Libyen: Volksaufstand, Bürgerkrieg oder militärische Aggression?

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  • 8/7/2019 Libyen: Volksaufstand, Brgerkrieg oder militrische Aggression?

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    Libyen: Volksaufstand, Brgerkrieg oder militrische Aggression?

    von Mohamed Hassan*

    Seit drei Wochen stehen sich dem Colonel Gaddafi ergebene Truppen und aus dem

    Osten des Landes stammende Oppositionskrfte gegenber. Wird Gaddafi nachBen Ali und Mubarak der nchste Diktator sein, der fllt? Ist das, was sich inLibyen abspielt, mit den Volksaufstnden in Tunesien und gypten vergleichbar?Wie sind die Eskapaden und Verwandlungen des Colonel zu verstehen? Warumbereitet die NATO den Krieg vor? Wie lsst sich der Unterschied zwischen einemguten und einem schlechten Araber verstehen?

    In diesem neuen Kapitel unserer Serie Die islamische Welt verstehen antwortetMohamed Hassan auf diese Forschung und Handeln betreffenden Fragen.

    (Interview: Grgoire Lalieu & Michel Collon)

    Hat die arabische Revolution nach Tunesien und gypten jetzt auf Libyenbergegriffen?

    Was sich derzeit in Libyen abspielt, ist andersartig. In Tunesien und gypten war derMangel an Freiheiten augenscheinlich. Aber es sind die beklagenswerten sozialenVerhltnisse, die die Jungen tatschlich zum Aufstand getrieben haben. Tunesier undgypter hatten keine Zukunftsaussichten.

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    Das Regime Muammar Gaddafis ist korrupt, nimmt einen groen Teil der Reichtmer inBeschlag und hat immer unnachsichtig jeden Protest unterdrckt. Aber die sozialenBedingungen der Libyer sind besser als die in den Nachbarlndern. Die Lebenserwartungin Libyen ist hher als im Rest Afrikas. Gesundheits- und Erziehungssystem sind ganzordentlich. Libyen ist brigens eines der ersten afrikanischen Lnder, das die Malaria

    ausgerottet hat. Auch wenn es starke Ungleichheiten in der Verteilung des Reichtumsgibt, beluft sich das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner auf 11 000 Dollar - eines derhchsten in der arabischen Welt. In Libyen findet man also nicht die gleichen objektivenBedingungen vor, wie sie zu den Volksaufstnden in Tunesien und gypten gefhrthaben.

    Wie erklren Sie dann das, was sich gerade in Libyen abspielt?

    Um die derzeitigen Ereignisse gut zu verstehen, mssen wir sie in ihrem geschichtlichenZusammenhang betrachten. Libyen war frher eine ottomanische Provinz. 1830bemchtigte sich Frankreich Algeriens. Auerdem betrieb der unter der Oberherrschaftdes ottomanischen Reichs stehende gyptische Gouverneur Mohamed Ali einezunehmend unabhngige Politik. Mit den Franzosen in Algerien auf der einen Seite undMohamed Ali in gypten auf der anderen frchteten die Ottomanen, die Kontrolle berdie Region zu verlieren: sie schickten ihre Truppen nach Libyen.

    Zu dieser Zeit bte die Bruderschaft der Senoussis im Land einen sehr starken Einflussaus. Sie war von Said Mohammed Ibn Ali as Senoussi gegrndet worden, einem Algerier,der, nachdem er in seinem Land und in Marokko studiert hatte, seine Sichtweise desIslam in Tunesien und Libyen predigte.

    Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann Senoussi, zahlreiche Anhnger zu gewinnen, aberer wurde von gewissen ottomanischen religisen Autoritten, die er in seinen Predigtenkritisierte, nicht gut angesehen. Nach einer Reise nach gypten und Mekka beschlossSenoussi, endgltig in die Kyrenaika im Osten Libyens ins Exil zu gehen. (Die Kyrenaikaist eine der drei historischen libyschen Groprovinzen, Anm. d. bers.).

    Seine Bruderschaft entwickelte sich dort und organisierte das Leben in dieser Region,indem sie dort Steuern erhob, Konflikte zwischen den Stmmen schlichtete usw.. Siebesa sogar ihre eigene Armee und bot Begleitdienste fr die Hndlerkarawanen an, diedort durchreisten. Letztendlich wurde die Senoussi-Bruderschaft zur faktischenRegierung der Kyrenaika, wobei sie ihren Einfluss sogar bis in den Norden des Tschadausdehnte. Dann jedoch setzten sich die europischen Kolonialmchte in Afrika fest,wobei sie die Subsahararegion des Kontinents aufteilten. Das hatte negative

    Auswirkungen fr die Senoussis. Zustzlich erschtterte die Invasion Libyens durchItalien ernsthaft die Vorherrschaft der Bruderschaft in der Region.

    2008 zahlte Italien an Libyen Entschdigungen fr die Kolonialverbrechen. War dieKolonialisierung denn so schlimm? Oder wollte Berlusconi sich blo beliebtmachen, um Handelsabkommen mit Gaddafi abzuschlieen?

    Die Kolonialisierung Libyens war frchterlich. Zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts

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    begann eine faschistische Gruppe, eine Propaganda zu verbreiten, welche vorgab, dassItalien - das durch die thiopische Armee in der Schlacht von Adua 1896 besiegt wordenwar die Vorherrschaft des weien Mannes auf dem schwarzen Kontinentwiederherstellen msse. Man msse die groe zivilisierte Nation von dem Angriffreinwaschen, der ihr von den Barbaren zugefgt worden war. Diese Propaganda

    behauptete, Libyen sei ein wildes, von einigen rckstndigen Nomaden bewohntes Land,und es sei den Italienern angemessen, sich in dieser angenehmen Region mit ihrerPostkartenlandschaft niederzulassen.

    Die Invasion in Libyen fhrte zum italienisch-trkischen Kriegvon 1911, einem besonders blutigen Konflikt, der mit dem SiegItaliens ein Jahr spter endete. Allerdings kontrollierte dieeuropische Macht nur die Region Tripolitanien (die zweite derdrei historischen Groprovinzen, im Nordwesten Libyens;Anm. d. bers.) und musste sich mit einem hartnckigenWiderstand im Rest des Landes, speziell der Kyrenaika,

    auseinandersetzen. Der Clan der Senoussis untersttzte dortOmar al Mokthar, der einen bemerkenswerten Guerillakampf inden Bergen leitete. Er fgte der italienischen Armee ernsthafteSchden zu, obwohl sie besser ausgerstet und zahlenmigberlegen war.

    Omar al Mokthar

    Zu Beginn der dreiiger Jahre ergriff Mussolinis Italien schlielich radikale Manahmen,um den Widerstand zu beseitigen. Die Unterdrckung wurde extrem gewaltttig undeiner ihrer hauptschlichen Metzger, der General Rodolfo Graziani, schrieb: Dieitalienischen Soldaten waren berzeugt, dass sie in einer edlen und und zivilisatorischenMission unterwegs waren.(...) Sie waren es sich schuldig, diese menschliche Pflicht zuerfllen, koste es was es wolle.(...) Wenn die Libyer sich nicht vom Wohlbegrndetseindessen, was ihnen vorgeschlagen wurde, berzeugen lieen, wrden die Italiener einendauerhaften Kampf gegen sie fhren und das ganze libysche Volk zerstren mssen, umzum Frieden zu gelangen, zur Friedhofsruhe...

    2008 zahlte Silvio Berlusconi Entschdigungen fr die Kolonialverbrechen an Libyen.Das geschah natrlich aus Eigeninteresse: Berlusconi wollte sich bei Gaddafi lieb Kindmachen, um Wirtschaftspartnerschaften abzuschlieen. Dessen ungeachtet kann mansagen, dass das libysche Volk schrecklich unter dem Kolonialismus gelitten hat. Es wrenicht bertrieben, hier von Vlkermord zu sprechen.

    Wie errang Libyen seine Unabhngigkeit?

    Whrend die italienischen Kolonisten den Widerstand in der Kyrenaika unterdrckten,ging der Chef der Senoussis, Idriss, nach gypten ins Exil, um mit den Englndern zuverhandeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das europische Kolonialreichzunehmend zerschlagen, und Libyen wurde 1951 unabhngig. Idriss bernahm -untersttzt von Grobritannien - die Macht. Ein Teil der libyschen Bourgeoisie -beeinflusst durch den arabischen Nationalismus, der sich in Kairo entwickelte - wnschte

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    jedoch, dass Libyen an gypten angegliedert wrde. Aber die imperialistischen Mchtewollten keine groe arabische Nation sich entwickeln sehen. Sie untersttzten daher dieUnabhngigkeit Libyens, indem sie ihre Marionette Idriss dort platzierten.

    Entsprach der Knig Idriss ihrenErwartungen?

    Voll und ganz. Mit der Unabhngigkeitfanden sich die drei Regionen, aus denenLibyen gebildet wird - Tripolitanien, derFessan und die Kyrenaika - in einembundesstaatlichen System vereint. Man mussjedoch wissen, dass das libysche Territoriumdreimal grer als Frankreich ist. Infolgedes Mangels an Infrastrukturen konnten die

    Grenzen dieses Territoriums erst nach derErfindung des Flugzeugs klar bestimmtwerden. Und 1951 zhlte das Land nur eine

    Million Einwohner. Auerdem hatten die drei neu vereinten Regionen eine sehrunterschiedliche Kultur und Geschichte. Schlielich fehlten dem Land auch Straen, diees den Regionen erlaubt htten, miteinander zu kommunizieren. Tatschlich befand sichLibyen in einem sehr rckstndigen Zustand, es war keine wirkliche Nation.

    Knnen Sie dieses Konzept nher erlutern?

    Der Nationalstaat ist ein Konzept, das mit dem Erscheinen der Bourgeoisie und desKapitalismus verknpft ist. In Europa wollte die kapitalistische Bourgeoisie whrend desMittelalters ihren Handel in mglichst groem Mastab entwickeln, wurde aber durchsmtliche Zwnge des Feudalsystems gebremst. Die Gebiete waren in zahlreiche kleineEinheiten zerstckelt, was die Hndler zwang, eine groe Anzahl von Abgaben zuentrichten, um eine Ware von einem Ort zum anderen zu liefern; die verschiedenenPrivilegien, die man sich bei den Feudalherren verschaffen musste, sind dabei noch nichteinmal mitgezhlt. Alle diese Hemmnisse wurden von den brgerlich-kapitalistischenRevolutionen abgeschafft, welche die Bildung von Nationalstaaten mit groen nationalenMrkten ohne Hindernisse erlaubten.

    Aber die libysche Nation war gebildet worden, als sie sich noch in einemvorkapitalistischen Stadium befand. Ihr fehlten Infrastrukturen, ein groer Teil derBevlkerung bestand aus Nomaden, die unmglich kontrolliert werden konnten, dieAufspaltungen innerhalb der Gesellschaft waren sehr stark, die Sklaverei wurde nochpraktiziert... Auerdem hatte Knig Idriss keinerlei Plan fr die Entwicklung des Landes.Er war vollkommen von den Hilfen der USA und Grobritanniens abhngig.

    Warum untersttzten ihn Grobritannien und die USA? Wegen des ls?

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    1951 war das libysche l noch gar nicht entdeckt. Aber die Angelsachsen hattenMilitrbasen in diesem Land, das eine strategische Position hinsichtlich der Kontrolle desRoten Meers und des Mittelmeers einnimmt.

    Erst 1954 entdeckte ein reicher Texaner, Nelson Bunker Hunt, das libysche l. Zu dieser

    Zeit wurde das arabische l fr 90 Cent pro Barrel verkauft. Aber das libysche l wurdefr 30 Cent gekauft, so rckstndig war das Land. Es war vielleicht das rmlichste ganzAfrikas.

    Geld kam jetzt aber wegen des ls herein. Wozu diente es?

    Knig Idriss und sein Clan bereicherten sich persnlich. Ebenso verteilten sie einen Teilder leinknfte an die Chefs der anderen Stmme, um die Spannungen zu mildern. Dankdes Petroleumhandels entwickelte sich eine kleine Elite, und einige Infrastrukturenwurden aufgebaut, vor allem an der Mittelmeerkste, dem fr den Auenhandelinteressantesten Teil. Aber die lndlichen Zonen im Landesinneren blieben uerst arm,

    und Massen von Armen sammelten sich in den Elendsvierteln rund um die Stdte. Dasging so bis 1969, als drei Offiziere den Knig strzten. Unter ihnen befand sich Gaddafi.

    Wieso ging die Revolution von Armeeoffizieren aus?

    In einem tiefgreifend von Stammesaufteilungen gekennzeichneten Land war die Armeetatschlich die einzige nationale Institution. Libyen als solches existierte nur mittelsdieser Armee. Daneben besaen die Senoussis des Knigs Idriss ihre eigene Miliz. Aberin der nationalen Armee konnten sich die aus verschiedenen Regionen und Stmmenkommenden Jugendlichen zusammenfinden.

    Gaddafis Entwicklung fand zunchst innerhalb einer nasseristischen Gruppe statt, aberals er begriff, dass diese Formation nicht in der Lage sein wrde, die Monarchie zustrzen, engagierte er sich in der Armee. Die drei Offiziere, die Knig Idriss absetzten,waren sehr durch Nasser beeinflusst. Gamal Abdel Nasser selbst war ein Offizier dergyptischen Armee, die Knig Faruk strzte. Vom Sozialismus inspiriert, stellte sichNasser der Einmischung der neokolonialen Mchte entgegen und pries die Einheit derarabischen Welt. Er nationalisierte im brigen den Suezkanal, der bis dahin vonFrankreich und Grobritannien betrieben wurde, wodurch er sich 1956 Wut undBombardierungen seitens des Westens zuzog.

    Der revolutionre Panarabismus Nassers hatte eine bedeutende Auswirkung auf Libyen,besonders innerhalb der Armee und auf Gaddafi. Die libyschen Offiziere im Umkreis desStaatsstreichs von 1969 folgten den gleichen Vorstellungen wie Nasser.

    Welche Auswirkungen hatte die Revolution in Libyen?

    Gaddafi hatte zwei Mglichkeiten. Entweder das libysche l in den Hnden derwestlichen Gesellschaften belassen, wie es Knig Idriss getan hatte. Libyen wre dannwie die l-Monarchien am Golf geworden, wo die Sklaverei noch praktiziert wird, wo

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    zu verstehen, wie sein Regime abgedriftet ist, mssen wir den Kontext, welcher sich nichtzu seinen Gunsten auswirkte, untersuchen, aber auch die persnlichen Irrtmer desColonels.Wir haben zunchst gesehen, wie der Colonel in Libyen aus dem Nichts hervorgegangenist. Das Land war sehr rckstndig. Es gab daher keine gebildeten Leute oder eine starke

    Arbeiterklasse, die die Revolution htten untersttzen knnen. Die Mehrzahl derMenschen, die eine Ausbildung erfahren hatten, waren Teil der Elite, welche dielibyschen Reichtmer an die neokolonialen Mchte verramschte. Selbstverstndlichkamen diese Leute nicht der Revolution zu Hilfe, und die Mehrzahl von ihnen verlie dasLand, um die Opposition im Ausland zu organisieren.

    Darber hinaus waren die libyschen Offiziere, die Knig Idriss strzten, sehr von Nasserbeeinflusst. gypten und Libyen planten brigens, eine strategische Partnerschafteinzugehen. Aber der Tod Nassers 1970 lie das Vorhaben ins Wasser fallen, undgypten wurde ein konterrevolutionres, auf den Westen ausgerichtetes Land. Der neuegyptische Prsident, Anwar al-Sadat, nherte sich den Vereinigten Staaten an,

    liberalisierte zunehmend die Wirtschaft und verbndete sich mit Israel. 1977 brach sogarein kurzer Konflikt aus. Stellen Sie sich die Lage vor, in der sich Gaddafi befand: dasLand, das ihn inspiriert hatte, und mit dem er eine Allianz von grter Wichtigkeit htteabschlieen mssen, wurde pltzlich sein Feind!

    Noch ein anderes Element wirkte sich in diesem Zusammenhang zu Ungunsten derlibyschen Revolution aus: der erhebliche Rckgang des lpreises in den achtziger Jahren.1973 beschlossen die lerzeugerlnder - im Zusammenhang mit dem israelisch-arabischen Krieg - ein Embargo, durch das der Preis des Barrels blitzartig nach obenschoss. Dieses Embargo rief den ersten groen Reichtumstransfer vom Norden in denSden hervor. Aber in den achtziger Jahren fand das statt, was man eine l-Konterrevolution nennen knnte, welche von Reagan und den Saudis in Szene gesetztwurde. Saudiarabien erhhte seine lproduktion betrchtlich und berflutete damit denMarkt, was einen radikalen Preisverfall hervorrief. Der Preis des Barrels sank von 35 auf8 Dollar.

    Hat sich Saudiarabien damit nicht selbst ins Bein geschossen?

    Das hatte in der Tat negative Auswirkungen auf die saudische Wirtschaft. Aber l istnicht das Wichtigste fr Saudiarabien. Seine Beziehung zu den Vereinigten Staatenrangiert vor allem anderen, denn es ist die Hilfe aus Washington, die es dem saudischenHerrscherhaus ermglicht, sich an der Macht zu halten.

    Der Erdrutsch der lpreise hatte katastrophale Folgen fr zahlreiche lerzeugendeLnder, die sich daraufhin verschuldeten. Und das alles spielte sich nur zehn Jahre nachGaddafis Machtergreifung ab. Der libysche Fhrer, aus dem Nichts kommend, sah jetztzustzlich die einzigen Mittel, die ihm zur Verfgung standen, um etwas aufzubauen, mitdem lpreisverfall wie Schnee in der Sonne schmelzen.Bercksichtigen Sie zugleich, dass diese Konterrevolution den Fall der UdSSR

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    beschleunigte, die damals in Afghanistan verstrickt war. Mit dem Verschwinden dessowjetischen Blocks verlor Libyen seine hauptschliche politische Untersttzung undfand sich sehr isoliert auf der internationalen Szene vor. Die Isolierung war umso grer,als die Reagan-Administration Libyen auf die Liste der Terrorstaaten gesetzt und ihmeine ganze Serie von Sanktionen auferlegt hatte.

    Und was ist mit den von Gaddafi begangenen Irrtmern?

    Wie ich schon sagte, er war kein groer Visionr. Die rund um sein Grnes Buchentwickelte Theorie ist eine Mischung aus Antiimperialismus, Islamismus,Nationalismus, Staatskapitalismus und noch anderen Dingen. Neben seinem Mangel anpolitischer Vision hat Gaddafi zunchst einen schweren Fehler begangen, als er denTschad in den 70er Jahren angriff. Der Tschad ist das fnftgrte Land Afrikas und derColonel hat damals, zweifellos in Anbetracht dessen, dass Libyen fr seinegrenwahnsinnigen Ambitionen zu klein war, den Aozou-Streifen annektiert. Historischgesehen ist es zutreffend, dass die Senoussi-Bruderschaft ihren Einfluss bis in diese

    Gegend ausbte. Und 1935 wollte der franzsische Auenminister Pierre LavalMussolini kaufen, indem er ihm den Aozou-Streifen anbot. Aber letztendlich nherteMussolini sich Hitler an, und das Abkommen blieb unbeachtet.

    Nichtsdestotrotz wollte Gaddafi dieses Gebiet annektieren und lieferte sich mit Pariseinen Kampf um den Einfluss in dieser frheren franzsischen Kolonie. Zum Schlusshaben die Vereinigten Staaten, Frankreich, gypten, der Sudan und andere reaktionreKrfte der Region die Armee des Tschad untersttzt und die libyschen Truppen zumRckzug gezwungen. Tausende Soldaten und bedeutende Mengen von Waffen wurdenerbeutet. Der Prsident des Tschad, Hissein Habr, verkaufte diese Soldaten an dieReagan-Administration. Und die CIA benutzte sie als Sldner in Kenia undLateinamerika.

    Aber der grte Irrtum der libyschen Revolution besteht darin, alles auf die lressourcengesetzt zu haben. In Wirklichkeit sind ja die menschlichen Ressourcen der grteReichtum eines Landes. Sie knnen einer Revolution nicht zum Erfolg verhelfen, wennSie nicht die nationale Harmonie, die soziale Gerechtigkeit und eine gerechte Verteilungder Reichtmer entwickeln.Nun hat der Colonel aber niemals die berkommenen Diskriminierungen in Libyenbeseitigt. Wie wollen Sie die Bevlkerung mobilisieren, wenn Sie den Libyern nichtzeigen, dass alle - unabhngig von ihrer Zugehrigkeit zu einer Ethnie oder einem Stamm- gleich sind und gemeinsam fr das Wohl der Nation ttig sein knnen? Die Mehrheitder libyschen Bevlkerung ist arabisch, spricht die gleiche Sprache und teilt die gleicheReligion. Die ethnische Vielfalt ist nicht sehr bedeutend. Es war mglich, dieDiskriminierungen abzuschaffen, um die Bevlkerung zu mobilisieren.

    Gaddafi war gleichermaen unfhig, das libysche Volk fr die Herausforderungen derRevolution auszubilden. Er hat das politische Bewusstsein seiner Staatsbrger nichtangehoben und hat keine Partei aufgebaut, um die Revolution zu untersttzen.

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    Aber unmittelbar nach seinem GrnenBuch von 1975 grndet erVolkskomitees, eine Art direkterDemokratie.

    Dieser Versuch einer direktenDemokratie war von marxistisch-leninistischen Konzepten beeinflusst.Aber diese Volkskomitees in Libyensttzen sich auf keinerlei politischeAnalyse, keine klare Weltanschauung. Eshandelte sich um einen Fehlschlag.Gaddafi hat auch berhaupt keine

    politische Partei aufgebaut, um seine Revolution zu untersttzen. Schlielich hat er sichdes Volkes bemchtigt. Die libysche Revolution wurde zum Vorhaben einer einzigen

    Person. Alles drehte sich um diesen charismatischen, von der Realitt abgekoppeltenFhrer. Und wenn die Kluft zwischen einem Fhrer und seinem Volk grer wird,beginnen Sicherheitsmanahmen und Unterdrckung die Leere auszufllen. Die Exzessenahmen zu, die Korruption entwickelte sich in betrchtlichem Ausma und dieStammesaufspaltungen kristallisierten sich heraus.

    Heute treten diese Aufspaltungen in der libyschen Krise wieder zutage. Natrlich gibt eseinen Teil der Jugend in Libyen, der der Diktatur berdrssig und von den Ereignissen inTunesien und gypten beeinflusst ist. Aber diese verbreiteten Gefhle werden von derOpposition im Osten des Landes instrumentalisiert, der seinen Anteil am Kucheneinfordert, wo doch die Verteilung der Reichtmer unter dem Regime Gaddafis sehrungleich war. Bald werden die wirklichen Widersprche zutage treten.

    Man wei im brigen nicht sehr viel ber diese Oppositionsbewegung. Um wen handeltes sich? Was ist ihr Programm? Wenn sie wirklich eine demokratische Revolutiondurchfhren wollten, warum haben sie dann die Fahnen des Knigs Idriss wiederausgegraben, Symbole einer Zeit, als die Kyrenaika die beherrschende Provinz desLandes war? Haben sie die anderen Libyer um ihre Meinung gefragt? Kann man voneiner demokratischen Bewegung sprechen, wenn diese Widerstndler die Schwarzen derRegion massakrieren? Wenn Sie zur Opposition eines Landes gehren, wenn Siepatriotisch sind und wenn Sie Ihre Regierung strzen mchten, dann versuchen Sie das inrichtiger Art und Weise. Sie verursachen keinen Brgerkrieg in Ihrem eigenen Land undlassen es nicht das Risiko einer Balkanisierung eingehen.

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    Ihrer Meinung nach wrde es sich also eher um einen Brgerkrieg handeln, der ausden Widersprchen zwischen den libyschen Clans hervorgeht?

    Ich denke, es ist schlimmer. Es gab Widersprche zwischen den Stmmen, aber sie habenniemals einen solchen Umfang angenommen. Hier nhren die Vereinigten Staaten diese

    Widersprche, um militrisch in Libyen eingreifen zu knnen. Seit den ersten Stundendes Aufstands hat Auenministerin Hillary Clinton vorgeschlagen, den AufstndischenWaffen zu bringen. Erst einmal hat die unter dem Nationalrat organisierte Oppositionjede Einmischung auslndischer Mchte zurckgewiesen, weil sie wusste, dass das ihreBewegung in Verruf bringen wrde. Aber heute rufen gewisse Oppositionelle nach einerbewaffneten Intervention.

    Seitdem der Konflikt ausgebrochen ist, hat Prsident Obama gesagt, dass er allemglichen Optionen in Betracht ziehe, und der US-Senat ruft die internationaleGemeinschaft auf, eine Flugverbotszone ber das libysche Territorium zu verhngen, wasein wirklicher Kriegsakt wre. Auerdem ist der Atom-Flugzeugtrger USS Enterprise,der im Golf von Aden zur Bekmpfung der Piraterie stationiert war, wieder bis an dielibysche Kste hinaufgefahren. Zwei Amphibienschiffe, die USS Kearsage und die USSPonce, die mehrere Tausend Marinesoldaten und Flotten von Kampfhubschraubern anBord haben, wurden ebenso im Mittelmeer in Position gebracht.

    Vergangene Woche hat sich Louis Michel, der frhere europische Kommissar frEntwicklung und humanitre Hilfe der Europischen Union, mit Nachdruck auf einerFernsehbhne gefragt, welche Regierung den Mut htte, vor ihrem Parlament dieNotwendigkeit eines militrischen Eingreifens in Libyen zu verteidigen. Aber LouisMichel hat niemals zu einem solchen Eingreifen in gypten oder Bahrain aufgerufen.Warum?

    Ist die Repression in Libyen nicht gewaltiger?

    Die Repression war sehr gewaltig in gypten, aber die NATO hat nie Kriegsschiffeentlang der gyptischen Kste in Stellung gebracht, um Mubarak zu bedrohen. Man hatgerade eben mal appelliert, einen demokratischen Ausgang zu finden!

    Was Libyen angeht, so muss man sehr vorsichtig sein mit Informationen, die uns

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    erreichen. An einem Tag spricht man von 2000 Toten, am nchsten wird die Zahl auf 300korrigiert. Seit Beginn der Krise wurde auch gesagt, Gaddafi bombardiere sein eigenesVolk, aber die russische Armee, die die Lage mittels Satellit berwacht, hat dieseInformation offiziell dementiert. Wenn sich die NATO darauf vorbereitet, militrisch inLibyen einzugreifen, knnen wir sicher sein, dass die herrschenden Medien die bliche

    Kriegspropaganda ausstrahlen werden.

    Tatschlich ist dieselbe Sache in Rumnien mit Ceaucescu geschehen. Am Abend desHeiligabend 1989 hielt der belgische Premierminister Wilfried Martens eine Anspracheim Fernsehen. Er behauptete, die Sicherheitskrfte Ceaucescus htten soeben 12 000Personen gettet. Das war falsch. Die Bilder des berhmten Massengrabs von Timisoaragingen ebenfalls um die Welt. Sie waren dazu bestimmt, die blinde Gewalt desrumnischen Prsidenten zu beweisen. Aber spter stellte sich heraus, dass das Ganzeeine Inszenierung war: Leichen waren aus der Leichenhalle geholt und in Grbenplatziert worden, um die Journalisten zu beeindrucken. Man hat auch gesagt, dieKommunisten htten das Wasser vergiftet, es seien syrische und palstinensische Sldner

    in Rumnien gewesen, und auerdem noch, Ceaucescu htte Waisen ausgebildet, um ausihnen Ttungsmaschinen zu machen. Das war reine Propaganda, um das System zudestabilisieren.

    Letztendlich wurden Ceaucescu und seine Frau gettet, nach einem Scheinprozess, der 55Minuten dauerte. Natrlich war der rumnische Prsident, genauso wie Gaddafi, keinChorknabe. Aber was hat sich danach ereignet? Rumnien ist eine Halbkolonie Europasgeworden. Dort werden die billigen Arbeitskrfte ausgebeutet. Zahlreiche Dienstewurden zugunsten westlicher Gesellschaften privatisiert und sind fr einen groen Teilder Bevlkerung unerschwinglich. Und jetzt kommen jedes Jahr Massen von Rumnenund weinen am Grab Ceaucescus. Die Diktatur war eine schreckliche Sache, aberseitdem das Land wirtschaftlich zerstrt worden ist, ist es noch schlimmer!

    Warum mchten die Vereinigten Staaten Gaddafi strzen? Seit einem Jahrzehnt istder Colonel von neuem fr den Westen besuchenswert geworden, und er hat einengroen Teil der libyschen Wirtschaft zugunsten westlicher Gesellschaftenprivatisiert.

    Man muss alle diese Ereignisse im Licht der neuen Machtverhltnisse in der Weltanalysieren. Die imperialistischen Mchte befinden sich im Niedergang, whrend andereKrfte sich in vollem Aufschwung befinden. Vor kurzem hat China vorgeschlagen, dieSchulden Portugals abzulsen! In Griechenland steht die Bevlkerung dieserEuropischen Union zunehmend feindlich gegenber, die sie als Deckmantel desdeutschen Imperialismus wahrnimmt. Die gleichen Gefhle entwickeln sich in denLndern des Ostens. Auerdem haben die Vereinigten Staaten den Irak angegriffen, umsich des ls zu bemchtigen, aber am Ende profitiert nur eine einzige US-Gesellschaftdavon, whrend der Rest von malaiischen und chinesischen Gesellschaften ausgebeutetwird. Kurz, der Imperialismus befindet sich in der Krise.

    Auerdem hat die tunesische Revolution den Westen sehr berrascht. Und der Fall

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    Mubaraks noch mehr. Washington versucht, diese Volksbewegungen fr seine Zieleeinzuspannen, aber ihm entgleitet die Kontrolle. In Tunesien sollte MinisterprsidentMohamed Ghanouchi, ein reines Produkt der Diktatur Ben Alis, den berganggewhrleisten und die Illusion eines Wechsels vermitteln. Aber die Entschlossenheit desVolkes zwang ihn abzudanken. In gypten zhlen die Vereinigten Staaten auf die Armee,

    um ein ihnen genehmes System aufrechtzuerhalten. Aber mich erreichten Informationen,die besttigen, dass sich junge Offiziere in unzhligen, ber das Land verstreutenKasernen in Solidaritt mit dem gyptischen Volk in Revolutionskomitees organisieren.Sie htten sogar gewisse mit dem System von Mubarak verbundene Offiziere verhaftenlassen.

    Die Region knnte der Kontrolle der Vereinigten Staaten entgleiten. In Libyeneinzugreifen wrde Washington daher ermglichen, diese revolutionre Bewegung zubrechen und zu verhindern, dass sie sich auf den Rest der arabischen Welt und auf Afrikaausbreitet. Seit einer Woche revoltieren Jugendliche in Burkina Faso, aber die Mediensprechen davon nicht, genauso wenig wie von den Demonstrationen im Irak.

    Die andere Gefahr fr die Vereinigten Staaten besteht darin, antiimperialistischeRegierungen in Tunesien und gypten entstehen zu sehen. In diesem Fall wre Gaddafinicht mehr isoliert und knnte auf die mit dem Westen abgeschlossenen bereinkommenzurckkommen. Libyen, gypten und Tunesien knnten sich zusammenschlieen undeinen antiimperialistischen Block bilden. Mit allen Ressourcen, ber die sie verfgen,insbesondere den bedeutenden auslndischen Devisenreserven von Gaddafi, knntendiese drei Lnder eine bedeutende Regionalmacht werden. Sie wre wahrscheinlicheinflussreicher als die Trkei.

    Aber Gaddafi hat doch Ben Ali untersttzt, als sich das tunesische Volk erhoben

    hat.Das zeigt, wie schwach, isoliert und abgeschnitten von der Wirklichkeit er ist. Aber diesich ndernden Machtverhltnisse in der Region knnten die Ausgangslage ndern.Gaddafi knnte die Seite wechseln, das wre nicht das erste Mal.

    Wie knnte sich die Lage in Libyen entwickeln?

    Die westlichen Mchte und diese sogenannte Oppositionsbewegung haben denVermittlungsvorschlag von Chvez zurckgewiesen. Das signalisiert, dass sie keinenfriedlichen Ausgang des Konflikts wollen. Aber die Auswirkungen einer Intervention derNATO wren katastrophal. Man hat im Kosovo oder in Afghanistan gesehen, wohin dasfhrt.

    Darber hinaus knnte eine militrische Aggression das Eindringen islamistischerGruppen nach Libyen begnstigen, die sich vor Ort bedeutsamer Arsenale bemchtigenknnten. Al Kaida knnte einsickern und aus Libyen einen zweiten Irak machen. Es gibtbrigens schon bewaffnete Gruppen in Niger, die niemand zu kontrollieren vermag. IhrEinfluss knnte sich auf Libyen, auf den Tschad, auf Mali, auf Algerien ausdehnen...

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    Wirklich, mit dem Vorbereiten einer militrischen Intervention ist der Imperialismusdabei, sich die Tore zur Hlle zu ffnen!

    Die Schlussfolgerung lautet: das libysche Volk verdient etwas Besseres als dieseOppositionsbewegung, die das Land ins Chaos strzt. Es bruchte eine wirkliche

    demokratische Bewegung, um das Gaddafi-Regime zu ersetzen und soziale Gerechtigkeitherzustellen. Auf jeden Fall verdienen die Libyer keine militrische Aggression. Die imNiedergang befindlichen imperialistischen Krfte scheinen jedoch einekonterrevolutionre Offensive in der arabischen Welt vorzubereiten. Libyen anzugreifenist ihre Notlsung. Aber das wrde ihnen auf die Fe fallen.

    Quelle: www.michelcollon.info

    *Mohamed Hassan ist ein Spezialist fr Geopolitik und die arabischeWelt. Geboren in Addis Abeba (thiopien), nahm er an denStudentenbewegungen im Rahmen der sozialistischen Revolution von1974 in seinem Land teil. Er studierte politische Wissenschaften ingypten, bevor er sich in der ffentlichen Verwaltung in Brsselspezialisierte. Als Diplomat seines Ursprungslands arbeitete er in den

    90er Jahren in Washington, Peking und Brssel. Als Mitautor von "Der Irak unter derBesatzung" ("LIrak sous loccupation", EPO, 2003) nahm er auerdem an Arbeiten ber denarabischen Nationalismus und die islamischen Bewegungen und ber den flmischenNationalismus teil. Er ist einer der besten zeitgenssischen Kenner der arabischen undmuslimischen Welt.

    bersetzung aus dem Franzsischen: Heinz Eckel

    http://www.michelcollon.info/http://www.michelcollon.info/