Libyen - Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame...

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1 Projektarbeit Sommer 2011 Die NATO-Intervention in Libyen: Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union Sebastian Schimpf 18.10.2011

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Dies ist eine Projektarbeit, die im Sommer/Herbst 2011 im Rahmen eines M.A.-Studienganges an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg entstand. Die Arbeit geht der Frage nach, wie es ausgerechnet im umstrittenen Fall Libyens zu einer NATO-Intervention mit UN-Mandat kommen konnte. Dabei werden weiterhin die Mittel betrachtet, die Frankreich, Großbritannien und die USA nutzbar machten, um Sicherheitsrat, EU und NATO-Rat zur Zustimmung zu bewegen. Bei der Analyse der Motive der Interventen stehen Identitäten und die jeweilige politische Kultur im Vordergrund.

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Projektarbeit Sommer 2011

Die NATO-Intervention in Libyen:

Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die

Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen-

und Sicherheitspolitik der Europäischen Union

Sebastian Schimpf

18.10.2011

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Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung…………………………………………………………………………3

2. Die Grundlagen der Analyse

2.1 Theoretische Grundlagen…………………………..…………………………5

2.2 Der methodische Aufbau der Analyse…….…………………………………..8

3. Die Intervention in Libyen

3.1 Die Beziehungen zu Libyen vor dem Konflikt……………………………….…9

3.2 Der Weg zur Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates……………………...12

3.3 Die Intervention unter NATO-Führung…………………………….………..15

4. Die Interessen und Motive der Interventen

4.1 Frankreich…………………………………………………………….……...18

4.2 Großbritannien…………………………………………………………..…...24

4.3 Gemeinsame Interessen und Ziele der Akteure……………………………....26

4.4 Die militärische Intervention im Lichte der Responsibility to Protect……….28

5. Folgen für die Zukunft von NATO und GASP

5.1 Folgen für die NATO…………………………………………………………33

5.2 Folgen für die EU…………………………………………………………….36

5.3 Folgen für die Zusammenarbeit und die Geltung von NATO und EU……….39

6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen………………………..…………….41

7. Literaturverzeichnis………………………………………………………………46

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1. Einleitung

Die letzten verzweifelten Kämpfe zwischen versprengten Militäreinheiten Gaddafis und

den Rebellen in der ehemaligen Hochburg des Diktators Sirte bestimmten die

Berichterstattung über den Konflikt noch bis in den Oktober 2011. Über sieben Monate

dauerten die Kämpfe mit internationaler Beteiligung um die Macht im nordafrikanischen

Wüstenstaat Libyen an, die mit der Verabschiedung der UN-Resolution 1973 am 17. März

2011 ihren Anfang nahmen. Folgt man der aktuellen Informationslage, in der seit Mitte

August die NATO kaum noch Erwähnung findet, so gewinnt man rasch den Eindruck, es

handle sich hierbei um einen Bürgerkrieg, wie er sich in den vergangenen Dekaden

vielerorts auf dem afrikanischen Kontinent abspielte. Durch die massive Intervention

einiger NATO-Streitkräfte schienen der Regimewechsel und die Beseitigung Gaddafis von

Anfang an nur eine Frage der Zeit zu sein. Im Angesicht der Vielzahl von Brennpunkten,

die sich im Zuge des sog. Arabischen Frühlings in der Region bildeten, stellt sich jedoch

die Frage, wie es ausgerechnet im Falle Libyens zu so massiven externen Interventionen

kommen konnte und welche primären und sekundären Absichten die Interventen mit dem

Sturz Gaddafis verfolgen.

Im Zeitraum um die Abstimmung zur Resolution 1973 herrschte weder im Kreise der

ständigen und nichtständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates noch im Rahmen der

NATO- und EU-Mitgliedstaaten ein Konsens über das militärische Eingreifen in den

Konflikt. Nur wenige Tage nach der Verabschiedung der Resolution erfolgten jedoch die

ersten Luftangriffe auf militärische Ziele der Streitkräfte des Regimes, die sich im Angriff

auf die von Rebellen besetzte Stadt Bengasi befanden. In Rahmen der NATO erfolgte der

Beschluss, die operative Führung der Intervention zu übernehmen und die beteiligten

Streitkräfte unter Ausnutzung ihrer Führungsstrukturen anzuleiten. An dieser Stelle ergibt

sich weiterführend die Frage, warum der NATO beim Krisenmanagement im Fall Libyen

der Vorrang gegenüber der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU

gegeben wurde und welche Konsequenzen sich daraus und aus dem unilateralen Vorgehen

der EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien im Vorfeld und zu Beginn der

Intervention für die gemeinsame Außenpolitik der EU ergeben können.

Speziell das Verhalten Frankreichs, Großbritanniens und der USA im Vorfeld der Libyen-

Intervention ist von besonderem Interesse, wenn die Frage nach eventuellen sekundären

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Motiven der Interventen untersucht wird. Ihr Vorgehen gegenüber dem Gaddafi-Regime

sowie die rasche Kooperation mit den Rebellen und dem Übergangsrat wirken von einem

neutralen Standpunkt aus hochgradig unilateral. Der Skepsis ihrer Partner in NATO und

EU zum Trotz verloren die drei Staatschefs wenig Zeit, ihre Bereitschaft zum

Regimewechsel zu bekunden und Druck auf die übrigen Mitglieder auszuüben. Ich möchte

den Fall des Regimewechsels in Libyen daher von der These ausgehend untersuchen, dass

das Vorgehen der Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA im Vorfeld und

zu Beginn der Intervention eine Form der Instrumentalisierung des Sicherheitsrates und

auch der NATO darstellt, um eigene Interessen zu verfolgen. Darüber hinaus will ich der

Frage nachgehen, welche Konsequenzen sich daraus für das Krisenmanagement der

Mitgliedstaaten im Rahmen der GASP ergeben können.

Aufgrund der hohen Aktualität der Thematik ist die wissenschaftliche Fachliteratur, die es

zu berücksichtigen gilt, noch begrenzt. Sie beschränkt sich zum Zeitpunkt Anfang Oktober

2011 noch auf Aufsätze, Essays und Zeitschriftenartikel in Fachjournalen. Im Rahmen des

rollentheoretischen Modells und der sozialkonstruktivistischen Perspektive greife ich

sowohl auf Klassiker des Theorieansatzes wie Hanns W. Maull und Thomas Risse

(Kirste/Maull 1996, Kirste 1998, Risse 1999, Risse 2007) als auch auf neuere Analysen mit

rollentheoretischem Hintergrund (Kempin 2008, Wisotzki 2001) zurück. Hinsichtlich des

Modells der Zivilmachtrolle stütze ich mich sowohl auf die Grundlagen von Kirste und

Maull als auch auf Weiterentwicklungen der Konzeption (Senghaas 1999,

Jünemann/Schörnig 2003).

Zur Untersuchung meiner These sind die Ereignisse im Zeitraum vom 25. Februar 2011 bis

zum Beginn der Luftangriffe von besonderer Bedeutung. Das Verhalten der Akteure

Frankreich, Großbritannien und USA in diesem Zeitraum soll vor dem Hintergrund

kognitiver Konstruktionen wie politischer Kultur und nationaler Identität dargestellt

werden, um Rückschlüsse über die Motive der Regierungen zu ziehen. Im Zuge der

Bearbeitung meiner These möchte ich mich auch der aussagekräftigsten Gegenthese

widmen. Innerhalb des öffentlichen Diskurses um die Gewalteskalation in Libyen und die

damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen der Gaddafi-Truppen wurde sowohl

von den Medien als auch von politischen Entscheidungsträgern immer wieder auf die

Responsibility to Protect (R2P) verwiesen. Diesem Konzept zum Schutze der

Zivilbevölkerung durch Prävention, Intervention und Nachsorge wurde in seiner beinahe

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zehnjährigen Geschichte wohl noch nie so viel öffentliche Aufmerksamkeit beigemessen

wie im Falle Libyens. Die Geltung der R2P für die Intervention der NATO in Libyen

möchte ich mit Hilfe ausgewählter empirischer Fakten zum strategischen Handeln und zu

taktischen Maßnahmen der Akteure bewerten.

2. Die Grundlagen der Analyse

2.1 Theoretische Grundlagen

Meine These, das Verhalten einzelner Akteure instrumentalisiere verschiedene

Internationale Organisationen bzw. deren Beschlussorgane im Sinne unilateraler

Interessen, steht auf der theoretischen Grundlage einer Kombination aus einem

institutionalistischen Ansatz mit sozialkonstruktivistischem Rahmen. Diese

Zusammenführung ermöglicht es, den staatlichen Akteuren institutionalistische

Grundannahmen hinsichtlich der freiwilligen Einbindung in internationale Institutionen

und der Bindung an die darin allgemein anerkannten Regeln zu unterstellen. Der

theoretische Rahmen gibt zudem noch Gelegenheit dazu, konstruktivistische Grundbegriffe

auf die Akteure anzuwenden und ihnen individuelle und kollektive Rollenmuster und

Identitäten zuzuordnen. Das Zusammenführen beider Theorieansätze beschränkt den

Bezug nicht nur auf individuelle oder kollektive Akteure sondern öffnet den Zugang zur

systemischen Analyseebene und zur Anwendung auf internationale Institutionen. Die

Auswirkungen von Entwicklungsprozessen auf institutionelles Design und Funktionalität

können somit interpretiert werden.

Die sozialkonstruktivistische Perspektive als metatheoretischer Rahmen überträgt

Grundbegriffe aus den Fächern der Soziologie und Psychologie in die Internationalen

Beziehungen. Darüber hinaus werden das internationale System und seine Strukturen als

eine Form sozialer Gesellschaft begriffen, innerhalb derer die soziale Wirklichkeit von den

Akteuren gedanklich konstruiert wird.1 Diese Wirklichkeit entsteht durch die

Wahrnehmung des Umfeldes und die individuelle Interpretation dessen. In

konstruktivistischer Außenpolitikanalyse kommt den Wahrnehmungen und

Interpretationen der Akteure also eine höhere Bedeutung zu, als den tatsächlichen

1 Vgl. Krell 2004, S. 348

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Ereignissen selbst. Eine hohe Relevanz wird auch dem Wechselverhältnis zwischen dem

Akteur und den ihn umgebenden Strukturen beigemessen. Soziale Strukturen sind in der

Lage, Identitäten und Rollenmuster von Akteuren zu konstituieren und ihr Handeln zu

beeinflussen. Akteure sind ihrerseits in der Lage, die Strukturen zu verändern und zu

konstituieren.2 Dieses Wechselverhältnis bildet einen dynamischen Interaktionsprozess,

der sowohl Weiterentwicklungen der Strukturen als auch der Akteure beinhaltet.

Der Begriff der Identität hat grundlegende Bedeutung im konstruktivistischen

Theorieansatz. In Psychologie und Soziologie beschreibt er ein auf Individuen und soziale

Gruppen anwendbares Selbstbild, das sich jeweils aus der Eigen- und der

Fremdwahrnehmung zusammensetzt.3 Die Ausprägung von Identitäten ist ein stetiger

dynamischer Prozess innerhalb der Sozialisation, der von individuellen Erlebnissen und

Erfahrungen beeinflusst wird. Die Identität eines kollektiven Akteurs lässt sich als

Kombination endogener gesellschaftlicher Wahrnehmungen und exogener Rezeptionen des

internationalen Umfeldes beschreiben.

Die soziale Rolle beschreibt dagegen die Summe von konkreten Verhaltenserwartungen,

die innerhalb sozialer Beziehungen an einen Akteur gestellt werden. Sie entsprechen der

jeweiligen Position, die der Rollenträger im Geflecht seiner sozialen Beziehungen

einnimmt und umfassen sowohl das Rollenverhalten als auch spezifische Rollenattribute,

die als charakteristische Merkmale des Trägers erwartet werden.4 Ein Akteur kann somit

eine Vielzahl verschiedener Rollen zusammenführen, die seinen unterschiedlichen sozialen

Positionen entsprechen, die er auf sich vereint. Auch das Konstrukt der Rolle setzt sich aus

einer internen und einer externen Komponente zusammen. Sie umfassen wie bei der

Identität die Erwartungen des Rollenträgers an sich selbst und die von seiner Umwelt an

ihn gerichteten Verhaltenserwartungen.

2 Vgl. Risse 1999, S. 37

3 Vgl. Abels 2007, S. 24ff; Mead 1998, S. 184. Innerhalb der Identität eines Individuums differenzierte der

US-amerikanische Sozialpsychologe George Herbert Mead zwischen zwei verschiedenen Bestandteilen. Der objektive Teil der Identität erlebt dabei alle Erinnerungen, Erfahrungen und Empfindungen. Diese werden innerhalb eines reflexiven Prozesses objektiviert und mit den Augen eines außenstehenden Betrachters gesehen. Diese Reflexion bildet den subjektiven Teil der Identität, welcher für das Verhalten in bestimmten Situationen und letztlich das Handeln des Akteurs ausschlaggebend ist. In der Hauptsache wird somit die Ausprägung einer Identität durch die menschliche Fähigkeit ermöglicht, sich mental in die Rolle eines Anderen zu versetzen (reflexive Intelligenz), um so die eigene Erscheinung und das eigene Verhalten mit den Augen eines Außenstehenden wahrzunehmen. 4 Vgl. Dahrendorf 1977, S. 33; Kirste / Maull 1996, S. 286

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Eng mit der Rollentheorie ist der Zivilmachtbegriff verknüpft. Ihren Ursprung hat die

Zivilmachtrolle in den Arbeiten des deutschen Soziologen Norbert Elias. In seinem Werk

„Über den Prozeß der Zivilisation“ beschrieb er bereits 1939 den Zivilisierungsprozess

innerhalb von Gesellschaften, der aufgrund zunehmender Sanktionierung und sozialer

Verflechtung die Gewaltanwendung einer innergesellschaftlichen Selbstkontrolle

unterwirft.5 Zu den grundlegenden Werken der deutschsprachigen Zivilmacht-Forschung

gehören die Arbeiten von Knut Kirste und Hanns W. Maull sowie die Arbeiten von Dieter

Senghaas zur Zivilisierung von Konfliktlösungen und dem Zivilisatorischen Hexagon.6

Kirste und Maull stellten 1996 einen konkreten Kriterienkatalog auf, in dem sie

Verhaltenserwartungen definierten, die an Träger der Zivilmachtrolle gerichtet werden

können. Diese Kriterien umfassen neben der Förderung ziviler

Konfliktlösungsmechanismen, multilateraler Kooperation und der Verrechtlichung der

Konfliktaustragung auch die Förderung allgemeiner Werte wie der Menschenrechte und

dem bewussten Verzicht auf machtpolitische Instrumente und Methoden.7

Diese komplexen soziologischen Grundbegriffe lassen sich im Rahmen der

Außenpolitikanalyse auch auf ihre Wirkung innerhalb von Institutionen und

Internationalen Organisationen hin untersuchen. Der Institution wird aus

konstruktivistischer Perspektive heraus die Ausprägung der gemeinsamen Identität als

wichtigste Funktion zugeschrieben. Dieses Merkmal steht noch über der Schaffung eines

sicheren Umfeldes für die Akteure und der individuellen Vorteilnahme durch

institutionelle Beteiligung. Institutionen werden in konstruktivistischem Kontext als

5 Vgl. dazu ausführlich Elias 1989 6 Vgl. dazu ausführlich Senghaas 1999 7 Die Kriterien lassen sich allgemein in drei Gruppen zusammenfassen: (1) Die Einhegung staatlicher Gewaltanwendung zur Konfliktaustragung durch die Förderung ziviler Konfliktlösungsmechanismen, multilateraler Kooperationen und der Verrechtlichung internationaler Beziehungen bildet einen Kern der Außenpolitik einer Zivilmacht. Militärische Gewaltanwendung ist innerhalb dieser Vernetzung deutlich beschränkt und an besondere Prinzipien gebunden. (2) Eine Zivilmacht verzichtet bewusst auf den Einsatz traditioneller machtpolitischer Instrumente und Methoden. Hierbei wird diplomatischen und wirtschaftlichen Instrumenten der Vorrang vor militärischen Mitteln eingeräumt und auf die Druckmittel der klassischen Machtpolitik verzichtet. Führungs- oder Machtansprüche innerhalb des internationalen Systems weichen dabei dem Gestaltungswillen einer Zivilmacht, das System selbst initiativ in Richtung Zivilisierung und verbindlicher universelle Werte umzugestalten. (3) Zum Konzept einer Zivilmacht gehört auch die konkrete Förderung der intendierten universellen Werte selbst. Sie tritt somit für den Ausbau demokratischer Entscheidungsprozesse ein und vertritt aktiv die Umsetzung allgemeiner Menschenrechtsstandards. Dies beinhaltet nicht nur konventionell geregelte Menschenrechte, sondern erstreckt sich auch auf die Förderung einer gerechten Kompensation bestehender struktureller sozialer Ungleichheiten im internationalen System. Vgl. Jünemann / Schörnig 2003, S. 106; Kirste / Maull 1996, S. 300ff; Risse 2007, S. 51ff

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Bestandteil der Strukturen begriffen und somit auch durch ihre Mitglieder konstituiert, die

sich ihr aufgrund gemeinsamer Werte und Ideen unterordnen.8

Die Summe aller handlungsleitenden Ideen, Werte und normativer Grundhaltungen einer

Gesellschaft bezeichnet der Begriff der politischen Kultur. Vor ihrem Hintergrund

entwickeln sich nationale Identitäten und Rollenmuster. Die Gesamtheit kognitiver

Überzeugungen und normativer Grundhaltungen in Bezug auf die Außenpolitik eines

Akteurs wird allgemein auch als außenpolitische Kultur bezeichnet. Politische Kulturen

werden durch die politische Praxis am Leben erhalten und durch Sozialisationsprozesse an

die folgenden Generationen weitergegeben.9

2.2 Der methodische Aufbau der Analyse

In der vorliegenden Arbeit möchte ich im Rahmen einer qualitativen Fallanalyse das

Verhalten der herangezogenen Akteure im Sinne eines sozialkonstruktivistischen

Theorieansatzes reflektieren. Nach einer Darstellung der Ereignisse im Vorfeld der UN-

Resolution 1973 bzw. der militärischen Intervention und des Verhaltens der

Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens und der USA sollen vor dem Hintergrund

unterschiedlicher politischer Kulturen und Rollenmuster Rückschlüsse auf mögliche

Motive der drei Akteure gezogen werden. Zudem will ich mich innerhalb dieser Arbeit mit

der nach meinem Ermessen stärksten Gegenthese, dem notwendigen Eingreifen im

Rahmen der Responsibility to Protect, auseinandersetzen und sie an meiner Untersuchung

der Ereignisse reflektieren. Im folgenden Schritt betrachte ich schließlich die zuvor

herausgearbeiteten Ergebnisse in einem internationalen Kontext, wobei sowohl mögliche

Konsequenzen für die NATO als auch für die kollektive europäische Außen- und

Sicherheitspolitik im Mittelpunkt stehen. Weiterhin möchte ich die in Zusammenhang mit

dem unilateralen Vorgehen Frankreichs und Großbritanniens zuvor herausgestellten

Rollenmuster zum Zivilmachtkonzept in Bezug setzten. Zudem können Rückschlüsse

gezogen werden, wie insbesondere Frankreich und Großbritannien die gemeinsame

Außenpolitik der Union derzeit wahrnehmen und wie viel Geltung sie ihr im Vergleich zu

nationalen Interessen beimessen.

8 Vgl. Medick-Krakau 1999, S. 16f; Risse 1999, S. 39ff

9 Vgl. Hellmann 2006, S. 186f

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3. Die Intervention in Libyen

3.1 Die Beziehungen zu Libyen vor dem Konflikt

Eine mehrdimensionale Betrachtung der Ereignisse um den Libyen-Konflikt beinhaltet

zwangsläufig auch einen Blick auf die Person des Staatsoberhauptes Muammar al-Gaddafi

und auf die Beziehungen westlicher Staaten zum Regime in den letzten Dekaden. Die

Beziehungen der OECD-Welt zu Libyen waren jahrzehntelang von einer

Konfrontationshaltung und Isolation bestimmt. Die Unterstützung transnationaler

Terrorgruppen, vermutete Massenvernichtungswaffen, die repressive Staatspraxis und die

aggressive Ideologie des Regimes kennzeichneten das Bild Libyens in der Perzeption

westlicher Eliten. Große Teile der libyschen Bevölkerung jedoch hatten unter dieser

Isolationspolitik am schwersten zu leiden. Dennoch gelang es unter dem klientelistischen

Regime einen beachtlichen Entwicklungsstand zu erreichen, der im nordafrikanischen

Raum seines Gleichen suchte. Dies führte in Kombination mit der tiefgreifenden Ideologie

des Regimes zu einem größeren Rückhalt in der tribalistisch strukturierten libyschen

Gesellschaft als es bei anderen Regimen der Region der Fall ist oder war.10

Die

wirtschaftliche und technologische Entwicklung der libyschen Gesellschaft erhielt parallel

zu politischen Entspannungsphasen Vorschub. Einen Beginn der jüngsten

Entwicklungsphase stellte vielleicht die Räumung des seit 1978 besetzten Aouzou-Streifen

im Norden der Republik Tschad dar, die Gaddafi 1994 auf ein Urteil des Internationalen

Gerichtshofes hin veranlasste. Weiterhin sind die Anstrengungen Libyens beim Aufbau der

Afrikanischen Union (AU), die Einstellung eines vermuteten Programms zur Herstellung

von Massenvernichtungswaffen 2003 und die Vermittlungen Gaddafis im Konflikt

zwischen Tschad und Sudan 2007 als Entspannungsmomente zu nennen.11

Der

eingeschlagene moderatere Kurs des Regimes und das politische und finanzielle

Engagement bei der Gründung und dem institutionellen Aufbau der AU führten auch zu

Hoffnungen bei westlichen Regierungen, dass an wirtschaftliche Entwicklung auch

innenpolitische Veränderungen und vielleicht sogar politische Reformen geknüpft wären.

10 Vgl. Pradetto 2011, S. 54; Werenfels 2008, S. 5 11 Gaddafi engagierte sich 2007 bei der Vermittlung und den Verhandlungen eines Waffenstillstands zwischen der von Frankreich politisch und militärisch unterstützten Regierung der Republik Tschad unter dem despotischen Präsidenten Idriss Déby und verschiedenen aus dem Osten Sudans operierenden Rebellengruppen. In dieser konfliktreichen Region liefen nach Ende der Kämpfe zahlreiche Stabilisierungsmissionen wie MINURCAT (UN), AMIS (AU) und auch EUFOR Tchad/RCA (EU) an.

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Liberalisierungsprozesse fanden jedoch nur in Bezug auf die libysche Wirtschaft statt, die

von Investitionen und westlicher Technologie profitierte. Innerhalb des klientelistischen

Staatssystems profitierten jedoch zumeist die regimenahen privilegierten Eliten des Landes

von der Entwicklung. Die übrigen Bevölkerungsschichten wurden nur soweit beteiligt, wie

es zur Regimestabilisierung notwendig erschien.12

Widerstand gegen das Regime war jedoch auch in Libyen keine gänzlich neue

Erscheinung. Das repressive Vorgehen der libyschen Sicherheitsorgane mit Verfolgung

und Kollektivstrafen, Korruption und Klientelismus als systemische Grundlage des Staates

und die Auswirkungen der jahrelangen Isolation des Landes führten neben mehreren

Attentaten, bei denen die Beteiligung westlicher Geheimdienste bis heute umstritten ist,

auch zu Umsturzversuchen und kleineren Aufständen islamistischer Gruppierungen im

Verlaufe der 1990er Jahre. Vorwiegend im Osten des Landes formierten sich bereits in

diesem Zeitraum trotz des harten Vorgehens des Regimes bewaffnete islamistische

Widerstandgruppen, gegen die in der vergangenen Dekade unter dem Deckmantel des

Kampfes gegen den internationalen Terrorismus auch mit Unterstützung der USA

erfolgreich vorgegangen wurde. Die durch internationale Anerkennung und

voranschreitende wirtschaftliche Entwicklung zunächst verschobenen innenpolitischen

Spannungen traten unter dem Einfluss der Ereignisse in den Nachbarländern Tunesien und

Ägypten sehr viel deutlicher hervor.13

Neben den prosperierenden Außenhandelsbeziehungen begannen sich im Laufe der 2000er

Jahre auch die diplomatischen Außenbeziehungen Libyens zum Westen wieder zu

entwickeln. Dazu zählten seit 2003 auch Beziehungen zu verschiedenen EU-

Mitgliedstaaten und zur Union selber. Als erster europäischer Staatschef besuchte Tony

Blair nach der Phase der Isolation Tripolis. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder

folgte ihm ein Jahr später nach. Ebenfalls 2004 war Gaddafi bereits bei der EU in Brüssel

zu Gast. Für öffentliches Aufsehen sorgte der mehrtägige Besuch des libyschen

Staatsoberhauptes 2007 in Paris, wo er mit seinem Hofstaat inmitten des Élysée-Palastes

kampierte und alle Ehren eines Staatsbesuches genießen konnte. Auch Italien begann in

dieser Phase mit dem Aufbau intensiver Beziehungen zu Libyen. Die Kooperation mit den

USA bei der Bekämpfung transnational operierender Terrorgruppen schützte das libysche

12

Vgl. Werenfels 2008, S. 8 13 Vgl. Werenfels 2008, S. 7ff

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Regime seit 2001 zudem mittelfristig davor, als Teil der Achse des Bösen von der Bush-

Administration wahrgenommen zu werden.14

Die zunehmenden diplomatischen und

kooperativen Beziehungen zeigten deutlich, dass Gaddafis Libyen auf der internationalen

Bühne angekommen war und er im Kreise der Staatschefs anerkannt wurde.

Die Hintergründe dieses Interesses an diplomatischem Verkehr mit dem Regime in

Tripolis können in verschiedenen theoretischen Kontexten unterschiedlich interpretiert

werden. Zum einen lässt sich aus rationalistischer Sichtweise heraus natürlich die

politische Komponente der äußerst lukrativen Wirtschaftbeziehungen ausmachen, die sich

im Aufbau befanden. Weiterhin erscheint die Nutzung Libyens entweder als weiterer

Brückenkopf in Nordafrika zum aktiven Kampf gegen den Terrorismus oder auch als

beinahe unüberwindliche Schwelle für afrikanische Flüchtlinge auf dem Weg in die EU

durchaus rational.

An dieser Stelle kann jedoch nicht nur von zweckgebundenen Partnerschaften ausgegangen

werden. Besonders die Betrachtung der Beziehungen der EU zu Libyen macht auch eine

normative Komponente deutlich. Die sich seit Mitte der 1990er Jahre etablierende

Mittelmeerpolitik der EU bezieht die Staaten an der südlichen Peripherie Europas gezielt

ein und umfasst zu einem späteren Zeitpunkt das gesamte Spektrum außenpolitischer

Beziehungen. Sowohl die 1995 ins Leben gerufene Euro-Mediterrane-Partnerschaft (EMP)

als auch die 2004 begründete Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) enthalten

zumindest formal Komponenten, die mit Hilfe politischer und kultureller Zusammenarbeit

Demokratie und Menschenrechte in den Mittelmeerautokratien fördern sollten.15

Libyen

erhielt 1999 zwar nur einen Beobachterstatus, welcher jedoch einer faktischen

Anerkennung des Regimes gleichkam und die Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen in

gewissem Maße legitimierte. Die institutionalisierten Beziehungen von der EMP bis hin

zur 2008 initialisierten Union für das Mittelmeer enthalten die drei Bereiche der

politischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit, der wirtschaftlichen

Zusammenarbeit und der Kooperation im sozialen und kulturellen Bereichen. Diese Form

der Kooperation sollte weiterhin mit Instrumenten ausgestattet sein, die finanzielle

Förderung und Investition an politische und soziale Gestaltungsprozesse in den einzelnen

Staaten knüpft. Der angestrebte Erfolg dieses Konzeptes bleibt jedoch bis heute

14

Vgl. Müller 2006, S. 20f 15 Vgl. Jünemann 2009, S. 151ff

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zweifelhaft, da zur Verfügung stehende Instrumente zur Demokratieförderung bisher

faktisch kaum genutzt wurden, während enge Partnerschaften im sicherheitspolitischen und

wirtschaftlichen Bereich auf deutlich größeres Interesse auf allen Seiten stoßen.16

3.2 Der Weg zur Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates

Ab Mitte Januar 2011 kam es auch in Libyen zu regimekritischen Demonstrationen, die

sich über Tripolis hinaus vor allem über den Osten des Landes erstreckten, wo innerhalb

der von Gaddafis Regime benachteiligten Stämmen der Cyrenaika oppositionelle Kräfte

auf fruchtbaren Boden trafen. Die Demonstrationen eskalierten häufig zu offen

ausgetragener Gewalt zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Als Beginn des

Konfliktes wird vielerorts der 17. Februar genannt, der als Tag des Zorns ausgerufen

wurde und an dem es zu besonders heftigen Ausschreitungen kam. Um den 20. Februar

2011 weitete sich die Gewalt zu bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen zunächst wenig

organisierter bewaffneter Gruppierungen mit dem libyschen Militär aus. In deren Folge

geriet schließlich die Stadt Bengasi komplett unter die Kontrolle der regimefeindlichen

Kräfte, die allgemein zu diesem Zeitpunkt bereits als Rebellen bezeichnet wurden.17

Der

Einfluss externer Akteure auf die Führung und Ausstattung der

Demonstrationsbewegungen und der bewaffneten Rebellen zu diesem frühen Zeitpunkt ist

bislang umstritten.

Gegen Ende Februar 2011 erkannten auch westliche Regierungen den Ernst der Lage und

mit Hilfe spezialisierter Kräfte zahlreicher Staaten wurden ausländische Staatsbürger aus

Libyen evakuiert. Zu dieser Zeit erhoben sich auch erste Stimmen aus der internationalen

Gemeinschaft, die das brutale Vorgehen gegen die Demonstranten verurteilten und

Sanktionen sowie darüber hinausgehende Maßnahmen androhten. Während sich die

Stellungnahmen von EU und UN im Fokus um die Beendigung der Gewalt gegen

Zivilisten drehten, trafen Frankreich, Großbritannien und die USA bereits separate

weiterführende Absprachen.18

Am 22. Februar 2011 trafen ebendiese drei Staatschefs

16

Vgl. Jünemann 2009, S. 153ff; Schlotter 2008, S. 279ff 17 Vgl. dazu ausführlich Al Jazeera Live Blog Libya, Online im Internet: URL http://blogs.aljazeera.net/liveblog/libya, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011 18

Vgl. Zeit Online URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-02/libyen-gadhafi-kontensperrung-menschenrechtsrat, URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-02/libyen-UN-Sanktionen, zuletzt zugegriffen am 17.06.2011; The Washington Post URL http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2011/02/24/AR2011022407862.html, zuletzt zugegriffen am 17.06.2011

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telefonische Absprachen zum weiteren Vorgehen gegen das Gaddafi-Regime, in die zu

diesem Zeitpunkt auch der italienische Regierungschef Berlusconi einbezogen wurde.19

Am Rande der Sitzung des UN-Sicherheitsrates am 26. Februar 2011 kam es dann zu

einem ersten Koordinierungstreffen der Staatschefs. In der folgenden Sitzung beschloss der

Sicherheitsrat in der Resolution 1970 die Verhängung eines Waffenembargos gegen

Libyen sowie Reiseverbote und Konteneinfrierungen gegen Mitglieder des Gaddafi-

Regimes.20

Die EU reagierte darauf zunächst ihrerseits mit einem Waffenembargo,

Reiseverboten und der Beschlagnahmung von Finanzmitteln libyscher Regimemitglieder.21

Ab Anfang März 2011 beobachtete die NATO die Lage in Libyen und die Einhaltung der

Embargos mit Hilfe ihrer Aufklärungsmittel und stellte die Informationen auch den UN-

Organen zur Verfügung. Der französische Staatspräsident Sarkozy lud am 9. März

Vertreter des selbsternannten Übergangsrates nach Paris ein, wo er den Rat als alleinige

Repräsentation des libyschen Volkes anerkannte. An diesem mehrtägigen Treffen waren

auch Vertreter Großbritanniens und der USA beteiligt. Zuvor hatte bereits am 1. März US-

Präsident Obama eine klare Stellungnahme in Richtung Libyen abgegeben, die eine

nachdrückliche Aufforderung an Gaddafi enthielt, die Macht abzugeben.22

Damit sprachen

die drei Regierungen Gaddafis Regime faktisch die Legitimation zur Machtausübung und

jegliche Souveränität ab. Im Vorfeld des einberufenen Gipfels des Europäischen Rates zum

Thema Libyen drängten Nicolas Sarkozy und David Cameron ihre Unionspartner und den

Ratspräsidenten, weiterführende Schritte gegen das Gaddafi-Regime einzuleiten und ihre

Forderung nach Schaffung und Durchsetzung einer Flugverbotszone zu unterstützen.23

Diese Forderungen spiegeln sich im Gipfeldokument der europäischen Staats- und

Regierungschefs wieder, in dem nun die Union ihrerseits Gaddafi zur Machtübergabe

19 Vgl. New York Times URL http://www.nytimes.com/2011/02/25/opinion/25fri1.html?scp=3&sq=obama%20libya%20telephone%20cameron%2025th%20february&st=cse, zuletzt zugegriffen am 17.06.2011 20

Vgl. UN-Sicherheitsrat, Resolution 1970, URL http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N11/245/58/PDF/N1124558.pdf?OpenElement, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011 21

Vgl. Europäische Union, URL http://ec.europa.eu/news/external_relations/110310_1_de.htm, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011 22

Vgl. Zeit Online, URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/libyen-nato-eu-sanktionen, zuletzt zugegriffen am 17.06.2011; Al Jazeera, URL http://english.aljazeera.net/news/europe/2011/03/2011310101413705407.html, zuletzt zugegriffen am 17.06.2011; Zeit Online, URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/frankreich-libyen-anerkennung, zuletzt zugegriffen am 17.06.2011 23 Vgl. The Telegraph Online, URL http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/africaandindianocean/libya/8375044/Cameron-and-Sarkozy-urge-EU-allies-to-be-ready-for-all-contingencies.html, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011

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aufrief und die Position des Übergangsrates bestärkte. Weiterhin wurden die Positionen

von ENP und Mittelmeerunion zur Förderung demokratischer Strukturen in der gesamten

Region nochmals bekräftigt.24

Nachdem die politischen Verpflichtungserklärungen in der EU eingeholt waren,

konzentrierten sich die drei Regierungen auf den UN-Sicherheitsrat. In verschiedenen

gemeinsamen und einzelnen Stellungnahmen machten sie ihre Forderungen nach einer

Flugverbotszone und darüber hinausgehenden Maßnahmen zur Beendigung der Kämpfe

deutlich und äußerten zugleich Kritik an der zu zögerlichen Reaktion des Sicherheitsrates,

der in der Resolution 1970 weder Flugverbotszone noch anderweitige militärische

Maßnahmen gegen das Regime beschlossen hatte.25

Nach einem Treffen der

Außenminister der Arabischen Liga äußerte diese am 12. März ihre Zustimmung zur

Einrichtung und Durchsetzung einer Flugverbotszone über Libyen und brachte umgehend

einen entsprechenden Antrag über den libanesischen Sitz in den Sicherheitsrat ein. Damit

reihten sie sich neben Frankreich, Großbritannien und den USA ein, was den Druck auf die

anderen Mitglieder im Sicherheitsrat und auch auf die EU- und NATO-Gremien weiter

verstärkte.26

Innerhalb des Sicherheitsrates äußerten China, Deutschland und Russland

zwar weiterhin erhebliche Skepsis an der Sinnhaftigkeit und der Legitimität einer

Flugverbotszone, durch die moralische Unterstützung der Arabischen Liga waren die drei

Regierungschefs jedoch in der Lage, militärisches Eingreifen auch beim Scheitern des

Antrages in Aussicht zu stellen. Dies setzte für die anderen Akteure das Signal, dass die

Entscheidung zur Resolution 1973 kein Votum für oder gegen eine Intervention darstellt,

sondern dass es lediglich darum geht, militärisches Eingreifen unter die Autorität der UN

zu stellen.

Auf den Druck der interventionsbereiten Akteure hin kommt schließlich am 17. März 2011

die Resolution 1973 zu Stande, die Menschenrechtsverletzungen in Libyen erneut scharf

verurteilt und in ihrem Kern die Errichtung der geforderten Flugverbotszone vorsieht.

Doch über die Autorisierung einzelner Staaten oder Organisationen zur Durchsetzung der

24

Vgl. Europäische Union, URL http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/119780.pdf, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011 25

Vgl. Al Jazeera Live Blog Libya, Online im Internet: URL http://blogs.aljazeera.net/liveblog/libya, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011 26

Vgl. Tagesspiegel, URL http://www.tagesspiegel.de/politik/usaund-arabische-liga-gemeinsam-gegen-gaddafi/3946480.html#, zuletzt zugegriffen am 28.09.2011

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Flugverbotszone hinaus, enthält die Resolution auch eine Ermächtigung zu weiteren

militärischen Maßnahmen. Die weit gefasste Formulierung dieser Ermächtigung gestattet

potenziellen Interventen bis auf die unmittelbare Besetzung libyschen Territoriums mit

Bodentruppen alle Maßnahmen, die in ihrem Ermessen zum Schutze der Zivilbevölkerung

notwendig erscheinen.27

Die Resolution selbst schränkt Zielsetzungen und Maßnahmen

einer Intervention kaum ein und verpflichtet lediglich zur Zusammenarbeit und

Information mit dem Generalsekretär bzw. dem Sicherheitsrat. Der Weg zur Unterstützung

der Rebellen in ihrem Kampf gegen die kurz vor Bengasi stehenden Gaddafi-Truppen war

für die interventionsbereite Koalition somit frei. Die Resolution behält jedoch trotz ihres

augenscheinlich humanitären Charakters durch ihr fragwürdiges Zustandekommen, die

wenig konkrete Formulierung und die Stimmenthaltungen von Brasilien, China,

Deutschland, Indien und Russland ein zweifelhaftes Format.

3.3 Die Intervention unter NATO-Führung

Am 19. März 2011 begannen die ersten gezielten Luftangriffe mit der Legitimation der

Resolution 1973 zunächst unter US-amerikanischer Führung. Primäre Ziele waren in den

ersten Tagen die Streitkräfte Gaddafis, die im Osten des Landes zur Bekämpfung der

Rebellen eingesetzt waren. Ihr Angriff auf Bengasi konnte kurz vor der Stadt durch

massive Bombardements ihrer Stellungen gestoppt werden. Aufgrund ihrer erheblichen

Überlegenheit wäre es Gaddafis Truppen sicher nur wenige Tage später gelungen, in die

Stadt einzudringen und die dort verschanzten Rebellen vernichtend zu schlagen. In diesem

Kontext ist es fraglich, wie der Konflikt verlaufen wäre, wenn zu diesem frühen Zeitpunkt

die wenig organisierten Rebellen in Bengasi eine solche Niederlage erlitten hätten.

Gaddafis Luftwaffe war bereits wenige Tage nach Beginn der Luftangriffe durch schwere

Verluste in Teilen faktisch nicht mehr existent und konnte mit den verbliebenen Maschinen

auch nicht mehr wirksam in die Kämpfe eingreifen.28

27 Vgl. UN-Sicherheitsrat, Resolution 1973, URL http://www.un.org/News/Press/docs/2011/sc10200.doc.htm#Resolution, zuletzt zugegriffen am 27.09.2011; Pradetto 2011, S. 56; Zeit Online, URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/libyen-uno-flugverbotszone, zuletzt zugegriffen am 17.06.2011 28

Vgl. Al Jazeera Live Blog Libya, Online im Internet: URL http://blogs.aljazeera.net/liveblog/libya, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011

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Die Vereinigten Staaten machten bereits vor Beginn der Intervention deutlich, dass sie

wenn überhaupt nur übergangsweise die militärische Führung des Einsatzes übernehmen

würden. Mittelfristig sollte die NATO mitsamt ihrer operativen Strukturen an der Spitze

der militärischen Maßnahmen stehen, wobei sich die US-Streitkräfte mit all den von der

NATO benötigten Kapazitäten in Europa, dem Mittelmeerraum und der Golfregion

beteiligen würden. Obwohl sich Frankreich wenig begeistert von der Idee eines NATO-

geführten Einsatzes zeigte, setzte es gemeinsam mit Großbritannien und den USA alles

daran, bestehende Uneinigkeiten innerhalb des Bündnisses so schnell wie möglich

auszuräumen. Es galt skeptische Partner wie Deutschland, die Türkei und eine Reihe

osteuropäischer Staaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, im Bündnisrahmen das

Regime zu beseitigen und den Rebellen zum Sieg zu verhelfen. Im Diskurs um die

Intervention ließen sich diese Ziele zwar leicht in das neue Strategiekonzept NSC 2010

und die darin enthaltenen Optionen zu humanitären Interventionen integrieren, im Bündnis

war man sich dennoch uneins über die Ausmaße und die Legitimität der Zielsetzungen

eines militärischen Eingreifens.29

Das Set an Handlungsoptionen für die nationalen Vertreter in der NATO war denkbar

eingeschränkt. De facto bestanden zwei Möglichkeiten. Gegen einen NATO-Einsatz zu

plädieren, hätte einen Alleingang Frankreichs, Großbritanniens und der USA ausgelöst.

Diesem hätten die übrigen Bündnispartner ohne Einflussnahme zuschauen müssen, ohne

politisch in dieser in mehrerlei Hinsicht wichtigen Region Fuß zu behalten. Für den Einsatz

unter Bündnisführung zu votieren, würde über die NATO einen gewissen Grad an

Kontrolle über die Intervention aufrecht erhalten auch ohne tatsächliche Eigenbeteiligung.

Die zweite soeben genannte Option stellte den wohl größtmöglichen Kompromiss und

augenscheinlich für die interventionskritischen Mitglieder im Gremium auch das geringere

Übel dar. Ähnlich wie in den Vermittlungen zuvor im Sicherheitsrat und im Europäischen

Rat, bauten die drei Regierungen enormen Druck auf die anderen Mitglieder auf. Dieses

Mal beschränkten sie sich dabei nicht nur auf die verbale Drohkulisse gegen das Gaddafi-

Regime und Absichtserklärungen in Richtung ihrer Bündnispartner, sondern konnten auch

mit ernsthaften militärischen Erfolgen der durchgeführten Luftangriffe auf Gaddafis

Luftwaffe und angreifende Bodentruppen aufwarten.

29

Vgl. Zeit Online, Online im Internet: URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/libyen-gadhafi-nato-tuerkei-usa, zuletzt zugegriffen am 17.06.2010; NATO Strategic Concept 2010, Online im Internet: URL http://www.nato.int/lisbon2010/strategic-concept-2010-eng.pdf, zuletzt zugegriffen am 18.06.2011

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17

Die Hauptkonfliktlinie innerhalb der NATO verlief zwischen den betrachteten

interventionsbereiten Staaten und einer kritischen Fraktion, in deren Zentrum vor allem

Deutschland und die Türkei stand. Zudem trat die französische Regierung mit einer

ablehnenden Haltung auf und unterstrich ihren eigenen Führungsanspruch, welcher die

Alternative zur NATO-Führung darstellte.30

Schließlich stimmten auch die kritischen

Partner einer Führungsübernahme durch das Bündnis ab dem 28. März 2011 zu und

akzeptierten aus unterschiedlichen Gründen einen Kompromiss, der jedem Mitglied die

Möglichkeit bot, sich nicht unmittelbar an der Intervention zu beteiligen und die

verbliebene territoriale Integrität Libyens achten sollte.31

Das Verhalt der bereits intervenierenden Regierungen ließ eine Methodik erkennen, die die

übrigen Gremienmitglieder vor die Wahl stellte, entweder für eine Beseitigung des

Regimes mit allen dazu notwendigen Mitteln zu tendieren oder im Antagonismus dazu

Gaddafi mittelbar zu unterstützen. Dieses Vorgehen schränkte nicht nur die

Handlungsspielräume der Regierungsvertreter in den Beschlussgremien selbst ein, sondern

erzeugte zudem innerhalb der Gesellschaften politischen Druck auf die Regierungen, die

Vorgänge in Libyen nicht tatenlos hinzunehmen oder gar Beschlüsse zu blockieren. Ein

sehr anschauliches Beispiel hierfür lieferten die Reaktionen auf die Enthaltung

Deutschlands bei der Abstimmung im Sicherheitsrat zur Resolution 1973. Eine wahre Flut

zum Teil polemischer Kritik stellte die deutsche Außenpolitik als rückhaltlos und

vollkommen isoliert dar. Der mittelbare politische Druck auf die kritischen Regierungen

erfolgte aber auch über die Rhetorik der drei Staatschefs, die immer wieder die

Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und die unbedingte Notwendigkeit des

Regimewechsels betonten. Zweifel und zögerndes Verhalten anderer Regierungen

erschienen durch dieses Vorgehen rasch in einem Lichte von Handlungsunfähigkeit oder

gar Sympathie zum Gaddafi-Regime. Zudem wurde unmittelbarer politischer Druck auf

die anderen Mitglieder in den Gremien erzeugt, indem sie offen zur Zustimmung gedrängt

wurden, welche moralisch unbedingt geboten sei. Cameron, Obama und Sarkozy machten

weiterhin ja bereits klar, dass sie ihr Ziel des Regimewechsels in Libyen, unabhängig

30 Vgl. Zeit Online, Online im Internet: URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/libyen-gadhafi-nato-tuerkei-usa, zuletzt zugegriffen am 17.06.2010 31 Vgl. Zeit Online, Online im Internet: URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/tuerkei-libyeneinsatz-nato; URL http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/libyen-gadhafi-nato-kommando, zuletzt zugegriffen am 17.06.2010

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davon wie die Beschlüsse ausfielen, auf jeden Fall mit allen erforderlichen Mitteln weiter

verfolgen würden.

Das Verhalten der drei Regierungen in Bezug auf das Abstimmungsverhalten der

Beschlussgremien stellt eher die Ausübung institutioneller Macht als multilaterale

Kooperation nach dem Prinzip der formalen Gleichwertigkeit der Partner dar. Der

institutionelle Machtbegriff meint an dieser Stelle die Einflussnahme auf das Handeln und

das Abstimmungsverhalten anderer Akteure in Institutionen und internationalen Regimen.

Auf diesem Wege gelang es den interventionsbereiten Regierungen die entsprechenden

Institutionen und Organisationen im Sinne ihrer eigenen nationalen Interessen zu

instrumentalisieren.32

4. Die Interessen und Motive der Interventen

4.1 Frankreich

Bei der Suche nach Ursachen und Motiven für die militärische Intervention lassen sich aus

rationalistischer Perspektive heraus eine ganze Reihe möglicher ökonomischer und

machtpolitischer Hintergründe identifizieren, die ausgerechnet im Falle Libyens zu einem

raschen Eingreifen einiger Staaten geführt haben. Neben dem besseren Zugriff auf die

natürlichen Ressourcen und den prosperierenden libyschen Markt ist sicher die

unvermittelt aufgetretene Möglichkeit zu nennen, den kaum berechenbaren Faktor Gaddafi

zu beseitigen und damit das eigene außenpolitische Profil als globale Ordnungsmacht zu

schärfen. Institutionelle oder sozialkonstruktivistische Theorieansätze lassen eine

Reduzierung der Interventionsursachen in diesem Maße jedoch nicht zu. Das rasante

Vorgehen einiger Akteure, die Ereignisse in den Beschlussgremien Internationaler

Organisationen und das im Vergleich dazu eher zögerliche Verhalten gegenüber den

Regimen anderer Staaten der Region muss in diesem theoretischen Kontext auf Ursachen

hin untersucht werden, die über den Faktor der Rationalität hinausgehen. Die Hintergründe

werden dabei sowohl in den systemischen Strukturen der internationalen Gemeinschaft als

auch im gesellschaftlichen Innenleben der Akteure verortet. Daraus ergibt sich die

Notwendigkeit, die Akteure Frankreich, Großbritannien und USA im Folgenden näher auf

32 Vgl. Gourevitch 2007, S. 61ff

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19

mögliche kulturelle und rollentheoretische Hintergründe zu betrachten, um Rückschlüsse

für die möglichen Motive ihres Konfliktverhaltens zu ziehen.

Bei der Betrachtung des Akteurs Frankreich kommt man um die Sonderrolle, die er auf

dem afrikanischen Kontinent spielt, nicht herum. Kaum ein anderer externer staatlicher

Akteur hat sich dort in den letzten Dekaden politisch und militärisch in vergleichbarem

Maße engagiert. Die Hintergründe für dieses intensive Engagement in Afrika liegen in den

außenpolitischen Elementen der nationalen Identität Frankreichs und einem damit

verbundenen Selbstverständnis hinsichtlich der außenpolitischen Souveränität des Landes.

Das Wechselverhältnis zwischen dem Staat und der französischen Nation ist die

elementare Komponente der politischen Kultur Frankreichs und spiegelt sich auch in der

nationalen Identität wieder. Dieses Wechselspiel geht zurück bis zu den Ursprüngen des

französischen Staates im späten Mittelalter und entwickelte sich angetrieben durch

Ereignisse wie die Französische Revolution und den Zweiten Weltkrieg fort. Beide

Begriffe sind untrennbar miteinander verbunden, und durch den gesellschaftlichen wie

politischen Wandel der Revolutionsphase ordnen sich Staat und staatliche Machtausübung

der Nation unter und werden von ihr allein legitimiert. Dies beinhaltet im Gegenzug die

oberste Verpflichtung staatlichen Handelns, die Nation gegen Gefahren von innen und

außen zu schützen.33

In der Außenpolitik äußert sich diese Aufgabe in Form einer

konsequenten und wenn notwendig auch unilateralen Sicherheitspolitik, die eine

Einschränkung der äußeren Souveränität durch die Beteiligung in Regimen und

Institutionen kaum zulässt. Die Kernaufgabe der Bewahrung außenpolitischer

Unabhängigkeit gipfelte innerhalb der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg im Austritt aus

der NATO unter der Regierung de Gaulle 1966. Ebenso wenig wie in die von den USA

dominierte NATO integrierte sich Frankreich dauerhaft in europäische Regime, wenn

damit ein Souveränitätsverzicht verbunden war. Multilaterale Kooperation dient im Sinne

der klassischen nationalen Identität somit lediglich der Verringerung von äußeren

Bedrohungen, die auf unilateralem Wege nicht zu gewährleisten ist, und kann nur

akzeptiert werden, wenn die Beteiligung mit den französischen Interessen konform ist.

Zur Wahrung der französischen Souveränität trug auch der Aufbau einer eigenen

Atomstreitkraft maßgeblich bei, für deren Erhalt das französische

33 Vgl. Kempin 2008, S. 32ff

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Verteidigungsministerium jährlich einen empfindlich hohen Etat bereitstellt. Mit der

Absicht, Frankreich als einflussreiche Großmacht auf internationaler Ebene zu etablieren,

wurden die Nuklearwaffen in den 1960er Jahren angeschafft und werden bis heute von den

Traditionalisten als unverzichtbares Mittel der Abschreckung angesehen.34

Zudem wird

häufig die Rolle Frankreichs als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat unmittelbar an die

Atomwaffen des Landes geknüpft.

Die für die nationale Identitätskonstruktion essentielle Fähigkeit, im Alleingang weltweit

militärisch zu intervenieren, äußert sich in der französischen Sicherheitspolitik auf zwei

Wegen. Zum einen gehört es zu den Prioritäten der Verteidigungspolitik Frankreichs, die

Streitkräfte auf dem gesamten Spektrum denkbarer militärischer Operationen möglichst

schlagkräftig und weltweit einsatzbereit zu halten. Erkennbar ist dieser Grundsatz trotz

europäischer Streitkräfteintegration im Rahmen der GSVP am enormen Umfang der

französischen Armee im Mutterland und auch in den Überseestandorten. Die allein der

Exekutive in Paris unterstellten Streitkräfte stellen den größten nationalen Militärapparat

innerhalb der EU dar und sind neben den Überseedepartements auch in verschiedenen

Staaten Afrikas dauerhaft präsent. Zum anderen räumt das Livre Blanc als Grundlage

französischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik klar die Möglichkeit ein, zum Schutze

von Souveränität, Territorium und Staatsbürgern auch im Ausland militärisch zu

intervenieren. Besonders hervorgehoben werden an dieser Stelle die im Schwerpunkt in

afrikanischen Staaten lebenden Franzosen.35

Insgesamt kann der Schutz der nationalen Sicherheit und besonders die Wahrung

außenpolitischer Souveränität als Basis traditioneller nationaler Identität verstanden

werden. Dies impliziert nicht die Abwesenheit kritischer Stimmen im Land, die sich zu

Wort melden, wenn es um grundlegende Fragen zur europäischen Integration, zu den

Kernwaffen oder um Anwendung militärischer Gewalt geht. Die französische

Selbstwahrnehmung als europäische Großmacht, die mit uneingeschränkter

außenpolitischer Souveränität und handlungsfähigen zivilen und militärischen

Instrumenten im Bereich der Sicherheitspolitik ausgestattet ist, kollidiert jedoch

zwangsläufig mit dem Integrationsgedanken der EU und der Notwendigkeit multilateraler

Kooperation.

34

Vgl. Wisotzki 2001, S. 273 35 Vgl. Jonas / von Ondarza 2010, S. 44f, 60ff

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Integration und Kooperation sind der politischen Kultur Frankreichs jedoch nicht gänzlich

fremd. Sie gehören ferner zu einem weiteren Element der nationalen Identität, das

maßgeblich auf der empfundenen Verpflichtung beruht, demokratische und universelle

Werte, die als Erbe der Französischen Revolution betrachtet werden, weltweit zu vertreten

und durchzusetzen.36

Besonders in modernen Denkmustern rückt dieses Element in den

Schwerpunkt der Wahrnehmung. Diese Interpretation des kulturellen Erbes der

Revolutionszeit findet sich zwar auch bei Vertretern der traditionellen französischen

Identität, unterscheidet sich aber bei modernen Konstruktionen erheblich in der Wahl der

Mittel. Während klassische Instrumente der Machtpolitik zur Durchsetzung dieser Werte in

traditionellen Identitätskonstruktionen überwiegen, finden sich durchaus Züge des

Zivilmachtmusters in abweichenden weniger traditionellen Denkmustern. Wie weit sich

alternative Identitätsmuster oder die Zivilmachtrolle auf Dauer in den Köpfen politischer

Eliten etablieren können, bleibt bei einem Akteur wie Frankreich jedoch schwer

vorhersehbar. Französische Kooperation gerät leicht in Verdacht, ausschließlich

nationalem Interesse zu dienen und ihr Bestand scheint nur solange gesichert zu sein, wie

dieser Zweck auch tatsächlich erfüllt wird. Letztlich tragen auch gesellschaftliche

Erwartungshaltungen und Einflüsse politischer und wirtschaftlicher Eliten zu Identitäts-

und Rollenausprägung bei, die einen französischen Souveränitätsverzicht ohne

erkennbaren Gewinn außer Frage stellen.

In der französischen Außenpolitik der letzten beiden Dekaden kann somit ein

Rollenkonflikt identifiziert werden, der das Land zwischen unilateralem Vorgehen sowie

bilateralen Vereinbarungen einer Groß- / Militärmacht und seiner Rolle als engagiertes

Mitglied der EU bzw. innerhalb der GASP schwanken lässt.37

Dieses Schwanken macht

insbesondere die französische Sicherheitspolitik mittel- und langfristig schwer

prognostizierbar. So positionierte sich Frankreich 2003 an der Seite Deutschlands, trotz

laufender Beteiligung am Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan und Beteiligung

am Golfkrieg 1990, gegen eine Intervention im Irak.

36

Vgl. Kempin 2008, S. 37f 37 Anzeichen für diesen Rollenkonflikt in der Sicherheitspolitik findet man in der Sonderrolle Frankreichs in Afrika mitsamt allen bilateralen Vereinbarungen mit verschiedenen afrikanischen Regimen und einer Reihe von Interventionen sowie in der französischen Beteiligung an Aktionen im EU- oder NATO-Rahmen. Hier sind die französische Initiative zur Stärkung der ESVP ab 1999, die Beteiligung Frankreichs an zivilen und militärischen Einsätzen der ESVP auf dem Balkan und in Afrika sowie die teilweise Rückkehr in die NATO zu nennen.

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Im Fall des Libyen-Konfliktes kann eine rasche Reaktion Frankreichs festgestellt werden.

Während die Regierung am 17. Februar 2011 öffentlich noch den Grundsatz der

Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates betonte, traf der

französische Staatspräsident wenige Tage später bereits Absprachen mit seinem britischen

und amerikanischen Kollegen über ein eventuelles militärisches Vorgehen gegen das

Regime.38

Die Regierung in Paris scheute sich auch zu diesem frühen Zeitpunkt nicht,

Gaddafi zur Machtabgabe aufzurufen und weitere Schritte gegen sein Regime

anzukündigen. Seit dem Amtsantritt Sarkozys sollten zwar die Ambitionen Frankreichs, in

einzelnen afrikanischen Regionen aktiv in der Rolle der militärischen Ordnungsmacht

aufzutreten, zurückgefahren werden, das tatsächliche militärische Engagement spricht

jedoch eine andere Sprache. So trat Frankreich 2008 außerhalb der EUFOR-Mission im

Tschad zur Stützung des autokratischen Regimes Déby in Erscheinung und unterstützte

weiterhin im Frühjahr 2011 militärisch die Rebellen in der Elfenbeinküste bei der

Absetzung des ivorischen Regimes nach dessen offizieller Abwahl im Vorjahr.39

Vor dem Hintergrund der politischen Kultur Frankreichs und seiner nationalen Identität

kann trotz des Pendelns zwischen Alleingängen einer Militärmacht und der

sicherheitspolitischen Kooperation in Institutionen ein Trend festgestellt werden.

Frankreich tendiert immer wieder klar dazu, sich als transkontinental einflussreiche

Militärmacht zu profilieren, die sowohl im Bündnisrahmen als auch unilateral

handlungsfähig ist. Neben dem Status als Atom- und Vetomacht im Sicherheitsrat ist

öffentlichkeitswirksames politisches und militärisches Engagement in Afrika ein gängiges

Mittel, um diese Tendenz zu unterstreichen. Zur Stärkung der eigenständigen Rolle

Frankreichs als internationale Ordnungsmacht trugen auch die bilateralen Vereinbarungen

mit Großbritannien bei, die im November 2010 auf dem britisch-französischen Gipfel

getroffen wurden und eine enge sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation

abseits der GSVP beinhalten.

Neben der internationalen Reputation ist auch die innenpolitische Wirkung militärischer

Interventionen nicht zu unterschätzen. Sie lenken von innenpolitischen Spannungen ab und

38 Vgl. Französische Botschaft in Deutschland, Online im Internet: URL http://www.botschaft-frankreich.de/spip.php?article5213, zuletzt zugegriffen am 29.09.2011 39 Vgl. Koepf 2011, S. 1f

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geben der Regierung medienwirksam die Möglichkeit, ihr Profil in der Gesellschaft mit

Hilfe der Außenpolitik zu schärfen. In diesem innen- und außenpolitischen Kontext

erscheint auch das Eingreifen gegen das Gaddafi-Regime mit den öffentlich

kommunizierten Motiven Wiederherstellung der Menschenrechte und Beistand für die

Demokratisierungsbewegung als durchaus vereinbar mit der Rolle Frankreichs als

internationale militärische Ordnungsmacht.

Der wirtschaftspolitische Bezug soll an dieser Stelle dem machtpolitischen Kontext nicht

zwangsläufig untergeordnet sein. Immerhin handelt es sich bei Libyen um einen wichtigen

Öl- und Gasförderstaat, in dem ein enormes finanzielles Potential steckt. Der

Entwicklungsschub in den wenigen Jahren nach dem Ende der libyschen Isolation gibt

Aufschluss über die Wirtschaftskraft, die mit den Rohstoffressourcen des Landes

verbunden ist. Immerhin zeigten sich eine Reihe europäischer Staatschefs sehr interessiert

an wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit dem libyschen Regime und nahmen im Falle

Frankreichs sogar den exzentrischen Auftritt Gaddafis bei einem Staatsbesuch in Kauf. Der

Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Gaddafi und eine größere Beteiligung an

der Ressourcenförderung in der libyschen Wüste, die interventionsbereiten Staaten von der

selbsternannten Übergangsregierung frühzeitig in Aussicht gestellt wurde, sind ein sehr

willkommener Nebeneffekt für die Regierung in Paris.40

Um dem französischen Konfliktverhalten ein Rollenmuster zuzuordnen, müssen in

zeitlicher Nähe geschlossene Vereinbarungen und fallspezifische Interessenlagen am

Verhalten Frankreichs reflektiert werden. Generell richtet sich die Entscheidung für oder

wider unilaterales Vorgehen nach der individuellen Interessenlage im betreffenden Staat

bzw. der betreffenden Region. Das Handeln Frankreichs im Libyen-Konflikt kann

insgesamt dem Rollenmuster einer Groß-/ Militärmacht zugeordnet werden.

4.2 Großbritannien

Ähnlich wie in der politischen Kultur Frankreichs finden sich auch in Großbritannien

sowohl traditionelle als auch moderne Einflüsse wieder. Nationale Identitäten werden auch

40

Libyen gehört zwar mit seinen Öl- und Gasreserven nicht zur Weltspitze, stellt jedoch durch die relative Nähe zu Europa und die in den letzten Jahren gut ausgebauten Infrastrukturen eine wichtige Energiequelle gerade für Europa dar. Vgl. Zeit Online, Online im Internet: URL http://www.zeit.de/2011/15/Oelmarkt, zuletzt zugegriffen am 24.09.2011

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hier von einem gemeinsamen Mythos beeinflusst, der in diesem Falle auf der historischen

Größe des britischen Empires beruht. Aufgrund der immensen Größe des ehemaligen

Kolonialreiches und seiner überlegenen hochindustrialisierten Wirtschaft nahm das

Königreich als hegemoniale Supermacht die führende Rolle ein. Unterschiedliche

Faktoren, wie der Aufstieg anderer Großmächte, zunehmende Schwierigkeiten in den

britischen Kolonien, die hohen Kosten des Ersten Weltkrieges und nicht zuletzt die

Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das britische Finanzsystem führten zum

unaufhaltsamen Abstieg der Supermacht. Das Empire ging zwar als eine der Siegermächte

aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, doch die Phase der Dekolonisation ließ das Imperium

zum Commonwealth of Nations zusammenschrumpfen. Von dieser Entwicklung blieb

auch die nationale Identität nicht unbeeindruckt.41

Die Führungsrolle Großbritanniens war

seit den Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Dominions auf das intergouvernementale

Regime des Commonwealth beschränkt und ähnlich wie im Falle Frankreichs baute ein

großer Anteil des Führungsanspruches nach Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Rolle

als Atommacht und Vetomacht im UN-Sicherheitsrat.

Die maßgeblich identitätsstiftenden Faktoren, die sowohl traditionelle als auch moderne

Denkmuster in Großbritannien beeinflussen, sind also zunächst der Mythos des britischen

Empires und der davon übriggebliebene Großmachtstatus mitsamt dem Status als Atom-

und Vetomacht im Sicherheitsrat. Weiterhin sind die kulturellen und historischen

Gemeinsamkeiten innerhalb des Commonwealth zu nennen, die diesen Staatenbund seit

seiner Gründung zusammenhalten und für den sich das Mutterland Großbritannien

verantwortlich fühlt. Aus dieser Verantwortung resultieren sicherheitspolitische Interessen,

die weit über die eigenen Grenzen hinaus reichen und sich durch die Lage der einzelnen

Commonwealth-Staaten über die gesamte Welt erstrecken. Ähnlich wie Frankreich,

basierend auf dem ehemaligen französischen Kolonialreich und den zahlreichen

verbliebenen Überseedepartements, versteht sich auch Großbritannien an der Spitze des

Commonwealth als eine internationale Ordnungsmacht mit entsprechendem

Gestaltungsanspruch.

Identitätsstiftende Wirkung entfaltet auch das spezielle transatlantische Verhältnis

Großbritanniens. Die von Churchill und Roosevelt im Laufe des Zweiten Weltkrieges

41 Vgl. Self 2010, S. 2f, 13f, 20ff

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initiierten engen Beziehungen zwischen den beiden Akteuren bilden in traditionellen und

modernen Denkmustern einen Eckpfeiler britischer Außenpolitik und basieren maßgeblich

auf der historischen und kulturellen Verbundenheit der beiden Staaten.42

In jüngerer

Vergangenheit manifestierten sich die anglo-amerikanischen Beziehungen etwa in den

gemeinsamen Interventionen im Irak (1990 und 2003) und in Afghanistan. Großbritannien

befand sich bereits mehrfach in einem Zwiespalt zwischen seinen bilateralen Beziehungen

zu den USA und der Integration in die EU und einer europäischen Sicherheitspolitik.

Der Erhalt des Status Quo einer Großmacht kostet Großbritannien jedoch einen hohen

Preis. So besteht bereits seit Jahren die größte Herausforderung der britischen

Sicherheitspolitik mitsamt dem Atomwaffenarsenal in der Finanzierungsfrage. Die hohe

Belastung des knappen britischen Haushalts führt regelmäßig zu Etatkürzungen, die auch

vor dem Außen- und dem Verteidigungsministerium nicht halt machen. Dies resultierte

immer wieder in Verkleinerungen der Streitkräfte und Reduzierungen bei den

Rüstungsausgaben und führte auch dazu, dass Premier Cameron bereits 2010 erneute

Etatverkleinerungen für seine Legislaturperiode ankündigte.43

Britische Sicherheitspolitik,

die mit hohen Kosten für die Kriege in Afghanistan und im Irak belastet ist, muss sich

daher stets als effektiv und lohnend gegenüber dem britischen Establishment erweisen und

langfristig im Stande sein, wirtschaftlichen Nutzen zu erreichen, indem sie ein günstiges

und sicheres Umfeld für die britische Wirtschaft produziert.

In der National Security Strategy sind die Sicherheitsinteressen des Landes über die

Grenzen der britischen Inseln hinaus klar beschrieben. Sie umfassen auch den Schutz der

Überseegebiete und die Verantwortung gegenüber den Partnern im Commonwealth. Über

das Element der äußeren Sicherheit hinaus hält das Grundsatzdokument auch die

Vertretung britischer Interessen in Bezug auf die Förderung demokratischer Strukturen und

freien Handels in globalem Rahmen fest. Dieses über die Grenzen Europas hinausgehende

nationale Sicherheitsinteresse ist ein traditionelles Element britischer Sicherheitspolitik,

das sie mit ihrem französischen Pendant gemeinsam hat.44

Die NSS bezieht zudem klar

Stellung dazu, dass militärische Interventionen ein mögliches Mittel darstellten, auch ohne

Autorisierung durch die UN und außerhalb der NATO nationale Sicherheitsinteressen

42 Vgl. Self 2010, S. 36 43

Vgl. Self 2010, S. 202ff 44 Vgl. Jonas / von Ondarza 2010, S. 44ff

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durchzusetzen und dass hieraus die Notwendigkeit resultiert, eigene Fähigkeiten und

operative Führungsstrukturen aufrecht zu erhalten.45

Großbritannien kann insgesamt ähnlich wie Frankreich das Rollenmuster einer Großmacht

zugeschrieben werden, die sich als wichtiger Partner in den transatlantischen Beziehungen,

eine globale Ordnungsmacht an der Spitze des Commonwealth und im Status einer Atom-/

Vetomacht versteht und trotz großem finanziellem Aufwand ihre sicherheitspolitische

Souveränität und Handlungsfähigkeit aufrechterhalten will.

Bei der Interpretation der Interessenlage Großbritanniens im Falle des Libyen-Konflikts

spielen neben der verstärkten anglo-französischen sicherheitspolitischen Kooperation seit

2010 sicherlich auch innenpolitische und wirtschaftliche Faktoren eine Rolle. So stehen

britische Regierungen seit Jahren durch ein bröckelndes Sozialsystem und große

Haushaltsdefizite unter dauerhaftem Druck. In Bezug auf die innere Sicherheit und

Ordnung steht die aktuelle Regierung unter heftiger Kritik. Die Brisanz der

innenpolitischen Thematik wurde erst im August dieses Jahres bei tagelangen beinahe

landesweiten Ausschreitungen deutlich, deren Ausmaß die europäische Öffentlichkeit

schockierte. Daher kann auch an dieser Stelle der Faktor der Profilierung mit Hilfe einer

öffentlichkeitswirksamen Außenpolitik nicht vernachlässigt werden, die zudem auch

wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen kann. Dies ist ein Element, das besonders nach

den Folgen der Weltfinanzkrise für Finanzsystem und Industrie Großbritanniens von

erhöhter Bedeutung ist.

4.3 Gemeinsame Interessen und Ziele der Akteure

Frankreich und Großbritannien können nach der einzelnen Betrachtung einiger Elemente

ihrer nationalen Identitäten und ihrer außenpolitischen Kultur durchaus verschiedene

Gemeinsamkeiten zugeschrieben werden. So finden sich bei beiden Staaten

identitätsstiftende Faktoren in ihrer historischen Größe und ihrer historischen Bedeutung

für die Entwicklung moderner demokratischer Staatlichkeit. Weiterhin ist in der

außenpolitischen Kultur beider Staaten ein Selbstverständnis verortet, nationale

Sicherheitsinteressen global zu vertreten und dazu auch den Einsatz militärischer Mittel zu

45

Vgl. Jonas / von Ondarza 2010, S. 50

Page 27: Libyen - Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

27

nutzen. Identitätskonstruktionen sowohl traditioneller als auch moderner Denkschulen in

beiden Staaten leiten hieraus das ein notwendiges Interesse ab, auch unilateral

handlungsfähig zu bleiben und zu diesem Zweck eigene militärische

Interventionspotentiale aufrechtzuerhalten, um gegebenenfalls Sonderinteressen abseits

Internationaler Organisationen zu verfolgen.

Auch in Bezug auf innenpolitische Spannungen können gemeinsame Faktoren ausgemacht

werden. Die durch schwere Jugendkrawalle sowohl in französischen als auch britischen

Großstädten offensichtlich gewordenen gesellschaftlichen Spannungen, die durch

wachsende soziale Unterschiede zwischen den elitären Oberschichten der Länder, die

Politik und Verwaltung dominieren, und den übrigen Bevölkerungsschichten verursacht

werden, teilen beide Staaten miteinander. Zusammen mit den Auswirkungen der

Finanzkrise auf die Staatshaushalte erzeugen die gesellschaftlichen Spannungen einen

permanenten innenpolitischen Druck auf die Regierungen, der die Debatte um soziale

Ungleichheit in Deutschland bei weitem übersteigt.

Die Gemeinsamkeiten beider Staaten in Bezug auf ihre Selbstwahrnehmung als

internationale Ordnungsmächte, die nur beschränkte Bereitschaft zu sicherheitspolitischer

Integration zeigen, manifestierten sich bereits vor der Intervention in den bilateralen

Vereinbarungen, die auch abseits der EU eine enge Zusammenarbeit vorsehen. Im Rahmen

dieser Kooperation sollen nicht nur gemeinsame Rüstungsprojekte abgestimmt, sondern bis

hin zur Formulierung strategischer Grundsatzprogramme und einem gemeinsamen

Krisenmanagement zusammengearbeitet werden.46

Auf diesem Wege bleibt beiden

Akteuren trotz der permanenten Sparzwänge und der Integration in europäische

Institutionen auf anderen Politikfeldern die größtmögliche sicherheitspolitische

Handlungsfreiheit erhalten.

Mit diesen Auflagen stehen Frankreich und Großbritannien nicht allein. Für die USA

gehört die außenpolitische Handlungsfähigkeit unabhängig von der innenpolitischen

Machtkonstellation im Capitol oder im Weißen Haus seit jeher zu einem Eckpfeiler

nationaler Identität. Die Anwendung militärischer Gewalt zur Umsetzung nationaler

Sicherheitsinteressen in globalem Rahmen, baut auch in den USA auf einem mehr oder

46 Vgl. Kempin / Mawdsley / Steinicke 2010, S. 2f

Page 28: Libyen - Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

28

weniger breiten gesellschaftlichen Konsens auf. Unumstritten ist weiterhin, dass Libyen in

mehrerlei Hinsicht im amerikanischen Interessenbereich liegt. So hat die Intervention nicht

nur humanitären Charakter, sondern kann ebenso mit möglichen Gefahren durch sich

etablierende internationale Terrorgruppen, notwendige Stabilität im Nahen Osten, der

Rolle Libyens als Erdölförderstaat und der Etablierung demokratischer Ordnung in der

Region legitimiert werden. Neben verschiedenen Rechtfertigungsgründen verbindet die

USA weiterhin das Element der innenpolitischen Profilierung mit den beiden anderen

Akteuren. So sieht sich US-Präsident Obama innenpolitisch der Blockadehaltung der

republikanischen Fraktionen in Senat und Repräsentantenhaus gegenüber und hat kaum

Möglichkeiten, seinen Gestaltungswillen umzusetzen. Die Interessenkohärenz der drei

Akteure in Bezug auf das libysche Regime machte es offenbar unproblematisch, das

gemeinsame Ziel zu formulieren, Gaddafi zu beseitigen.

4.4 Die militärische Intervention im Lichte der Responsibility to Protect

Die in meinen Augen am intensivsten kommunizierte Gegenthese hinsichtlich der

militärischen Intervention gegen Gaddafi war die auf der Grundlage der R2P stehende

dringende Notwendigkeit, Menschenrechtsverletzungen und gezielte bewaffnete Angriffe

der Sicherheitsorgane auf Zivilisten zu beenden.47

Diesen Zusammenhang machten auch

die drei bisher betrachteten Interventionsmächte Frankreich, Großbritannien und die USA

immer wieder deutlich. Doch fällt die Intervention nur in eine sehr weite ausgelegte Form

der Schutzverantwortung, die äußere Umstände und Wahl der eingesetzten Mittel

unberücksichtigt lässt.

An dieser Stelle möchte ich die Arbeit um den direkten Bezug zur R2P erweitern, da er

eine Reflektion der Standpunkte und des Handelns verschiedener Akteure an den einzelnen

Elementen der Schutzverantwortung ermöglicht. Auf der Grundlage des ursprünglichen

Konzeptes der humanitären Schutzverantwortung, das die International Commission on

Intervention and State Sovereignty (ICISS) 2001 erarbeitete und das 2005 in Bruchstücken

von der UN-Generalversammlung aufgegriffen wurde, sollen im Folgenden die in den

vorhergehenden Abschnitten betrachteten Handlungen nochmals untersucht werden. Als

47 Vgl. dazu ausführlicher Nachtwei 2011;Bundesregierung online, G8-Gipfeldokument Deauville 2011, URL http://www.bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/G8G20/Anlagen/deauville-g8-declaration,property=publicationFile.pdf, zuletzt zugegriffen am 20.09.2011;

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29

Agenda nutze ich dabei die in der Konzeption konkret formulierten Kriterien zur

Anwendung militärischer Gewalt. Die sechs formulierten Kriterien umfassen im Einzelnen

den gerechten Grund schwerer Menschenrechtsverletzungen, die ausschließlich

humanitäre Motivation der militärisch intervenierenden Akteure, den Einsatz militärischer

Gewalt als Ultima Ratio, die Verhältnismäßigkeit der angewandten militärischen Mittel im

Bezug auf die zu verhindernden Menschenrechtsverletzungen, reale Erfolgsaussichten und

die Autorisierung durch eine übergeordnete Instanz. Diese Kriterien sind laut R2P nicht

veränderbar und lassen sich auch nicht selektiv zur Legitimation militärischer Gewalt

heranziehen.48

Die Konkretisierung des gerechten Grundes wird innerhalb der Konzeption durch zwei

präzisere Fallbeschreibungen vorgenommen, die sich auf Umstände von Genozid oder

ethnischer Säuberung beschränken, bei denen in großer Zahl Mord, Vertreibung oder

sexuelle Gewalt durch einen Staat ausgeübt wird oder durch fehlende staatliche Funktionen

ermöglicht wird.49

Systematische Menschenrechtsverletzungen durch Gaddafis repressives

Regime traten jedoch nicht akut auf, sondern sind seit vielen Jahren offensichtlich. Die im

Zusammenhang mit der Niederschlagung der Rebellen 2011 von Gaddafis

Sicherheitskräften verübten Menschenrechtsverletzungen können darüber hinaus nur

schwer der Größenordnung Genozid oder ethnischer Säuberung zugeordnet werden. Ein

großer Teil der zivilen Opfer, die zu beklagen waren, kam in unmittelbarem

Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen zu Tode, die typischerweise in

urbanen Zentren stattfanden und somit die Zivilbevölkerung in besonderem Maße in

Mitleidenschaft zogen. Dies soll in keiner Weise das Vorgehen der libyschen

Sicherheitsorgane relativieren, sondern lediglich im Kontext der für den Einsatz

militärischer Gewalt gegebenen Umstände verstanden werden.

Durch die in den vorhergehenden Abschnitten dieses Kapitels herausgestellten Motive der

intervenierenden Staaten Frankreich, Großbritannien und USA und die offen

kommunizierte Absicht, den Regimewechsel zu erzwingen, wird auch das zweite

Kriterium des ausschließlich humanitären Zweckes militärischer Gewaltanwendung nicht

erfüllt. Militärische Gewalt gegen einen souveränen Staat darf niemals aus macht- oder

wirtschaftspolitischem Kalkül heraus angewendet werden. Diese Beschränkung soll in

48

Vgl. dazu ausführlich ICISS 2001, S. 32ff; Verlage 2009, S. 14 49 Vgl. ICISS 2001, S. 32

Page 30: Libyen - Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

30

ihrem Ursprung den Missbrauch der Schutzverantwortung und ihres humanitären

Charakters weitestgehend ausschließen. Ihre Wirksamkeit kann sie jedoch ohne

verbindliche Normen und eine vitale übergeordnete Instanz, die unabhängig von den

intervenierenden Akteuren über den ausschließlich humanitären Zweck wacht, nicht

entfalten.

Gegen den Einsatz militärischer Gewalt als Ultima Ratio zur Beendigung der

Menschenrechtsverletzungen spricht zunächst der kurze Zeitraum zwischen den ersten

wahrgenommenen Zwischenfällen und den Absprachen über weiteres militärisches

Vorgehen gegen das Regime bzw. der offen bekundeten Absicht, Gaddafis Regime zu

beseitigen. Das Kriterium der Anwendung einer militärischen Intervention als letztes

Mittel impliziert jedoch, dass zuvor alle Mittel und Instrumente der Diplomatie

ausgeschöpft worden sind. Das Initiieren weiterführender Sanktionen im Rahmen des UN-

Sicherheitsrates und der EU oder Bemühungen die Afrikanische Union (AU) intensiv an

Maßnahmen gegen das Regime zu beteiligen, blieben jedoch aus. Bewährte Werkzeuge der

Konfliktbearbeitung wie das frühzeitige Einrichten einer Kontaktgruppe oder das Ernennen

eines Sonderbeauftragten mitsamt dem verfügbaren Instrumentarium wurden entweder nur

als zweite Wahl oder gar nicht angewandt.50

Die dennoch stattgefundenen diplomatischen

Bemühungen wurden durch das ausgerufene Postulat des Regimewechsels empfindlich

gestört.51

In Hinsicht auf die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten militärischen Mittel muss

zunächst mal zwischen der Umsetzung einer Flugverbotszone, zu der im Rahmen der

Resolution 1973 eine Autorisierung vorlag, weiterführenden Maßnahmen zur Beendigung

der Menschenrechtsverletzungen und dem proklamierten Ziel des Regimewechsels

differenziert werden. Gezielte Luftangriffe auf Luftwaffenstützpunkte, um die zu

Angriffen auf Zivilisten benutzen Maschinen zu zerstören, und die dabei zu erwartenden

50

Die Libyen-Kontaktgruppe, an der neben einzelnen Staaten und NATO auch UN, AU und Arabische Liga beteiligt waren, nahm erst Ende März 2011 ihre Arbeit auf, während die Resolution 1973 bereits beschlossen und die Luftangriffe auf Libyen im Gange waren. Die EU ernannte den spanischen Diplomaten Leon Bernardino erst am 18. Juli 2011 zum Sonderbeauftragten für den südlichen Mittelmeerraum, ohne ihm entsprechende spezifische Handhabe zur Beteiligung am Konfliktmanagement in Libyen zu geben. Vgl. Al Jazeera Live Blog Libya, Online im Internet: URL http://blogs.aljazeera.net/liveblog/libya, zuletzt zugegriffen am 21.09.2011; Bundeszentrale für politische Bildung, Online im Internet: URL http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=EUC3AF&page=0, zuletzt zugegriffen am 28.09.2011; Europäische Union, Online im Internet: URL http://www.consilium.europa.eu/policies/foreign-policy/eu-special-representatives.aspx?lang=de, zuletzt zugegriffen am 22.09.2011 51 Vgl. Pradetto 2011, S. 57

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31

Schäden, standen ohne Zweifel im Verhältnis zu den zivilen Opfern, die bei weiteren

Luftangriffen des libyschen Militärs zu erwarten wären. Auch die Zerstörung der libyschen

Flugabwehrstellungen zur Sicherstellung einer entsprechend notwendigen Lufthoheit der

NATO-Streitkräfte erscheint in diesem Zusammenhang legitim. Die Anwendung massiver

Angriffe mit Luftwaffe und Marschflugkörpern auf militärische Ziele jeglicher Art auch in

urbanem und suburbanem Umfeld stellt jedoch die Verhältnismäßigkeit der Mittel in

Frage. Die hierbei zu erwartenden Verluste bei Gaddafis Truppen und die

Kollateralschäden erreichen anhand der enormen Zerstörungskraft der eingesetzten Waffen

schnell unverhältnismäßig hohe Zahlen. Die Auswahl von Bodenzielen, die von libyschen

Stellungen im Kampf gegen die Rebellen bis hin zu militärischen und administrativen

Einrichtungen in der Hauptstadt Tripolis reichten, muss auch im Kontext der Beendigung

der Menschenrechtsverletzungen kritisch beurteilt werden. Gemäß der R2P fallen nur

Ziele, die unmittelbar in Zusammenhang mit den humanitären Zwecken stehen, unter

dieses Kriterium, wenn die zu erwartenden Schäden dem Grundsatz der

Verhältnismäßigkeit entsprechen. Das Erzwingen eines Regimewechsels als Ziel

militärischer Gewaltanwendung wäre nur legitim, wenn es das einzige Mittel zur

Beendigung der Menschenrechtsverletzungen darstellt. Dieses Ziel also im Falle Libyens

in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu prüfen, ist ein rein fiktiver Schritt.

Dennoch wäre bei diesem Zweck eine Beschränkung der Mittel und Ziele einzuhalten, um

präzise nur das Regime und zu dessen Existenz essenzielle Ziele zu treffen und Schäden an

Menschenleben so gering wie möglich zu halten. Die von westlichen Interventen gelieferte

vielseitige Unterstützung der Rebellen, die ein Anfachen der Kampfhandlungen zur Folge

hatte und eine Vielzahl an zusätzlichen Opfern und Schäden verursachte, ist zudem ein

fragwürdiges Mittel, welches in keiner Weise mit der UN-Resolution zu legitimieren ist.52

Insgesamt kann beim Spektrum der durchgeführten militärischen Maßnahmen im Laufe

der Intervention nicht von einer allgemeinen Verhältnismäßigkeit der Mittel ausgegangen

werden.

52

Verschiedene Akteure, darunter Frankreich und Großbritannien, räumten bereits in der Anfangsphase der bewaffneten Auseinandersetzungen in Libyen ein, sogenannte Militärberater zur Unterstützung der Rebellen entsandt zu haben. Zudem drangen ab Juni 2011 vermehrt Informationen an die Öffentlichkeit, die trotz bestehenden Embargos Waffenlieferungen an die Rebellen beschrieben, welche unter anderem von Frankreich bestätigt wurden. Vgl. New York Times, Online im Internet: URL http://www.nytimes.com/2011/06/30/world/europe/30france.html?_r=1&scp=4&sq=intervention%20libya%20france&st=cse, zuletzt zugegriffen am 29.09.2011

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32

Was die realen Erfolgsaussichten der militärischen Gewalt betrifft, so findet sich an dieser

Stelle das wohl einzig erfüllte Kriterium. Dies liegt jedoch an der immensen Wirkung, die

der Sturz eines gesamten Regimes, die Zerschlagung seiner Sicherheitsorgane und die

Zerstörung des Großteils der taktischen Waffen besitzt. Der für die augenblicklichen

Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Personenkreis ist damit jeder Initiative

beraubt und die als Begründung der Gewaltanwendung genannten Verstöße werden in der

Tat beendet. Durch die Zerschlagung des gesamten Staatsapparates und der Streitkräfte

können also weder systematische Repression noch Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch

das Regime fortgesetzt werden. Wie es jedoch die Rebellen und die neuen Machthaber mit

den Menschenrechten halten, bleibt bis auf lückenhafte Meldungen ungewiss. In

Kombination mit den übrigen nicht erfüllten Kriterien zur Gewaltanwendung stellt die

Zerschlagung des gesamten Regimes mitsamt Staatsapparat jedoch kein legitimes Mittel

zur Beendigung von Menschenrechtsverletzungen dar.

Das letzte konkret beschriebene Kriterium zur Gewaltanwendung ist die Autorisierung

durch eine übergeordnete Instanz, deren Grundlage mit der Resolution 1973 in

beschränktem Rahmen vorliegt. Die Resolution kann jedoch nicht zweifelsfrei als

Autorisierung anerkannt werden. Dies liegt zum einen in den zuvor dargestellten

Methoden, mit denen die interventionsbereiten Akteure die Verabschiedung der Resolution

herbeigeführt haben, und zum anderen in der weiten Formulierung des Beschlusses selbst,

der die intervenierenden Staaten in der Wahl von Mitteln und Zielen kaum einschränkt.

Die NATO-geführte Intervention in Libyen kann also insgesamt den strengen Kriterien des

R2P-Konzeptes nicht standhalten. Der gerechte Grund, der ausschließlich humanitäre

Zweck, die Anwendung militärischer Gewalt als Ultima Ratio und die Verhältnismäßigkeit

der militärischen Mittel werden durch die Intervention in keinem Fall und die reale

Erfolgsaussicht sowie das Autorisierungskriterium nur in begrenztem Umfang erfüllt.53

Durch die Nichterfüllung dieser Voraussetzungen kann eine Wahrnehmung der

humanitären Schutzverantwortung, wie sie im Rahmen der R2P formuliert wird, nicht

festgestellt werden. Durch die fehlende Kodifizierung der R2P und damit fehlende

verbindliche Koppelung militärischer Gewaltanwendung an die strengen Kriterien des

Konzeptes, bietet eine individuell auslegbare und selektiv anwendbare Form der

53 Vgl. ICISS 2001, S. 32ff

Page 33: Libyen - Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

33

Schutzverantwortung jedoch ein passables Legitimationsinstrument, das

öffentlichkeitswirksam eingesetzt werden kann, um zweifelhafte Sekundärmotive hinter

dem Schild einer humanitären Notlage zu verfolgen. Die Gegenthese einer Notlage, die nur

mit sofortigem militärischem Eingreifen auf der Grundlage der R2P habe bewältigt werden

können, ist somit widerlegt.

5. Folgen für die Zukunft von NATO und GASP

5.1 Folgen für die NATO

Die Konsequenzen der NATO-Intervention gegen Gaddafi können aufgrund der bisherigen

Entwicklungen nur prognostiziert werden. Dass in Libyen der beabsichtigte Bruch mit der

autokratischen Tradition gelingt, ist keinesfalls gesichert. Beabsichtigt ist ein Bruch mit

der autokratischen Tradition, dessen Gelingen jedoch keinesfalls gesichert ist. Faktisch

geht die NATO als regionale Organisation zum aktuellen Zeitpunkt gestärkt aus diesem

Konflikt hervor. Das anvisierte Ziel, Gaddafis Regime zu beenden, haben die Interventen

erreicht und somit den zuvor anerkannten Übergangsrat ins Amt der offiziellen Regierung

des Landes gehoben. Damit hat das Bündnis nicht nur seine militärische Stärke gezeigt,

sondern darüber hinaus in vermeintlich humanitärer Absicht und in Kooperation mit der

stärksten regionalen Organisation der arabischen Welt ein klares Zeichen in der Region

gesetzt. Sie kam mit dem Einsatz den Erwartungen vieler Eliten innerhalb der Arabischen

Liga und einer breiten Öffentlichkeit nach, die von den Einflüssen des Arabischen

Frühlings ergriffen sind und den Regimewechsel in Libyen aus unterschiedlichen Gründen

begrüßten.54

An dieser Stelle bleibt abzuwarten, ob diese Zusammenarbeit über die

Intervention hinaus zu neuen Partnerschaften des Bündnisses mit Akteuren aus der

aufgewühlten arabischen Welt führen kann. Bemerkenswert ist jedoch, wie rasch im Lichte

des Arabischen Frühlings und den Auseinandersetzungen in Libyen ein Dialog zwischen

der NATO und der Arabischen Liga in einer Intensität zu Stande kam, die von der EU mit

ihren regionalen Politiken in über 10 Jahren nicht erreicht wurde.

54 Vgl. Süddeutsche Zeitung, Kommentar Volker Perthes, Online im Internet: URL http://www.sueddeutsche.de/politik/nato-einsatz-in-libyen-offene-unterstuetzung-und-heimliche-hilfe-1.1135552, zuletzt zugegriffen am 14.09.2011

Page 34: Libyen - Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

34

Wie hoch der Einfluss nach Ende des Konfliktes auf die zukünftige politische Ordnung des

Landes sein wird ist ebenfalls fraglich. Um als Bündnis aktive Konfliktnachsorge und den

Aufbau demokratischer Strukturen zu betreiben, fehlen der NATO die zivilen Instrumente.

Insgesamt erscheint es derzeit wahrscheinlicher, dass einzelne Akteure wirtschaftlichen

und politischen Einfluss geltend machen und die NATO als Bündnis maximal zu

Unterstützungsleistungen herangezogen wird. Möglichkeiten in dieser Hinsicht bestünden

in der Unterstützung beim Aufbau des Sicherheitssektors und politisch-administrativer

Organe und der Mitwirkung an der Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes. Es bleibt

also auch abzuwarten, welche konkreten Akteure in welchem Ausmaß Konfliktnachsorge

betreiben und den Aufbau staatlicher Ordnung unterstützen werden. Dabei gilt es jedoch in

Libyen wie auch in den anderen Umbruchstaaten der Region behutsam vorzugehen, um zu

vermeiden, dass die Unterstützung in den jeweiligen Gesellschaften als Einmischung oder

gar Bevormundung wahrgenommen wird. Die Erfahrungen der USA im Irak seit 2003, wo

der gesamte Verwaltungs- und Sicherheitsapparat mit allen Strukturen zerschlagen wurde,

schließen ein vergleichbares Vorgehen eher aus. Von zentraler Bedeutung wird aber auch

weiterhin die Einflussnahme durch einzelne Staaten und transnationale Privatakteure

bleiben, die auf eine Neuordnung der Rohstoffmärkte und besseren Zugang zur

öffentlichen Verwaltung spekulieren, was dem ernsthaft betriebenen Aufbau einer

Nachkonfliktordnung kaum positiven Anschub liefern dürfte.

Innerhalb der Allianz haben die Auseinandersetzungen um die Übernahme der Intervention

und später um die Vorgehensweisen und Mittel deutlich gezeigt, wie unterschiedlich die

gemeinsamen strategischen Ziele von den Mitgliedern ausgelegt werden. Um im Sinne der

mit der NSC 2010 aktualisierten strategischen Grundausrichtung in Krisen militärisch zu

intervenieren, ist Einigkeit innerhalb des Bündnisses über Art und Ziele der Intervention

erforderlich. Wie in Bezug auf europäische Außenpolitik oftmals kritisiert wird, scheint

auch innerhalb der NATO ein Grundkonsens über offenbar bereits geregelte Standards

faktisch nicht vorhanden zu sein. Die Deutungen der allgemeinen strategischen Vorgaben

für militärische Kriseninterventionen weichen erheblich voneinander ab und führen bei den

Mitgliedern zu differierenden Einschätzungen, wann und wozu eine Intervention

notwendig ist und mit welchen Mitteln sie geschehen soll. Somit sind unabhängig von der

Größe des Beitrages, den ein Mitgliedstaat militärisch leisten kann, vor dem Hintergrund

verschiedener politischer Kulturen, nationaler Identitäten und Rollenmuster der Akteure

die Hemmschwellen zum Einsatz militärischer Gewalt ungleich groß.

Page 35: Libyen - Der erzwungene Regimewechsel in Libyen und die Folgen für die NATO und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

35

Die Intervention bestätigte die NATO weiterhin als wichtigstes Instrument der

amerikanischen Europa-Politik. Die Intervention hat deutlich gezeigt, dass trotz

abweichender Haltungen der einzelnen europäischen Bündnispartner und einem Vorgehen,

das in keiner Weise den im Rahmen der GASP formulierten Grundsätzen entspricht, im

Kreise der NATO Einzelinteressen verfolgt werden können, auch wenn sie nicht von allen

in gleichem Maße geteilt werden. Ein vorschneller Einsatz militärischer Gewalt, ein

erzwungener Regimewechsel oder die Unterstützung einer Bürgerkriegspartei wären mit

den normativen und strategischen Grundsätzen europäischer Sicherheitspolitik nicht

vereinbar. Dennoch gelang es auf der Plattform der Allianz die kritischen Stimmen zum

Schweigen zu bringen. Von einer scheinbaren Legitimierung durch die R2P und die

Resolution 1973 blieben auch die öffentlichen Diskurse und die Massenmedien in den

europäischen Gesellschaften nicht unbeeindruckt. Dieser letzte Fakt ist wiederum anhand

des Diskurses in Deutschland nachvollziehbar, in dem die interventionskritische Haltung

einiger europäischer Regierungen unverzüglich verurteilt wurde.

Die NATO hat sich damit als bedeutendstes sicherheitspolitisches Forum in Europa

bestätigt und diese Stellung auch innerhalb der internationalen Gemeinschaft gefestigt.

Dennoch war das schnelle militärische Eingreifen nicht im Sinne aller Bündnispartner. Nur

durch den politischen Druck, der von den interventionsbereiten Akteuren ausging, war

entgegen aller Zweifel der notwendige Konsens herbeizuführen. Die dabei angewandte

Methodik widersprach jedoch grundlegend dem Gleichheitsprinzip, das auch innerhalb der

NATO gelten sollte. Nur durch diese Vorgehensweise gelang es im Kreise der Mitglieder

einen Konsens herzustellen. Das Ziel, das im Zuge dieser Intervention jedoch erreicht

werden sollte, lässt sich nicht unmittelbar mit der UN-Resolution 1973 legitimieren und

genügt auch keineswegs den Kriterien der R2P zur Anwendung militärischer Gewalt, wie

in Kapitel 4.4 gezeigt wurde. Diese Tatsachen und die Beeinflussung der anderen Akteure

innerhalb der NATO lässt den Schluss zu, dass die Allianz zur Umsetzung des Interesses

Frankreichs, Großbritanniens und der USA, einen Regimewechsel in Libyen zu erzwingen,

instrumentalisiert wurde. Dies sorgte schließlich für eine Umverteilung der finanziellen

Kosten und der politischen Verantwortung von den drei Regierungen allein auf die

Schultern des gesamten Bündnisses.

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36

5.2 Folgen für die EU

Die faktische Bedeutung der EU als außenpolitischer Akteur steht und fällt mit dem

Handeln der Mitgliedstaaten. Die im Laufe des Entwicklungsprozesses der GASP

geschaffenen Institutionen, wie das Amt des Hohen Repräsentanten oder das Politische und

das Sicherheitspolitische Komitee, zeugen zwar von außenpolitischer Akteursqualität und

befähigen die GSVP zu eigenständigem Krisenmanagement, doch mangelt es an der dazu

notwendigen konstanten Bereitschaft einiger Mitgliedstaaten, Einzelinteressen

zurückzustellen, wie der Libyen-Konflikt vor Augen führt.

Über die Rolle, die der GASP und somit der EU als internationalem Akteur eingeräumt

wird, bestehen in der Union keineswegs kohärente Ansichten. Speziell Frankreich und

Großbritannien, zwei zweifellos zur Führungsgruppe der Union gehörende Staaten,

beginnen sich zumindest sicherheitspolitisch von der Union zu entfernen. Diese Tendenz,

die schließlich ihren bisherigen Höhepunkt in der Intervention gegen Gaddafi findet,

begann sich jedoch bereits vor knapp einem Jahr deutlich abzuzeichnen. Die bilaterale

Zusammenarbeit, die auf dem britisch-französischen Gipfel 2010 manifestiert wurde, ist

ein deutliches Zeichen für fehlendes Vertrauen in die europäischen Institutionen und

fehlende Absichten, das eigene Potential in den Dienst einer gemeinsamen europäischen

Sicherheitspolitik zu stellen.55

Die unterschiedlichen Auffassungen über die militärischen

Maßnahmen zur Erzwingung des Regimewechsels zeigen deutlich, wie weit sich Paris und

London von Berlin und einer Reihe weiterer interventionskritischer Mitgliedstaaten

entfernt haben.

Die bilaterale Kooperation Frankreichs und Großbritanniens und das gemeinsame Handeln

der beiden Akteure im Rahmen der Intervention zeigen jedoch eine weitere fragwürdige

Entwicklungstendenz an. Die verbriefte Abstimmung sicherheitspolitischen Vorgehens im

bilateralen Rahmen begründet ein Machtschwerpunkt innerhalb der Union, der offenbar

nicht nur die klare Absicht hegt, auch zukünftig abseits der GSVP agieren zu können,

sondern zudem über ausreichend politisches Gewicht verfügt, um innerhalb der

Abstimmungsgremien entsprechenden Druck zu erzeugen und die gemeinsame

Sicherheitspolitik der EU einzuschränken oder nach eigenen Interessen maßgeblich zu

55 Vgl. Kempin / von Ondarza 2011, S. 2;

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beeinflussen bzw. zu instrumentalisieren.56

Dieses anglo-französische sicherheitspolitische

Regime als alternativer Weg zur Verfolgung von Sonderinteressen, die in europäischem

Rahmen auf Widerstand stoßen, birgt jedoch die Gefahr, zu einer Parallelstruktur zu

werden, die auch als Druckmittel tauglich ist und für weitere EU-Mitglieder durchaus

attraktiv sein könnte.

Im öffentlichen Diskurs spielt europäische Außenpolitik dieser Tage nur eine

untergeordnete Rolle, da die finanzpolitischen Entscheidungsprozesse der Euro-

Schuldenkrise die Medienberichterstattung seit Monaten dominieren. Eine kollektive

Außenpolitik wird dennoch permanent betrieben. Abseits von im Lichte der Öffentlichkeit

stehenden Konfliktszenarien ist die EU schließlich mit politischen Programmen wie der

ENP, den ständigen Vertretungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) oder

Vertretungen der Kommission sehr aktiv. In der weiterhin brisanten Balkanregion betreibt

die Union eine durchaus lebendige Außenpolitik im Rahmen mehrerer ziviler und

militärischer Nachsorgemissionen. Es kann also keineswegs von einer gänzlich

handlungsunfähigen Außenpolitik oder fehlender Akteursqualität die Rede sein. Einen

kritischen Grad erreicht die Handlungsfähigkeit des Akteurs EU jedoch, wenn es um das

Krisenmanagement in einer Region geht, in der einzelne Mitglieder Sonderinteressen

vertreten. In einem solchen Fall wird das Einstimmigkeitsprinzip, das für Aktivitäten der

GASP gilt, zu einer schier unüberwindbaren Hürde und konkretes Handeln der EU kann

dauerhaft blockiert werden.57

Die von der GASP initiierten Programmatiken zur Förderung der Außenbeziehungen der

Union erscheinen in diesem Lichte von beschränkter Wirksamkeit zu sein. Programme im

Rahmen der ENP und der Mittelmeerunion, die Demokratie und Menschenrechte fördern

sollen, erfreuen sich zwar der einvernehmlichen Akzeptanz aller Mitgliedstaaten, scheinen

aber von ihren ursprünglichen normativen Zielen weit entfernt zu sein. Es waren

schließlich nicht die durch kulturelle und politische Zusammenarbeit geförderten

Organisationen in den nordafrikanischen Ländern, die maßgeblich als Auslöser der

regimekritischen Bewegungen in Erscheinung traten oder sich als prägnante Akteure

exponierten. Die brutalen Reaktionen der Regime in den betroffenen Staaten zeigten

56 Vgl. IFSH, Online im Internet: URL http://www.ifsh.de/IFSH/aktuelles/akt_stellung_hge5.htm, zuletzt zugegriffen am 02.10.2011 57 Vgl. Jopp / Schlotter 2008, S. 386f

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38

weiterhin, dass auch an dieser Stelle die Maßnahmen der EU kaum Früchte getragen

haben. Die Rolle der europäischen Förderprogramme kann in Bezug auf den Arabischen

Frühling somit nur als marginal bezeichnet werden. Daraus leitet sich ein zukünftiger

Handlungsbedarf ab, die Förderung aus ihrer Rolle als Deckmantel für die Erschließung

der lukrativen Märkte an der Peripherie Europas herauszuholen und mit mehr Ambitionen

zu verfolgen, um langfristig auch vorzeigbare Ergebnisse zu erzeugen. In den Papieren zur

strategischen Grundausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik sind die als Bedrohung

wahrgenommenen Faktoren klar benannt und die auf die Mittelmeerregion abzielenden

Politikprogramme als sicherheitspolitisches Instrument hervorgehoben. Die engen

Wirtschaftsbeziehungen zu den autokratischen Regimen trugen und tragen scheinbar nur

befristet zur Schaffung von Stabilität an der Peripherie Europas bei. Die zukünftigen

Aufgaben dieser Programme müssen auch im Bereich der Sicherheitspolitik der aktuellen

Lage in der Region angepasst werden. Dazu gehören neben dem Dialog mit den neuen

politischen Kräften in den Umbruchstaaten auch engere Beziehungen zu den regionalen

Organisationen wie der Arabischen Liga und der AU. Dazu gehört aber auch eine engere

Verknüpfung der ENP bzw. der Mittelmeerunion und europäischer Entwicklungspolitik

mit der Sicherheitspolitik der Union. Die außenpolitischen Instrumente, die auf die

Förderung demokratischer Strukturen, die Abmilderung sozialer Ungleichheiten durch

Entwicklungshilfeprojekte und den kulturellen Austausch abzielen, sind mittelbar auch

sicherheitspolitische Instrumente, um aktiv Konfliktprävention zu betreiben.

Aus rollentheoretischer Perspektive steht die Großmachtrolle, die dem Verhalten

Frankreichs und Großbritanniens zugeordnet werden kann, dem Muster der Zivilmacht, das

auf die EU als friedliche Staaten- und Wertegemeinschaft häufig angewandt wird, im

Grunde diametral entgegen. Dabei sind weniger abweichende Grundwerte der Rollenträger

für diesen Antagonismus entscheidend als die Haltung gegenüber dauerhafter

multilateraler Kooperation und verbindlicher zivilisierter Konfliktbewältigung. Doch diese

und andere der Zivilmachtrolle zugeordnete Verhaltensnormen sind in den politischen

Kulturen der einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich stark ausgeprägt bzw. innerhalb der

politischen Eliten in unterschiedlichem Maße sozialisiert. Diese Tatsache ist allein anhand

der so unterschiedlichen historischen Entwicklungen und Sozialisationsprozesse der

Akteure kaum verwunderlich. Nicht alle Mitgliedstaaten fühlen sich auch den Werten des

Leitbildes Zivilmacht in gleichem Maße verpflichtet. Die kompromisslose Anerkennung

dieser Werte wäre jedoch die Voraussetzung, um in Konfliktfällen rasch gemeinsame

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Standpunkte zu entwickeln, die ein umfassendes Konfliktmanagement beinhalten und die

Union auch im Krisenfall weitreichend handlungsfähig machen. Solange jedoch dieser

normative Grundkonsens nicht annähernd hergestellt ist und die Zivilmachtrolle nicht

Eingang in die politischen Kulturen aller Mitglieder findet, bleibt die Handlungsfähigkeit

und die Akteursqualität der EU auf unstrittige Fälle und das außenpolitische Tagesgeschäft

beschränkt.

5.3. Folgen für die Zusammenarbeit und die Geltung von NATO und EU

Die Tatsache, dass zur Konfliktbearbeitung im Fall Libyen der NATO der Vorrang vor der

GSVP eingeräumt wurde, trifft eine klare Aussage über die Geltung, die europäisches

Konfliktmanagement in der außenpolitischen Kultur einiger Akteure besitzt und welche

Rolle die Mitgliedschaft in der Union innerhalb der nationalen Identitäten spielt. Der

Einsatz von NATO-Strukturen zur operativen Führung der Intervention verlangte

stattdessen deutlich weniger Bindung an normative Grundsätze und vereinfachte die

Legitimierung des Eingreifens mit Hilfe der humanitären Schutzverantwortung gegenüber

der internationalen Gemeinschaft und innerhalb öffentlicher Diskurse.

Die Intervention wurde keineswegs von einer NATO-Streitkraft oder NATO Response

Force durchgeführt, sondern kam durch den gemeinsamen Einsatz unverzüglich

abgestellter nationaler Kontingente zu Stande. Innerhalb weniger Wochen, waren Teile aus

multinationalen Missionen in der Region umfunktioniert und massive Kräfte von den

jeweiligen Staaten mobilisiert worden, um bereits zwei Tage nach Beschluss der

Resolution im Sicherheitsrat mit den Luftangriffen zu beginnen. Von einem so zügigen

Zustandekommen einer schlagkräftigen Interventionstruppe kann die GSVP nur träumen,

auch wenn sich die Streitkräfte auf Luftangriffe, den Einsatz von Marschflugkörpern und

eventuelle Operationen spezialisierter Kräfte beschränkten. Die Kernleistung der NATO

selbst bestand im Grunde aus der operativen Führung durch die in Europa ansässigen

Kommandostrukturen und der Übernahme der politischen Verantwortung für das

militärische Eingreifen gegenüber der UN und der politischen Öffentlichkeit.

Der im Sinne der intervenierenden Staaten erfolgreiche Verlauf des militärischen

Eingreifens verfehlt sicher innerhalb Frankreichs und Großbritanniens seine Wirkung

nicht. Dieser Erfolg gibt dem Entschluss Camerons und Sarkozys Auftrieb, sich auf das

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eigene militärische Potential und die Führungsfähigkeit der NATO zu verlassen, anstatt im

Kreise der EU weiter nach einer Lösung für den Konflikt zu suchen und länger auf dem

diplomatischen Wege zu bleiben. Innerhalb der Allianz erschien es den

interventionsbereiten EU-Mitgliedern aufgrund der Unterstützung durch die ebenfalls auf

eine militärische Intervention hin drängenden USA leichter zu sein, ein für militärisches

Eingreifen günstiges Umfeld zu erzeugen als im Rahmen der Union. Dies birgt die Gefahr

in sich, dass sich diese selektive Praxis zukünftig einspielen könnte. Einzelfallspezifisch

bestünden dann Möglichkeiten, Sicherheitsinteressen entweder im Rahmen der GASP,

wenn dort kein Widerstand anderer Mitglieder zu erwarten ist, oder aber innerhalb NATO

zu verfolgen. Die daraus entstehende Rivalität beider Organisationen kann für die

Weiterentwicklung des gemeinsamen europäischen Krisenmanagements im Sinne des

Zivilmachtkonzeptes kaum vorteilhaft sein. Den USA ermöglicht es jedoch weiterhin, über

den Weg der NATO Einfluss auf die Sicherheitspolitik europäischer Staaten zu nehmen.

Der im genannten Sinne erfolgreiche Verlauf der Intervention gegen Gaddafi findet

schließlich, unbeachtet der fragwürdigen Entstehung und Auslegung von Beschlüssen und

Resolutionen und der zweifelhaften Anwendung der R2P zur Legitimierung, seinen Weg in

die Wahrnehmung der einzelnen Akteure und verfestigt das Rollenmuster der

internationalen militärischen Ordnungsmacht auf Seiten Frankreichs und Großbritanniens.

Die kritischen Einstellungen in den beiden Staaten gegenüber einer weiteren Integration in

die GASP und einem Souveränitätsverzicht zu Gunsten europäischer Sicherheitspolitik

dürften durch die Ereignisse der letzten Monate ebenfalls bestärkt worden sein, was die

engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Paris und London zusätzlich

aufwertet. Die bilateralen Vereinbarungen beider Staaten und die Haltung gegenüber der

GSVP im Libyen-Konflikt macht es in nächster Zeit unwahrscheinlich, dass sich die

beiden Akteure ernsthaft beim Ausbau ziviler und militärischer Fähigkeiten in

europäischem Rahmen engagieren werden.

Dadurch soll jedoch keineswegs bestritten werden, dass es in Frankreich und

Großbritannien kritische Ansichten in den Reihen der Opposition und innerhalb des

öffentlichen Diskurses gibt. In Frankreich setzten sich seit Ende der 1990er Jahre

verschiedene politische Lager für mehr Multilateralismus in der Außen- und

Sicherheitspolitik ein und lehnen die unilaterale Umsetzung von Sonderinteressen ab.

Doch finden sich innerhalb der liberalen und konservativen Kräfte der Staaten mehrheitlich

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41

Befürworter des Status quo und der Bewahrung uneingeschränkter Souveränität.58

In

zukünftigen Krisen kann dies wiederum dazu führen, dass der Beteiligung an der GASP

keine ernsthafte Bedeutung beigemessen und die Verpflichtung gegenüber den normativen

Vorgaben der Union der unilateralen Verfolgung nationaler Sicherheitsinteressen

nachgestellt wird. Für zukünftige militärische Interventionen unter dem Dach der GSVP

wird sich dagegen die Frage stellen, ob es sich tatsächlich um eine europäische

Friedensmission oder die Verfolgung nationaler Interessen ausgewählter Mitgliedstaaten

mit anderen Mitteln handelt.

6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Während sich die Medienberichterstattung der letzten Monate in ihrem Schwerpunkt auf

die Schuldenkrise einiger EU-Mitgliedstaaten und daraus erwachsende Konsequenzen für

die Euro-Zone beschränkte, spielten die politischen Folgen der Intervention in Libyen für

die Außenpolitik der Union nur eine marginale Rolle. Von zu großem Interesse waren die

wirtschafts- und finanzpolitischen Entwicklungen in Europa und der gesamte Konflikt

wurde zur Randerscheinung im öffentlichen Diskurs. Die Behauptung der humanitären

Schutzverantwortung im Sinne der R2P sorgte zudem für teilweise unhinterfragte

Zustimmung, wie der öffentliche Diskurs in Deutschland eindrucksvoll zeigte.

Unabhängig davon, wie man die Handlungsfähigkeit der EU-Außenpolitik generell

bewerten mag, wurde sie durch das Verhalten Frankreichs und Großbritanniens im Libyen-

Konflikt bewusst geschwächt und eigenständigem Handeln bzw. einer Einbeziehung der

NATO der Vorrang eingeräumt. In diesem Verhalten wird die aktuelle Haltung der

Akteure gegenüber einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik

deutlich. Diese wird nur selektiv wahrgenommen und lässt sich bei Bedarf sogar

blockieren und im Sinne nationaler Interessen zurückstellen. Auf diese Weise scheint auch

mittel- und langfristig eine auf intergouvernementalem Konsens beruhende Außenpolitik

wenig Entwicklungspotential zu haben. Die Notwendigkeit, die sich abkehrenden

Mitglieder Frankreich und Großbritannien wieder zurück in die Gemeinschaft zu holen und

dort zu binden scheint allgemein außer Zweifel zu stehen. Doch steht die EU nicht zum

ersten Mal vor dieser Herausforderung. Die Spaltung in der Frage zum Irak-Krieg stellte

58 Vgl. Kempin 2008, S. 205ff

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42

die europäische Außenpolitik bereits 2003 vor die Aufgabe, gemeinsame Interessen zu

manifestieren und gemeinsame sicherheits- und verteidigungspolitische Strukturen weiter

auszubauen.

Mit Blick auf die Zielsetzung, das Regime Gaddafis zu stürzen, waren die

Interventionsmächte faktisch erfolgreich. Allein mit Hilfe von Luftangriffen und weiteren

kaum konkret dokumentierten Unterstützungsleistungen gelang es, den Rebellen gegen die

bröckelnde Herrschaft Gaddafis zum Sieg zu verhelfen. Die neben den Ereignissen von

Fukushima und der Euro-Schuldenkrise in der Medienberichterstattung rasch in die zweite

Reihe herabgestufte Intervention ist jedoch mehr als nur ein weiteres gescheitertes Regime

innerhalb des Arabischen Frühlings.

In Bezug auf die anfangs aufgestellte These kann die Intervention durchaus als

Instrumentalisierung von UN-Sicherheitsrat und NATO im Sinne nationaler Interessen der

intervenierenden Staaten Frankreich, Großbritannien und USA angesehen werden. Die

Beeinflussung der interventionskritischen Mitglieder in den entsprechenden

Beschlussgremien war auf das Ziel ausgerichtet, mit Hilfe der militärischen Intervention

einen Regimewechsel zu erzwingen. Nachdem die kritischen Stimmen zur Enthaltung bzw.

Zustimmung gedrängt waren, konnte auf der Grundlage der unpräzise formulierten

Resolution 1973 und der darin enthaltenen Autorisierung die NATO als

Führungsinstrument der Intervention genutzt werden. Damit war der in der Außenwirkung

beabsichtigte humanitäre Charakter der Intervention sichergestellt und die politische

Verantwortung auf die NATO übertragen - und somit auf den Rücken aller Bündnispartner

verteilt worden.

Hinsichtlich der GASP wird es wohl höchste Zeit, die Geltung einer europäischen Außen-

und Sicherheitspolitik grundsätzlich zu überdenken. Die Ereignisse um die Intervention in

Libyen haben erneut deutlich gezeigt, wie weit die einzelnen Rollenmuster der Akteure

und die in den politischen Kulturen der Gesellschaften verorteten Grundeinstellungen zur

Anwendung militärischer Gewalt voneinander abweichen. Die so häufig angeprangerte

Handlungsunfähigkeit in Krisenfällen scheint in den Augen einiger Mitgliedstaaten kein

Defizit, sondern eher ein Vorteil europäischer Außenpolitik zu sein, der die Verfolgung

eigener Interessen abseits der GASP gestattet, wenn es darauf ankommt. Nach der Analyse

der Interessenlagen Frankreichs und Großbritanniens vor dem Hintergrund politischer

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Kultur und nationaler Identität und auf der Tatsache der bilateralen Vereinbarungen der

beiden Akteure scheint es beabsichtigt, die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der

EU auch in Zukunft nur in notwendigem Maße zu fördern. Vielmehr erscheint die GASP

von den beiden Akteuren als eine Form der multilateralen Zusammenarbeit

wahrgenommen zu werden, die nur dem Zwecke der Schaffung eines günstigen Umfeldes

für nationale Wirtschaftspolitiken dient und aus diesem Grunde regionale und bilaterale

Kooperationen eingehen soll.

Für die innerhalb der GASP geschaffenen GSVP-Strukturen wurde mit der Europäischen

Sicherheitsstrategie (ESS) ein weit gefasster Wertekatalog formuliert, der Grundfragen

zum Krisenmanagement in allgemeiner Form regelt, jedoch über keinerlei für die

Mitgliedstaaten verbindliches Regelwerk zur Anwendung militärischer Gewalt verfügt.

Die sicherheitspolitischen und militärischen Kapazitäten, die im Rahmen der GSVP seit

dem beschämenden Auftreten der EU im Kosovo-Konflikt 1999 aufgebaut und nutzbar

gemacht wurden, werden so zu einem Potential degradiert, das ohne jede Verbindlichkeit

bei günstiger Gelegenheit und zufälliger Interessen- und Strategiekonvergenz der

Mitgliedstaaten in Krisenszenarien eingesetzt werden kann. Gab es in der Vergangenheit

solche Übereinstimmungen, ob aus rationalen oder ideellen Gründen der einzelnen

Akteure, kamen auch gemeinsame Operationen wie im Kongo 2003 oder bei der

Übernahme von NATO-Missionen auf dem Balkan zu Stande.59

Grundsätzlich weichen

jedoch die Wahrnehmungen der gemeinsamen Sicherheitspolitik und ihre Geltung

innerhalb der nationalen politischen Kulturen erheblich voneinander ab. Da diese

Differenzen auch in nationalen Identitäten und Rollenmustern als Ergebnis

jahrzehntelanger Sozialisationsprozesse tief verwurzelt sind, ist dieser Perzeptionskonflikt

weder oberflächlich noch in kurzer Zeit lösbar.

Unabhängig von der Handlungsfähigkeit der europäischen Außenpolitik ist der Libyen-

Konflikt auch beispielgebend für einen Entwicklungstrend, der auch dem Ausbau der

GSVP seit der Initiierung erster Organe nachgesagt wird. Demnach ist innerhalb des

internationalen Konfliktmanagements eine Tendenz hin zu militärischen Lösungen zu

beobachten. Bei genauerem Blick auf die europäischen Instrumente zur

Konfliktbearbeitung bleibt das Übergewicht der militärischen Elemente nicht verborgen.

59 Vgl. Jopp / Schlotter 2008, S. 142ff

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Für den Aufbau ebendieser militärischen Fähigkeiten ist eigens die Verteidigungsagentur

eingerichtet und die Mitgliedstaaten zur Anpassung ihrer Streitkräfte verpflichtet worden,

was auch mit umfassenden finanziellen Hilfen für nachholbedürftige Staaten verbunden ist.

Auf der anderen Seite fallen die Regelungen für den Aufbau ziviler Mechanismen deutlich

geringer aus. Lediglich der Aufbau eines Ausschusses zur zivilen Krisenbewältigung

(CIVCOM) wurde im Jahr 2000 durch den Europäischen Rat als rein ziviles Instrument

initiiert. Zivile Konfliktbearbeitung bleibt damit zum einen auf Prävention im Rahmen der

politischen Programme der Union beschränkt und zum anderen im Falle eines erkannten

Konfliktes auf die Gunst der Mitgliedstaaten angewiesen, wenn es um die Entsendung von

zivilen Eingreifkräften geht. Die Intervention in Libyen zeigt jedoch über die Grenzen der

EU hinaus, dass bei günstigen Rahmenbedingungen der rasche Einsatz militärischer

Gewalt noch immer eine praktikable Lösung in der Wahrnehmung einiger Akteure

darstellt, der schnell Vorrang vor zivilen Instrumenten eingeräumt werden kann, wobei mit

Hilfe der Behauptung humanitärer Interventionszielsetzungen Legitimationskonflikte

vermieden werden können.

Von der gemeinsamen Idee eines europäischen Krisenmanagements, das zivile und

militärische Elemente in gleicher Wiese verbindet, die zu Beginn der 2000er Jahre die

Weiterentwicklung der ESVP angetrieben hat, sind offenbar nur noch Bruchstücke übrig

geblieben. Die bilaterale sicherheitspolitische Kooperation zwischen Frankreich und

Großbritannien und das Handeln der beiden Akteure im Falle Libyens zeigen deutlich, dass

offenbar andere Ideen das Verhalten einiger Mitglieder eher beeinflussen als die

ursprüngliche gemeinsame Idee. Für die zukünftige Entwicklung der europäischen

Sicherheitspolitik bestehen also im Kern drei Möglichkeiten:

- Die Weiterentwicklung europäischer Mechanismen zur Konfliktbearbeitung

stagniert und der Entwicklungsprozess bezieht sich nur auf unstrittige Bereiche der

GASP wie regionale Partnerschaften, Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik.

- Es findet eine Annäherung von allen Seiten statt, die Staaten wie Frankreich und

Großbritannien wieder enger in die GSVP einbindet. Dazu wäre jedoch eine

Abkehr von Sonderinteressen auf der einen Seite oder eine zunehmende Abkehr

von der Zivilmachtrolle auf der anderen Seite erforderlich. Beides kann nur

innerhalb von langwierigen Sozialisationsprozessen geschehen, um die

Entwicklungen in die politischen Kulturen zu transportieren.

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45

- Die dritte Möglichkeit wäre eine einseitige Annäherung, die entweder Frankreich

und Großbritannien näher an das Zivilmachtkonzept und seine Elemente der

permanenten multilateralen Kooperation und des zivilisierten

Konfliktmanagements führt, oder eine Abkehr der Union vom Zivilmachtkonzept

und eine Stärkung militärischer Mechanismen auch im Sinne von Sonderinteressen

einzelner Mitglieder.

Die europäischen Vertragswerke legen zwar die Ausrichtung nationaler

Sicherheitspolitiken an den normativen Grundsätzen der EU nahe, es existieren jedoch

keine Verbindlichkeiten, die eine Sanktionierung von abweichendem Verhalten einzelner

Staaten ermöglichen. Für die Einführung einer solch engen Bindung wäre ein Konsens im

Kreise aller Mitgliedstaaten auch kaum durchzusetzen. Vor dem Hintergrund dieser

Dilemmata darf man auf die Fortsetzung der Debatte über die Außen- und

Sicherheitspolitik der Union gespannt sein, die jedoch bedauerlicherweise nicht mit dem

Ende Gaddafis einsetzt, sondern bis auf eine Stabilisierung der Schuldenkrise auf sich

warten lassen wird.

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