Lindig_Stahlbeton Verbundkonstruktionen-Ein Bemessungskonzept für schubbeanspruchte Fugen

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887 © 2006 Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Beton- und Stahlbetonbau 101 (2006), Heft 11 Verbundkonstruktionen kommen in der modernen Ingenieurpraxis häufig vor. Diese Konstruktionen aus Stahlbetonfertigteilen und Ortbeton charakterisieren sich durch das Zusammenwirken von Betongrenzflächen unterschiedlichen Alters und unterschiedli- cher Festigkeit. Untersuchungen zeigen, daß die bisherige Be- messungspraxis und Bewehrungsführung nicht effektiv ist und lo- kal zu hohen Bewehrungskonzentrationen in unkritischen Fugen- abschnitten sowie zu einer insgesamt unausgewogenen Beweh- rung über die Fugenlänge führt. Der Beitrag gliedert sich in 2 Teile: Teil 1 faßt den Wissensstand, ein spezielles Strukturmodell und wichtige Ergebnisse zusammen. Es wird ein Bemessungs- konzept, das sich in Teil 2 fortsetzt, für die praktische Anwendung im Format des Eurocode 2 vorgestellt, das erstmals zwischen schmaler und breiter Verbundfläche unterscheidet, den nach- giebigen Verbund sowie charakteristische Einflußparameter und Effekte differenziert, realitätsnah und erstmalig tragwerks- bezogen berücksichtigt. R/C Composite Constructions – A Design Concept for Shear Loaded Joints – Part 1: Correlation between Simulation and Design. In the modern engineering practice composite constructions are often used. This constructions consisting of prefabricated R/C components and in situ concrete are marked by the interaction of concrete interfaces with different age and different strength. With various examinations will be show, that the present design- ing practice and the distribution of reinforcement is not effective and leads to high reinforcement concentrations in uncritical joint sections and also to an unbalanced reinforcement along the joint. This paper is divided into 2 parts: Part 1 summarizes the state-of- the-art, a special structural model and important results. A de- sign concept, continued in part 2, will be presented for the practi- cal use according to European standard EC 2, which enables the differentiation between narrow and broad bond surfaces for the first time. Additional, the new concept considers the non-rigid bond and also decisive parameter in a subtly differentiated, near- ly realistic and bearing structure referred way. 1 Problemstellung und Gegenstand Die in vielen Tragwerken des Ingenieur- und Brücken- baus eingesetzten Verbundkonstruktionen aus Stahlbeton verlangen vom entwerfenden Ingenieur die Beurteilung der wesentlichen Einflüsse der Verbundfläche auf das Tragverhalten der Gesamtkonstruktion. In jüngster Zeit gewinnt gleichsam durch die Zunahme von Erhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen bei Stahlbetontragwer- ken, die nachträgliche, kraftschlüssige Verstärkung durch Ortbetonschichten an Bedeutung. Häufig ergibt sich auch im Zusammenhang mit Nutzungsänderungen und stei- genden Lasten die Notwendigkeit des Umbaus und der Verstärkung. Eine Aufgabe beim Tragwerksentwurf derar- tiger Verbundkonstruktionen ist es, die Verbundflächen in Fugen so zu bemessen, daß ein optimales Gesamttragver- halten der Konstruktion erzielt wird. Die gemeinhin verwendeten Bemessungsverfahren gehen von einer Verteilung der Schnittgrößen in der Kon- struktion aus, die auf der linearen Elastizitätstheorie ba- siert. Somit erfolgt die Beurteilung der Tragfähigkeit der Verbundfuge und deren Bewehrungsführung nach dem Querkraftverlauf rein querschnittsbezogen. Die so berech- nete maximale Schubkraft wird als maßgebende Aus- gangsgröße für die Bemessung eingehalten. Für die Schub- festigkeit der Fuge existieren einfache Formulierungen, die meist auf das sogenannte Sägezahn-Modell zurückzu- führen sind. Es wird davon ausgegangen, daß die volle Fließlast der Fugenbewehrung als Reaktionskraft auf die Fuge anzusetzen ist und die Schubtragfähigkeit der Fuge aus der Addition einzelner Reibungskomponenten folgt. Bei der Nachweisführung gilt der Grundsatz, daß infolge von Kräfteumlagerungen die komplette Verbundbeweh- rung zur Querkraftübertragung der Verbundfuge heran- gezogen wird. Die Nachgiebigkeit der Verbundfuge wird entweder nicht oder indirekt berücksichtigt. Wichtige Systemeinflüsse bleiben außer acht. Diesbezüglich werden in [1] ausgehend von einer Analyse des bisherigen experimentellen und theoretischen Wissensstands wichtige Zusammenhänge zur Berechnung und Modellbildung von Verbundfugen dargelegt, vergli- chen und diskutiert. Die experimentelle Analyse solcher Probleme ist auf die Untersuchung von einfachen Modell- tragwerken unter stark vereinfachten Lastprozessen be- schränkt, um so beispielsweise die in den Material- und Verbundformulierungen auftretenden Parameter bestim- men zu können oder die für die normativen Bemessungs- vorschriften notwendigen Festigkeitskennwerte und Kraftgrößen zu ermitteln. Eine Bewertung realer Trag- werke kann dagegen nur auf der Basis numerischer Simu- lationsverfahren erfolgen. Derartige Analysen von Trag- Das Verbundverhalten der Fuge hängt auch vom Gesamtverhalten der Konstruktion ab – vom Lastabtrag, der Systemsteifigkeit und dem Umlagerungsvermögen. Fachthemen Stahlbeton-Verbundkonstruktionen – Ein Bemessungskonzept für schubbeanspruchte Fugen Teil 1: Korrelation zwischen Simulation und Bemessung Volker Lindig DOI: 10.1002/best.200600514

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887© 2006 Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Beton- und Stahlbetonbau 101 (2006), Heft 11

Verbundkonstruktionen kommen in der modernen Ingenieurpraxishäufig vor. Diese Konstruktionen aus Stahlbetonfertigteilen undOrtbeton charakterisieren sich durch das Zusammenwirken vonBetongrenzflächen unterschiedlichen Alters und unterschiedli-cher Festigkeit. Untersuchungen zeigen, daß die bisherige Be-messungspraxis und Bewehrungsführung nicht effektiv ist und lo-kal zu hohen Bewehrungskonzentrationen in unkritischen Fugen-abschnitten sowie zu einer insgesamt unausgewogenen Beweh-rung über die Fugenlänge führt. Der Beitrag gliedert sich in 2Teile: Teil 1 faßt den Wissensstand, ein spezielles Strukturmodellund wichtige Ergebnisse zusammen. Es wird ein Bemessungs-konzept, das sich in Teil 2 fortsetzt, für die praktische Anwendungim Format des Eurocode 2 vorgestellt, das erstmals zwischenschmaler und breiter Verbundfläche unterscheidet, den nach-giebigen Verbund sowie charakteristische Einflußparameter undEffekte differenziert, realitätsnah und erstmalig tragwerks-bezogen berücksichtigt.

R/C Composite Constructions – A Design Concept for ShearLoaded Joints – Part 1: Correlation between Simulation and Design.In the modern engineering practice composite constructions areoften used. This constructions consisting of prefabricated R/Ccomponents and in situ concrete are marked by the interactionof concrete interfaces with different age and different strength.With various examinations will be show, that the present design-ing practice and the distribution of reinforcement is not effectiveand leads to high reinforcement concentrations in uncritical jointsections and also to an unbalanced reinforcement along the joint.This paper is divided into 2 parts: Part 1 summarizes the state-of-the-art, a special structural model and important results. A de-sign concept, continued in part 2, will be presented for the practi-cal use according to European standard EC 2, which enables thedifferentiation between narrow and broad bond surfaces for thefirst time. Additional, the new concept considers the non-rigidbond and also decisive parameter in a subtly differentiated, near-ly realistic and bearing structure referred way.

1 Problemstellung und Gegenstand

Die in vielen Tragwerken des Ingenieur- und Brücken-baus eingesetzten Verbundkonstruktionen aus Stahlbetonverlangen vom entwerfenden Ingenieur die Beurteilungder wesentlichen Einflüsse der Verbundfläche auf dasTragverhalten der Gesamtkonstruktion. In jüngster Zeitgewinnt gleichsam durch die Zunahme von Erhaltungs-und Instandsetzungsmaßnahmen bei Stahlbetontragwer-ken, die nachträgliche, kraftschlüssige Verstärkung durch

Ortbetonschichten an Bedeutung. Häufig ergibt sich auchim Zusammenhang mit Nutzungsänderungen und stei-genden Lasten die Notwendigkeit des Umbaus und derVerstärkung. Eine Aufgabe beim Tragwerksentwurf derar-tiger Verbundkonstruktionen ist es, die Verbundflächen inFugen so zu bemessen, daß ein optimales Gesamttragver-halten der Konstruktion erzielt wird.

Die gemeinhin verwendeten Bemessungsverfahrengehen von einer Verteilung der Schnittgrößen in der Kon-struktion aus, die auf der linearen Elastizitätstheorie ba-siert. Somit erfolgt die Beurteilung der Tragfähigkeit derVerbundfuge und deren Bewehrungsführung nach demQuerkraftverlauf rein querschnittsbezogen. Die so berech-nete maximale Schubkraft wird als maßgebende Aus-gangsgröße für die Bemessung eingehalten. Für die Schub-festigkeit der Fuge existieren einfache Formulierungen, diemeist auf das sogenannte Sägezahn-Modell zurückzu-führen sind. Es wird davon ausgegangen, daß die volleFließlast der Fugenbewehrung als Reaktionskraft auf dieFuge anzusetzen ist und die Schubtragfähigkeit der Fugeaus der Addition einzelner Reibungskomponenten folgt.Bei der Nachweisführung gilt der Grundsatz, daß infolgevon Kräfteumlagerungen die komplette Verbundbeweh-rung zur Querkraftübertragung der Verbundfuge heran-gezogen wird. Die Nachgiebigkeit der Verbundfuge wirdentweder nicht oder indirekt berücksichtigt. WichtigeSystemeinflüsse bleiben außer acht.

Diesbezüglich werden in [1] ausgehend von einerAnalyse des bisherigen experimentellen und theoretischenWissensstands wichtige Zusammenhänge zur Berechnungund Modellbildung von Verbundfugen dargelegt, vergli-chen und diskutiert. Die experimentelle Analyse solcherProbleme ist auf die Untersuchung von einfachen Modell-tragwerken unter stark vereinfachten Lastprozessen be-schränkt, um so beispielsweise die in den Material- undVerbundformulierungen auftretenden Parameter bestim-men zu können oder die für die normativen Bemessungs-vorschriften notwendigen Festigkeitskennwerte undKraftgrößen zu ermitteln. Eine Bewertung realer Trag-werke kann dagegen nur auf der Basis numerischer Simu-lationsverfahren erfolgen. Derartige Analysen von Trag-

Das Verbundverhalten der Fuge hängt auch vom Gesamtverhalten der Konstruktion ab – vom Lastabtrag,der Systemsteifigkeit und dem Umlagerungsvermögen.

Fachthemen

Stahlbeton-Verbundkonstruktionen – Ein Bemessungskonzept fürschubbeanspruchte FugenTeil 1: Korrelation zwischen Simulation und Bemessung

Volker Lindig

DOI: 10.1002/best.200600514

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werken unter dem Aspekt der Gebrauchstauglichkeit undGrenztragfähigkeit unter Berücksichtigung materiellerund struktureller Nichtlinearitäten stellen jedoch einesder komplexesten Forschungsfelder im Ingenieurwesendar. Eine Analyse der ablaufenden Vorgänge im Rahmennumerischer Lösungsverfahren muß die vielfältigen physi-kalisch nichtlinearen Einflüsse berücksichtigen, um reali-stische Aussagen hinsichtlich der Tragwerksantwort zu er-langen. Hierzu werden in [1] konstitutive Modelle fürMaterial und Verbund entwickelt, die in ein FE-Pro-grammsystem implementiert worden sind. Der Schwer-punkt des konzipierten Strukturmodells liegt in der Erfas-sung sämtlicher hochgradig nichtlinearer Einflüsse derVerbundfläche auf das Gesamtverhalten. Im Ergebnis derdreidimensionalen Analyse unter Berücksichtigung derkomplexen Verzerrungs- und Spannungszustände zeigtsich, daß die Praxis der internationalen Regelwerke, dasVerbundverhalten auf ein eindimensionales Schubpro-blem zu reduzieren, das wirkliche Tragverhalten einerVerbundkonstruktion nicht uneingeschränkt reflektiert.

Vor allem bei Tragwerken mit schmalen Verbund-flächen ist die resultierende Bewehrungsführung nicht ef-fektiv: sie führt zu hohen Bewehrungskonzentrationen innicht-kritischen Bereichen. Die Analyse-Ergebnisse be-stätigen, daß die üblichen Bemessungsverfahren oftmalseinen deutlich zu konservativen bzw. nicht realitätsnahenCharakter aufweisen.

Auf der Grundlage der Analyse-Ergebnisse im Zu-sammenhang mit dem in [1] zusammengefaßten Wissens-stand wird ein neuartiges Bemessungskonzept für diepraktische Anwendung im Format des Eurocode 2, als dieeuropäische Norm, formuliert, das erstmals zwischenschmaler und breiter Verbundfläche unterscheidet undden nachgiebigen Verbund sowie charakteristische Ein-flußparameter und Effekte differenziert, realitätsnah undtragwerksbezogen berücksichtigt.

Das im folgenden vorgestellte normative Konzept be-zieht sowohl die Grenzzustände der Gebrauchstauglich-keit und Tragfähigkeit als auch die in Teilbereichen derFuge rechnerisch unterschiedlich wirksamen Verbund-widerstände in Abhängigkeit von Tragwerk und Belastungein. Zudem werden Vorschläge für eine rationelle Beweh-rungsführung unterbreitet.

2 Modellgrundlagen für Verbundfuge und -konstruktion

Für die Bemessung von Verbundkonstruktionen stellt dieKraftübertragung in Grenzflächen zwischen Alt- und

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Neubeton, insbesondere bei Fugen parallel zur Haupt-tragrichtung, einen kritischen Punkt dar. Das Ziel der bisin die Gegenwart andauernden regen Forschungstätigkeitist die Konzeption von Regelwerken zur Bemessung undBeurteilung der Verbundfläche zwischen Fertigteilen undOrtbeton.

Dabei darf sich die Tragfähigkeit eines Verbundtrag-werks allgemein nicht von der eines vergleichbaren mo-nolithischen Tragwerks unterscheiden, wobei ein Schub-versagen der Verbundfuge vor einem möglichen Versagender Biegetragfähigkeit auszuschließen ist. Für das Tragver-halten einer Verbundfuge sind nach Bild 1 zwei Hauptzu-stände qualitativ zu unterscheiden:– starrer Verbund:

Erster Hauptzustand bis zum Versagen der Haftfestig-keit (Adhäsion)– keine Relativverschiebungen in der Fuge.

– nachgiebiger Verbund:Zweiter Hauptzustand vom Haftversagen bis zur Trag-last.– Relativverschiebungen parallel und normal zur Ver-

bundfläche.

Falls nur starrer Verbund zugelassen werden darf, sind dieübertragbaren Schubkräfte in der Verbundfuge unterBerücksichtigung einer möglicherweise wirkenden Nor-malkraft bis zum Versagen der Haftung relevant. Darf ver-schieblicher Verbund in Verbindung mit größeren Verfor-mungen zugelassen werden, sind die bei gegebener Schub-und Normalkraftbeanspruchung nach dem Überschreitender Haftfestigkeit auftretenden Verschiebungen in derVerbundfläche zu beachten.

Die Tragfähigkeit eines Verbundsystems liegt meistzwischen den Grenzzuständen monolithisches Tragver-halten und getrenntes Tragverhalten (Null-Verbund). DieVerbundfestigkeit stellt sich gewöhnlich unter der ver-gleichbaren Festigkeit der angrenzenden Betone ein [2].Im ungünstigsten Fall wirken die Querschnittsanteile ge-trennt als Einzelquerschnitte.

Vielfältige experimentelle Untersuchungen an Ver-bundträgern, z. B. bestehend aus einem Stahlbetonfertig-

Für die realistische Beurteilung des Tragverhaltens ist die direkte Erfassung der Nachgiebigkeit der Verbund-

fuge im Modellansatz von grundsätzlicher Bedeutung.

Bild 1. Prinzipdarstellung charakteristischer Tragzustände einer Verbundkonstruktion bzw. eines nachträglich durch Ort-beton ergänzten Stahlbeton- oder SpannbetonbauteilsFig. 1. Representation of characteristically load-bearing states of a composite structure and of a reinforced or prestressedconcrete element subsequently completed by in-situ concrete, resp

a) Quasi-monolithisches Strukturverhalten b) Schubnachgiebiges Strukturverhalten

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teilträger mit Deckenplatten und Ortbetonergänzung, zei-gen, daß Relativverschiebungen entlang der Fuge von biszu einigen Millimetern auftreten können [1]. Gegenüberdem monolithischen Tragglied kann dadurch in Abhän-gigkeit von bestimmten Systemeinflüssen das Tragverhal-ten und die Tragfähigkeit beeinflußt werden.

Die exemplarischen Ergebnisse von Abscherversu-chen [3] in Bild 2 zur Untersuchung des Zusammenhangsvon Fugenrauhigkeit und Bewehrungsgrad zeigen anhandder Schubspannungs-Relativverschiebungsverläufe denEinflußgrad von Haftfestigkeit (Adhäsion), Rauhigkeitund Fugenbewehrung als allgemeingültige Tendenz auf.

Der Grad des Zusammenwirkens der Tragkomponen-ten als Gesamtsystem wird vom Verbundwiderstand derVerbundfläche in der Fuge bestimmt. Der Verbundwider-stand, der nach Überschreiten der Haftfestigkeit (Adhäsi-on) als Schubwiderstand wirksam ist, hängt entsprechendBild 2, neben der Geometrie und den Materialfestigkeiten,maßgeblich von folgenden drei Einflußparametern ab:– Beschaffenheit und Vorbehandlung der Fugenober-

fläche (Rauhigkeit, Profilierung)– Belastung der Fuge durch eine Normaldruckspannung

σN (Querpressung)– Bewehrungsgrad ρj und Anordnung der Verbundbeweh-

rung

Bis Ende der 1980er Jahre führten Tassios/Vintzeleou [4]umfangreiche Untersuchungen unter monotoner und zykli-scher Belastung an Abscherkörpern durch, um die Gesetz-mäßigkeiten im Verhalten zwischen unbewehrten und be-wehrten Beton-Grenzflächen zu analysieren. Hierbei wur-de festgestellt, daß das Tragverhalten wesentlich von dengegenseitigen horizontalen und vertikalen Verschiebungenw und v der rauhen Kontaktflächen und der einwirkendenNormalspannung σN (Querpressung) bestimmt wird. NachBild 3b erzeugt die Bewehrung beim Auftreten von Ver-schiebungen in der Fuge ebenfalls Reibungskräfte: Aus derRelativverschiebung v, die der Verbundrißbreite entspricht,entwickeln sich im Bewehrungsstahl Zugkräfte, die ausGleichgewichtsgründen die Kontaktflächen aufeinander-pressen und einen Reibungswiderstand erzeugen. In [5]wurde schon 1974 auf die Klemmwirkung der Bewehrunghingewiesen. Durch die parallel zur Fuge verlaufende Rela-tivverschiebung w können entsprechend der physikali-schen Situation in Bild 3a die komplexen Mechanismendes Dübelwiderstands der Bewehrung (dowel action) akti-viert werden [6]. Die konstruktive Gestaltung des Ver-bundsystems ist für den aktivierbaren Schubwiderstandund die übertragbaren Kraftgrößen ausschlaggebend.

Wie die Ergebnisse aus Messungen entlang der Fuge[7] in Bild 4 beispielhaft belegen, prägt sich die Relativ-verschiebung in der Fuge in Stabachsenrichtung differen-ziert aus. Der mit der unterschiedlichen Nachgiebigkeitzusammenhängende Kräftefluß ist für das Tragverhaltenentscheidend.

Bei Biegegliedern sind der Verlauf bzw. die Neigun-gen sowie die Größe der Druckstrebenkräfte aus demLastabtrag gegenüber der horizontalen Verbundfläche be-deutsam. Für den Fall der reinen Biegung beeinträchtigteine vorhandene Verbundfläche das Tragverhalten derKonstruktion nicht, da die Hauptspannungen parallel zurVerbundfläche gerichtet sind und hier keine Scher- undNormalbeanspruchungen hervorrufen. Wirken jedoch,wie es dem Regelfall entspricht, sowohl Querkraft alsauch Moment auf den Verbundquerschnitt (kombinierteBeanspruchung), so ist von einer Störung des innerenKraftflusses im Bereich der Verbundfläche auszugehen.Im ungerissenen Zustand liegt ein System richtungsverän-derlicher (i. d. R. orthogonaler) Hauptspannungstrajekto-

Bild 2. Tragverhalten unterschiedlicher Fugen [3]Fig. 2. Load-bearing behaviour of different joints [3]

Bild 3. Zusammenwirken von Fugen-bewehrung und Beton im Verbund-system „Fuge“Fig. 3. Interaction between reinforce-ment and concrete in the bond systemof joint

a) Physikalische Situation. b) Zusammenhang von Relativverschiebung

und Kräfteentwicklung.

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rien vor, aus dem sich beim Übergang in den gerissenenZustand durch Schrägrisse voneinander getrennte schiefeBetondruckstreben entwickeln.

Es haben sich internationale Bemessungsvorschriftenauf der Grundlage der in Bild 5 veranschaulichten Schub-Reibungstheorie (Sägezahn-Modell) durchgesetzt, die be-reits in den 1960er Jahren von Birkeland [8] publiziert,von Mattock [9] in den Siebzigern erweitert wurden undseither sowohl im amerikanischen ACI-318 Code [10] alsauch in modifizierter Form im EC 2 [11] und der DIN1045-1 [12] verankert sind. Diese Methode erfaßt die Ver-bundfuge rechnerisch global, mit ausschließlicher Orien-tierung am Bemessungswert der einwirkenden Querkraftbei einer Verteilung nach der Elastizitätstheorie für denGrenzzustand der Tragfähigkeit über eine additive Nach-weisführung der Verbundwiderstände, indem z. B. in EC 2der Anteil einer gleichmäßig verteilten lotrechten Ver-bundbewehrung ausschließlich über den aus der Verbund-bewehrung resultierenden Reibungsterm μ · Fsj berechnetwird. Diesbezüglich bezeichnet μ den Reibungsbeiwertund Fsj die aktivierbare Normalkraft bezogen auf die Ein-heitsfläche der Bewehrung.

Der Bewehrungsquerschnitt hängt somit direkt vonder Verbundflächenstruktur (Rauhigkeit) ab, was physika-lisch nicht begründbar ist. Die Nachgiebigkeit entlang derVerbundfläche in Haupttragrichtung bleibt unberücksich-

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tigt. Das zugrundeliegende Sägezahn-Modell erweist sichals nicht eindeutig und liegt für höhere Bewehrungsratenauf der unsicheren Seite. Eine Abstufung der Verbundbe-wehrung ist nach dem Querkraftverlauf gestattet. Der Be-messungsansatz für die Schubkraftübertragung in Fugender DIN 1045-1 unterscheidet zusätzlich zwischen unbe-wehrter und bewehrter Fuge, wobei der Haftverbund nurbei unbewehrter Fuge anzusetzen ist.

Gegenüber dem Ansatz im EC 2 stellt diese Differen-zierung eine wichtige Verbesserung dar: Eine Überlage-rung von Haftfestigkeit (Adhäsion) und dem Widerstandder Verbundbewehrung in nur einem Bemessungsansatzerscheint als nicht wirklichkeitsnah, da die Bewehrungerst nach dem Verbundriß und vorhandenen Relativver-schiebungen der Rißufer aktiviert wird. Eine explizite Er-fassung der Relativverschiebung in der Fuge erfolgt damitaber ebenfalls nicht.

Gilt dieses Prinzip bei reiner momentenfreier Schub-beanspruchung als ausreichend realitätsnah, so ist einesolche Vorgehensweise für die Beurteilung und die Be-messung entsprechend dem tatsächlichen Beanspru-chungszustand dennoch ein widersprüchliches Konzept –bei einer den Regelfall darstellenden kombinierten Ein-wirkung auf das Tragwerk (Biegemoment, Querkraft, Tor-sion etc.) entwickeln sich vielfältige Spannungsüberlage-rungen in der Verbundfläche.

Bild 4. Repräsentativer Last-Relativ-verschiebungsverlauf in der Verbundfuge [7]Fig. 4. Representative distribution of bearing-load to relative displacement in the bondjoint [7]

Bild 5. Sägezahn-Modell (Schub-Reibungstheorie)Fig. 5. Concrete-tooth model (shear-friction theory)

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Zugleich ist zu klären, ob flächenartige und stabför-mige Verbundtragwerke mit nur einem Modellansatz fürdie Fuge überhaupt effizient zu berechnen sind. BisherigeAnsätze zur Fugenbemessung in den internationalen Re-gelwerken berücksichtigen diesen Aspekt nicht.

Weitgehend ungesichert ist die Beanspruchungsin-tensität der Fuge parallel zur Haupttragrichtung – demge-genüber gilt das physikalisch lokale Verhalten [13] als hin-reichend aufgeklärt. In diesem Zusammenhang postulie-ren die Regelwerke für den Grenzzustand der Tragfähig-keit bisher, daß sich infolge Kräfteumlagerung eingleichmäßiges Abscheren unter Fließlast einstellt.

Für den Tragwerksplaner stellt sich primär sowohl fürden Neubau als auch für revitalisierende Maßnahmen dieKernfrage, inwiefern die kraftschlüssige bzw. schubfesteVerbindung der Kontaktfuge bemessen und nachgewiesenwerden muß oder wann, bestenfalls, ganz darauf verzich-tet werden darf.

3 Modellbildung und Analyse3.1 Berechnungsmethoden

Zur Abschätzung des Tragverhaltens von Verbundfugenzwischen Betonen unterschiedlichen Alters existiert eineVielzahl an Berechnungsmethoden, die sich durch denIdealisierungsgrad unterscheiden. Dabei ist zwischen ei-nem ingenieurpraktischen Bemessungsproblem und einervorwiegend theoretischen Betrachtung zu unterscheiden.Bild 6 umreißt die Schritte der mechanischen Modellbil-dung, ausgehend von den beobachteten Phänomenen undexperimentellen Ergebnissen, und kategorisiert die wichtig-sten Modellansätze, Verfahren und Simulationsmethoden.

Das Bestreben bei der physikalischen Beschreibungist es, die Ursache und Wirkung der physikalischen Pro-zesse je nach verfolgtem Idealisierungsgrad realitätsnahüber mehr oder weniger komplexe Verbundformulierun-gen zu erfassen. Zur physikalischen Beschreibung gehörtdie Berücksichtigung aller maßgebenden Einwirkungenund Widerstände innerhalb der gewählten mechanischenFormulierung. Die mathematische bzw. numerische Um-setzung muß dabei in der Lage sein, z. B. analytisch überdie Lösung der Verbund-Differentialgleichung oder nume-risch über die Orts- bzw. Zeitdiskretisierung der Differen-tialgleichungen (Bild 6), die physikalischen Prozesse hin-reichend genau abzubilden.

Bei kritischer Betrachtung existierender Modellan-sätze nehmen die Schub-Reibungsmodelle einen großen

Umfang ein. Einerseits beruht eine beträchtliche Anzahlauf dem Sägezahn-Prinzip (Bild 5). Andererseits existie-ren vielfältige empirische Ansätze. Als wichtigstes Ergeb-nis ist hierbei hervorzuheben, daß die Verbundkompo-nenten nicht, wie in den meisten Bemessungsansätzen an-genommen, nur additiv wirken, sondern sukzessiv undinteraktiv wirken [1] [14].

Bei einem Bemessungs- und Nachweisproblem ist esoftmals akzeptabel, wenn mit ausreichender Sicherheitdas Tragverhalten bzw. die Tragfähigkeit durch sehr ver-einfachende integrale Modellansätze lokalisiert eindimen-sional berechnet wird. Liegt die Zielsetzung indes in einertheoretischen Untersuchung, so ist die Thematik in Ab-hängigkeit von bestimmten Kriterien und dem zu realisie-renden Detaillierungsgrad komplexer zu betrachten.

3.2 Simulation von Gesamtsystemen3.2.1 Besonderheiten

Auf die Besonderheiten des konstitutiven Modellierens,der numerischen Simulation und der verwendeten Lö-sungsstrategie soll an dieser Stelle nur in einem begrenz-ten Umfang eingegangen werden, der als notwendig erach-tet wird, um den vielschichtigen Themenkomplex ausge-hend vom bisherigen Wissensstand, über die strukturme-chanischen Analyse-Ergebnisse bis zur Entwicklung destragwerksbezogenen Bemessungskonzepts auf der Grund-lage der eigenen Untersuchungen vermitteln zu können.Auf die entwickelten Modellformulierungen zur Simulati-on von Verbundfugen soll in einem Folgebeitrag geson-dert eingegangen werden.

Wie in Bild 7 zusammengefaßt, ist das Verhalten überdie Lastgeschichte, neben den charakteristischen Nicht-linearitäten des Materials Stahlbeton, durch die Struktur-nichtlinearität geprägt, die aus dem sukzessiven oderschlagartigen Systemübergang vom Kontinuum zum Dis-kontinuum im Bereich der Verbundfuge resultiert.

Das Verbundsystem der Fuge weist damit sowohl Ei-genschaften eines Kontinuums als auch eines Diskontinu-ums auf. Die schubsteifen Verbindungsmittel übertragenaus den zu verbindenden Querschnittsteilen relativ großeKräfte, wobei sich axial und normal zum Bewehrungsstahlim umgebenden Beton hohe Verbund- und Druckspan-nungen ausbilden. Hieraus resultieren grundlegende Pro-bleme, die mit herkömmlichen Konstitutivmodellen nichtzu lösen waren. Mithin wurde in [1] ein Strukturmodell-Konzept entwickelt, daß die charakteristischen Verbund-

Bild 6. Überblick und Klassifizierungder Modellansätze und Berechnungs-methodenFig. 6. Overview and classification ofthe model formulations and calcula-tion methods

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eigenschaften von Grenzflächen in Fugen auf einer nach-vollziehbaren Basis realitätsnah erfaßt und als Kompo-nente des Stahlbeton-Strukturmodells eine numerischstabile und wirklichkeitsnahe Berechnung zuläßt: DasStrukturmodell-Konzept eröffnet die Möglichkeit, dasdreidimensionale Trag-, Verformungs- und Umlagerungs-verhalten sowie spezifische Übertragungsmechanismen,charakteristische Tendenzen und Wechselwirkungen derStruktur von beliebigen Stahlbeton-Verbundkonstruktio-nen unter Berücksichtigung der nachgiebigen Verbund-fuge für unterschiedliche Lastgeschichten, Material- undVerbundeigenschaften, Geometrien, Bewehrungsführun-gen, Fugenparameter etc. theoretisch detailliert aufzu-klären und realistisch vorherzusagen.

3.2.2 Dreidimensionales FE-Konzept für Stahlbeton-Verbundstrukturen

Es ist festzuhalten, daß die Diskontinuitäten im Struk-turmodell, wie es das Kontaktproblem bei Fugen darstellt,in den numerischen Algorithmen der verbreiteten implizi-

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ten FE-Kontinuumsprogramme als Sonderfall behandeltwerden. In Korrelation mit den triaxialen physikalischnichtlinearen Effekten ist eine hinreichend plausible Lö-sung für das nicht-konservative, hoch nichtlineare Systemder Stahlbeton-Verbundstruktur (Rißbildung, Druckversa-gen, Entfestigung, Plastizität, Kontakt etc.) dann nichtmehr aufzufinden. Es sei angemerkt, daß sich, abgesehenvon einigen Entwicklungen im Forschungsbereich [15],die Kontaktelemente am Coulomb’schen Reibungsmodellaus dem Jahr 1773 orientieren. Die hierauf basierende, bis-her oftmals verwendete, Mohr-Coulomb‘sche Theorieberücksichtigt nicht:– den Haftverbund (Adhäsion)– den Einfluß unterschiedlicher Rauhigkeiten der Ver-

bundflächen– die Dilatanz (parallel und normal zur Verbundfläche ge-

richtete Relativverschiebungen w und v)– den Festigkeitsabfall bei zunehmender Schädigung– das durch Umlagerungsprozesse oder Lastwechsel her-

vorgerufene begrenzte Wiederanwachsen der Schub-festigkeit (Öffnen und Schließen der Grenzflächen)

Das Fehlen spezifischer Kontaktmodelle sowie ein für dieZielsetzung unzureichendes Konstitutivmodell für Betonim als numerische Plattform verwendeten FE-ProgrammANSYS führte im Modellbildungsprozeß zu der eigenenStrukturmodell-Konzeption, die in den Bildern 11 und 12jeweils am Beispiel eines Verbundzweifeldträgers untermittiger Feldbelastung und einer Verbundrahmenkon-struktion unter einer kombinierten Torsionslast zu sehenist. Bei simplifizierten Modellannahmen für praxisorien-tierte Aufgaben können jedoch mit den üblichen Mohr-Coulomb-Modellen, insbesondere bei vorwiegend gleich-förmiger Belastung, oftmals zufriedenstellende Resultateberechnet werden. Für die Beschreibung des dreidimen-sionalen Verhaltens einer Verbundfuge allerdings sind die-se nicht geeignet. Ausgangsbasis für die Modellbildung istdie Quantifizierung des Verbundverhaltens in die in Bild 8klassifizierten drei charakteristischen Verbundzuständeeiner Fuge – starrer, quasistarrer, verschieblicher Verbund– gemäß der herrschenden Relativverschiebung.

Bild 7. Problematik bei der Modellbildung für struktur-mechanische FE-AnalysenFig. 7. Problem of the mechanical FE-modelling

Bild 8. Quantifizierung der Verbund-bereiche mit den jeweils wirksamenMechanismenFig. 8. Quantification of the bondzones considering the effective mecha-nisms

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Wie eigene Untersuchungen [1] bestätigen, hängt dasTragverhalten einer Verbundfläche entscheidend von denRelativverschiebungen parallel und senkrecht zur Fugen-ebene ab, wobei die konstruktive Gestaltung des Verbund-systems für den aktivierbaren Schubwiderstand und dieübertragbaren Kraftgrößen ausschlaggebend ist: Die Ad-häsion als stoffliche Komponente setzt sich aus den che-mischen und mechanischen Bindungskräften zwischenden einzelnen Bestandteilen des Betongefüges zusammen.Sie ist unabhängig von der Belastung. Die Belastung derVerbundfläche erzeugt wiederum durch Pressung normalzur Verbundfläche Reibungskräfte. Die Bewehrung, alsdritte Komponente, oftmals senkrecht zur Fugenebene an-geordnet, wird erst ab einer bestimmten Relativverschie-bung beider Betongrenzflächen aktiviert, die außerdem imumgebenden Beton einen Widerstand hervorrufen, dersich aus der elastoplastischen Bettungswirkung der Ver-bundstähle im Beton einstellt.

Diese drei Mechanismen aus Adhäsion, Grenz-flächenverzahnung und Bewehrung werden in ihrer Wirk-samkeit maßgebend durch die lokal herrschenden Rela-tivverschiebungen bestimmt. Die von der Belastung unddem Bewehrungsgrad unabhängige Adhäsionskomponen-te ist nur voll wirksam, solange keine Relativverschiebungw in der Fuge auftritt. Sobald durch chemische und me-chanische Einflüsse in der noch quasi-monolithischenVerbundfläche Mikrorisse entstehen, fällt die Adhäsions-festigkeit τadh(w) als eine Komponente der Verbundfestig-keit der Fuge bei minimalen Relativverschiebungen mo-noton bis auf Null ab. Nach [16] kann bis zu einerRelativverschiebung w ≤ 0.05 mm von einem starren, dasTragverhalten nicht beeinflussenden Zustand der Ver-bundfläche ausgegangen werden. Dementsprechend ba-siert die Modellbildung sowohl für das Strukturmodell alsauch für das Bemessungskonzept (siehe Abschn. 4) dar-auf, daß bei einer bestimmten Beanspruchung zwischenden Grenzflächen in der Fuge Relativverschiebungen auf-treten, durch die das Verbundverhalten je nach Rauhig-keit, Haftverbund und Fugenbewehrung beeinflußt wird.

Die Oberflächengeometrie der Verbundfläche stelltneben den stofflichen Parametern die wichtigste Einfluß-größe auf das Tragverhalten des Verbundsystems dar. Diefraktale Topologie einer unbehandelten (rüttelrauhen) Be-ton-Verbundfläche ist in Bild 9 verdeutlicht.

Obwohl anhand der großen Anzahl an experimentel-len Untersuchungen das Verhalten der Fuge als qualitativbekannt betrachtet werden kann, stellt sich heraus, daß ei-ne eindeutige Quantifizierung der Einflußparameterschwierig oder nicht möglich ist. Die Suche nach einersehr genauen bzw. geschlossenen mathematischen Formu-lierung erscheint als ein wenig erfolgversprechender Weg.Eine besondere Schwierigkeit ist die eindeutige Definitionder Oberflächenbeschaffenheit, die für das Tragverhalteneine dominante Rolle spielt. Eine Einteilung in behandel-te und unbehandelte Oberflächen erweist sich als vorteil-haft.

Eine solche Kategorisierung würde auch den prakti-schen Erfordernissen, insbesondere bei Ertüchtigungs-maßnahmen durch nachträgliche Verstärkungen mittelsOrtbetonschichten, besser gerecht und, auf der sicherenSeite liegend, die Entscheidungsfindung auf der Baustelleerleichtern. In bestimmten Fällen wirken im Fugenbereichjedoch große Schubkräfte, die eine Profilierung der Fugeerforderlich machen. Aus diesen Überlegungen herauswird für das Strukturmodell die in Bild 10 angegebeneOberflächenklassifizierung in Anlehnung an die Versuchein [1] zugrunde gelegt. Demgegenüber wird eine Einstu-fung der Fugenoberfläche nach DIN 1045-1 (§ 10.3.6) inglatt und sehr glatt als nicht vorteilhaft eingeschätzt.

Das physikalisch nichtlineare FE-Strukturmodell zurdreidimensionalen Analyse beliebiger Verbundkonstruk-tionen integriert die einzelnen Material- und Verbundmo-delle in sinnvoller Kombination und ist in der Lage, kom-plizierte dreidimensionale Spannungs-Verformungszu-stände unter Berücksichtigung differenzierter Versagens-und Schädigungsmechanismen realistisch darzustellen:Entwickelt wurde ein phänomenologisches Modellkon-zept auf kontinuumsmechanischer Basis unter Nutzunginkrementell-iterativer Verfahren. Für die praktische An-wendung und für Simulationsstudien wurden neu formu-lierte, konstitutive Beziehungen für Material und Verbundmittels Subroutinen in das universelle FE-ProgrammANSYS implementiert.

Im Gegensatz zum lokal diffusen Verlauf vonRißflächen in der monolithischen Stahlbetonstruktur istder Verlauf von Verbundflächen in Fugen bei Verbund-konstruktionen geometrisch vorab eindeutig definiert.Gleichwohl kann der Riß jedoch entlang der Verbund-fläche, parallel zur Tragrichtung, auch aus einem Schräg-

Ein widerspruchsfreier Zusammenhang zwischen Rauhig-keitsklassen und Strukturverhalten ist nicht möglich.

Bild 9. Laser-RauhigkeitsmessungFig. 9. Laser-roughness measurement

Bild 10. Klassifizierung in OberflächenkategorienFig. 10. Classification of the surface categories

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riß des Fertigteils oder Altbetons resultieren, der an derFuge abkrümmt und sich dann in dieser fortpflanzt.

In Bild 12 ist beispielsweise bei einer torsionsbean-spruchten Verbundrahmenkonstruktion anhand der simu-lierten Rißentwicklung in der Verbundfläche der Kraft-oder Schubfluß bzw. das Trag- und Umlagerungsverhaltenzu verfolgen: Bei kleiner Laststufe befindet sich das Rah-menmodell im quasi-monolithischen Zustand (Zustand I).Der Einfluß des Torsionsrißmoments infolge des gleich-zeitigen Wirkens von Biegung und Querkraftbiegung istsehr gering. Für 58 % der rechnerischen Traglast zeigtBild 12c einen typischen Rißzustand: Die horizontale undvertikale Verbundzone ist fast vollständig gerissen. Biege-risse im Fertigteil des Riegels entwickeln sich für einekombinierte Torsionsbeanspruchung charakteristisch. So-wohl der Riegel- als auch der Stützenanschnitt sind abernoch immer vollständig ungerissen.

Unter bestimmten Beanspruchungszuständen und beientsprechender Oberflächenbeschaffenheit der Verbund-fläche besteht zugleich die Möglichkeit, daß Schrägrisseim Alt- und Neubeton über die Fuge hinweg verlaufen, oh-ne daß der Riß sich in der Fuge, parallel zur Tragrichtung,

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weiter entwickelt. Dieses Verhalten ist als quasi monoli-thisch zu beschreiben und stellt einen ideal günstigenTragzustand dar.

Zur Erfassung dieser charakteristischen Effekte imTragverhalten einer Verbundkonstruktion kristallisiertesich daher die Idealisierung der Verbundfläche als modifi-ziertes schubsteifes Rißkontinuum als die geeignete Mo-dellierungsstrategie heraus. Die Höhe dieser als Prozeß-zone wirksamen dünnen Grenzschicht zwischen den Alt-und Neubetonkontinua setzt sich aus der mittleren Ampli-tude der fraktalen Grenzflächentopologie (Bild 9) und ei-ner postulierten Plastizierungszone im jeweils an dieGrenzfläche angrenzenden Beton zusammen. Die Kon-taktzone wird mit modifizierten Hexaeder-Kontinuums-elementen als Verbundelemente diskretisiert, die die an-grenzenden Betonelemente verbinden und zu diesenkompatibel und affin sind [17].

Die dreidimensionale Verbundbeschreibung erfolgtüber funktionale Zusammenhänge zwischen Verbund-spannungen und zugehörigen Relativverschiebungen, diedurch äquivalente Verzerrungen ausgedrückt werden. DieVerbundsteifigkeitsmatrix bestimmt sich aus einer, dieVerbundbeziehungen in Form variabler Verbundmodulienthaltenden, modifizierten Materialmatrix. Diese ani-sotrope Verbundmatrix wird als Tangentenmatrix mittelseiner Subroutine implementiert.

Die Verbundsimulation basiert insgesamt auf einementwickelten nichtlinearen hypoelastischen Konstitutiv-modell in Kombination mit einem kontinuisierten Rißmo-dell. Zur Steuerung der Verbundeigenschaften werden für

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Bild 11. Verbundzweifeldträger – glatte Fuge: RepräsentativeAnalyse-Ergebnisse – Rißbild, VerbundstabbeanspruchungFig. 11. Composite two-span girder – smoothed out joint:Representative results of the analysis – crack formation,stress state of the composite bars

Bild 12. Verbundrahmenkonstruktion – rüttelrauhe Fuge:charakteristische RißzuständeFig. 12. Composite framed structure – vibration-roughedjoint: decisive crack formations

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die vier Rauhigkeitskategorien (Bild 10) aus Korrelations-betrachtungen mit ausgewählten experimentellen Ergeb-nissen entsprechende funktionale Beziehungen formu-liert, die die physikalischen Mechanismen zwischen denBeton-Grenzflächen in der Fuge phänomenologisch fürdie charakteristischen Zustände des starren, quasistarrenund verschieblichen Verbunds (Bild 8) beschreiben. Zeit-abhängige Einflüsse auf den Verbund werden nicht expli-zit modelliert, sondern sind global in den Ansätzen ent-halten. Das Langzeitverhalten der Fuge ist für deren Trag-fähigkeit nicht signifikant [1].

Die Verbundrißdehnung dient als Indikator für denTrennriß in der Verbundzone und bestimmt über konstitu-tive Beziehungen die rauhigkeitsabhängige Schubübertra-gung für die sich alternierend öffnenden und schließen-den Grenzflächen. Somit können Umlagerungen in derVerbundzone zwischen Alt- und Neubeton erfaßt werden,die einerseits zu einem begrenzten Wiederanwachsen derReibungskomponente am Gesamtwiderstand führen kön-nen. Andererseits wird bei großer Verbundrißdehnungund folglich geringer Schubübertragung durch die Beton-Reibungskomponente der Hauptteil der durch die Ver-bundrißbildung aus dem Ersatzkontinuum der Verbund-zone freigelassenen Energie von der Verbundbewehrungübernommen und dadurch das Energiegleichgewicht er-füllt.

Als Kriterium für die Verbundrißbildung (Haftfestig-keit zwischen Alt- und Neubeton) wird, unter Berücksich-tigung der von der Oberflächenbeschaffenheit abhängigenspezifischen Adhäsionsfestigkeit, das Hauptzugspan-nungskriterium verwendet.

Gegenüber einer üblichen Diskretisierung mittelsspezieller Kontaktelemente kann am Gesamtmodell mitdem vorgeschlagen Strukturmodell das tatsächliche Ver-halten der Verbundfuge bedeutend realistischer simuliertwerden: Unter bestimmten Lasteinwirkungen und bei ent-sprechender konstruktiver Durchbildung verhält sich dieVerbundfläche und die Verbundkonstruktion quasi mono-lithisch. Bei Verwendung spezieller Kontaktelemente isteine Diskontinuität im Kontinuum durch den unter-schiedlichen Modellansatz der Kontakt- und Betonele-mente initial vorhanden. Der typische Rißverlauf, wieüber die Fuge hinweg verlaufende Schrägrisse mit teilwei-ser Rißfortpflanzung in der Verbundfläche oder lotrechteBiegerisse etc., ist damit nicht zu simulieren. Insbesonderewird in den Vergleichen mit dem Gleitflächenmodell aufder Basis Coulomb’scher Reibung deutlich, daß die letzt-genannten Modelle die Tragfähigkeit deutlich unterschät-zen.

Ein besonderes Merkmal der Modellbildung stellt diediskrete, schub- und biegesteife Modellierung der Ver-bundbewehrung dar. Zudem werden die charakteristi-schen Effekte zwischen dem Verbundstahl und dem um-gebenden Beton längs und quer zur Verbundstabachseüber analytisch formulierte nichtlineare Verbund- undBettungsgesetze in Abhängigkeit von stofflichen und ver-bundspezifischen Parametern explizit in das Strukturmo-dell über in den Raumrichtungen entkoppelte Bond-Link-Elemente integriert, die die koinzidenten Knoten der Ver-bundstäbe und der Betonelemente nachgiebig verbinden.Mit dieser Modellierung wird die Kombination aus Bie-ge-, Schub- und Zugtragwirkung der Verbundstäbe in Zu-

sammenhang mit den physikalisch nichtlinearen Bet-tungseffekten zwischen Verbundstahl und Beton sehr ge-nau berücksichtigt (Bild 11b bis d). Es können sowohl dieDifferenzverschiebungen und die aktivierten Verbund-kräfte zwischen Verbundstab und umgebendem Beton-kontinuum in den drei Raumrichtungen als auch die Ver-bundstabbelastung samt den im zugehörigen Strukturge-biet wirksamen Verformungen und Spannungen detail-liert analysiert werden.

Es erfolgt außerdem die Formulierung von konstituti-ven Beziehungen für die Werkstoffe Beton und Stahl so-wie deren Interaktion im Verbundquerschnitt Stahlbeton.Mithin wird das für die Simulation verwendete Mate-rialmodell für Beton, differenziert nach Druck-, Zug- undSchubbeanspruchung, entwickelt. Zur Erfassung desSpannungs-Verformungsverhaltens einschließlich derEntfestigung im Druck- bzw. Nachbruchbereich wird einhypoelastisches, anisotropes Variable-Moduli Modell mitinkrementellen triaxialen Verformungsbeziehungen for-muliert. Zudem sind folgende Nichtlinearitäten im Beton-modell erfaßt:– Rißbildung: Kontinuisierte Rißmodellierung mit fest-

stehender, orthogonaler Rißrichtung– Materialentfestigung im Zugbereich: Linearer strain sof-

tening-Ansatz gemäß der Rißenergiefreisetzung– Restschubübertragung nach Rißbildung: Modellierung

des aggregate interlock-Effekts für sich fiktiv öffnendebzw. sich wieder schließende Rißflächen über einen va-riablen Abminderungsfaktor

– Be- und Entlastungskriterium: Unterschiedliches Ver-halten bei Be- und Entlastung

Wie in Bild 11 für eine Einzelkraftbeanspruchung je Feldgezeigt wird, ermöglicht das Strukturmodell grundsätzlicheinen sehr hohen Diskretisierungsgrad, der dem einer rea-len Konstruktion entsprechen kann – es ist jeder einzelneBewehrungsstab erfaßbar. Die Verbundbewehrung ist hierfür eine beispielhafte Laststufe vollständig aktiviert unddie alternierenden Schubkräfte und Biegemomente derVerbundstäbe kennzeichnen einen Bereich zwischen qua-sistarrem und verschieblichem Verbund vom Randaufla-ger zur Mittelstützung. Zugleich wird auch die unter-schiedliche Beanspruchungsintensität der Verbundstäbeentlang der Fuge mit einer Maximalbeanspruchung derStäbe K ... N deutlich.

Im Gegensatz zur Modellierung der Verbundbeweh-rung erfolgt jedoch bei der Biegebewehrung sowie allenübrigen Bewehrungen eine starre Kopplung zwischenStab- und Betonelementen. Sowohl das Materialverhaltender Biegebewehrung als auch der Verbund mit dem Betonwird indirekt durch die Modifikation der Stahlarbeitslinieüber eine tension stiffening -Formulierung erfaßt.

3.3 Schwerpunkte der Untersuchungen

Die Verifikation der Modellkomponenten und des Struk-turmodells erfolgte anhand der Ergebnisse einer an derBauhaus-Universität Weimar [1] und einer an der TUMünchen [16] durchgeführten Versuchsserie. Bei denVersuchsbalken der Weimarer Serie stellten sich bereitsunter Gebrauchslasten größere Relativverschiebungenvon mehr als 0,05 mm in der Verbundfuge ein.

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Durch Strukturanalysen von sechs unterschiedlichenVersuchsträgern und zwei Dübel-Abscherversuchen [6]wurde die Leistungsfähigkeit nachgewiesen. Darüber hin-aus wurden das Fugentragverhalten maßgeblich beeinflus-sende Parameter systematisch variiert, um deren Einfluß-grad auf das lokale und globale Strukturverhalten zu be-stimmen. Die numerischen Ergebnisse markanter Laststu-fen wurden analysiert und miteinander sowie mit denVersuchsergebnissen verglichen.

In Fortsetzung derAnalysen wurden auf der Grundla-ge der Strukturmodell-Konzeption weitere, sich aus Stahl-betonfertigteilen und Ortbetonplatten bzw. -wänden zu-sammensetzende Verbundkonstruktionen generiert undfür ausgewählte Lasteinwirkungen, wie kombinierte Torsi-onsbeanspruchung etc., und unterschiedliche Fugenaus-bildungen untersucht. Hierbei handelt es sich z. B. um ei-ne in der Baupraxis häufig anzutreffende Verbundmehr-feld- und eine Verbundrahmenkonstruktion, für die keineVersuche existieren. Bei allen durchgeführten Simulatio-nen wurde grundsätzlich das komplexe Strukturverhaltenüber die Lastgeschichte systematisch analysiert. Zusam-mengefaßt erfolgten die Tragwerksanalysen nach folgen-den Schwerpunkten:– Lastanordnung und Belastungsart– Rauhigkeit und Anordnung der Verbundflächen bzw.

Fugen– Verbundbewehrungsführung (Rate und Verteilung)– Momenten-Schubverhältnis (Schubschlankheit, Biege-

schlankheit)– Vorspannung der Konstruktion (in Längs- bzw. Haupt-

tragrichtung)– statisches System (Einfeld, Mehrfeld, Kragarm, Rah-

men)

Die Untersuchungen zielten hauptsächlich darauf ab,neue Informationen für eine effiziente Tragwerks-auslegung und rationelle Bewehrungsführung zu er-schließen. Die Wichtung lag auf der lokalen Beanspru-chungsintensität der Fugenbewehrung über die Fugenlän-ge.

3.4 Ergebnisse und Schlußfolgerungen

Es konnte nachgewiesen werden, daß das Spannungs-Ver-formungsverhalten durch komplexe Wechselwirkungender Struktur gekennzeichnet ist, die von multiparametri-gen und mit unterschiedlicher Intensität auftretendenEinflüssen abhängen. Einheitlich konnten bei allen Syste-men sehr differenziert beanspruchte Fugenabschnitte lo-kalisiert werden, in denen die Fließlast der Fugenbeweh-rung nur in einem klar begrenzten Abschnitt erreicht wird.Selbst bei rauher Verbundfläche lag die mittlere Stahldeh-nung auf Höhe der Fuge weit unter der Fließdehnung desStahls und erreichte im Mittel nur 50 %. Dies deckt sichmit den Angaben in [18] und [19]. Unabhängig vom stati-

Die Einteilung der Verbundflächenbeschaffenheit in vier Klassen genügt, um die globale Strukturantwort

in ausreichender Genauigkeit zu simulieren.

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schen System ist die Fuge nur in den Abschnitten kritischbeansprucht, in denen schiefe Hauptzugspannungen dieFugen kreuzen. Das sind jedoch nicht die Stellen im Trag-werk, an denen die Querkraft ein Maximum darstellt –wie in den Regelwerken postuliert. In Fugenabschnitten,in denen bei vorherrschender Biegung die Hauptspannun-gen relativ parallel zur Fuge verlaufen, verhält sich dieFuge neutral. Fugenabschnitte, die im Bauteilendbereichliegen, werden vergleichsweise gering beansprucht. Beiglatter Fuge ist der Verbundstahl überwiegend auf Schubund damit auf Biegung beansprucht. Mit Zunahme derRauhigkeit überwiegt derAxialzug im Stahl und der Biege-widerstand beträgt nur rund 15 bis 20 %.

Es kann sich je nach Lastanordnung, Lage der Fugeim Bauteil, Vorspanngrad, Fugenrauhigkeit und -beweh-rungsrate ein dem monolithischen Stahlbetonträger ana-loges Rißbild einstellen, bei dem die Verbundfläche vonSchrägrissen durchdrungen wird. Die charakteristischen,über die Fuge hinweg verlaufenden Druckspannungsfel-der beeinflussen das Verbundtragverhalten durch Quer-druck günstig. Die bei Balkensystemen mit schmaler Fugedifferenzierte Entwicklung der horizontalen Relativver-schiebung w entlang der Fuge unterstreicht, daß keine di-rekte quantitative Übertragbarkeit von Ergebnissen ausreinen Abscherversuchen auf das Tragverhalten balkenar-tiger, biege-querkraftbeanspruchter Verbundkonstruktio-nen mit schmaler Fuge möglich ist, sondern nur ein quali-tative. Durch Variation verschiedener Fugenparameter imVergleich zum monolithischen System und dem Versuchkonnten anhand der Simulationen weitere Erkenntnissezum Einflußgrad ausschlaggebender geometrischer undkonstruktiver Parameter auf das Fugenverhalten gewon-nen, systematisiert und im Zusammenhang mit denKraftübertragungsmechanismen theoretisch erklärt wer-den.

Folgende Ergebnisse gehen aus den Untersuchungenals signifikant hervor:– Sehr differenziert beanspruchte Fugenabschnitte – un-

abhängig vom statischen SystemHohe Beanspruchung:– Querkraft und Moment wirken im gleichen Maß –

SchrägzugGeringe Beanspruchung:– Relativ konstanter Momentenverlauf bei geringer

Querkraft– Geringes Biegemoment und große Querkraft

– Die Art und Anordnung der Lasteinwirkung, die Fugen-geometrie und -bewehrung bestimmen das Fugentrag-verhalten maßgeblich.

– Bei gleichförmiger Last kann das Verbundtragverhaltenüberdrückt werden.

– Mit Zunahme der Fugenbewehrungsrate und der Rau-higkeit verliert sich der Fugeneinfluß.

– Verbundstahl-Beanspruchung:– glatte Fuge: überwiegend auf Schub bzw. Biegung– rauhe Fuge: überwiegend auf Axialzug

– Bei Anwachsen der Schubschlankheit nimmt der Ein-fluß der Fugenausbildung auf das Tragverhalten deut-lich ab – es vermindert sich die Schubfestigkeit derFuge.

– Längsvorspannung: Mit Zunahme des Vorspanngradsverliert sich der Fugeneinfluß.

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– Verbundsystem der Fuge: hoch komplexes System –Komponenten wirken teils additiv, teils sukzessiv undinteraktiv

Die experimentellen und die mit den Simulationen erziel-ten Ergebnisse wurden weiter mit den in der alltäglichenPraxis verwendeten Bemessungsmodellen verifiziert – mitbemerkenswerten Resultaten. Gemeinhin wurde dietatsächliche Fugentragfähigkeit gegenüber der normativenstets deutlich unterschätzt. Im Gegensatz zur allgemeinenAuffassung, daß die größten Verbundkräfte zwischen Alt-und Neubeton im Bereich der maximalen Querkraftbean-spruchungen auftreten, konnte nachgewiesen werden, daßsich gerade in diesem Gebiet meist nur vergleichsweise ge-ringere Relativverschiebungen einstellen, und daß die ma-ximale Fugenbeanspruchung dort auftritt, wo kleinereQuerkräfte in Kombination mit Biegemomenten wirken.

Dies beinhaltet unter anderem, daß die Formulierun-gen nach EC 2 und DIN 1045-1 – wobei immer nach dergrößten elastisch bestimmten Querkraft bemessen wird –unnötig konservativ sind, und daß nach diesen Bemes-sungskonzepten hohe Bewehrungskonzentrationen intatsächlich kaum beanspruchten Bereichen angeordnetwerden.

Bei Flächentragwerken stellt sich eine Fachwerktrag-wirkung über die Fugenbewehrung gemeinhin nicht ein.Durch die zweidimensionale Ausdehnung ist in der Ver-bundfuge zwischen Fertigplatten und Ortbetonergänzungkein Versagen zu erwarten, da immer Umlagerungsmög-lichkeiten auf andere Lastpfade bestehen [20]. EinSchrägriß, der sich im Inneren der unbewehrten Verbund-fläche von Platten mit nachträglich ergänzter Druckzonefortsetzt, führt hier durch Umlagerungen nicht zum un-mittelbaren Versagen der Konstruktion. Die Schubspan-nungen aus äußeren Lasten in der breiten Verbundfugesind meist so gering, daß eine Verbundbewehrung vorwie-gend nur konstruktiven Erfordernissen (Eigenspannungs-zustände) genügen muß [21].

Durch die realitätsnahe Erfassung der räumlichenStruktur und Tragwirkung können bislang

unberücksichtigte Tragkapazitäten aufgezeigt werden.

Das Fugentragverhalten von platten- und balkenarti-gen Verbundkonstruktionen unterscheidet sich demnachdeutlich. Dieses Kriterium wurde bisher in den internatio-nalen Regelwerken nicht berücksichtigt. Es wird derSchluß gezogen, daß mit nur einem Modellansatz keineeffiziente Fugenbemessung möglich ist. Für den Vorschlageiner effizienten Bemessungskonzeption ist daher im Mo-dellansatz generell zwischen platten- und balkenartigenSystemen bzw. zwischen breiter und schmaler Verbund-fläche zu unterscheiden.

Mit Bezug auf EC 2 und andere Richtlinien, im Zu-sammenhang mit den bei der Tragwerksbemessungen inder alltäglichen Praxis verwendeten Idealisierungen,konnte eine Reihe weiterer Beschränkungen und Inkonse-quenzen analysiert werden. Diese betreffen unter anderemdie Postulierung einer gleichmäßigen Beanspruchung derVerbundbewehrung entsprechend der Schubbeanspru-chung, die erwähnte fehlende Unterscheidung zwischenschmaler und breiter Verbundfläche, keine Rücksichtnah-me auf besondere Belastungssituationen, die mehrdeutigeFormulierung der Rauhigkeitsklassen, die Vernachlässi-gung der Dübelwirkung und das Additionsprinzip zur Be-rechnung des Schubwiderstands der Verbundfuge.

4 Differenziertes Bemessungskonzept – Modellansatz: nachgiebiger Verbund

Eine rein querschnittsbezogene Bemessungspraxis ist ins-besondere bei balken- bzw. rahmenartigen Tragwerkenmit einer schmalen Verbundfläche in Tragrichtung (Quer-kräfte i. d. R. senkrecht zur Fuge) nicht effektiv und führtzu der in Bild 13a gezeigten unausgewogenen Beweh-rungsanordnung mit hoher Bewehrungskonzentration imrelativ unkritischen Trägerendbereich – entsprechenddem elastisch bestimmten Querkraftverlauf. Letztlichkann diese Bemessungspraxis das Umlagerungsverhalten,das Verformungsvermögen sowie die Rotationsfähigkeitdes Tragwerks ungünstig beeinflussen.

Wenn aber dem tatsächlichen Tragverhalten in derVerbundfuge parallel zur Tragrichtung entsprochen unddie Ausnutzung von Kräfteumlagerungen infolge derNachgiebigkeit (Relativverschiebungen w und v) berück-sichtigt wird, führt das zu der in Bild 13b gezeigten diffe-renzierten Anordnung der Bewehrung. Mit der Ausnut-

Bild 13. Exemplarischer Fertigteilbalken einer Ver-bundkonstruktion mit qualitativ unterschiedlicherFugenbewehrungFig. 13. Exemplary prefabricated girder of a com-posite construction with qualitative different jointreinforcement

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zung von Schnittgrößenumlagerungen bei der Bemessungder Verbundfuge über einen plastizitätstheoretischen,tragwerksbezogenen Ansatz ist hingegen eine Verbesse-rung des Verformungsvermögens und ein duktileres Trag-werk zu erreichen. Nach dem Stand der Technik erfolgtdie Bemessung des monolithischen Querschnitts gleich-falls unter Annahme des plastischen Verhaltens der Bau-stoffe, während die Verteilung der Schnittkräfte, auf der si-cheren Seite liegend, aber ineffizient, wiederum für denelastischen Zustand I erfolgt. Folgerichtig ist ein konsi-stentes Bemessungsmodell zu entwickeln.

Neben dem linear-elastischen Verfahren mit derMöglichkeit zur Berücksichtigung von Umlagerungenkönnen mit Einführung des EC 2 bzw. der DIN 1045-1 dieBemessungsschnittgrößen prinzipiell auch nach nichtli-nearen Verfahren auf der Grundlage numerischer Metho-den oder der Plastizitätstheorie ermittelt werden. Für denpraktischen Tragwerksentwurf besteht die Forderungnach einem handhabbaren Regelwerk, das die Berück-sichtigung des Umlagerungsverhaltens mit Veränderungder Querkraft- und Momentenverteilung bei Anwendungder üblichen Bemessungsmethoden erlaubt. Im folgendenwerden diesbezüglich Vorschläge und hierfür notwendigeanalytische Beziehungen im allgemeinen Format des Eu-rocode 2 [11] unter Berücksichtigung dieser normativenRauhigkeitsklassifizierung für die Verbundfuge auf plasti-zitätstheoretischer Grundlage aufgezeigt und systemati-siert zusammengefaßt. Diese Kriterien und Ansätze kön-nen als Vorlage zur Erweiterung von Vorschriften für denNachweis und zur differenzierten Bemessung kraftschlüs-siger Verbundflächen zwischen Altbeton-Neubeton für dieGrenzzustände der Tragfähigkeit und der Gebrauchstaug-lichkeit dienen. Hierfür werden die Symbole, Bezeichnun-gen und Indizes bei ihrem ersten Aufscheinen im Kontexterläutert. Weitere verwendete Formelzeichen bzw. Mate-rialgrößen, die eindeutig dem Format des EC 2 entspre-chen, sind nachstehend nicht in jedem Fall erklärt, da die-se als bekannt vorausgesetzt werden können.

Für den normativen Vorschlag wird als elementarvorausgesetzt, daß die Relativverschiebungen parallel undsenkrecht zur Fugenebene entscheidend für die übertrag-baren Kraftgrößen sind und sich die Widerstandsanteilein Abhängigkeit von den in Abschn. 3.4 zusammengefaß-

Der normative Vorschlag unterscheidet erstmals zwischenschmalen und breiten Verbundflächen, was sich in unter-

schiedlichen Bemessungswerten widerspiegelt.

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ten charakteristischen Einflußparametern über die Fugen-länge unterschiedlich aktivieren.

Die Grundlage für das Bemessungskonzept bildet derfolgende Ansatz zur Berechnung des Schubwiderstandsbzw. der Tragkapazität der Verbundfuge:

(1)

Nach Gl. (1) werden die spezifizierten Anteile am Ver-bundwiderstand τRdj (w, v) aus Haftverbund bzw. Adhäsi-on (Index: adh), Betonreibung (Index: fri), indirekter Vor-spannung (Index: pre) sowie Biegung und Anspannen derFugenbewehrung explizit erfaßt. Im Unterschied sowohlzum EC 2 und ACI 318 Code als auch zur DIN 1045-1, dieden Schubwiderstand als globale Größe bestimmen, wirdmit diesem, die normative Kapazität der Verbundfugekennzeichnenden Ansatz der Fugenwiderstand tragwerks-bezogen und differenziert berechnet und die Tragfähigkeitdes Verbundquerschnitts realitätsnah erfaßt.

Der Modellansatz unterscheidet grundsätzlich zwi-schen schmaler und breiter Verbundfläche. Für dieses Kri-terium ist die Fugenbreite bzw. die Breite der Verbund-fläche bj und die minimale Steg- bzw. Querschnittsbreitebw maßgebend. Im Ansatz des Bemessungs- und Nach-weiskonzepts, dessen differenzierte Komponenten inBild 14 schematisch dargestellt sind, werden dementspre-chend die Schubwiderstände der Verbundfuge nachschmaler Fuge τsm

Rdj und breiter Fuge τlaRdj unterschieden

(Indizes: sm/la). Dabei ist zu beachten, daß nur die im je-weiligen Tragwerksabschnitt in der Fuge tatsächlich wirk-samen Verbundwiderstände rechnerisch anzusetzen sind.

DerAnsatz für schmale Verbundfugen (bj ≤ bw) postu-liert einen nachgiebigen Verbund (Relativverschiebungen– kein Haftverbund) im Zusammenhang mit einer trag-werksabhängigen Differenzierung in hoch, mäßig und ge-ring beanspruchte Fugenabschnitte (siehe Bewehrungs-führung in Bild 13b). Unter der Voraussetzung einer geris-senen Fuge wird der Haftverbund vorab vernachlässigt.Nur unter dieser Voraussetzung kann sich sowohl der zuberechnende Widerstand aus der Beton-Reibung bzw.Grenzflächen-Verzahnung (surface interlock) als auch derWiderstand des Verbundstahls einstellen.

Der lokal in der Fuge auftretende Schrägzug wird al-lein dem Bewehrungsstahl und den resultierenden Kraft-übertragungsmechanismen im umgebenden Beton zuge-

τ

τ

Rdj

cdja

w v,( ) =

global shear resistance� �� ��

ddhcdjfri

cdjprew v w v w v, , ,( ) + ( ) + ( )τ τ

concrete sshear resistance� ������� �������+ (τsdj

da w v, )) + ( )τsdjpo w v,

bond reinforcement shear resisstance� ���� ����

Bild 14. Normativer Vorschlag: Differen-zierter (nachgiebiger) Modellansatz zur Be-messung kraftschlüssiger FugenFig. 14. Normative suggestion: Non-rigidmodel formulation for the design of frictio-nal joints

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ordnet. Die sich überlagernden Widerstände der Verbund-bewehrung aus der Biege- und Zugbeanspruchung wer-den, differenziert nach dowel action -Effekt τpo

sdj (Index:da) und dem pullout -Effekt τda

sdj (Index: po), über elasto-plastische Ansätze in Abhängigkeit von der Fugenrauhig-keit realitätsnah und physikalisch eindeutig bestimmt.

Der Ansatz für den Biegewiderstand basiert auf derTheorie des elastoplastisch gebetteten Stabs und postu-liert eine Relativverschiebung der Grenzflächen von min-destens 0,05 mm. Gegenüber den Ansätzen im ACI 318Code, EC 2 sowie der DIN 1045-1 wird die Zugkraft imVerbundstahl über den Bemessungswert der Verbund-rißbreite wk und die Verbundfestigkeit fbd begrenzt – dievolle Fließlast des Stahls fyd würde zu überhöhten Bemes-sungswerten τRdj führen.

Im Gegensatz dazu wird bei breiten Verbundfugen (bj > bw) von einem globalen additiven Ansatz, geringenSchubspannungen in der Fuge und einer Begrenzung derFließlast (Axialzug im Verbundstahl) ausgegangen. Nurbei großflächigen Verbundfugen ist aus physikalischerSicht der globale Ansatz nach der Schub-Reibungstheorie,bei vorausgesetztem starren Verbund mit minimalen Rela-tivverschiebungen (w ≤ 0,02 mm), zulässig.

Eine Differenzierung von mehr oder weniger bean-spruchten Teilbereichen innerhalb der Verbundfläche er-folgt bei breiter Fuge nicht – nur bei Balkensystemen mitschmaler bzw. eingeschnürter Fuge sind die einwirkendenSchubspannungen in der Kontaktfuge hoch und affin demKraftfluß in der Gesamtkonstruktion ausgerichtet. BeiPlattentragwerken mit horizontaler Verbundfuge solltendie durch Eigenspannungszustände beanspruchten End-bereiche konstruktiv gestaltet werden.

Resultierende Umlenkkräfte aus einer Vorspannungder Konstruktion können das Verbundtragverhalten der-art günstig beeinflussen, daß selbst bei glatter, unbewehr-ter Fuge das Tragverhalten quasi dem eines monolithi-schen Referenzträgers entspricht. Diese, infolge äußererVorspannung indirekt auf die Verbundfuge wirkendeQuerpressung ist als Reibungsverbund explizit im Kon-zept über den Anteil τpre

cdj berücksichtigt (siehe Gl. 1).Nach den anerkannten Regeln der Stahlbetonberech-

nung unter Voraussetzung des Zustands II werden bei ei-ner exemplarischen Druckzonenhöhe von x = (0.1 ... 0.3) ·d lediglich ≈ 10 ... 20% der auf den Querschnitt einwir-kenden Querkraft über die Druckzone und 70 ... 90%über die Zugzone abgetragen. Nach den Untersuchungenwird jedoch, in Übereinstimmung mit [22], der Hauptteilder Querkraft über den Betondruckgurt bzw. die Druck-zone abgetragen und nicht über die bügelbewehrte Zugzo-ne. Unter der Voraussetzung, daß die kritische Lage einerFuge im Anschnitt zwischen Gurt und Steg liegt, werdennur ≈ 48% der einwirkenden Querkraft über die Verbund-fuge abgetragen – bei Verschiebung der Lage der Fuge inden Steg nimmt die Schubübertragung über die Verbund-fläche weiter ab. Daher wird eine entsprechend reduzierteVergleichsschubspannung sowohl bei breiter als auch beischmaler Verbundfläche als maßgebender Bemessungs-wert im vorgeschlagenen Nachweisformat gemäß demBild 14 angesetzt:

(2)τ τ βRdjsm la

crit SdjSd

j

Vz b

/ ≥ =⋅⋅ ⋅2

Hierin sind :– τRdj

sm/la der Schubwiderstand für die schmale (sm)bzw. breite (la) Verbundfuge,

– critτSdj die einwirkende (reduzierte) Schubspan-nung für den Bereich hoher Fugenbeanspru-chung (crit: kritischer Zustand – hoch bean-sprucht),

– VSd die maßgebende (aufzunehmende) Bemes-sungsquerkraft (siehe Teil 2, Bild 5),

– β = Fcj/Fc der Anteil der über die Fuge aus demnachträglich ergänzten Querschnitt zu über-tragenden Betondruckkraft Fcj an der Ge-samtdruckkraft Fc = MSd/z,

– z der innere Hebelarm sowie– bj die Breite der Verbundfläche.

Es sei weiterhin darauf hingewiesen, daß die ermittelteeinwirkende Schubspannung grundsätzlich als rein rech-nerische Größe bzw. Vergleichsspannung zu deuten ist.Aus theoretischer Sicht ist die errechenbare Schubspan-nung ein Hilfswert, der nur über eine bestimmte Richtungund Größe der Hauptspannung Auskunft gibt.

5 Zusammenfassung und Ausblick

Durch die Erfassung der räumlichen Tragstruktur mit ei-nem sehr hohen geometrischen und physikalischen Rea-litätsgrad war es möglich, das komplexe Spannungs-Ver-formungsverhalten, insbesondere den Einfluß des Fugen-tragverhaltens auf das Tragverhalten der Gesamtkon-struktion, theoretisch zu erklären sowie bedeutende undbisher nicht berücksichtigte Tragkapazitäten aufzuzeigen.Es wird nachgewiesen, daß z. B. die in der bisherigen Kon-struktionspraxis übliche Verteilung der Verbundbeweh-rung über die Trägerlänge nicht optimal ist. Die hohen Be-wehrungskonzentrationen beispielsweise in den Endbe-reichen der Träger sind nahezu wirkungslos.

Hier genügen in der Regel die Mindestbewehrungsra-ten. Die Analysen führten zu einer Erweiterung der Kennt-nisse für eine effiziente Tragwerksauslegung. Im Ergebniswird herausgestellt, daß die derzeitigen nationalen und in-ternationalen Vorschriften das realistische Tragverhaltenvon aus Einzelteilen und in Fugen zu einem Gesamttrag-werk zusammengesetzten Verbundkonstruktionen nichtin allen Punkten zutreffend erfassen. Insbesondere diewechselseitige Beeinflussung der einzelnen Traganteile imZusammenhang mit nichtlinearen Effekten sowie die Er-fassung der Rauhigkeit bedürfen eine Weiterentwicklungder Nachweisformate. Aber auch die Anordnung der Ver-bundbewehrung und die zutreffende Berücksichtigung derArt der Einwirkung sollte im Nachweisformat erfaßt wer-den.

Hierzu wurde ein Weg aufgezeigt, der für die Praxisvon großer Bedeutung ist. Für die praktische Anwendungwurde aufgrundlage des Wissensstands in Korrelation mitVersuchsergebnissen ein neuartiges Bemessungs- undNachweisverfahren für kraftschlüssige Fugen im Formatdes Eurocode 2 entwickelt. Mit diesem Format ist dieMöglichkeit gegeben, das hier vorgestellte Bemessungs-konzept europaweit an die jeweilige nationale Norm an-zupassen; entweder ist der EC 2 als Norm mit einer natio-nalen Richtlinie gültig oder die nationale Norm basiert

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darauf bzw. orientiert sich an dieser. Zudem ist es einfachin Bemessungssoftware implementierbar.

Es unterscheidet erstmals zwischen schmaler undbreiter Fuge und bezieht den nachgiebigen Verbund sowiecharakteristische Einflußparameter und Effekte differen-ziert und realitätsnah ein. Mit diesem Vorschlag wird denglobalen querschnittsbezogenen Ansätzen in den gültigenRegelwerken ein effizientes und tragwerksbezogenes Kon-zept gegenübergestellt. Das Konzept ist auch für revitali-sierende Maßnahmen am Tragwerk, wie Querschnittser-gänzungen mittels Ortbeton, anwendbar. Die Kenntnisüber die Bereiche einer Verbundfläche, die vor der Ortbe-tonverstärkung keiner Behandlung bedürfen und diejeni-gen, die lokal hoch beansprucht sind und deshalb z. B.aufgerauht sowie bewehrt werden müssen, ist hier ent-scheidend.

Weiterführende Erläuterungen zu dem Bemessungs-konzept, dessen Modellansatz in Abschn. 4 des vorliegen-den Beitrags (Teil 1) vorgestellt wird, folgen in Teil 2: Nor-mative Empfehlungen für Neubau und Revitalisierungs-maßnahmen (Beton- und Stahlbetonbau, Heft 12/2006).

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Dr.-Ing. Volker LindigBonhoefferstraße 4399427 [email protected]

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