerhalb ihrer Spezialgebiete zu er-kennen und zu würdigen. Da in verschiedenen Bereichen Nordeuropas altstein-zeitliche Fundstätten sehr selten oder gar nicht vorhanden sind, entsprach es meinen Erwartungen, daß der Hauptakzent ihrer Arbeit auf der Untersuchung bäuerlicher und protourbaner Kulturen lag, ein Akzent, der bei südeuropäischen und afrikanischen Prähistorikern weit weniger spürbar ist. Zweitens befassen sich europäische Archäologen, wenn ihre Interessen schon einmal über die Jungsteinzeit in die Vergangenheit zurückgehen, mit größter Wahrscheinlichkeit mit Material aus mittelsteinzeitlichen Fundzusammenhängen, also mit Erzeug-nissen des bereits vollausgeprägten modernen Menschen, der nur noch nicht die Landwirtschaft entwickelt hat. Sie betrachteten daher die methodischen Fragen, die ich anhand des in Teil I und II ausgebreiteten Materials erörtere, als etwas, das sie überhaupt nichts angeht oder das – wegen seines Bezuges zum Moustérien (der Kultur der Mittleren Altsteinzeit) und zum Altpaläolithikum (der Älteren Altsteinzeit) – allenfalls von rein akademischem Interesse sei. Infol-gedessen habe ich bei der Diskussion des Frühmenschen sowie der Altmenschen des Moustérien die Frage der archäologischen Methoden in den Vordergrund ge-stellt, von der ich annehme, daß sie alle Archäologen angeht, ganz gleich, welches ihr Spezialgebiet sein mag.Außerdem war ich überrascht, wie wenige Archäologen mit der ethnographi-schen Literatur über Jäger- und Sammlervölker vertraut waren. Diskussionen über die archäologische Hinterlassenschaft von Jägern und Sammlern bewiesen immer wieder eine erstaunliche Unwissenheit. Aus diesem Grunde bediente ich mich zahlreicher Dias, um zu veranschaulichen, wie nomadische Bevölkerungs-gruppen ihren Lebensraum mit archäologischem Material gleichsam »mar-kieren«. Dies sieht man besonders deutlich im Kapitel 6, das ich mit Absicht weitgehend so belassen habe wie den zugrunde liegenden Lichtbildervortrag, der verdeutlichen sollte, daß und wie ein einzelnes Volk ganz unterschiedliche Typen archäologischer Überreste hinterlassen kann. Zwar ist dies Archäologen nicht ganz neu, doch scheint man bei der Deutung archäologischer Befunde viel zu wenig darauf zu achten. Viele Europäer, insbesondere Skandinavier,

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wünschten mit mir über die Neue Archäologie zu diskutieren – interessanter-weise aber nicht auf der Grundlage jener Punkte, die ich bis 1969 immer wieder hervorgehoben hatte, sondern der Schriften von Fritz und Plog,3 aber auch der Veröffentlichungen von Watson, LeBlanc und Redman.4 Mir scheint, die meis-ten europäischen Gelehrten betrachten diese Arbeiten als eine naive Abart des Positivismus, als einen Versuch, eine archäologische Theorie zu entwickeln, die von dem Wunsche diktiert ist, sich möglichst naturwissenschaftlich zu gebär-den, oder von irgendeinem dunklen amerikanischen Drang, alles »zu zählen, zu wägen und zu messen«.Diesen Reaktionen Rechnung tragend, habe ich versucht, vorliegendes Buch auf konkrete Beispiele aufzubauen und die besondere Art der archäologischen Pro-bleme aus den verschiedenen Forschungsbereichen hervorzuheben. Gleichzeitig versuche ich, die bestehenden Differenzen zu überbrücken, indem ich auf das allen Archäologen gemeinsame Erfordernis hinweise, bessere Wege zur Erkennt-nis zu fi nden. Allerdings habe ich die Frage, wie man zu besseren Erkenntnissen gelangt, nirgendwo nur abstrakt diskutiert. Wer versteht, worum es dabei geht, wird sich zwangsläufi g fragen, welche Folgerungen wie woraus zu ziehen sind. Ich bin überzeugt wie eh und je, daß intensive Beschäftigung und unablässiges Experimentieren mit Erkenntnis-Strategien einer der Schlüssel zur Vermehrung archäologischen Wissens ist. In Europa gibt es zwei Arten von Archäologen: einmal jene Spezialisten und Techniker, die gewissermaßen das Naturwissenschaftliche an der Archäologie verkörpern,5 und dann die »Gesellschaftsphilosophen«. Dieses Buch stellt so etwas wie das Wagnis dar, beide unter einen Hut zu bringen, und so erst eine Archäologie zu schaffen. Für die in Großbritannien verbreiteten Vertreter der naturwissenschaftlichen Richtung bedeutet »mehr Erkenntnis« in erster Linie »mehr Naturwissenschaft«. So legt man größten Wert auf Archäozoologie, Geo-logie oder andere Naturwissenschaften. Dies muß durchaus nicht unvernünftig sein, lassen sich doch bisweilen anderswo gewonnene Erkenntnisse für die Ar-chäologie nutzbar machen. Andererseits bringen derartige Erkenntnisse oftmals überhaupt nichts, ja es läßt sich nicht einmal sagen, was sie mit archäologischen Problemen und ihrer Lösung zu tun haben. Genau das brachte mich zur Untersuchung der Tierwelt vergangener Epochen und schließlich zur Veröffentlichung meiner Bücher Nunamiut Ethnoarchaeo-logy (»Ethnoarchäologie der Nunamiut-Eskimos«)6 und Bones (»Knochen«).7 Der angeblich im Dienste der Archäologie angetretene Naturwissenschaftler, so fand ich, stellt nie die Verbindung zwischen seinen Untersuchungen tierischer Überreste und der Erforschung vergangener Völker her. Bestenfalls entwickeln derartige Spezialisten Techniken, die Aussagen über die Tierwelt vergangener Epochen ermöglichen,8 doch ist wiederum sehr zweifelhaft, ob dies ohne einge-hende Kenntnis der Entstehungsprozesse archäologischer Fundstätten in größe-rem Umfange möglich ist.9 Nur von einem Archäologen kann man erwarten, daß er das tut, was zur Erreichung seiner Ziele erforderlich ist, selbst wenn mit ihm im Bunde stehende Nachbarwissenschaften vielleicht nützliche Hilfe leisten.10

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Mir scheint, die meisten Archäologen haben begriffen: Die Tragfähigkeit ihrer Erkenntnisse über die Vergangenheit ist gerade so viel wert wie das Detailwissen, auf dem sie beruhen. Seit langem ist auch bekannt: Über manche Dinge wissen wir mehr als über andere. Christopher Hawkes11 erkannte dies stillschweigend an, als er 1954 seine »Verläßlichkeitsskala« aufstellte und für die Bereiche, über die man relativ Sicheres wußte (und für die man Verständnis aufbrachte), auch annahm, daß der Erwerb echter Erkenntnis über sie verhältnismäßig leicht sei. Diese grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen »traditioneller« und sogenann-ter »neuer« Archäologie zeigte sich recht augenfällig bei einem Vortrag, dem ich in Southampton beiwohnen durfte. Der Vortragende war der angesehene Archäologe M. J. O’Kelly, der bedeutende Verdienste um die Ausgrabung und Er-forschung der mächtigen Grabanlage von Newgrange in Irland erworben hat.12 Professor Kelly stellte scharfsinnige Betrachtungen darüber an, wie man den ge-waltigen Megalithbau von Newgrange errichtet hatte, wie dieser, als er noch als Grabstätte diente, ausgesehen haben mochte, ja sogar, welche Ereignisse an der Grabanlage ihre Spuren hinterlassen haben könnten, so daß diese sich schließ-lich in dem Zustand befand, in dem sie sich den Ausgräbern darbot. All dies untermauerte er, indem er sich nicht auf seine archäologischen Beobachtungen beschränkte, sondern zusätzlich Erkenntnisse der Mechanik, der Physik und der Ingenieurwissenschaft heranzog. Um so interessanter dagegen sein Zögern, sich über die Gesellschaftsstruktur derer zu äußern, die ihre Toten in diesem Grabe bestattet hatten.Warum diese so völlig unterschiedliche Haltung? Die Antwort ist wohl einfach: Es gibt keine tragfähigen Lehrsätze bzw. Thesen der Kultur- und Gesellschafts-lehre, auf die Professor O’Kelly hätte zurückgreifen können, um entsprechende Schlüsse aus seinem archäologischen Material abzusichern. Ich schlage vor: Ar-chäologen können nicht darauf warten, bis andere Wissenschaften die nötigen Grundlagen entwickelt haben, um eines Tages verläßliche Erkenntnisse über die Vergangenheit zu gewinnen. Vielmehr ist die Entwicklung einer einschlägigen Wissenschaft Sache der Archäologie selbst.Die »Gesellschaftsphilosophen« verkörpern das entgegengesetzte Extrem.13 Marxisten, Strukturalisten (á la Levi-Strauss), Materialisten, Idealisten und so weiter – sie alle glauben, ihr Standpunkt mache die Welt erklär- und einsehbar.14 Häufi g verwenden sie archäologische Befunde, um durch nachträglich angepaß-te Argumente ihre eigenen Ansichten zu bekräftigen. Trugschlüsse also sind – ebenso wie anderes Fragwürdige – bei solchen »Philosophen« weit verbreitet.In diesem Buch geht es um den Sinn archäologischer Erfahrungen, ihre An-wendung in Vergangenheit und Gegenwart sowie ihre Umsetzung in sinnvolle Aussagen über des Gestern – dies sowohl um die Vergangenheit besser zu ver-stehen als auch zur Überprüfung unserer Vorstellungen über sie. Philosophie ohne Wissenschaft ist nichts als Geschwätzigkeit, Wissenschaft ohne Philosophie unfruchtbare Konvention. Wir müssen beides miteinander verbinden.

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Danksagung des VerfassersDie vorstehenden Kapitel behandeln in einem weitgespannten Rahmen, was wir über die Vergangenheit wissen und wie wir versuchen, uns dieses Wissen zu be-schaffen. Insofern spiegeln sie auch einen Teil meiner eigenen Erfahrungen als Völkerkundler, Verhaltensforscher und Archäologe. Deshalb gebührt all denen, die das Zustandekommen des Buches ermöglichten und nicht müde wurden, mir zu helfen, mein besonderer Dank. Es hätte dieses Buch nie gegeben, wenn mich nicht Colin Renfrew, Robin Torrence und John Cherry regelrecht bedrängt hätten. Mehr als jeder andere meiner damaligen Hörer beschworen mich diese drei, die Vorlesungen und Vorträge, die ich in Europa hielt, auf Band aufnehmen zu lassen und allen Ernstes den Gedanken ins Auge zu fassen, aus ihnen ein Buch zusammenzustellen. Alle drei ließen auch nicht ab, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und immer wieder zu betonen, dieses Buch müsse erscheinen.Während meines Europa-Aufenthaltes waren es Colin Renfrew, Clive Gamble und Klaus Randsborg, die mich führten, korrigierten, unterwiesen und mit dem intellektuellen Klima Europas vertraut machten. Dafür fühle ich mich diesen Freunden zutiefst verpfl ichtet. Außerdem bescherte mir meine Europareise Silvester 1980 eine Begegnung mit Denise und François Bordes, an die ich noch immer gern zurückdenke, obwohl ich François, der inzwischen verstorben ist, damals zum letzten Male sah. Auch dafür, daß sie mir diese Begegnung ermög-lichten, fühle ich mich tief in der Schuld meiner europäischen Gastgeber.Wie bereits im Vorwort Colin Renfrews angedeutet, berichte ich im vorliegenden Buch von einer Reihe noch nicht abgeschlossener Forschungen, die zum großen Teil während eines außerordentlich ergiebigen Aufenthaltes in Südafrika (Som-mer 1981) durchgeführt oder doch angeregt wurden. Dieser Südafrika-Besuch war das Ergebnis einer Einladung der Universität Kapstadt. Damals war es mir vergönnt, einen Ausfl ug in das Gebiet des Nossob, eines periodisch wasserfüh-renden Flusses im Norden Südafrikas, zu unternehmen, wo ich Einblick in die Arbeiten und Erfahrungen von Naturforschern wie Gus und Margie Mills neh-men durfte, die dort das Verhalten von Hyänen untersuchen. Außerdem hatte ich das Glück, mit Dr. C. K Brain, Dr. Elizabeth Voigt und Elizabeth Vrba (alle vom Transvaal-Museum) die Fundstätten Kromda, Sterkfontein und Swartkrans zu besichtigen und zu hören, was diese wohl sachkundigsten »Fremdenführer« der Welt über die fraglichen Fundplätze zu sagen hatten. Richard Klein vom Süd-afrikanischen Museum in Kapstadt ermöglichte es mir, in ebendiesem Museum untergebrachte Sammlungen von Tierüberresten zu studieren, darunter das wichtigste Material, das an der Mündung des Klasies (gleichfalls eines Flusses) gefunden worden war (und auf das ich in künftigen Veröffentlichungen näher eingehen zu können hoffe). Schließlich besaß Miss Shaw vom Südafrikanischen Museum die Liebenswürdigkeit, mich mit den im Museum aufbewahrten Samm-lungen von Fotos und ethnographischem Material bekannt zu machen.Ohne Zweifel haben die Bemühungen all derer, die meine Afrikareise ermöglich-ten, ihre Spuren in diesem Buch hinterlassen Niemandem jedoch habe ich mehr

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zu danken als John Parkington, hatte er doch den wesentlichsten Anteil an der Organisation dieser Reise, in deren Verlauf er mir – mehr als jeder andere – zu zahlreichen, für mich als Wissenschaftler so wichtigen Erlebnissen verhalf. Ich fühle mich John zutiefst verbunden, verdanke ich ihm doch eine der erregends-ten Erfahrungen meiner berufl ichen LaufbahnAuch in Albuquerque, meiner derzeitigen Wirkungsstätte, haben viele zum Zu-standekommen dieses Buches beigetragen So sei der Mitarbeiter des Fotolabors der Universität von New Mexico gedacht, die sich als hervorragende Kollegen erwiesen, Fotos meiner Zeichnungen anfertigten und von meinen Dias ebenso wie von Filmnegativen ausgezeichnete Druckvorlagen für die Bebilderung die-ses Bandes anfertigten. Ständige Unterstützung für meine Arbeiten erfuhr ich auch durch den Fachbereich Völkerkunde der Universität. Im Fall dieses Buches bezuschußte er einen erheblichen Teil meiner Fotos und stellte mir einen Assis-tenten für die Fertigstellung des Manuskriptes sowie für die Erledigung anderer im Zusammenhang damit anfallender Aufgaben zur Verfügung. Martha Graham und Signa Larralde, die die die maschinenschriftliche Fassung anfertigten, ver-wendeten viel Zeit und Mühe auf diesen Teil der gemeinsamen Arbeit.Neben meinen eigenen Aufnahmen enthält das Buch Fotos von Charles Amsden, Jim Chisholm, Irven De Vore, Pat Draper, Diane Gifford, Robert Hard, Susan Kent, John Lanham, John Parkington, Edward Santry, Olga Soffer und Norman Tindale. Bei sämtlichen Aufnahmen, die nicht von mir stammen, ist stets die Quelle angegeben Die Mitarbeit all der Genannten gereichte diesem Buch sehr zum Vorteil, und ich danke allen für ihre wertvollen Beiträge. Iva Ellen Morris zeichnete die Szenarien vom Leben unserer frühesten Vorfahren (Abb 2, 5 und 16) sowie die phantasievolle Darstellung des »Gartens Eden« (Abb 128), und ich weiß ihre künstlerische Begabung ebenso zu schätzen wie die Hilfe, die sie mir leistete. Schließlich sei noch einmal hervorgehoben, welch wichtige Rolle Robin Torrence und John Cherry bei der Entstehung dieses Bandes spielten Ihnen oblag die Verantwortung für das Abschreiben der Tonbänder, die erste Umset-zung des gesprochenen Wortes in ein Rohmanuskript. Nachdem ich meinerseits diese Abschriften durchgesehen hatte, arbeiteten beide noch lange und intensiv an der Redaktion dieses Bandes, und ihre Änderungsvorschlage erwiesen sich durchweg als Verbesserungen, die dem Buch zugute kamen Um Robin und John meinen Dank auszudrucken, fi nde ich keine geeigneten Worte

Lewis R Binford

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Anmerkungen

Nachwort1 Initiator und guter Geist dieser Reise war

Colm Renfrew. Er lud mich ein und war unentwegt bemüht, zusammen mit mir die Mittel aufzutreiben, die die Reise ermög-lichten Im Endeffekt war er es sogar, der die Geldquellen erschloß. Er gab mir zahllose Anregungen und begegnete mir mit echter Herzenswärme Ich bin ihm zutiefst zu Dank verpfl ichtet

2 Binford 1977 a3 Fritz und Plog 19704 Watson und andere 19715 Sehr deutlich veranschaulichen dies Broth-

well und Higgs (Hrsg) 19696 Binford 1978 a7 Binford 1981 a8 Versuche beispielsweise, nach den an Wohn-

plätzen gefundenen Tierknochen die Al-ters- und Geschlechtsstruktur der Herde zu bestimmen, aus der die betreffenden Tiere stammten, oder ebenfalls anhand von Kno-chenfunden an Plätzen unbekannter Funk-tion die Zahl der durch diese Überreste repräsentierten lebenden Tiere zu ermitteln

9 Vgl Binford 1981 a, Seiten 69-72 und 478-479 Dort ausführlichere Kritik an der Verwendung der MNI-Schätzungen (MNI = = minimum number of individuals [»Indivi-duen-Minimalziffer«])

10 Man denke beispielsweise an die Entwick-lung der Radiokarbondatierung

11 Hawkes l954

12 Vgl, O. Kelly 1968, 1982 Van Wijngaar-den-Bakker 1974

13 Ein gutes Beispiel dieser Art der »gesell-schaftsphilosophischen« Argumentation fi ndet sich bei Adams 1981

14 Unter Archäologen herrscht beträchtliche Verwirrung darüber, wie Wissenschaft sich entfaltet und was Fortschritt ausmacht. Vie-le haben sich die These Kuhns (1962 und 1970) zu eigen gemacht, Fortschritt sei weit-gehend Ergebnis des Wirkens irrationaler Kräfte, denen die Tendenz innewohne, das Weltbild der Wissenschaftler zu beeinfl ussen (Beispielsweise unternimmt Trigger [1981] einen Versuch, so die Geschichte archäolo-gischen Denkens zu erklaren). Auch Feyera-bend (1978) und viele andere vertraten diese Position und arbeiteten die ihr zugrunde-liegende These weiter aus. Das vorliegende Buch dagegen vertritt – wie praktisch alles, was ich bisher geschrieben habe – eine völlig andere Auffassung vom Wesen und Wirken der Wissenschaft.

Ich war stets dafür, daß die Entwicklung stichhaltiger Methoden der Erkenntnis-gewinnung Grundlage der Entwicklung der modernen Wissenschaft sein muß Nie-mand sei daher überrascht, daß mich die jüngsten Behauptungen Meltzers (1979), in der Archäologie habe keinerlei Kuhn’sche Paradigmenverschiebung stattgefunden und meine eigenen Arbeiten seien eher metho-dologischer als theoretischer Art, keineswegs

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aus der Fassung bringen Der Ruf nach einer revolutionären Veränderung der Paradigmen ist richtig, wie mir scheint, doch haben wir inzwischen genug unterschiedliche Stand-punkte, nur läßt der Fortschritt noch immer auf sich warten. Im Gegenteil, die intelekt-uellen Launen kommen und gehen wie die verschiedenen Rocklängen im Wechsel der Mode. Erst wenn es gelingt, wissenschaft-liche Epistemologien (Lehren der wissen-schaftlichen Erkenntnisgewinnung) und fl ankierende Methoden der Evaluation (der Wertung und Wichtung) neuer Ideen zu ent-wickeln, wird das Zeitalter der Anhäufung von Wissen als Produkt wissenschaftlichen Bemühens anbrechen.

Kapitel l1 Beispielsweise Hawkes 1980.2 Vgl. Binford 1968c.3 Beschreibung des Verfahrens der Radiokar-

bondatierung bei Michels 1973 und Fleming 1976. Vgl. auch Sara Champion Du-Mont’s Lexikon archäologischer Fachbegriffe und Techniken (A Dictionaiy of Terms and Tech-niques in Archaeology [deutsch]. Aus dem Engl. u. mit Erg. vers. von Joachim Rehork) Köln 1982 (DuMont-Taschenbücher 116), Seiten 142-146 sowie 210f. (dort weiterführende Literatur).

4 Z. B. Gould 1980, Hayden 1979.5 Z. B. Yellen 1977.6 Rathje 1974, Rathje und McCarthy 19777 Binford 1976, 1978a und b, 1979, 1980,

1981c und 1982.8 Binford und Bertram 19779 Zusätzliche Beispiele ethnoarchäologischer

Forschung bei Gould (Hrsg) 1978 und Kra-mer (Hrsg) 1979 (vgl auch Champion a.a.O Seite 57 sowie D. Stiles: Ethnoarchaeology, a discussion of methods and applications, in Man 12 [1977] 87-103).

10 Coles 1973 (deutsche Ausgabe u. d. Tit.: Erlebte Steinzeit – Experimentelle Archäologie [übers. v. Theodor A und Jutta Knust] Mün-chen [1976]). Desgleichen Coles 1979.

11 Winter und Bankhoff 1979.12 Z. B. 1957 Ergebnisse neuerer Nachah-

mungsexperimente mit Steinwerkzeugen entnehme man dem Mitteilungsblatt Flint-knapper’s Exchange.

13 Vgl die ausdrückliche Verwendung der Ar-chäologie historischer Stätten als eine Art »Kontrolinnstrument« zur Überprüfung archäologischer Methodik bei South 1977 a und b.

14 Isaac 1978.15 Leakey und Hay 1979.

Teil 11 Taylor 1948.2 Taylor 1972.3 Taylor 1948, Seite 131.4 Derselbe ebenda Seite 193.5 Binford 1981 b, Dunnell 1980b.6 Taylor 1948, Seite 193.7 Erst jüngst habe ich Methoden der Erkennt-

nisgewinnung erörtert (vgl Binford 1981 a, dort insbesondere Seiten 21—34).

Kapital 21 Vgl. Dart 1959, LeGros Clark 1967, Seiten

1-40.2 Dart 1925 und 1948. Darts Überlegungen

beruhten auf dem besten prähistorisch-ar-chäologischen Belegmaterial, das ihm seinerzeit zur Verfügung stand. Und die-ses schien darauf hinzudeuten, daß die Knochen aus dem Kalksteinbruch von Maka-pansgat Feuerspuren aufwiesen. Als dann in Makapansgat auch Australopitheci-nen-Über-reste gefunden wurden, fügte Dart eines zum anderen und folgerte daraus, der Au-stralopithecus habe sich des Feuers bedient und sei mithin ein echter Mensch gewesen. Einen guten Überblick über die sich anschließenden Forschungen gibt Oak-ley 1954 und 1961.

3 Dart 1926. Seit den ersten Tagen der Ent-deckungen von Taung vertrat Dart die An-sicht, Australopithecus sei ein Jäger gewesen und daher für die Knochenanhäufungen verantwortlich, die Dart als Abfallhaufen frühmenschlicher Mahlzeiten betrachtete. Eine wichtige Rolle spielten in seinen Thesen Bruchstellen in Pavianschädeln. Die Auffassung, daß es sich bei den aus den Australopithecinen-Schichten geborgenen Tierknochenstücken um Werkzeuge handle, äußerte Dart erstmals 1949. In seinen 1957 und 1960 erschienenen Veröffentlichungen baute er diese seine Theorie weiter aus, wonach Australopithecinen Geräte aus Werk-stoffen tierischer Herkunft (wie Knochen, Zähnen, Horn) herstellten und verwendeten, ja er war mehr und mehr von der Existenz einer regelrechten »osteodontokeratischen Kultur« (einer »Knochen-Zahn-Horn-Kul-tur«) überzeugt, die den ältesten lithischen (Steingeräte-) Kulturen vorangegangen sei. Neuere Auffassungen darüber bei Wolberg 1970 und Binford 1981a.

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4 Dart 1953.5 Dart 1957, Seite 85.6 Dart 1926, 1949, 1957, 1960.7 Robert Ardrey Adam kam aus Afrika (Af-

rican Genesis [deutsch], a. d. Amerikan. übertr. v. Ilse Winger), Wien 1967 Taschen-ausgabe München 1969 (dtv Nr 577).

8 Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse, Wien 1963.

9 Washburn 1957.10 Hughes 1954.11 Dart 1956 enthalt u. a. eine Erörterung klas-

sischer Schilderungen des Verhaltens von Hyänen.

12 Dart 1958.13 Vincent 1978.14 Leakey 1979.15 Eine entsprechende Meldung machte da-

mals in der Presse die Runde. Leider gelang es mir nicht, herauszubekommen, was Leakey in der fraglichen Pressekonferenz wirklich gesagt hatte.

16 Washburn und Howell 1960, Seite 40.17 Leakey 195 9 a und b sowie 1960.18 Leakey 1971, besonders Seiten 49-58 und

Abb24.19 Isaac 1971, 1975, 1976b, 1976c und 1978.

Eine starker auf Fleischkost ausgerichtete Angabe fi ndet sich bei Isaac und Crader 1981.

20 Isaac 1976 a, Seiten 483-485.21 Brain 1981 enthält die wichtigste Zusam-

menfassung der Arbeiten Brains und sollte von jedem herangezogen werden, der sich für die Erörterung der hier angesprochenen Themen interessiert.

22 Vgl. Washburn 1957, desgleichen Bartholo-mew and Birdsell 1953. Die anfänglichen Deutungen durch Dart und andere waren durch die in Taung vergesellschafteten fau-nalen Überreste beeinfl ußt, die ausschließ-lich von Kleintieren stammten. Beispielswei-se fand man Klippschliefer, Vogeleier, kleine Nager und Paviane in den Hominidenschich-ten und schrieb diese Tatsache nicht etwa der Tätigkeit von Hyänen oder anderen großen Fleischfressern zu. Beispielsweise schrieb Robert Broom (1933, Seite 137).: »Die Un-tersuchung der mit dem Taung-Schädel vergesellschafteten steinernen Brekzie verschafft uns einen Begriff von den Le-bensgewohnheiten des Australopithecus Ich stimme mit Dart darin überein, daß man sie als den Kuchenabfall des Australopithecus anzusehen hat In der Hauptsache besteht die Brekzie aus Knochen einer ausgestorbenen

Klippschliefer-Art. Sämtliche Schädel sind zerbrochen, oft in ganz kleine Stücke. Es kann kein großes Raubtier wie ein Leopard oder Schakal gewesen sein, das sich von die-sen Schliefern ernährte. Ein solches hatte die Schädel einfach mit seinem Gebiß zermalmt und hinuntergeschluckt. Dann haben wir zahlreiche Pavianschädel, alle zerbrochen, als ob irgendein Geschöpf an das Gehirn herangewollt hätte.« Diese Vorstellung von den Ernährungsgewohnheiten der ersten Menschen setzte sich durch und beherrschte die Literatur bis Anfang der fünfziger Jahre. Man glaubte, an den Fundstätten auf Spei-seüberreste des Australopithecus gestoßen zu sein, eines bescheidenen Wildbeuters, der sich mit Kleintieren, Vogeleiern und dergleichen zufriedengab (vgl etwa Oakley 1953). Erst nachdem Dart in Makapansgat eine ganz andere Fauna vorgefunden hatte, bei der Antilopen das Bild beherrschten, setzte sich bei ihm die Überzeugung durch, der frühe Mensch müsse als Jäger sehr viel aktiver gewesen sein, als er – Dart – bisher an-genommen hatte. Diejenigen aber, die seinen auf dem Taung-Befund fußenden Argumen-ten zugestimmt hatten, betrachteten seine neue Auffassung als inkonsequent und seine neue Interpretation als übertrieben. Ähnlich reagierten Gelehrte, die sich einfach von der Vorstellung abgestoßen fühlten, unsere Vorfahren seien blutdürstige, mordlüsterne Killer gewesen, auf das Material aus Maka-pansgat. Da aber dort tatsächlich Überreste größerer Tierarten vertreten waren, schien es nunmehr realistisch, doch größere Raub-tiere als Urheber der Knochenanhäufungen in Betracht zu ziehen.

23 Bram 1968.24 Dart 1959, Seite 121.25 Bram 1981, Abb 50 und 221.26 Bram 1967.27 Binford und Bertram 1977.28 Binford 1978a.29 Binford 1981a.30 Hill 1972.31 Klein 1975.

Kapitel 31 Brain 1981, Seiten 271-273. Diese Bemer-

kung trifft insbesondere auf die robusten Formen der Australopithecinen zu.

2 Vgl Bunn [und andere] 1980.3 In Binford 1981a, Seiten 83-89, 181-190,

244-246 sowie 283-299 habe ich ausführ-licher zu der Rolle dieser nachgeschobenen

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Argumente Stellung genommen.4 Isaac 1971, Seite 278.5 Isaac und Crader 1981.6 Ebenda Seite 837 Ein Zuschuß der Universität Kapstadt, wo

ich gleichfalls eine Reihe von Vorlesungen hielt, gab mir die Möglichkeit, im Juli und August 1981 zahlreiche prähistorische Stät-ten in Südafrika und benachbarten Gebieten zu besichtigen.

8 Ein gutes Beispiel dessen, was mir hier vorschwebt, fi ndet sich bei Schaller 1972, Tafeln l und 2

9 Der Zeitansatz beruht auf einer Schätzung bei Vrba 1975.

10 Näheres zu Elandsfontem bei Singer und Wymer 1968, Klein 1978 und Deacon 1975.

11 Obgleich keine der Acheuleén-Fundstät-ten eine besonders hohe Artefakt-Dichte aufweist, gibt es noch immer genug, um diesen Eindruck zu rechtfertigen und ihn bedeutungsvoll erscheinen zu lassen. Ein klassisches Beispiel dafür sind der Horizont B und die Hauptfundstätte (DE/89) in Olor-gesailie (vgl Isaac 1977).

12 Zwar stimme ich mit der Interpretation, die 1976 von Munday vorgelegt wurde, und ihrer Erörterung durch Marks und Freidel (1977) nicht überein, doch zeigen die be-treffenden Arbeiten, wie wichtig es ist, die Beziehungen zwischen Rohmaterialvor-kommen, der Art, wie Material an einen be-stimmten Punkt gelangte, und der Verteilung sowohl des bei der Steingerateherstellung entstandenen Abfalls als auch der aus dem Rohmaterial gefertigten Steingeräte selbst zu untersuchen An Moustérien-Fundstätten in der Nähe von Quellen in der Negev-Wüste (Israel) zeigte es sich Sobald das steinerne Rohmaterial nicht in unmittelbarer Nahe anstand, fi elen Kerne und Abschläge kleiner aus. Die Forscher deuteten dies als Refl ex ei-nes gewissen Sparverhaltens der Hersteller dieser Moustérien-Geräte, die ihr kostbares Rohmaterial nicht verschwenden wollten. Ich dagegen vermute, wir haben den fragli-chen Umstand eher darauf zuruckzuführen, daß die Bewohner einer solchen Stätte ohne den Gerätebestand ankamen, den sie brauch-ten. Also suchten sie in der unmittelbaren Umgebung nach geeignetem Rohmatenal und stießen dabei auf Artefakte, die frühere Benutzer des Quellplatzes zurückgelassen hatten. Diese Artefakte verkleinerten sie und stellten aus ihnen Geräte her. Ein solches Verhalten wäre geeignet, die beob-

achteten Verteilungsmuster zu erklären, und man käme ohne die wenig einleuchtende Folgerung aus, Menschen des Moustérien hatten bereits an ortsfesten Siedlungsplät-zen gewohnt und waren mit eingeführten Rohmaterialien sparsam umgegangen. Doch ganz gleich, wie es sich damit verhielt – auf keinen Fall läßt man Geräte wie auch mitge-brachte Reststücke an über längere Zeiträu-me hinweg aufgesuchten Plätzen lange so liegen, wie sie ursprünglich waren. So nimmt zum Beispiel die durchschnittliche Länge der Steinkerne an Acheuleén-Fundstätten unübersehbar zu, je stärker die Assemblage von bifaziellen (zweiseitig bearbeiteten) Geräten beherrscht wird. Beispielsweise gilt diese Beobachtung für das Material aus Olorgesadie. Man mußte diese Stücke ja her-beitransportieren und verbrauchen – nicht aber, indem man sie zu Abschlagen und Abschlaggeräten reduzierte, sondern indem man bifazielle Werkzeuge aus ihnen herstell-te. Man kann sich nur schwer ein Basislager als Endpunkt des Werkzeuggebrauchs bzw. Bewohner eines solchen Lagers vorstellen, die Rohmaterial einfach ignorierten, das in Form bereits früher eingeführter bifazieller Geräte vorhanden war!

13 Ich bin mir durchaus darüber im klaren, daß es auch Plätze mit anderer Assemb-lagen-Zusammensetzung gibt, als ich es hier rein hypothetisch skizziert habe. Ich bediene mich dieser Rekonstruktion nur, um zu veranschaulichen, wie wenig wir den Entstehungsprozeß durchschauen Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß ein Teil der Assemblagen-Vielfalt, die an Acheuleén-Fundstätten beobachtet wurde funktionale Unterschiede zwischen den verschiedenen Plätzen widerspiegelt, an denen unsere frü-hen Vorfahren sich aufhielten. Ja, es mag sogar »Heimfl uren« gegeben haben.

14 Bei einigen von mir durchgeführten Unter-suchungen der Merkmale faunaler Assemb-lagen ging es sowohl um die Häufi gkeit des Vorhandenseins bestimmter Tierskelett-Teile als auch um die Muster von Schnitten und Bruchlinien sowie um Kombinationen ent-sprechender Merkmale mit Verbißspuren, die von Tieren stammen konnten, welche die betreffenden Knochen benagten. Zwar sind diese Forschungsarbeiten nicht vollständig, doch besteht eine gewisse Wahrscheinlich-keit, daß das Vorhandensein von Teilen relativ großer Tiere, die an Fundstätten aus dem Mittleren Stone Age am Ufer des Klasi-

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es-Bettes gefunden wurden, auf die Tätigkeit von Aasräubern zurückzuführen ist. Ähnlich mag es sich mit den Überresten von Auer-ochsen und Pferden an Moustérien-Fund-stätten Westeuropas verhalten Ich werde mich schon in Kürze ausführlicher darüber äußern.

15 Nach unmittelbaren Beweisen dafür gefragt, daß die Menschen des Unteren Pleistozan bereits Großwildjäger waren, weisen die meisten Forscher auf Fundstätten hin, wo Steinwerkzeuge mit einem einzelnen Großtierkadaver vergesellschaftet sind (so Olduwai FLK N6 [Elefant], Koobi Fora [Flußpferd] und Olduwai FLK N11 [Di-notherium]). An anderen Plätzen fi ndet man Steingeräte (bzw. steinerne Waffen) zusammen mit mehreren Kadavern von Tieren einer und derselben Art. Wenn nur ein einziges totes Tier vorhanden ist, ist man eher geneigt, einzuräumen, es könne möglicherweise einfach verendet sein, und der Frühmensch habe sich über das Fleisch des Kadavers hergemacht. Im Vorhandensem mehrerer Exemplare einer Tiergattung zusammen mit Artefakten erblickt man jedoch einen Beweis dafür, daß schon der Frühmensch ein hervorragender Jä-ger gewesen sei. Entweder, so meint man, trieb er die Tiere scharenweise in den Tod oder er trieb sie zumindest zusammen, so daß es ihm möglich war, große Mengen »Fleisch zu machen«. Siehe z. B. Isaac 1977, Shipman [und andere] 1981. Gegenteilige Ansichten bei Binford 1977b sowie bei Bin-ford und Todd 1982.

16 Zur Forschungssituation Leakey 1981, Sei-ten 76-88.

17 Eingehende Erörterung derartiger Metho-den der Erkenntnisgewinnung bei Binford 1981a Seiten 83-86 und 246f.

18 Keeley und Toth 1981.19 Vgl Binford 1977a, Seite 7.

Teil II1 Popper 1972, Seite 198.2 Sonneville-Bordes 1975a, Seite 35 (ursprüng-

lich französisch, hier nach der englischen Übersetzung L. R. Binfords ins Deutsche übertragen).

3 Popper 1972, Seite 30.4 Black bei Popper 1959, Seite 82.

Kapitel 4l Der Beweis für die Benutzung von Farben

ist das Vorhandensein von Rotocker- und

Manganerz-Stücken, die Abriebspuren aufweisen. Obwohl man diesen Befund dahingehend deutet, daß die Stücke als Mal-stifte verwendet worden seien, kamen bisher noch keinerlei kolorierte Gegenstände aus Moustérien-Schichten zum Vorschein.

2 Zusammenfassung der Belege für die To-tenbestattung im Moustérien bei S Binford 1968 und Harrold 1980

3 Kritische Beitrage zur Erörterung des »Hoh-lenbarenntuals« der Neandertaler bei Bin-ford 1981a und Kurten 1976.

4 Klindt-Jensen 1975.5 Myres 1906, Seite 29.6 Ebenda Tafel III.7 Quennell und Quennell 1922, Seiten 102-

105.8 Weiner 1980.9 Osbornl927, Seite 73.10 Clark 1979, Seite 17.11 Clark 1979, Seite 17.12 Mason 1883, Seite 403.13 Nelson 1938, Seite 148.14 Ein gutes Beispiel der während des frühen

zwanzigsten Jahrhunderts üblichen Ansich-ten fi ndet sich bei Osborn 1916.

15 Erörterungen der »Artefakt- und Assemb-lagen-Periode« unter geringfügig anderen Gesichtspunkten bei Binford 1981a und 1982.

16 Childe 1929, Seite VI.17 Eine weitere Diskussion der Lage der Archä-

ologie unmittelbar vor 1930 fi ndet sich bei Trigger 1980, insbes Kap II.

18 Z. B. Breuil 1931, 1932a, 1932b.19 Garrod 1938, Seite l.20 Breuil und Lantier 1965, Seite 115.21 Burkitt 1963, Seiten 129-130.22 Einige der jüngsten Veröffentlichungen,

die diese Ansicht vertraten, sind Hoebel 1949, Movius 1956 und Herskovits 1955. Allerdings ließe sich diese Liste selbstver-ständlich noch erweitern.

23 Peyrony 1930, 1933 und 1936.24 Movius 1953. Eine neuere Erörterung bei

Laville (und andere) 1980.25 Vgl Bordes 1950, 1953b und 1961a, desgl.

Sonneville-Bordes 1975b.26 Bordes 1953a.27 Bordes 1972.28 Ausführliche Beschreibung bei Sonneville-

Bordes 1975b.29 Ebenda.30 Peyrony 1930.31 Bordes 1972.32 Ende der vierziger bzw. Anfang der fünfzi-

262

ger Jahre begann man die früher vertretene Auffassung der Existenz paralleler »Phylen« (Entwicklungsstränge) in Frage zu stellen (so z B Braidwood 1946 und Movius 1948).

33 Selbst heute noch beherrschen modifi zierte Versionen der Ansichten Breuils das wis-senschaftliche Denken mancher Forscher. Vgl. Collins 1969 und Ohel 1979.

34 Sackett 1981, Seite 90.35 Wissler 1914 und 1923, Klimek 1955, Kroe-

ber 1939, Milke 1949 und Hodder 1977.36 Bordes 1972, Seiten 148-149.37 Wissler 1914, Seite 468 f.38 Grundlegende Literatur für die Erörte-

rung der »funktionalen Argumentation« Binford und Binford 1966 und 1969, desgl. Binford 1972 a und 1973 Die entgegenge-setzte Auffassung fi ndet sich bei Bordes 1961b, Sonneville-Bordes 1966, Collins 1969 sowie 1970, Bordes und Sonneville-Bordes 1970, Meilars 1970 sowie Bordes (und andere) 1972.

Kapitel 51 Ein größerer Durchbruch im Hinblick auf

die Suche nach stratifi zierten Deponien ge-lang Coe 1964.

2 Taylor 1948.3 S. insbes. Willey 1953.4 Vgl. Brown (Hrsg) 1971.5 Als ich die Fachliteratur zu durchmustern

begann, waren die beiden bedeutendsten mir bekannten Publikationen, die sich mit der Herstellung von Steingeräten befaßten, Fond 1930 und Witthoft 1957. Zusätzlich enthielt Witthoft 1952 eine weitere aufrüt-telnde Untersuchung.

6 Zu meinen früheren Arbeiten auf dem Gebiet der Steinwerkzeug-Analyse gehören Binford 1963, Binford und Papworth 1963 sowie Binford und Quimby 1963.

7 Binford und Papworth 1963.8 Binford 1964b.9 S. Binford 1968 a.10 S. Binford und Binford 1966.11 Einen kurzen Abriß der Geschichte dieser

ersten Arbeiten mit multivarianten statisti-schen Methoden fi ndet man bei Binford und Binford 1966, Seite 293, Anm l.

12 Meine ehemalige Frau, Sally Binford, und ich erhielten von der National Science Foun-dation ein Forschungsstipendium. In Frank-reich standen uns Georges Bordes, Gerald Eck, Nicholas Gessler, Cathy Read-Martin, Dwight Read, Michele Lenoir und Polly Wiessner zur Seite. Außerdem erfuhr un-

ser Team standige Hilfe und Unterstützung jeder Art durch François Bordes und seine Mitarbeiter.

13 Damals nahm ich, wie die meisten Forscher jener Tage, an, es mit »Wohn-Niveaus« von nahezu vollkommener Unversehrtheit und hohem Detail-Informationswert zu tun zu haben. Heute erscheinen einem derartige Ansichten reichlich naiv.

14 Es waren die Wenner-Gren Foundation for Anthropological Research sowie die National Science Foundation, die mich bei diesen Un-tersuchungen unterstützten. Unmittelbares Ergebnis sind folgende Publikationen Bin-ford 1976, 1978 a und b, 1979, 1980, 1981 a, b und c sowie 1982.

15 Sowohl diese Reise als auch meine Arbeiten in Australien wurden vom Institute of Abo-riginal Studies in Canberra bezuschuß.t

16 Vgl z B Binford 1981b.17 Binford 1967, vgl. auch Binford 1968b.18 Ebenso Binford 1969.

Kapitel 61 Silberbauer 1972.2 Diese Betrachtungsweise wurde von Flan-

nery 1972 entwickelt, allerdings für Systeme mit seßhafterer Lebensweise.

3 Mac Neish 1958, Seite 137, ausfuhrlicher Mac Neish, Peterson und Neely 1972, dort bes. Seite 355.

4 Ausführlicher hierzu Binford 1981 c.5 Binford 1978 a, Seiten 306-312.6 Downs 1966.7 Ausführlichere Beschreibung des Komple-

xes von Anavik Springs bei Binford 1978 a, Seiten 171-178.

8 Ebenda Seiten 235-245.9 Ich beziehe mich hier auf die Interpretati-

on gewisser Fundstätten-Elemente durch P. P. Efi menko (Jefi menko) als semljanka (»Schlafgruben«). Dabei denke ich an die »Wohnstätte Nr. l« in der oberen Schicht von Kostjenki I sowie an die »Grube U« in Avdejevo (Awdjejewo [noch nicht veröf-fentlicht]). Beschreibungen von Kostjenki und anderen bedeutenden paläolithischen Stationen in der Sowjetunion s. Klein 1973. Meine Kenntnis dieser ganz spezifi schen Fundstätten-Charakteristika verdanke ich Professor Grigoriew (Universität Leningrad).

10 Klein 1973, Seite 70, Abb 8.11 Ähnliche Gebilde beschrieben Crowell und

Hitchcock (1978, Seiten 37-51) für das Gebiet der Kalahan San-Buschmänner.

12 Binford 1978 b, Seiten 330-361.

263

13 Yellen 1977, Seiten 113-130.14 Ebenda, insbesondere Seiten 125-131.15 Williams 1968 und 1969.16 Persönliche Mitteilung von Patricia Draper.17 Binford 1982.18 Hier sei noch einmal hervorgehoben: Bei

der Debatte über das Moustérien geht es im Grunde um die Art und den Charakter der Steingeräte-Assemblagen. Bei meiner Erör-terung der Landnutzungsfrage habe ich das Steingeräte-Problem ausgeklammert, da die Nunamiut, wie ich beobachten konnte, keine Steingeräte mehr benutzen. Doch spricht kaum etwas dafür, daß die Arten steiner-ner Artefakte, wie die Eskimos sie hatten, in irgendeiner Weise mit denen aus dem Moustérien vergleichbar waren. Erneut möchte ich nachdrücklich betonen: Ich bin keineswegs der Meinung, daß die Nunamiut eine Analogie zu palÄolithischen Gruppen darstellen.

19 Binford 1978 a.

Kapitel 71 Binford 1978b.2 Binford 1978a, insbesondere Seiten 265-

320.3 Ebenda Seiten 321-327.4 Whitehead 1953, Seite 158f.5 Wagner 1960, Seite 91.6 Leroi-Gourhan und Brezillon 1966, Sei-

ten 361-364.7 Van Noten 1978.8 Schiffer 1972, Schiffer und Rathje 1973.9 Binford und Binford 1966 10 Im Hinblick auf einige dieser Gedanken be-

steht in der neueren Fachliteratur ein ziem-liches Durcheinander. Seit ich mit meinen Studenten an der Universität Chikago die Begriffe actvity area (»Tätigkeitsbereich«) und tool kit (»Gerätebestand«) auf ihre Eignung als Teil unseres begriffl ichen Instrumentari-ums untersuchte, war uns das doppelte Pro-blem klar, daß es einerseits galt, Techniken zu entwickeln, die es uns ermöglichen, Mus-ter im archäologischen Befund zu erkennen, andererseits aber die Ergebnisse dieses Er-kenntnisvorganges richtig zu interpretieren. Robert Whallon nahm die Herausforderung an und untersuchte Methoden und Ansätze, die vielleicht von Nutzen sein könnten. Er zeigte ganz deutlich, daß er begriffen hat-te, welch ein Unterschied zwischen einem archäologischen Muster und der Bedeutung besteht, die man ihm beimißt.

l »…zumindest einige menschliche Aktivitäten

werden innerhalb der meisten Wohnplatze räumlich abgesondert sein, und die räum-liche Differenzierung führt zu einer unter-schiedlichen Vertei lung von Werkzeugtypen im Bereich der Besiedlung infolge des unter-schiedlichen Gebrauchs, den man im Zuge der verschiedenen an der betreffenden Stat-te ausgeübten Tätigkeiten von ihnen macht« (Whallon 1973 a, Seite 116).

2 »…unsere Argumentation setzt nicht notwen-digerweise die ständige räumliche Trennung sämtlicher Aktivitäten in einander gegensei-tig ausschließende Areale voraus, sondern lediglich, daß bestimmte Aktivitäten we-nigstens zeitweilig in separaten Bereichen stattfi nden« (ebenda Seite 117).

3 »Räumliche Ballungen von Geräten bedeuten nicht, daß man die betreffenden Stucke dort liegenließ, wo man sie verwendete, … sind allerdings dennoch Ergebnisse bestimmter regelmäßig praktizierter Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Eingebettetsein der Technik in den Rahmen des gesamten übrigen Kultursystems. Sie sollten daher innerhalb des ihnen angemessenen Be-zugsrahmens für Prahistonker völlig erklärbar sein« (ebenda Seite 119). Diesen grundlegenden Aussagen folgt bei Wallon dann eine Erörterung der ihm bekannten Techniken zur Erkennung von Erkennung der Muster-Entstehung bei der räumlichen Distribution. Er hörte auch weiterhin nicht auf, »ältere Methoden der Musterbildungs-Erkennung zu verbessern und neue zu ent-wickeln« (vgl Wallon 1973b und 1974 sowie die den gleichen Weg einschlagende zusätz-liche Arbeit von Newell und Dekm 1978).

Vor diesem Hintergrund ist es schwer zu begrei-fen, wodurch die Kritik, die Schiffer (1974) an Wallon übte, gerechtfertigt sein soll. Vielleicht das abwegigste Mißverständnis Wallons läßt sich Yellen (1977, dort insbeson-dere auf Seite 134) zuschuldenkommen, der uns unterstellt, nach unseren Vorstellungen müsse jede beliebige Aktivität an einem besonderen Platz stattfi nden, und dort mit-einander vergesellschaftete Geräte hätten nach unserer Auffassung jeweils nur mit dieser einen Tätigkeit zu tun. Diese Arten zu argumentieren verraten ein abgrundtiefes Mißverständnis dessen, worum es geht.

11 In Australien war ich Gast von James O Connell, der bei den Alyawara Forschungsar-beiten durchführte. Finanzielle Unterstüt-zung erhielt ich vom Australiern Aborigmal Institute, Canberra.

264

12 Leroi-Gourhan und Brezillon 1966 und 1972.

13 Leroi-Gourhan und Brezillon 1966, Abb58.14 Gould 1977, Abb 22.15 Velder 1963, Abb 2.16 Movius 1975 und 1977.17 Persönliche Mitteilung von Patricia Dra-

per.18 Binford 1978a, Seiten 142-145.19 Ebenda Seiten 435-457.20 Das Muster miteinander abwechselnder

Betten und Feuerstellen, von dem wei-ter oben die Rede war, gilt aber nur bei unüberdachten Schlafplatzen oder dann, wenn ein Bauwerk, innerhalb dessen der Schlafplatz sich befi ndet, hauptsächlich dem Schutz vor Regen oder Sonne dient. Hat das Bauwerk dagegen zusätzlich die Aufgabe, Wärme zu halten, schläft man in der Regel auf gemeinsamen Lagerstätten Darüber hinaus bedient man sich dann auch nicht der alternierenden Betten und »Herde«, um Brennstoff zu sparen, da dieser ja dazu dient, die gesamte Wohnstätte zu heizen und nicht nur die Bereiche unmittelbar ne-ben dem Feuer.

21 Bei den Eskimos gehören zu den Arbeiten, die viel Platz beanspruchen, die Herstellung von Booten, Schlitten, des Stützwerks für die Behausungen und das Nähen der Zelt-bespannung. Diese Tätigkeiten verrichtet man folglich an eigenen, etwas abseits gele-genen Platzen. Vgl. Binford 1978a, Seite 348, Abb. 75 (Aufnahme eines Kajaks, das man in einem eigenen Tätigkeitsbereich außer-halb des Hauses, aber in dessen unmittel-barer Nähe herstellte).

22 Yellenl977, Seite 92.23 Bei den Eskimos konnten wir beobachten,

daß in der Regel ältere Manner regelmäßiger mit Handwerksarbeiten beschäftigt waren als andere Lagerbewohner. Häufi g trafen sie sich im Hause eines älteren Ehepaars, das kin-derlos geblieben war oder dessen bereits er-wachsene Nachkommen anderswo wohnten. Derartige kinderlose Häuser hatten – was die in ihnen ausgeübten handwerklichen Tätigkeiten anging – bisweilen geradezu die Funktion von »Männerhäusern«. Dort konn-ten sich die Manner bei ihrer Arbeit entfal-ten und am Rande der eigentlichen »Haus-haltszone«, in der die Frau das Sagen hatte, auch angefangene Stucke liegen lassen, ohne befürchten zu müssen, daß jemand sich dar-an vergriff.

24 Ein Foto von der Abfallverbrennung an

einem Schlacht- und Verarbeitungsplatz fi n- det sich bei Binford 1978 a, Seite 462, Abb 49.

25 Von Schiffer (1972 und 1976) stammt der Vorschlag, zwischen Primär- und Sekundär-abfällen zu unterscheiden, eine Unterschei-dung, die Schiffer für dringend erforderlich hielt. Zwar räume ich ein Schiffer geht von einer tragfahigen Voraussetzung aus, und sein Vorschlag besitzt ohne Zweifel etwas Konstruktives. Dennoch ist die von ihm ge-troffene Unterscheidung unangebracht und unzutreffend – zumindest gemessen daran, wie ich den Formationsprozeß sehe.

26 Schiffer 1972.27 Beschreibung einer Eskimo-Mahlzeit in ei-

nem Winterhaus bei Binford 1978a, Seiten 145-147.

28 Schiffer 1976, Seite 57, gibt einige formale Kriterien, an denen man Sekundärmüll erkennen soll »Sekundärabfall besteht aus abgenutzten und zerbrochenen Materialien und zeichnet sich gewöhnlich durch hohe Materialdichte und -Vielfalt aus«. Man ver-gleiche damit, was Yellen 1977, Seite 109, über den Primärabfall in seinen Kernzonen sagt‘.

29 Yellen 1977, Seiten 81-83. Hervorgehoben sei: Zwar verdanken wir Yellen hervorra-gende und wertvolle Beobachtungen. Daß er Wallon und mir jedoch eine »rigide« Fundstättentypologie vorwirft, ist vollkom-men abwegig (vgl. oben: Anmerkung 10).

30 Binford 1980, Seiten 4-20.31 Der mit dem Moustérien-Problem ver-

knüpfte Streit um die Frage der funktio-nalen Variabilität (»Veränderlichkeit«, aber auch »Vielfalt«) betrifft nicht den Werk-zeuggebrauch, wie manche Autoren (z. B. Collins 1969, Trmgham 1978, Seite 174, sowie Cahen [und andere] 1979) anzuneh-men scheinen. Vielmehr gab ich lediglich zu bedenken, daß Formen organisatorischer Variabilität in den Anpassungssystemen von Früh- und Altmenschen ebenso ihre Bedeutung gehabt haben müssen wie die Faktoren, durch die sie bedingt waren, wo-gegen die herkömmliche Archäologie eine solche Variabilität gänzlich in Abrede stellt. Aber gerade weil sie sie leugnet, überrascht es mich nicht, daß Forschungen, wie ich sie hier schildere, bisher überhaupt noch nicht durchgeführt wurden. Dabei haben viele heutige Wissenschaftler gänzlich mißver-standen, worum es mir überhaupt geht – nehmen sie doch an, ich glaubte, es gebe

265

einen zwangsläufi gen Zusammenhang zwi-schen bestimmten Geräteformen und deren

vorausberechneter Zweckbestimmung (d. h. daß Überlegungen über die beabsichtigte Verwendung die Formgebung der Steinge-räte bestimmten). Derartiges aber habe ich nie behauptet oder auch nur stillschweigend vorausgesetzt. Allerdings gab ich zu beden-ken, man habe wohl bei Geräten mit unter-schiedlicher Formgebung davon auszuge-hen, daß sie – im Rahmen des technischen Verständnisses ihrer Zeit – unterschiedliche Rollen spielten. Daher mußten Untersuchun-gen der Häufi gkeitsunterschiede zwischen verschiedenen Stätten einer und derselben morphologischen Klasse bei unterschiedli-chem Formenrepertoire Informationen über die organisatorische Variabilität innerhalb eines Kultursystems zu geben imstande sein. Doch ebensowenig wie es eine zwangsläufi g prägende Beziehung zwischen Gebrauch und Form gibt, gibt es einen entsprechen-den Zusammenhang Gerätegebrauch und gesellschaftlicher Organisation (wenn man auch nicht gänzlich in Abrede stellen kann, daß immerhin gewisse Wechselwirkungen in beiden Fällen bestehen). Wenn man weiß, wozu ein Stück diente, weiß man noch lange nicht, wie unsere Vorfahren es anstellten, einen gewissen technischen Standard auf-rechtzuerhalten, wie sie sich nicht mehr benötigter Objekte zu entledigen pfl egten und welche Mühe sie sich gaben, Plätze, wo sie ihre technischen Kenntnisse in die Praxis umsetzten, instandzuhalten. Dies aber muß man durchaus mit in Betracht ziehen, wenn man bestimmte Verhaltensweisen geräte-benutzender Menschen zu rekonstruieren versucht, und ohne dies ist ein echtes Ver-ständnis der in Vergesellschaftungen archä-ologischen Materials beobachteten Muster nicht möglich – ein Verständnis, das den Tatsachen und der historischen Wirklichkeit gerecht wird. Kurz Bei der funktionalen Argumentation geht es um weit mehr als nur um Fragen des Werkzeuggebrauchs.

Teil IIIl Diese Schwäche wurde auch von anderen

erkannt (vgl. z. B. Lamberg-Karlovsky 1975 [allerdings stimme ich mit den dort vorge-schlagenen Lösungen des Problems nicht uberein]). Was die bizarre Idee angeht, für eine Prozedur, die dazu dient, archäologi-schen Beobachtungen einen Sinn zu geben, unter Berufung auf archäologische Beob-

achtungen »Probeschlüsse« zu ziehen, vgl Binford 1977a.

2 Binford 1981a, insbes Seiten 21-30.3 Damit will ich nicht andeuten, daß dieser

Ansatz sich auf Untersuchungen komplexer Gesellschaften beschränkt. Vielmehr ist die Fachliteratur reich an Beispielen, bei denen es um viel frühere Zeiträume geht (z. B. Isaac und Isaac 1975). Leakey und Lewin (1978) behaupteten (aufgrund entsprechender Beo-bachtungen bei den !Kung-Buschmännern), das Sammeln habe für den Frühmenschen außerordentliche Bedeutung gehabt, und der Tragbeutel sei daher eines der wichtigs-ten »Geräte« gewesen. Kurz nachdem ich das gelesen hatte, sah ich ein Fernseh-Interview mit Pat Shipman (John Hopkins University), die allen Ernstes erklärte, der Grund dafür, daß man in afrikanischen Fundstätten so viele Paarhufer-Hinterläufe mit Schnittspu-ren gefunden habe, sei: Jene afrikanischen Hominiden hätten Sehnen gesucht, um Trag-beutel anzufetigen! (Vgl. Pots und Shipman 1981, Bunn 1981 sowie Science News 1981). Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie man Beobachtungen am archäologischen Befund eigenen Überzeugungen anpaßt und dann als »Beweis« dafür zitiert, daß man der richtigen Auffassung war. Reine Tautologie!

4 Radcliffe-Brown erkannte die Schwäche dieser auf bloße Vermutungen gegründeten Geschichtsdarstellung. Er hob hervor (1958, Seite 41): »Die hypothetische Rekonstrukti-on der Vergangenheit nimmt unvermeidli-cherweise gewisse allgemeine Prinzipien als gegeben an, beweist sie aber nicht. Im Gegenteil Ihre Ergebnisse hängen davon ab, was diese Prinzipien wert sind«. Ob-wohl seine Einwände einer Rekonstruktion der Geschichte aus ethnographischen Beob-achtungen galten, gilt seine methodologi-sche Feststellung ebenso für Beobachtungen anhand des archäologischen Materials. Seine Kritik an historisch orientierter Völkerkun-de ist gleichermaßen auf alle diejenigen anwendbar, die sich Theorien zu eigen machen, die ihnen vorschreiben, wie der archäologische Befund zu beurteilen ist, dann aber umgekehrt annehmen, eben dieselben archäologischen Fakten seien imstande, ihre Theorien zu bestätigen oder zu wiederlegen (ein gutes Beispiel dafür fi ndet sich bei Mei-len 1981).

5 Wittfogel 19S7.6 Näheres dazu im Kapitel 9.

266

Kapitel 81 Darwin 1875.2 Roth 1887.3 Peake und Fleure 1927.4 Childe 1928.5 Ebenda Seite 2.6 Hempel 1965 (in der deutschen Fassung des

betreffenden Werkes Carl Gustav Hempel Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, Berlin 1977 befi ndet sich die Stelle über »Erklä-rungsskizzen« auf Seite 140).

7 Braidwood 1963.8 Braidwood und Howe 1960.9 Braidwood und Willey (Hrsg.) 1962, Seiten

132-146.10 Braidwood und Reed 1957.11 Braidwood 1963, Seite 110.12 Higgs und Jarman 1969, Higgs (Hrsg)

1972 und 1975.13 Binford 1968a. Vorgreifend auf meine

spätere Argumentation möchte ich schon hier darauf hinweisen: Einer der Haupt-fehler dieser vor längerer Zeit geäußerten Ansichten war die Annahme kleiner »Gärten Eden«, die eine Bevölkerungskonzentration bewirkten und gleichzeitig Möglichkeiten der Sicherung weiteren Bevölkerungs-wachstums in sich bargen. In meinem oben angeführten Aufsatz ging ich auf die An-nahmen meiner Vorgänger ein und brachte Argumente für selektive Belastungen durch die Struktur der Bevölkerungsdynamik vor.

14 Dumond 1965, Bosserup 1965.15 Smith und Young 1972.16 Flannery 1969.17 Bender 1975, Bronson 1975, Cowgill 1975,

Hassan 1974 und 1979 sowie Hayden 1981.

18 Vgl. die Haltung Flannerys (1973).19 Beardsley 1956, Seite 134.20 Rick 1980.21 Madsen 1979.22 Perlman 1980.23 Binford 1968a.24 Harlan 1967.25 Flannery 1969.26 Hassan 1977, Erörterung auch bei Hassan

1981, dort insbesondere auf Seiten 213-214.27 Es gibt keinen Sinn, Zuverlässigkeit und

Berechenbarkeit als Umweltmerkmale anzu-sehen, die man mehr und mehr erkannte und zu schätzen wußte (vgl Hassan 1977 und Hayden 1981). Beides sind Eigenschaften, die mit taktischem Vorgehen zu tun haben, nicht aber Charaktenstika der Umwelt

selbst. Verfügt man nur über genügend In formationen, was die Umwelt betrifft, so wird nahezu jede Materialbezugsquelle (bzw. Nahrungsquelle) »berechenbar« und insofern auch »zuverlässig«. Was Hayden als verläßliche »reselektierte« (immer wieder aufgesuchte und genutzte) Bezugsquellen bezeichnet, sind genau jene, deren Ausbeu-tung nur ein Minimum an Umweltkenntnis erfordert, da sie gewöhnlich stationär sind und in gewissen Ballungen auftreten. Es ist daher absurd, daß genau dies die Ressourcen sein sollen, die der Mensch – Hayden zufol-ge – bevorzugt nutzte, nachdem er mehr Kenntnisse über seine Umwelt gesammelt hatte.

28 Niederberger 1979.29 MacNeish 1964, 1971 und 1972. Diese wich-

tige Beobachtung wurde von Flannery 1973 und Bender 1978 bestätigt, doch in einem so neuen Werk wie dem von Hassan 1981 völlig ignoriert. Hassan würde zweifelsoh-ne wohl nur den Anspruch erheben, daß seine Modelle der Nahrungsmittelprodukti-on lediglich für Palästina gelten, während an-dere Gebiete eigene Erklärungen erfordern.

30 Vgl. z. B. Hayden 1981, Seite 544 »Es scheint mir selbstverständlich, daß Jäger und Samm-ler, wenn alles andere sich entsprechend verhält, Strategien verwenden, die so wenig Ortswechsel wie möglich bedingen«.

31 Bender 1978, Seite 207.32 Bennett 1976b, Seite 848.33 Cohen 1977.34 Vgl. oben: Anmerkungen 19 und 28.35 Bailey 1960.36 Perkins 1964, vgl. Reed 1969.37 Binford und Chasko 1976. Zusätzliche ein-

schlägige Informationen bei Lee 1972.38 Osborn (1938) sucht nachzuweisen, daß

Gewässer als Nahrungs-Bezugsquellen keine »Gärten Eden« darstellen. Yesner (1980) sieht hier ein historisches Problem: Wenn die Nahrungsquellen in Gewässern als »Garten Eden« anzusehen sind, warum erkannten das allem Anschein nach nicht schon die Menschen früherer Zeit? Den-noch neigt er dazu, Wildbeuterbevölkerun-gen in Küstenbereichen als Beispiele der Anpassung an außergewöhnlich ertragreiche Umweltverhältnisse anzuführen, die seiner Ansicht nach in der Vergangenheit sehr viel häufi ger waren. Seine Auffassung, ein ver-stärkter Hang zur Seßhaftigkeit unter derar-tigen Bedingungen habe mit der größeren Vielfalt des dortigen Nahrungsangebotes zu

267

tun, hängt mit der Vorstellung einer »Breit-band-Revolution« zusammen.

39 Flannery 1965.40 Quellenangaben in den Anmerkungen 17, 26,

33 und 39.

Kapitel 91 Binford 1964a.2 Sahlms 1958.3 Diese kleinen, auf der persönlichen Macht

und dem Ansehen ihres Anführers beru-henden »Stammesfürstentumer« (wortlich chiefdoms, also »Hauptlingstümer«), von de-nen hier die Rede ist, sind »Proto-Staaten« (eine Frühform staatlicher Entwicklung) an der Ostküste Nordamerikas. Ihr Territorium beginnt an der Chesapeake-Bucht und erstreckt sich an der Atlantikküste nach Sü-den (wo es auch das Stammesgebiet solcher Gruppen wie der Guale einschließt) und rings um Florida bis an die Küste des Golfs von Mexiko. Ähnliche Staats-Vorformen zo-gen sich Mississippi-aufwärts. Westlich der Mississippi-Mündung wurden sie jedoch immer seltener.

4 Vgl. z. B. Gearing 1962.5 Sahlms hat diesen letzten Punkt – nämlich

die unterschiedliche Produktivität – nie so behandelt, wie es angemessen wäre. Beispielsweise bezog sich sein Konzept der »unausgewogenen« Reziprozität lediglich auf kurzfristigen Austausch. In breitesten Kreisen geführte Diskussionen einer auf Umverteilung beruhenden (redistributiven) Organisationsform haben noch nicht hin-reichend die sehr wahrscheinlichere Situa-tion ins Auge gefaßt, daß es innerhalb einer Region sehr viel mehr ständige Unausge-wogenheit gibt, die eine ebenso ständige Unausgewogenheit des Güterfl usses begüns-tigt.

6 Vgl. Finney 1966, Ehrle 1977.7 Flannery und Coe 1968, desgleichen San-

ders und Price 1968.8 Sahlms 1963 (vgl. Sahlms 1965).9 Vgl. Sanders [und andere] 1979, dort bes.

Seiten 400-401.10 Boserup 1965.11 Dieses Modell beruht – wie so viele andere –

auf einer ideologischen Sicht. Mit anderen Worten: Es setzt voraus, daß der Mensch, sobald er nur die Chance dazu hat, auf-grund eines ihm innewohnenden Prinzips versuchen wird, seinen Lebensstandard zu erhöhen, kulturelle Werte zu schaffen und neue Arten und Weisen zu erproben, seine

Zeit zu nutzen. All diese Ansichten hängen mit dem von Trigger (1981, Seite 150) auf die Aufklärung zurückgeführten Glauben zusammen, technischer Fortschritt sei ein nach eigenen Gesetzen ablaufender Prozeß rationaler Weiterentwicklung und zugleich die Triebkraft der kulturellen Evolution.

12 Bennett 1976a.13 Harns 1979. Nachdem er eine ganze Reihe

von Prinzipien dargelegt hat, an denen ich kaum etwas auszusetzen fi nde, kommt Harris schließlich zu seiner eigenen mate-rialistischen Kulturauffassung. Sie besteht im wesentlichen aus Kosten/Nutzen-Argu-menten, wobei es ein vital-revolutionärer »Nutzwert« ist, den »Lebensstandard« zu er-höhen oder zumindest die Kosten zu seiner Erhaltung zu senken (vgl. insbes Harns a. a. O., Seiten 85-114). Auch dies ist letztlich eine gradualistische Auffassung.

14 Das Prinzip des geringsten Aufwandes ver-trat am entschiedensten Zipf 1949.

15 »Das Gesetz des geringsten Risikos bedeu-tet, daß jemand, vor die Wahl gestellt, sich für diejenige Lösung entscheidet, die mit dem geringsten Risiko verbunden ist« (San-ders [und andere] 1979, Seite 360).

16 Pyke [und andere] 1977, Charnov 1976.17 Ich will damit nicht den Eindruck erwecken,

als ob ich nie selbst schon gelegentlich wirt-schaftliche Gesichtspunkte für Prinzipien der Evolution gehalten habe, denn es ist wohl so, daß wir alle, soweit wir uns je mit der Frage beschäftigt haben, worin Evolution und Fortschritt bestünden, hin und wieder ökologische Prozesse unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten. Hier möchte ich lediglich darauf hinweisen, daß wir uns immer deutlicher dieser »funktionalisti-schen« Auffassung bewußt werden sollten. Wirtschaftstheorien haben, selbst wenn sie auf soliden Grundlagen beruhen, mehr mit dem Verhalten der Träger eines (gesell-schaftlichen, kulturellen) Systems zu tun als mit den Mustern der Wechselbeziehungen zwischen einem solchen System und sei-nem ökologischen Umfeld. Mir scheint, dies bringt uns am weitesten voran, wenn wir uns über den Ansatz evolutionärer Prozesse den Kopf zerbrechen. Wer dagegen in der Dynamik eines Systems nichts anderes sieht als eine Verallgemeinerung hinsichtlich des normativen Verhaltens seiner Träger, liegt, so fürchte ich, völlig daneben, was die Organisa-tion ökologischer Artikulationen zwischen Systemen angeht.

268

18 Die meisten philosophischen Positionen innerhalb der Sozialwissenschaften, die sich auf den Begriff »Evolution« bezogen, gingen von der Annahme einer inneren Dynamik aus. Vgl. Dunnell 1980a. Zu meinem eigenen früheren Eintreten für eine selektionistische Position s. Binford 1972b.

19 Ich möchte hier zu bedenken geben, daß es in der Evolutionsgeschichte kulturell integrierter Systeme bedeutendere Organi-sations-Merkmale gibt. Sie alle haben etwas von dramatischen Veränderungen, etwas »Interpunktionsartiges«, und es fehlt anschei-nend jene Art der Kontinuität, die Anhanger einer gradualistischen Betrachtungsweise erwarten.

20 Dunnel (l980 a) äußert sich in seinem jüngsten Überblick über evolutionistische Denkweisen in der Völkerkunde gegen je-den Vitalismus und tritt statt dessen für eine auch von mir vertretene selektionistische Betrachtungsweise ein. Andererseits verwirft er gewisse paradigmatische Distinktionen, die ihm nicht sicher genug fundiert schei-nen. Beispielsweise kritisiert er Auffassungen wie diese: Kulturelle Evolution sei von der Evolution im allgemeinen zu sondern, denn »Kultur erkläre sich nicht durch evolutionä-re Prinzipien und Mechanismen, wie sie in der Welt insgesamt wirken, sondern durch Prozesse, die ausschließlich ihr selbst eigen sind« (Seite 48). Dunnell hält dergleichen für verheerend. In meinen Augen handelt es sich aber nur um ein törichtes Posieren, das, wenn man es ernst nimmt, in jenes Spottbild produktiven Denkens ausartet, das zur Zeit als »Soziobiologie« in manchen Kreisen sehr en vogue ist. Bei dem Beispiel, das ich soeben gegeben habe, verhält es sich so, als ob der Vertreter einer biologischen Art im Wett-bewerb mit seinen Artgenossen plötzlich die Fähigkeit erworben habe, die Dynamik der biologischen Selektion auf ein »uner-wartetes« Organ – den kleinen Finger, zum Beispiel – zu verlagern und dadurch nicht den Fortbestand seiner Art zu sichern vermag, sondern nun auch ein echtes Wettbewerb-sproblem für die kleinen Finger schafft! Wenn eine Organisation zu dieser Art von Restrukturierung imstande ist (und Kultur ist dies sicher), dann scheint es mir besser, gewisse Eigenschaften dieses Phänomen-Bereiches unter die Lupe zu nehmen, als sie auf eine schlichte Analogie mit Genen zu re-duzieren, denen die Fähigkeit innewohnt, die erfolgreiche Reproduktion der Species (in

dieses Wortes buchstäblicher Bedeutung als »Art« und »Aussehen«) zu sichern. Dunnells Argumentation zielt völlig an dem vorbei, was an den vom Menschen entwickelten An-passungssystemen gerade interessant ist: sie sind echt extrasomatisch (d. h. außerhalb des menschlichen Körpers) und müssen daher als extrasomatische (außerkörperliche, sich außerhalb des Körpers abspielende) Prozesse begriffen werden.

21 Vgl. Renfrew 1969, Parsons und Price 1971 sowie Rathje 1971.

22 Fogel 1963.23 Walthall [und andere] 1979.24 Prüfer 1961.25 Griffi n [und andere] 1969.26 Struever und Wouart 1972.27 Z. B. Judge 1979, desgl. Cordeil und Plog

1979, insbes. Seiten 419-424.28 Nicht selten stößt man auf die Behauptung,

in Gebieten wie im Südwesten Nordame-rikas sei der Schritt hin zur komplexen Gesellschaft gleichzeitig ein Schritt hin zu größerer intellektueller »Freiheit« von der Unterdrückung« durch die stammesge-schichtliche Vergangenheit, die nur »egalitäre«, gleichmachende Gesellschaftsformen ge-kannt habe. Selbstverständlich ist es möglich, ja nahezu gewiß, daß es in der Vergangenheit Gesellschaftsformen gab, über die sich in den aus der Kolonialzeit stammenden Schil-derungen nicht ein einziges Wort fi ndet. Dennoch fürchte ich, daß das, was man an Belegen für das Vorhandensein einstiger Zentralgewalten und Umverteilungssysteme besitzt, sowohl dem Umfang als auch der Beschaffenheit nach allzu fragmentarisch ist. Müssen wir denn wirklich davon ausgehen, daß die Menschheit nur dann bedeutende Leistungen im Bereich koor-dinierter Arbeit vollbringt, wenn sie durch machtvolle Zentralgewalten »organisiert« ist.

29 Vgl. Gould und Lewontin. 1979 Überblick über die zur Zeit vertretenen philosophi-schen Positionen bei Wenke 1981.

30 Binford 1981a, bes. Seiten 83-85 und 184-197.

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AAbri Pataud 170, 171 Acheuléen 74, 75, 89 Ackerbau 211, 213, 215 Affenmensch 30, 47 Alyawara-Ureinwohner 157, 158,

160, 174-176, 177, 179, 180, 182

Amsden, Ch. 108, 197, 220 Anaktiqtauk 162, 203 Anaktuvuk-Paß (Alaska) 104, 106-

107,113,121,134,158, 161, 203 Anaktuvuk-Tal (Alaska) 107, 118,

125, 138, 161, 203 Anavik Springs (Alaska) 120-

126,128,135,143, 180, 200Anden (Südamerika) 214 Antilope 32, 16-37, 52, 54, 65, 68archäologischer Befund 13, 15, 20,

26-27, 41-42, 75, 78, 90, 94-95, 97, 99, 124, 143, 146, 155, 168, 197, 222, 245, 252, 255

archäologische Deutung 16, 18, 26, 40, 41, 184, 253

archäologisches Material 13-15, 17-20, 26-27, 32, 34, 37, 40-41, 48, 50, 52-58, 60, 75, 78, 82, 87, 90, 94, 96-102, 110, 116-117, 122,124, 142, 184, 208, 248, 252-254

archäologische Schichten 22, 34, 45, 47, 49, 52-53, 58, 66, 69, 72, 82, 90-91

Ardrey, R. 32 Athabasken-Indianer 222 Aurignacien 86-87, 90, 171 Ausgrabungstechnik 16, 96 Australopithecus prometheus 30, 32,

35-36, 41, 48-49, 52, 54, 224

BBasislager 21, 72, 81, 135Bennett, J 237Bestattungssitten 99Bevölkerungszunahme -› Bevölke-

rungszuwachs

Personen- und Sachregister

Bevölkerungszuwachs 222, 224, 226-227, 244

big-man-System 234-236, 245Binford, L R. 100, 108, 151, 161Binford, S. 96, 100Birhor 145-147Bordes, F. 85, 90-94, 96, 99-101,

112, 117, 148Borstenhirse 214-215Braidwood, R 210-211Brain, C. K. 40-45, 47-49, 52, 58,

61, 74Brautwerbungszone 119Breuil, H. 88-89, 94Broom, R. 41Buschmanner 116, 143, 145, 155,

182, 184-185, 199Bronzespeer 82

CCaches 122, 128, 130, 139, -› auch

Fleischvorratslager Campbell, D. 108Childe, V. G 87, 209-210, 212, 217Clark, G. 85 Cohen, M. 217, 228Combe Grenal (Frankreich) 92,

95, 102

DDart, R. 28-30, 32-33, 35-38, 40-43,

48, 60, 74 Darwin, Ch. 208-209, 248 Dendrochronologie 98 Dinotherium 37 Domestikation 106, 211 Dreipenodensystem 82 Dubois, E. 84 dynamischer Aspekt 13, 15, 17

EEidechse 36-37Elandsfontein 33, 69-72Elch 226Elefant 21-22, 37, 56-57Elfenbein 86

Ente 218, 226Eskimo 104-105, 109, 112, 114, 117,

119, 130, 132, 152, 154, 160, 180, 183, 187-189, 196-197, 201-203, 217-218, 220-221, 225, 255, -› auch Nunamiut-Eskimo

Ethnoarchäologie 18-19, 148Eule 47Evolution 22, 34, 40, 86, 88, 237

FFarbstoffe 80Faustkeile 82, 86, 89, 91-92Feuerstellen-› FeuerstättenFeuerstätten 19-20, 30, 185-187,

194Fisch 226-227, 230, 233Flannery, K. 214, 227-228, 235Fleischvorratslager 109, 122, 128, 142,

218, -› auch CachesFleure, H 209Fossilien 20-21, 29, 34Fritz, J 15Fruhmensch 20-21, 27, 29-32,

34-37, 41, 48-49, 54-55, 57-58, 72-74, 81-82, 96-97, 252

Fundschichten-› archäologische Schichten

Fundstätten 14, 16-17, 21, 27, 30, 33, 40-42, 47, 49, 58, 60, 72-75, 79, 81, 91, 93, 99, 101, 111-112, 116, 122, 124, 142, 148, 171, 198, 203, 249, 252, 254

FürstentumFußabdrucke 21, 28G Garten Eden 37, 213-216, 218

Garrod, D 88 Gauscha-Pfanne (Namibia) 67, 155

Gazelle 57 Geburtszone 119 Geier 62, 66 Gesellschaftsformen 229-230, 236Getreide 223 Gilgil (Kenia) 59

279

Giraffe 21-22, 30, 57 Gnu 62, 64-65 Gorilla 29 Grabungsstätte 13 Gradualismus 211, 216 Grizzlybär 52, 218 Grubenhauser 128, 130 G/wi-Buschmänner 18

HHadar 33Hamster 53Hard, R. 180, 183Harlan, J 214Harris, M 237Hassan, F 214, 228Häuptlinge 231-234Hawkes, C 254Hayden, B 173, 228Heimfl uren 38, 40-41, 49, 55, 58-59,

61, 66, 72-74, 81 Hempel, C G 210 Higgs, E 211 Hill, A 52-53Hirsch 123, 215Hochkulturen 229, 246Hodder, I 255Höhlenbär 80Hommiden 21-22, 26, 33-34, 36-

38, 40-41, 44, 46, 48, 58-59, 60-61, 66, 72-73, 81

Homo erectus 224Homo sapiens 222—223Hongkong 240Hottentotten 48-49Howell, C 36Hughes, A. R 33Hugo, Z. 107Hund 48, 51, 52, 152, 154, 197Hyäne 32-34, 41-42, 46-48, 52-54,

57, 63-68, 72

IIdealisten 255Impala 39, -› AntilopeIsaac, G. 38-40, 59-60

JJemez-Puebloindianer 200-201

KKalahari 185Känguruh 174-177, 179, 182, 218Karibu 17, 104, 107, 121-126, 130,

132-136, 138, 140, 142-143, 164, 180, 197, 200, 219-221, 226

Keeley, L 75Kimberley 28Klasies 33Klassifi kation 78, 87, 90, 96, 148Klein, R. 53Knochenmaterial -› archäologisches

MaterialKongumuvuk-Tal (Alaska) 128,

136, 138, 140-141, 143, 158Koobi Fora 33, 39, 75Kroeber, A L 94Kromdraai 33Krüger-Nationalpark

33

!Kung-Buschmann 17, 33, 143-144, 156, 158, 174, 185-186, 192, 203, -› Buschmänner

LLabna (Mexiko) 231 Lachs 230Lake Tahoe (Kalifornien) 124 Landwirtschaft 23, 106, 108,

111,208-210,212-213, 215-216, 222, 226-227, 229, 252

Leakey, L. 34-37, 41, 52 Leakey, M. 34-35, 37, 52 Leakey, R. 37, 52Lebensweise, seßhafte -›Seßhaf-

tigkeitLeBlanc, S. 15Leopard 34, 42-49, 58, 66Leroi-Gourhan, A 153-154, 164-

165, 167-168, 192, 194Levi-Strauss, Cl. 255Little Contact Creek (Alaska) 138Lorenz, K. 34Löwe 30, 34, 52-54, 57, 66-68

MMacNeish, R. 116Magdalénien 86, 164-165, 167Manuport 71Marxisten 255Makapansgat 30, 33, 44, 48, 52Masken-Fundstätte 161-162 (Alaska)Masarwa-Buschmänner 166Mason, O 85Materialisten 255Meerschwein 226Megalith 254Methode 16, 18, 26-29, 34, 40, 47, 52,

75, 78-79, 90, 94, 96, 100, 105, 110-112, 136, 146-148, 154, 156, 207, 214, 248, 252, 255

Mistkäfer 54Monopol 230-231, 236

Monument 81-83, 86Moustérien 74, 80-81, 84, 86, 91-94,

97, 99-102, 105, 108, 109, 111-113, 117, 148-149, 202, 208, 252

Movius, H. I. 170-171Mrabri 33, 168-169Muster 19, 44, 53-54, 72, 75, 78-79,

82, 89, 91-94, 96, 99, 101, 110, 112, 117, 122, 128, 136, 145-146, 150, 152-153, 156, 161, 164, 167, 169, 179-180, 185, 190, 204, 228, 236

NNashorn 56 Naskapi-Indianer 120 National Geographic Society 36 Navajo-Indianer 17, 23, 50-52,

156-157, 180, 211, 238 Neandertaler 80-81, 84, 90, 100,

142, 224 Nelson, N. C. 85 Neue Archäologie 15, 16, 108-111,

252 Newgrange (Irland) 82, 254Ngatatjara-Ureinwohner 168,

186, 219Nharo-Buschmänner 144, 160, 242Niederberger, C. 215Nossob 61, 63Nunamiut-Eskimo 16—17, 23, 52,

106, 112-117, 119, 121-124, 128, 130, 134-136, 138-143, 146-148, 151, 159, 164, 180, 185, 187, 194, 198, 200, 220, 255

OO‘Connell, J. 174, 177 Okapi 36-37 O’Kelly, M. 254-255 Okinawa 209, 221, 238, 240 Ökosysteme 58, 61, 252 Oldowan-Schichten 37, 53-55 Olduwai-Schlucht 21, 33-38, 40,

53-56, 58 Olorgesailie 34 Osborn, H. F. 84

PPaläanthropologie 29 Paläolithikum 14, 34, 74, 85-86,

88-90Paläontologie 16, 82 Palangana (Alaska) 195 Palanganas Haus 187, 189-194,

197-199

280

Panama-Stadt 244 Pavian 58-59 Peake, H. 209 Perlman, S. 214 Perkins, D. 226 Perthes, B. de 86 Peyrony, D. 90, 92, 94 Pferd 36-37 Piltdown (England) 84 Pincevent (Frankreich) 164-168 Pintupi-Stamm 173 Pithecanthropus 84 Pitt-Rivers, General 82-83 Pleistozän 31, 36, 38, 53, 55, 57,

73, 89, 210, 222 Pliozän 31, 38, 55 Plog, F. 15 Pompeji 27 Popper, K. 78-79 Positivismus 15, 110 Powhatan-Indianer 233 Primaten 21, 29, 31, 38, 46-47,

58, 66 RRadiokarbondatierung 16, 98 Rankin (Tennessee) 249 Rathje, W. 154 Red Lake (Arizona) 211, 238 Redman, C. 15 Reifezone 119 Relikte 81-83 Rosette (Stein von) 17 Roth, H. L. 208 Ryukyu-Inseln 209, 215, 238,

240

SSahara 209Sahlins, M. 207, 230-232, 234-

236, 243, 246Schabrackenhyäne —›HyäneSchaf 50, 52, 253, 210Schwein 36

Schwarzfuß-Indianer 188Schepers, G. 41Schiffer, M. 154, 201-202Schildkröte 33, 36-37Schimpanse 29Seehund 222Sekele 184Seri-Indianer 145Seßhaftigkeit 213-220, 227, 232,

243Solutré (Frankreich) 82Solutréen 86-87Springbock 63statischer Aspekt 13, 15, 17Steingeräte-›SteinwerkzeugeSteinwerkzeuge 17-18, 21-22, 30,

35-38, 41, 54, 56, 59, 66, 72-73, 82, 86, 89-90, 99-100, 106, 112, 124, 149-150, 188, 193

Stonehenge 82Strukturalisten 216, 255Swartkrans 41, 43, 47, 49Systemtheorie 216

TTarahumara-Indianer 180, 183 Tasmanien 85 Taung 28-29, 33 Taung-Baby 29 Taxonomie -› Klassifikation Taylor,

W. 26-27 Thomsen, Ch.J. 82 Tiburón (Insel) 145 Tonware 18 Toolkit 154Texkoko-See (Mexiko) 215 Töpferware 241 Trappe 174, 177, 179 Tucson (Arizona) 17 Tulugak-See (Alaska) 108, 130-

133, 135, 141-142, 148, 189, 195

Tulukkâna (Alaska) 140, 141 Tüpfelhyäne -› Hyäne Typologie -› Klassifi kation

UUrmensch-› FrühmenschVerhaltensmerkmale 20-22, 30-31,

36, 38, 40, 74 Verhaltensweisen 20-22, 26-27,

29-30, 32, 42, 56, 78, 81, 130, 136, 143 Vorfahren 20-21, 26, 28-32, 35, 54, 72-74, 80, 150

WWagner, P. 151 Washburn, S. L. 32, 36 Washo-Indianer 124 Wasserloch -› Wasserstelle Wasserstelle 55, 58, 61-64, 66, 68,

72, 74 Watson, P. 15 Whallon, R. 100 Whitehead, A. 150 Witters, D. 109 Wittfogel, K. 207 Witthoft, J. 99 Wolf 52-53 Workman, R 108 Wright, H. 100

YYanbabu (Okinawa) 221Yaeyama 209, 215Yellen, R 143-145, 174, 199, 203Yukon 221 Yucatán(Mexiko)231

ZZähne 56, 214Ziege 50Zinjanthropus 35-36, 41, 54Zivilisation -›Hochkultur

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